9 systemisch-konstruktivistische Pädagogik in der heutigen Schule

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Angesichts der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion und der Art der Organisiertheit von Schule kann Pädagogik als auch als eine ‚Kunst’ bezeichnet werden (McCourt 2005). Etwas wissenschaftlicher formuliert, stellt sich dem systemisch-konstruktivistischen Pädagogen nach den bisherigen Ausführungen nämlich die herausfordernde Frage, wie er „etwas Initiative wiedererlangen [kann], ohne dem schon überholten, auf der Illusion von Macht und Kontrolle basierenden Modell zu verfallen?“ (Cecchin et al. 2005, 22). Deutlich wurde bereits, dass der postmoderne Pädagoge aus systemisch-konstruktivistischer Sicht im Umgang mit letztlich unberechenbaren lebenden Systemen (Renoldner et al 2007, 46) v.a. über Aspekte von Beziehungsgestaltung, Interaktion und Kommunikation Einflusschancen gewinnen und ergreifen kann. Dazu muss er „seinen eigenen Stil und seine eigene Stimme finden. Wahre Autorität ist ein Myterium. Eine Mischung aus Persönlichkeit, Wissen, Stimmung. Der Instinkt dafür, wann man Druck ausübt und wann nicht“ (McCourt293, zit.n. Bauer 2007c, 52).

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Der systemisch-konstruktivistische Ansatz hält hierfür vielfältige unterstützende Angebote und Anregungen bereit: Haltungen, Methoden, Instrumente und Aufmerksamkeitsfoki, deren Umsetzung im schulpädagogischen Bereich sich in den letzten Jahren zunehmend ausdifferenziert. Auch in dieser Dissertation werden neue Aspekte entwickelt und alte weiter differenziert.294

Die Erläuterungen zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik in diesem Kapitel unterscheiden zunächst zwei grundlegende Kontexte der Pädagogik, die je eigene unterschiedliche Spielregeln haben: die Kontexte von Angebot einerseits und Durchsetzung andererseits sind quasi permanent in Schule vorhanden, verlangen aber unterschiedliches Vorgehen (Kap.9.1). Schule hat auch mit unterschiedlichen Arten von Macht zu tun, neben formaler Macht qua Amt gibt es vielfältige psychologische Machtfaktoren, deren Bedeutung in der Postmoderne z.T. zunimmt (Kap.9.1.7). Unterschiedliche Formen der bewussten Beziehungsgestaltung mit Schülern (Kap.9.2) und Eltern (Kap.9.3) können zu einer weiteren Klärung eigener Positionierungen als Pädagoge und zu Klarheit in der Kommunikation beitragen. Die Kenntnis einiger gängiger, ggf. gesundheitsgefährdender, aktueller schulischer Mythen (Kap.9.4) und von Gesichtspunkten der Ausstrahlung pädagogischer Präsenz als Lehrer (Kap.9.5) sind ebenfalls Faktoren, die die pädagogische Beziehungsgestaltung stärken können. Konsequenzen eines ressourcevollen Blicks in schulischen Kontexten - gegenüber den Schülern und für sich selbst als Pädagoge – werden in Kap.9.6 dargestellt und mit der Fähigkeit des Lehrers verbunden, eigene Empfindungen und Gefühle wahrnehmen (Kap. 9.7) und sich eine respektlos-neugierige Sichtweise gerade auch in den institutionellen Kontexten erhalten zu können (Kap.9.8). Der letzte Punkt ist auch für pädagogische Führung (Kap.9.9), den angemessen Umgang mit pädagogischer Verantwortung (Kap.9.10) und für die eigene Work-Life-Balance (Kap. 9.11) hilfreich. Unter Berücksichtigung institutioneller Kontexte wird dem Umgang mit schulischen Zwangskontexten ein eigenes, umfangreicheres Kapitel gewidmet (Kap.9.12).

9.1 Zwei Kontexte von Pädagogik

Schaut man auf die Entwicklung der Pädagogik in der BRD in den letzten Jahrzehnten (Kap.6.1), so lässt sich ein Umschwenken von einer autoritären (bis in die 60er Jahre) auf eine antiautoritäre Erziehung (insb. ab den 70er Jahren) beobachten. Erziehungsschwierigkeiten oder problematische Erziehungsergebnisse beider Ansätze und ihrer Vorgehensweisen sind aus heutigem Abstand sicherlich leichter greifbar, so dass Prekop/ C.Schweizer (2001, 9) bemerken, „dass weder das eine noch das andere richtig ist und die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte liegt. Aber wo ist die Mitte?“ Statt sich für einen der beiden Pole zu entscheiden, schlägt die hier vertretene Sicht systemisch-konstruktivistischer Pädagogik ein flexibleres und mehr Handlungsoptionen eröffnendes Modell von Pädagogik vor: nämlich ein diese extremen Pole vermeidendes Balancieren von Ambivalenzen, d.h. ein flexibles, sich die Endpole von rigider Autorität und Laisser-faire-Haltung verhinderndes Sowohl-als-Auch. Das erspart allerdings nicht energiegeladene Konflikte mit Kindern und Jugendlichen - vielmehr verlangt es sogar nach einer mit Bedacht und Präsenz geführten Auseinandersetzung. Erziehung und Pädagogik unterliegen dem paradoxen Ziel, sich in einem Prozess des Mündigwerdens ihrer Schützlinge überflüssig zu machen. In diesem Prozess haben Kinder und Eltern/Pädagogen i.d.R. abweichende Bedürfnisse, so dass es eine Illusion ist, zu glauben, Kindern das Paradies auf Erden bereiten und gleichzeitig auch die eigenen Bedürfnisse umfassend befriedigen zu können (Bastian 2001, 16,20f).

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Die zu balancierenden Ambivalenzen im Bereich der Erziehung sowie der schulischen Pädagogik in der heutigen Schule stammen aus zwei idealtypischen pädagogischen Kontexten, die unterschiedlichen Regeln unterliegen. Erziehung, sowohl elterliche als pädagogisch-schulische, berät und unterstützt Kinder einerseits und setzt ihnen aber andererseits auch Grenzen, ordnet an, bewertet und kontrolliert ihr Handeln. Insofern lassen sich zwei Kontexte unterscheiden, die als ‚Angebot’ und ‚Durchsetzung’ bezeichnet werden können.295

„Festhalten und Loslassen sind, wie Zwangausüben und Freiraumgewähren, zusammengehörige, ineinanderspielende, sich abwechselnde Handlungsprinzipien, die als Begleitung eines Wachstums- und Lernprozesses wichtig sind“ (Pleyer 1996, 192). In allen gut funktionierenden Beziehungen zwischen Eltern bzw. Pädagogen und Kindern, so Schwing/Fryszer (2006, 331) „gehen Fürsorge und Kontrolle, Fördern und Fordern Hand in Hand, ohne Vertrauen zu zerstören (wohl aber provoziert das in manchen Situationen heftige Reaktionen von Unwillen und Widerstand). [...] In der Praxis psychosozialer Arbeit vermischen sich diese beiden Handlungsformen [...] häufig. Nützlicher als eine strikte Trennung scheint uns, eine reflektierte Haltung zu Kontrolle und Druck zu entwickeln“ (Schwing/ Fryszer 2006, 331). ‚Verständnispädagogik’ muss, so gesehen, mit ‚Konfrontationspädagogik’ verbunden werden (Struck 2004,190; Martin/ Schuster 2005, 77). Die Ausführungen in diesem Kapitel (0) beziehen sich gerade auch auf den schulischen Kontext, der – anders als in der Beziehung der Eltern zu ihren Kindern – auch den Aspekt der Auswahl notwendig mit beinhaltet.

Unterstützende Förderung von Autonomie und fordernde Grenzsetzung, beide Kontexte gehören genuin zu Erziehung und Pädagogik, die ein stimmiges Wechselspiel zwischen ihnen sein sollten. Beide Bereiche – Angebote/ Unterstützung/ Beratung einerseits und Durchsetzung/ Anordnung/ Kontrolle/ Bewertung/ Auswahl andererseits – müssen im „Zwangskontext Schule“ (Pleyer 1996, 194) von nur einer Person zugleich, dem Lehrer, wahrgenommen werden (Palmowski 1997, 46) und sollen in angemessener Form dem Heranwachsen und seiner zunehmenden Übernahme von Verantwortung dienen. Sie geben Heranwachsenden auf unterschiedliche Weise Orientierung. Der Umgang mit den beiden Kontexten ist in Schule als Zwangveranstaltung (Kap. 9.1.5) nicht zu vermeiden und berührt essentiell (bzw. kann in Frage stellen) das berufliche Selbstverständnis, da man soziale Berufe wie den Lehrberuf meist eher aus einer Begeisterung für den Angebotskontext als den Durchsetzungskontext von Pädagogik ergreift.

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Es geht hier auch um die ethische Entscheidung des einzelnen Lehrers, wie er damit umgeht, dass „helfende Beziehungen, die sich in Zwangskontexten gestalten, [...] überwiegend so geartet [sind], dass Entscheidungen für irgendeine Form des Zupackens fast unausweichlich sind“ (Pleyer 1996, 192). Um im Kontakt mit Kindern, Jugendlichen und Eltern stimmig auftreten zu können, müssen Pädagogin sich bewusst sein, in welchem der beiden Kontexte sie sich gerade in einer Situation befinden bzw. positionieren und wie sie beide Kontexte angemessen und kontextadäquat verbinden können. Nur eine der beiden Seiten zu leben, würde das Feld verlassen, in dem Pädagogik als Wechselspiel zwischen Angebot und Durchsetzung konstruiert ist. Pädagogik bewährt sich aber gerade darin, den Widerspruch, Kinder sowohl als gleichwertige Menschen als auch als erziehungs- und bildungsbedürftig anzusehen, angemessen auszuhalten, ggf. auszuhandeln und vor allem konstruktiv zu nutzen. Gelingt dies, ist der Erziehungsprozess ein interaktiver Prozess mit Relevanz der Handlungen aller Beteiligter (Rotthaus 1999a, 45).

Im folgenden werden zunächst die beiden genannten idealtypischen Kontexte mit ihren eigenen Logiken ausführlicher dargestellt, und zwar zunächst der Angebotskontext (Kap.9.1.1), der allein aber noch nicht das Bedürfnis junger Menschen nach orientierender Grenzsetzung erfüllen kann (Kap.9.1.2). Der Durchsetzungskontext wird in Kap.9.1.3 ausdifferenziert, bevor seine Fallen untersucht und beschrieben werden (Kap.9.1.4). Auch deren Kenntnis ist wichtig, um sich als Lehrer angemessen positionieren und adäquat Beziehung gestalten zu können. Für schulpädagogische Kontexte besonders berücksichtigt werden muss, dass Schule eine Zwangsveranstaltung ist, d.h. dass der Rahmen für die Lehr-Lern-Beziehung auf den Umgang mit den beiden Kontexten der Pädagogik zentralen Einfluss ausübt (Kap.9.1.5). Schließlich wird die Notwendigkeit einer pädagogischen Metaposition im Umgang mit den beiden Kontexten begründet (Kap. 9.1.6). Beide Kontexte können - für sich allein genommen - auch als idealtypische, verkürzte (weil eine Seite der Ambivalenz ausblendende) Sichtweisen auf Schule, Unterricht und Pädagogik gesehen werden. Sie läuft Gefahr, entweder eine bloße Laisser-faire-Haltung einzunehmen oder nur rigoros und drastisch ein- und durchzugreifen (Omer/Schlippe 2002, 33) - und sich in beiden Fällen nicht mehr am konkreten pädagogischen (Beziehungs-)Prozess zu orientieren.

9.1.1 Angebot

Der pädagogische Angebotskontext umfasst unterstützende und beratende Offerten von Lehrern bzw. von Schule in den Bereichen Unterricht und Beratung. Damit berücksichtigt die Konzeption eines pädagogischen Angebotsbereiches die - von den Schülern zu beantwortende - Leitunterscheidung ‚nützlich vs. nicht nützlich’ bzw. ‚gute vs. schlechte Lösung’ und setzt die Schüler als Experten für ihr Leben ein. Außerdem grenzt sich der Ansatz von Auffassungen der 50/60er Jahre ab, die kindlichen Autonomiebestrebungen feindselig gegenüberstanden. Der Angebots- und Unterstützungskontext der Pädagogik ist tendenziell eher verstehend als konfrontativ, kann aber insb. in Feedback- und Beratungssituationen auch (erläuternd) konfrontativ sein. Als Anbietender verhält sich der Pädagoge eher fragend, helfend, verständnisvoll, neue Sichtweisen vorschlagend, die andere Person akzeptierend, freundlich, offen, vertrauend und geduldig296. Inhaltlich ist der Pädagoge in Beratungen im engeren Sinne (Kap.10.5.1) neutral positioniert. Schule bietet hier primär eine Lernchance, statt aktuell als Zwangs- oder Selektionsveranstaltung erlebt zu werden, und lädt Schüler zu Aktivität ein (Ruf 2005,62).

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Pädagogen unterbreiten im Angebotskontext den Schülern Lern-297 und Gesprächsangebote, die unterstützend, fördernd und beratend gemeint sind. Ihre Funktion ist helfend und verständnisvoll, ihr kommunikativer Ansatz tendenziell verstehend. Sie treten bei nicht-entscheidbaren, trivialen Fragen (im Sinne v.Foersters) als fachlich Wissende auf, die aus intrinsischer Motivation etwas Inhaltliches (insb. im Unterricht) weitergeben wollen, und bei entscheidbaren, nicht-trivialen Fragen als bekennende Nicht-Wissende, die gemeinsam mit den Schülern durch das Leben unterwegs sind.

Der Begriff Angebot beinhaltet, dass Schüler sich auch gegen solche Angebote aussprechen bzw. diese ggf. nur teilweise annehmen können. Für den Pädagogen kann hier dementsprechend eine Haltung hilfreich sein, die Fritz Pearls einmal so formuliert hat: „Ich tue das Meine/ du tust das Deine/ ich lebe nicht auf dieser Welt/ um deinen Erwartungen zu entsprechen/ und du bist nicht auf dieser Welt/ um die meinen zu erfüllen./ Du bist du, und ich bin ich/ und wenn wir uns zufällig begegnen/ so ist das schön./ Wenn nicht, lässt es sich nicht ändern“ (zitiert in Stevens 1986, 199).

Die Beziehungsgestaltung zu Schülern und Eltern ist im Angebotskontext explizit personalisiert, bezieht sich auf den individualisierten Einzelkontakt. Lehrer laden im Angebotskontext tendenziell zu einer wechselseitigen, persönlichen Beziehung ein. Diese Beziehung ist insofern zunächst und grundsätzlich symmetrisch, d.h. Pädagogen sind hier insofern gleichwertig, als sie genauso wie Schüler und Eltern autopoietische, operationell geschlossene Systeme sind, die keinen Anspruch auf absolute Wahrheit erheben können. Die Beziehung zu Schülern im Angebotskontext wird asymmetrisch nur in dem Maße, wie Schüler Pädagogen zugestehen bzw. bei diesen anerkennen, dass sie (z.B. aufgrund ihrer reiferen Persönlichkeit, ihrer höheren Kompetenz in Beziehungsgestaltung und Konfliktbearbeitung, ihres Fachwissens) Autorität besitzen oder Fähigkeiten und Wissen, die den Schülern als eine Ressource erscheinen, an der Schüler Interesse haben und partizipieren möchten. Der Schüler akzeptiert dann seine fachliche Teil-Unterlegenheit, sein eigenes vergleichsweise in bestimmten Punkten größeres menschliches Entwicklungsbedürfnis, seine Bereitschaft, eher etwas anzunehmen als zu geben – und erlebt dies nicht als erniedrigend sondern persönlich bereichernd. Lernen setzt Vertrauen voraus in die Person des Lehrers und den Lerngegenstand, den er anbietet (Boszormenyi-Nagy/ Spark 1993, 75ff)

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Im Kontakt mit den Schülern und Eltern betreiben Lehrer als Ausdruck symmetrischer Beziehung auch Metakommunikation, indem Sie z.B. mit Ihrem Gegenüber gemeinsam darüber sprechen, wie sie als Lehrer und Schüler/Eltern miteinander, wie die Schüler untereinander umgehen oder wie ein Schüler sich selbst behandelt. Dazu kann gehören, dass sie Ihre Gefühle (auch die ‚schwachen’) in einer für Sie stimmigen und die Schüler akzeptablen Weise mitteilen. Im Angebotskontext berücksichtigen Pädagogen Person und Sache, was übrigens Auseinandersetzungen und das Aushandeln von Grenzen und Beziehungsdefinitionen keinesfalls erspart. Es ist eine pädagogische Stärke, im Angebotskontext letztlich in einem kreativ-anregenden Sinne nicht vorhersagbar zu sein. Die erforderliche Offenheit des Lehrers im Angebotskontext kann auch zu Verletztheit führen, zu Traurigkeit, Schmerz und zeitweiligem Distanzbedürfnis, z.B. (auch) nach einem (freundlichen und) klaren Feedback – und zwar auf beiden Seite (Schüler wie Lehrer). Dann muss der Pädagoge seine (bleibende) Präsenz signalisieren. Versprechungen müssen ohnehin aus Glaubwürdigkeitsgründen eingehalten werden.

Die Falle für Pädagogen auf der Angebotsseite besteht darin, dass Angebot und Nachfrage nicht zusammen passen müssen.298 Wenn der Schüler das Beziehungs-, Unterrichts- oder Beratungsangebot des Lehrers nicht annehmen mag, aus was für Gründen auch immer, ist der Lehrer (innerhalb des Angebotskontextes) ohnmächtig. Will der Lehrer dann etwas vom Schüler (dass dieser sich in einer bestimmten Weise verhält und z.B. das Beratungsangebot des Pädagogen annimmt)299, ist er psychologisch der Unterlegene (Kap. 9.1.9). Im schlimmsten Fall macht sich der Lehrer von Klassen oder einzelnen Schülern abhängig, die er unter Missachtung des eigenen Energiehaushaltes entmündigt, indem er ihnen „bedingungs-los“ meint helfen zu müssen.

Rückmeldungen an Schüler oder Eltern sind im Angebostkontext einfühlend, wohlwollend, wertschätzend, berücksichtigen Innen- und Außenperspektive, also Perspektivenwechsel von Seiten des Pädagogen, und können auch konfrontierend sein. Feedback solle autonomie-anerkennend und ggf. verstörend wirken. Mögliche Rückkopplungsfragen sind: Was passiert beim Schüler/ der Klasse, was bei mir als Lehrer? Wer hat welche Gefühle und Interessen? Wer braucht was?

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Der Pädagoge ist hier immer auch primär mit sich selbst als Mensch (und nicht z.B. Richter) in Kontakt. Den Schüler sieht er als zunehmend Selbstverantwortlichen. Das Ziel der schulisch-kollegialen Kooperation ist die gemeinsame Unterstützung von Schülern. Außerschulische Institutionen werden von Schule als weitere, dem Schüler Angebote machende Erziehungspartner wahrgenommen. Kontakte mit außerschulhäuslichen Kooperationspartnern (z.B. Förderschulen (SfEH, SfLH, BFZ), schulpsychologischer Dienst, Allgemeiner Sozialer Dienst, Stadtteilkooperation) liegen hier im präventiven (und nicht im repressiven) Bereich.

Transparenz bedeutet im Angebotsbereich, Schüler, Klassen (und Eltern) in Entscheidungen einzubeziehen - und damit u.a. offene Diskussionen, Argumenten-Wettstreit, gemeinsame Untersuchungen, wer mit welchen Absichten hinter welchen Positionen und Entscheidungen steht, Mehrheits- oder Konsensfindung. Entscheidungstransparenz kann auch bedeuten, eigene Entscheidungen angemessen bis ausführlich zu erläutern. Außerdem kann der Lehrer seine eigene Gebundenheit an Weisungen anbringen. Wie er das tut, ist eine Frage von Führung (Abb. 9-10, S.343).

Sowohl Schüler als auch Lehrer haben auf die gemeinsame Kommunikation Einfluss. Tendenziell gilt im Angebotskontext der bewährte systemisch-konstruktivistische Tipp: ‚Sprich die Sprache des Kunden’. Der Pädagoge muss sich hier nicht, wie im Durchsetzungskontext, berechenbar verhalten. Gerade im Beratungskontext ist Nicht-Vorhersagbarkeit des Beraterverhaltens eine Chance auf eine alternative Sicht des Wirklichkeitsraumes und Entfaltung des Möglichkeitsraums. Insofern als Unterricht wie auch Beratungsgespräche Angebote darstellen, die wesentlich über Gesprächsführung gestaltet werden, ergeben sich etliche Gemeinsamkeiten zwischen ihren Grundprozessen (vgl. Abb. 10-4 auf S.391). Inwieweit ein Lehrer seine Angebote als Angebote sichtbar macht, entscheidet er über sein konkretes Verhalten und Auftreten. Über die Wahrnehmung des Angebots entscheidet aber der Schüler/ die Klasse bzw. die Nachfrage.300 Insofern als Schüler zwar ein Recht auf Unterricht haben, andererseits aber Schule eine Zwangsveranstaltung ist, könnte es als legitim angesehen werden, dass bzw. wenn Schüler strategisch kommunizieren oder sogar lügen. Der Lehrer handelt, wenn die Auseinandersetzung im Angebotsbereich verbleibt, dann danach, was für ihn auf Beziehungsebene und als Älterer in der Beziehung stimmig ist. Im Angebotskontext stellt sich schließlich auch die Frage, ob bzw. inwieweit Schüler und Eltern ein Recht auf ausführliche Beratung haben. Die Beantwortung der Frage mag von der Interpretation entsprechender Gesetzestexte abhängen. Eine solche Beratung kann aber für alle Seiten positive Folgen haben, wenn sie kompetent verläuft und tatsächlich Nachfrage vorhanden ist.

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Wichtig und Zeichen von Professionalität ist, dass der Pädagoge nicht versehentlich oder unbewusst – wie dies in den Medien oder aus Schüler- und Elternsicht immer wieder passiert – fachliche Kompetenz damit gleichsetzt, im Angebotskontext immer inhaltlich zu wissen, was richtig und was falsch ist. Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht kann der Lehrer nicht-triviale Fragen nicht definitiv beantworten, und dazu gehören auch die meisten Fragen in Beratungsprozessen im engeren Sinn. Lehrer können und müssen im Angebotsbereich sicherlich weiterhin über fachspezifisches Wissen verfügen, dieses wird aber unsicherer, seine ‚Halbwertszeit’ wird kürzer, Wahrheiten werden zunehmend relativiert. Die Bedeutung fachspezifischen Wissens nimmt ab zugunsten von strukturellem Wissen über Lernprozesse, Beziehungsgestaltung und Kommunikation. In diesen Bereichen ist die Aufgabe des Lehrers aber eher, den Schüler unter Aspekten formalen Wissens zu begleiten, als inhaltlich zu wissen, was für den Schüler richtig ist. Das explizite Eingeständnis des eigenen Nicht-Wissens, der eigenen Unsicherheit und die gemeinsame Erörterung, wo man welches Wissen mit welcher Plausibilität oder Interessenfärbung finden und wie man es dann einschätzen kann, kann hier hilfreich und für die Schüler in postmodernen Zeiten willkommen sein. Den Anspruch, immer zu wissen, was richtig ist, auf überfachliche Beratungs- und Unterstützungsfragen, insb. auf Beratung im engeren Sinne zu übertragen, würde einem systemisch-konstruktivistischen Verständnis zuwider laufen (Hubrig/ Herrmann 2000, 153).

Pädagogik kann sich aber nicht darauf beschränken, nur Angebote zu machen, sie muss auch mit Grenzsetzungen aktiv gestalterisch umgehen.

9.1.2 Grenzen und Orientierung

In Abgrenzung gegenüber einer ‚humanistischen Alltagspsychologie’ betonen einige systemisch-konstruktivistische Vertreter - z.B. Omer, v.Schlippe, Rotthaus -, dass, Kindern aktiv Grenzen zu setzen, sie zu fordern und sie anzuleiten, zentrale Qualitäten von Pädagogik sind: Lehrerkollegien müssen dementsprechend „klar disziplinarisch handeln“, ansonsten, so Hubrig/ Herrmann (2005, 124), griffe „unter den Lehrern ein Gefühl von Ohnmacht und diffusem Ärger um sich.“301 Das liegt daran, dass „fehlende oder unklare Regeln, Begrenzungen und das Ausbleiben von Sanktionen [...] zu weiteren Grenzüberschreitungen“ einladen (Alberstötter 2006a, 46). Empathie und Verständnis müssen von der klaren Einstellung begleitet werden, Gewalt als solche zu benennen und ihr entschlossen durch gewaltfreien Widerstand entgegenzutreten (Omer/Schlippe 2004, 37) – und damit den (reinen) Angebotskontext zu verlassen.

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Damit ist nicht gemeint, dass Kontrolle und Bewertung, die vom staatlichen Auftraggeber schulischer Lehre vorgegeben sind, bereits ausreichende Grundlage einer angemessenen Förderung Heranwachsender wären. Der Einsatz von Sanktionen, allein und für sich genommen, vermag nur in Ausnahmefällen zu dauerhaften Konfliktlösungen zu führen (Palmowski 2003, 55). Wichtig ist vielmehr,

Hierfür gilt es, auf verschiedene Punkte und insb. mögliche Fallen im Kontrollkontext genau zu schauen. Die Ausübung von Zwang und Kontrolle ist i.d.R. nicht der Grund für das Ergreifen psychosozialer Berufe. Konfrontation und das klare Aufzeigen von Konsequenzen werden mitunter vermieden, weil der (angemessene) Umgang mit ihnen nie erlernt wurde, Angst vor den Reaktionen anderer auslöst, nicht zum Selbstbild passt oder Vertrauensverlust befürchten lässt (Schwing/ Fryszer 2006, 330).

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Von den genannten Vertretern systemisch-konstruktivistischer Pädagogik wird betont – bei Aufrechterhaltung der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion -, dass Vorgaben und Kontrolle Orientierung verleihen können und dass die Auseinandersetzung um Grenzsetzungen geradezu eine zentral wichtige Chance zur spielerischen Selbsterfahrung (Hargens 2002, 31ff) beinhaltet. „Der Instruktionsvorbehalt bedeutet [...] lediglich ein anderes Bewusstsein, mit dem die pädagogischen Sollsätze und Erziehungsziele begleitet werden“ (Huschke-Rhein 1998b, 26). Grenzsetzungen und Konfrontationen sind ja auch „Zeichen, dass der andere wichtig ist, dass es uns um etwas geht, [...sie sind, R.M.] ein Zeichen von Interesse und Engagement“ (Schwing/ Fryszer 2006, 331) und damit möglicher wichtiger Ausdruck von Präsenz (vgl. Kap. 9.5). Eine solche Form der Auseinandersetzung kann nicht selten zu einer Intensivierung und Verbesserung der Beziehung zum Schüler führen.

Kinder müssen Grenzen austesten und diese dabei zumindest ein wenig überschreiten (also mitunter ein Verhalten zeigen, dass aus der erzieherischen Außenperspektive als ‚falsch’ bewertet wird), um lernen bzw. konstruieren zu können, wo die Grenzen überhaupt liegen. „Und genau das tun Kinder sehr gerne und mit großer Ausdauer“ (Bastian 2001, 13). Eltern und Pädagogen, die ohne Unterlass geliebt werden wollen, Meinungsverschiedenheiten und kindlichen Zorn nicht aushalten können und auf kindliche Übergriffe nicht reagieren, bringen „Kinder damit um einen sehr wesentlichen Aspekt des Erwachsenwerdens“ (Bastian 2001, 22). Ebenso lässt sich beobachten, dass Kinder, die „das Nachgeben nicht lernen“ (also keine Kompromiss- und Verhandlungsfähigkeit entwickeln), zu Außenseitern werden - obwohl doch eigentlich nichts so öde sei, als jederzeit seine Wünsche erfüllt zu bekommen, so Bergmann (2001, 76,80).

Wenn Lehrer sich für eine Positionierung im Durchsetzungskontext entscheiden (den Angebotskontext verlassen), ist von ihnen zu unterscheiden und auch im Gespräch explizit mitzuteilen, ob sie dies eher aus Bequemlichkeit für sich302 tun oder, weil der institutionelle Kontext dies verlangt, oder, weil es Mitschüler vor anderen Schülern zu schützen gilt. Gegen gewalttätige Schüler gibt es in einem ersten Schritt nur ein Vorgehen: zunächst müssen Grenzen gesetzt, andere geschützt und die Verantwortlichen ggf. bestraft werden, dann erst wird mit ihnen erläuternd oder Beratung anbietend geredet, da anderes i.d.R. als Schwäche ausgelegt wird: „Schutz und Autorität [qua Amt, R.M.] gehen Hand in Hand“ (Bergmann 2001, 122).

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Grenzen können allerdings nur ausgetestet werden, wenn es eine sichere einbettende, angemessen reagierende, Präsenz ausstrahlende, haltende Kultur gibt, in der Grenzüberschreiten als falsches (moralisch zu korrigierendes) aber entwicklungsnotwendiges (sich mittelfristig autopoietisch selbst korrigierendes) Verhalten in einem angemessenen Rahmen akzeptiert werden. Je stärker es in diesem Prozess dem Lehrer gelingt, den Schüler sowohl inhaltlich zu überzeugen als auch grundsätzlich spüren zu lassen, dass er an ihm ein Interesse hat und an ihn glaubt, „desto leidenschaftlicher ‚darf’ auch seine Kritik ausfallen“ (Bauer 2007c, 85).

Verschiedene Autoren (z.B. Omer, Schlippe, Pleyer) machen aber in westlichen Kulturen eine lähmende „Angst vor dem Kind“ (Bastian/ Bastian 1996) aus, „als sei das Behaupten eigener Überzeugungen so etwas wie Aufdringlichkeit und das Anmelden eigener Bedürfnisse ein Ausdruck von Egoismus“ (Omer/Schlippe 2002, 159). Pleyer spricht von ‚parentaler Hilflosigkeit’ (2003) und ‚co-traumatischen Beziehungsmustern’ (2004). Diese zeichneten sich – beschrieben aus einer Außenperspektive - aus durch eine verengte und verzerrte Art der elterlichen Wahrnehmung der Botschaften des Kindes, Vermeidung von Konflikten und Präsenz, eine Tendenz zur Abgabe von Erziehungsverantwortung und Isolierung auf Elternebene sowie Kooperationsdefizite mit den Kindern und mit Externen bei unklarer eigener Position (Pleyer 2006, 103; Ollefs/Schlippe 2006, 141).

Hierfür werden verschiedene (Hinter-)Gründe genannt (ebenda):

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Solche Gründe können bei Eltern und Pädagogen zu Hemmungen und zu „Extremen von Mitleid, Ängstlichkeit und vor allem Schuld“ führen sowie „zu einem Empfinden von Inkompetenz und einer Mischung aus Nachgiebigkeit und Auffangen“ (Omer/Schlippe 2002, 162). Pädagogen und Eltern würden teilweise noch dem Gleichberechtigung zwischen Eltern und Kindern fordernden Konzept der sozialen Reversibilität aus den 60er Jahren anhängen (Kap.6.1.3), das heute aber zu sehen sei als ein „romantisches Erziehungsideal, das als Unterschied zu einer autoritären, entwertenden Form der Erziehung sinnvoll ist“, jedoch kein Maßstab heutigen pädagogischen Handelns mehr darstellen sollte (Schlippe 2006, 14).

Hilflose Eltern – und das lässt sich auf Pädagogen als Anhänger humanistischer Alltagspsychologie erweitern – würden weniger von der tatsächlichen Schuld als vielmehr „von den endlosen Versuchen, ein Schuldgefühl zu verhindern“ bedrückt, so Omer/Schlippe (2002, 166).303 Da Kinder es meisterlich verstünden, aus dieser elterlichen Schwachstelle Vorteile zu ziehen, würde sich dann trotz der gut gemeinten Intentionen der Erwachsenen ein unter Umständen vorhandenes problematisches Verhalten auf Seiten von Schülern eher verschlimmern.

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Dies kann dazu führen, dass die Kinder „ihre psychische Energie im täglichen ‚Kampf um Deutlichkeit’“ (Pleyer 1996, 190) und Grenzen verlieren. Kinder und Jugendliche gelangen auf einem solchen Weg in der Schule und/oder zu Hause durch Quengeln und Drohungen sowie durch Erpressung (auch durch selbstschädigendes Verhalten) bis hin zu roher Gewalt in Dominanzpositionen gegenüber älteren Erwachsenen (Omer/Schlippe 2004, 20).

Omer/Schlippe weisen explizit darauf hin, dass ohne Grenzen und Anforderungen erzogene Kinder oft mit einem schlechteren Selbstbild bzw. Selbstwertgefühl, geringeren Leistungen, einer geringeren Frustrationstoleranz und einem Mangel an innerer Orientierung zurecht kommen müssen als autoritativ (nicht autoritär) erzogene (Omer/Schlippe 2002, 22; Omer/Schlippe 2004, 167): „Das Fehlen von Grenzen und Anforderungen erweist sich als nicht weniger schädlich als die engstirnigste Autoritätsausübung“ (Omer/Schlippe 2002, 23; ebenso Bastian 2001, 63). Forderungen, Grenzsetzung und Konsequenz sind nicht per se unpädagogisch und schlecht, vielmehr können sie Ausdruck der These sein: „Kinder brauchen Struktur“ (Spitzer, M. 2000, 334). Sie können aber aufgrund Kinder überfordernder Freiheitsideale und Angst vor Schuld als grundsätzlich schlecht und falsch erlebt werden. Omer/Schlippe (2002, 77) werfen der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft vor, „an einer Idealisierung der Kindheit und an einer zu massiven Kindzentrierung“ zu leiden.

Umgekehrt gilt natürlich auch, dass Grenzsetzungen, Anforderungen und Strafe gegenüber Kindern nicht per se gut sind, sondern eben – systemisch betrachtet – kontextabhängig und relativ. Allerdings sollte bedacht werden, dass die Anwendung von Strafe bereits – psychologisch gesehen - Ausdruck relativer eigener Hilflosigkeit ist in dem Sinne, dass die Schüler dem Lehrer in diesem Punkt oder Moment, der zur Strafanwendung führt, Autorität eben gerade nicht zuerkennen. Allerdings kann Strafen auch als Hinweis für das Interesse bzw. den Wunsch gesehen werden, dass der Strafende gerne etwas positiv verändern möchte (Hargens 2006, 79).

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Außerdem können Kontrollversuche – gerade in Institutionen wie Schule – auch das „berechtigte Interesse nach Sicherung des organisatorischen Ablaufs“ im Unterstützungssystem ausdrücken (G.Schmidt 2004a, 347). Bei aller Legitimität von Kontrollversuchen ist allerdings zu beachten, dass sie eine Aussage über die Bedürfnisse der Helfer darstellen. Werden sie angewandt mit der Begründung, sie dienten der Hilfe und dem Wohl des Schülers, werden sie mystifiziert. Nach diversen Studien ist der Schutz von Schülern und das Lernklima jedenfalls problematisch. Gemäß einer neueren Umfrage (Krumm 2005) litten innerhalb von vier Wochen 17% der Schüler unter Misshandlungen, Mobbing und Machtmissbrauch von Lehrern – die Quote bei Misshandlungen durch Mitschüler lag genauso hoch. Auch Singer (2002, 121,130) beklagt die Verletzung von Persönlichkeitsrechten der Schüler, wobei die häufige Tabuisierung von Einzelfällen den Blick auf das Gesamtbild verstelle. Schulängste und psychosomatische Beschwerden steigen seit Jahren bei deutschen Schulkindern (Unverzagt 2007, 80).304 Auf Machtmittel und ihren Einsatz sollte also von schulischer und von Pädagogen-Seite nicht verzichtet werden, aber „sie müssen darauf verzichten, sie unreflektiert und ungehemmt einzusetzen“ (Bastian 2001, 167). Dominanz und Durchsetzung der Erwachsenen müssen im langfristigen Interesse der Kinder liegen.

9.1.3 Durchsetzung

Der Durchsetzungskontext von Pädagogik betrifft die letztlich nicht verhandelbare An-ordnungs-305, Kontroll- und Auswahlverantwortung des Lehrers. Dieser Bereich ist seinem Ansatz nach eher situationsadäquat konfrontativ als verständnisvoll. Der Lehrer ist in diesem Kontext – nicht zuletzt durch die Art und Weise der staatlichen Organisation und Funktion von Schule - aufgerufen, sich direktiv, normativ wertend, eindeutig, (ein-)fordernd, dominant, strafend (und ggf. lockend) und auch eher formal als informell zu verhalten. Seine Leitunterscheidungen sind ‚wahr vs. unwahr’, ‚recht vs. Unrecht’, ‚an die Norm angepasst vs. nicht an sie angepasst’. Der Pädagoge bewertet, begutachtet und kontrolliert aktiv, während dem Schüler passives Verhalten zugedacht ist. Das Vorgehen im normativen Kontext zielt i.d.R. entweder auf die Beurteilung, inwieweit jemand bestimmten Normen entspricht, oder auf die Wiederanpassung an Normen im Sinne sozialer Kontrolle. Der Lehrer ist damit Instanz der Erfolgsbeurteilung in diesem Kontext (Ruf 2005, 62,85).

Von den Schülern wird Schule in diesem Kontext eher als Zwangsveranstaltung erlebt. Kinder und Jugendliche müssen zur Schule gehen und unterliegen dort der Aufsichtspflicht, müssen Gesetze und Verordnungen befolgen und werden nach vorgegebenen Kriterien bewertet und selektioniert.

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Dieser Rahmen bringt den Lehrer in die formal mächtigere Position. Aufgrund der Art der Organisiertheit von Schule (Kap.6.2) strebt der Durchsetzungskontext nach Herstellung einer bleibend asymmetrischen (Macht-)Beziehung zwischen Lehrern und Schülern, die v.a. durch die Kombination von Zensurenmacht und Schulzwang306 formal hergestellt wird.

Lehrer können auch auf dieser Seite der Pädagogik durchaus entwicklungsfördernd tätig sein. Die Beziehungsgestaltung erfolgt aber auf anderem Wege. Es muss im Durchsetzungskontext ein klarer, transparenter und eindeutiger Regelbezug gelten. Lehrer können hier nicht neutral sein, sondern bewerten Handlungen (Klassenarbeiten, Pausenhofverhalten usw.) als richtig/ angemessen oder falsch/ unangemessen und müssen dementsprechende Konsequenzen (Bestrafungen, ggf. Belohnungen) umsetzen und diese den Schülern und u.U. den Eltern mitteilen. In diesem Sinne ist der Lehrer hier wissend. Er macht hier nicht Angebote sondern, wenn für nötig befunden, Druck. Der Lehrer steht hier in einer Triangulation (Dreiecks-Beziehung): Er muss Dinge umsetzen für andere (Staat, Gesellschaft, Politik, Schulhaus). Und er tut das langfristig nur dann glaubhaft, wenn er den Durchsetzungskontext als zur Pädagogik gehörig anerkennt und ihn für Schüler, Eltern und Schulleitung glaubwürdig umsetzt. Dazu ist es (aus der hier vertretenen Sicht) nötig, ihn regelmäßig rückzubinden an den Angebots- und Unterstützungskontext (Kap. 9.1.6). Die dritten ‚Partner’ triadischer Beziehungen in Zwangskontexten müssen mitgedacht werden und sind stets unsichtbar anwesend (Pleyer 1996, 192).

Die Kommunikation des Lehrers hebt hier eher auf die Regeleinhaltung (und damit auch auf die Sache) ab als auf die Person des Schülers. Entscheidungstransparenz heißt hier, klare, unzweideutige Anweisungen und/ oder Rückmeldungen zu geben, meist erst mal ohne ausführliche Begründung, wohl aber unter Benennung der Regel, um die es geht, d.h. gegen die verstoßen wurde. Eine erläuternde, Verhalten begründende Metakommunikation durch den Pädagogen gegenüber dem im Durchsetzungskontext auffälligen Schüler zu einem späteren Zeitpunkt ist sinnvoll und befindet sich dann im Angebotskontext. Es reicht zunächst aber die Mitteilung der ‚Außenperspektive’ auf die Regel(nicht)einhaltung. Die Mitteilung eigener Gefühle durch den Pädagogen geht bereits in Richtung Angebotskontext und etabliert eine symmetrische Beziehung, da – aus konstruktivistischer Sicht - über Gefühle nicht gestritten werden kann, weil sie im Inneren passieren und mitgeteilt aber nicht von außen eingesehen oder überprüft werden können. Der Schüler muss im Durchsetzungskontext in seinen inneren Gefühlen und Meinungen frei bleiben dürfen, er soll nur ein bestimmtes Verhalten zeigen oder – genauer betrachtet (Kap.9.1.4) - unterlassen. Gefordert werden kann nur, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, und nicht, eine bestimmte innere Einstellung zu haben. Person und Denken des Kindes werden akzeptiert, nicht aber sein Verhalten (Rotthaus1999, 106). Wichtig ist, dass das Verhalten von Lehrer und ‚Schulhaus’ im Durchsetzungskontext Klarheit, Konsequenz, Kontinuität und Kooperation bzw. Einigkeit ausstrahlt und damit für die Schüler und Eltern transparent und berechenbar ist und bleibt.

▼ 284 

Auch kann der Pädagoge die eigene Gebundenheit an Weisungen nicht ständig als ‚Entschuldigung’ für sein ‚hartes’ Verhalten bringen, da seine Professionalität darin besteht, angemessen und entwicklungsfördernd auch mit diesem Kontext umzugehen. Die pädagogische (nicht die schulorganisatorische) Begründung für die Notwendigkeit dieses Kontextes besteht einerseits darin, dass Regeln und Grenzen Orientierung verleihen, andererseits darin, dass sie Schutz der Kinder vor Gewalttaten gegen andere oder sich selbst gewähren307. Es geht hier also um Fragen wie: Gegen welche Regel verstößt das Verhalten? Müssen (weitere) Personen geschützt oder abgeschreckt werden? Ziel von Orientierung bietender Grenzsetzung ist, dass der heranwachsende Eingegrenzte sich innerhalb der bewahrenswerten Grenzen zukünftig/ mittelfristig selbstverantwortlich verhalten können soll. Ein solches Vorgehen nimmt den Schüler in seiner Eigenverantwortung ernst und tritt unbewussten Entmündigungstendenzen von Helfersystemen oder humanistischer Alltagspsychologie entgegen: „Ich muss dem Schüler, wenn ich ihn ernst nehme, die Konsequenzen seines Tuns im Rahmen, den die Schule dafür vorsieht, zumuten, ohne ihn moralisch abzuwerten und zu verurteilen, und zugleich darauf schauen, wie die Familie und das Kind eine Lösung für das Problem finden können“ (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 198f).

Auch im Durchsetzungskontext haben Schüler wie Lehrer auf die Kommunikation Einfluss. Die Aktivierung des Kontrollkontextes kann ein Schüler bzw. eine Klasse durch sein bzw. ihr Auftreten einfordern. Psychologisch betrachtet, entscheiden die Schüler, ob sie diesen Kontext im konkreten Fall bestimmter Zensuren und Vorschriften anerkennen oder nicht. Unter konstruktivistischen Gesichtspunkten entscheiden - auch in Durchsetzungskontext - die Schüler, ob sie dem schulischen Rahmen Anerkennung und den Lehrern (u.a. als Vertreter der Obrigkeit) Respekt und Autorität zugestehen. Für Lehrer machen in diesem Kontext klare Positionen und bei Eskalationen zunächst deeskalierende Verhaltensweisen Sinn. Die Vermeidung physischer wie verbaler Attacken, das Prinzip der verzögerten Reaktion308 und erst recht Versöhnungsgesten309 zeugen von Stärke und sind nicht Ausdruck von Nachgiebigkeit, solange die eigenen Forderungen aufrecht erhalten werden (Omer/Schlippe 2002, 64; Omer et al 2006, 48, 52). Es geht hier nicht um Siegen (in einer Eskalation), wohl aber noch um den Wunsch zu überzeugen, durchaus bei Bereitschaft, ggf. auch andere Wege des Kindes anzuerkennen, als die bisher gesehenen (Rotthaus 2004, 10).

Feedback an Schüler ist hier wertend, feststellend, ‚entgegen-stehend’, wachrüttelnd, im subjektiven Besitz einer ‚Wahrheit’, die als die eigene Sichtweise deutlich vertreten wird. Der Pädagoge sieht sich hier günstigenfalls selbst als eine Art weiser Richter und gegenüber Schülern und Klasse außerdem auch als Weisungsgebender. Im Durchsetzungskontext erfährt der Schüler auch, wie es einem Erwachsenen gelingt, mit dem Recht umzugehen, sich selber und andere zu schützen.310 Und der Lehrer erfährt, dass sein Einfluss Grenzen hat (Omer/Schlippe 2002, 181).

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Mit seinen in der Klasse unterrichtenden Kollegen verfolgt er das Ziel gemeinsamer Grenzsetzung gegenüber dem Schüler und/ oder der Klasse. Eltern begegnen ihm hier häufig als Verbündete oder Gegner, manchmal auch als Desinteressierte. Eltern haben aber auf jeden Fall ein Recht der Information. Der Schüler darf in diesem Kontext seinen Unmut in angemessener Weise zeigen. Er ist frei, nicht (sofort oder „eigentlich“) verstehen zu müssen – andernfalls würde die Schule totalitär, wenn der Lehrer nicht nur das Verhalten sondern auch die innere „Programmierung“ des Schülers bewertete. Für Lehrer, die Schwierigkeiten haben, ihre Wut angemessen auszudrücken, kann eine psychologische Theaterarbeit (V.Mosell 2003) hilfreich sein, um frühzeitig, Energie sparend und stimmig ihre Wut authentisch und zugleich pädagogisch abgefedert zu inszenieren.

Die Kooperation mit außerschulischen Institutionen bezieht sich in diesem Kontext eher auf repressive Aufgaben und kann für die Schule bzw. den Lehrer durchaus sehr hilfreich sein, weil diese schulhausexternen Vertreter Machtmittel zur Verfügung haben, die die Schule nicht besitzt. Speziell trainierte Jugendsachbearbeiter der Polizei im repressiven Bereich, Maßnahmen wie Kindesentzug (ASD) oder förderpädagogische Überprüfungsverfahren gegen den Willen der Eltern können hierfür Beispiele für den Durchsetzungskontext staatlicher Institutionen (auch gegenüber Eltern) sein.

Bei allen Vorteilen von Grenzen, die Territorien sichern, bei der Orientierung helfen und ein Miteinader regeln können, sollte nicht übersehen werden, dass sie auch anfällig für Machtdenken und -missbrauch sind und unnötige Ausgrenzung zur Folge haben können (Grabbe 2006, 265). Eine Überbetonung bzw. ein einseitiger dauerhafter Einsatz von negativen Sanktionen beeinträchtigt i.d.R. auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis erheblich. Die Verführung ist hier allerdings gerade in unübersichtbaren Situationen groß, dass negative Sanktionen versprechen, kurzfristig für Entlastung zu sorgen, während sie mittel- und langfristig das vorhandene, aufreibende bisherige (Lösungs-)Muster aufrecht erhalten, das damit zum Problemmuster wird (Palmowski 2003, 55).

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Die derzeitige Betonung der Wichtigkeit von Grenzen und Grenzsetzung in Pädagogik und Erziehung kann als eine Reaktion auf gesellschaftliche Werteveränderungen in Westdeutschland seit Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts gesehen werden, die grenzenlose Freiheit propagierten. Auf einem solchen Hintergrund kann die Bedeutung des Leidens von Pädagogen oder Eltern mit verhaltensauffälligen Kindern umgedeutet werden: Wird eigenes Leiden aus Sicht einer humanistischen Alltagspsychologie als Notwendigkeit für die Freiheit der Kinder oder im Eskalationsfall als „sinnloses Nebenprodukt von Schwäche“ erlebt, so kann auf dem Hintergrund von einer Pädagogik, die als angemessenem Wechsel zwischen Angebot und Durchsetzung konzipiert ist, die Bereitschaft, Spannungen und Angriffe auszuhalten und sich in ihnen neu zu erproben, als aktive und „wichtige Komponente im Prozess des Wandels“ aufgefasst werden (Omer/Schlippe 2004, 58). Hierzu können supervisorische, beratende oder Ratschlag gebende Begleitung und Unterstützung sowie gemeinsame Reflexion und sorgfältige Vorbereitung von (Konflikt-)Gesprächen hilfreich sein. Diese könne auch helfen, die Fallen des Durchsetzungskontextes zu vermeiden, die im folgenden Kapitel ausführlicher besprochen.

Doch zunächst können Angebots- und Durchsetzungskontext noch einmal in Kurzübersicht einander tabellarisch gegenüber gestellt werden:

Kontext

Angebot

Durchsetzung

Setting

Unterstützen / Beraten

Anordnung/ Kontrolle/ Auswahl

Leitunter-scheidungen

nützlich – nicht nützlich

gute – schlechte Lösung

wahr – unwahr; richtig - falsch

Recht – Unrecht

an die Norm angepasst – nicht angepasst

Lehrer-verhalten

fragend,

neue Sichtweisen einführend

aktiv beurteilend, begutachtend, kontrollierend

Rolle

eher helfend , verständnisvoll

eher direktiv, fordernd

Ansatz

eher verstehend (und ggf. beziehungsgetragen konfrontativ)

eher konfrontativ

Schule

ist Lernchance

ist Zwangsveranstaltung

Beziehungs-gestaltung

Metakommunikation kann zu symmetrischer Beziehung (Selbstverantwortung) einladen.

bleibend asymmetrische (Macht)Beziehung

Angebot: Lehrer macht Offerte

Verbot: Lehrer macht Druck

♢ Einladung zu wechselseitiger persönlicher Beziehung

eher neutral, partnerschaftlich

fachlich wissend, „nicht-wissend“ bei entscheidbaren, nicht-trivialen Fragen im Sinne v.Foersters

Person und Sache ausbalancieren. Auch das erfordert Auseinandersetzungen.

Lehrerverhalten wirkt nicht vorausberechenbar.

♢ klarer und enger Regelbezug:

normativ und bewertend (bestrafen, belohnen)

wissend

Regeleinhaltung sehen. Entscheidend ist, dass der Schüler Dinge unterlässt.

Lehrerverhalten ist berechenbar.

Schüler-verhalten

aktiv

passiv

Instanz der Erfolgsbeurteilung

Schüler

Lehrer

Problem

Wenn der Schüler das Beziehungsangebot nicht annehmen mag, ist der Lehrer ohnmächtig.

Lernen setzt Vertrauen voraus in die Person des Lehrers und den Lerngegenstand, den er anbietet

Versprechungen sollten eingehalten werden.

Der Lehrer hat hier teilweise die nötigen Mittel zur Unterdrückung von Schüler-Handlungen nicht zur Verfügung.

Drohungen müssen wahr gemacht werden. Versprechungen müssen eingehalten werden.

Es kann nicht verlässlich erreicht werden, dass ein Schüler/Elternteil ein bestimmtes Verhalten zeigt, nur dass er ein best. Verhalten unterlässt.

Feed-Back an Schüler

einfühlend, wertschätzend, (verstörend), ohne Wahrheitsanspruch

♢ Innen- und Außenperspektive zugleich:

Was passiert beim Schüler/ Klasse, was bei mir? Wer hat welche Gefühle und Interessen? Wer braucht was?

wertend, entgegen-stehend, wahrheitsbesitzend

♢ (Außen)Perspektive Richter:

Gegen welche Regel verstößt das Verhalten? Müssen weitere Personen geschützt/ abgeschreckt werden?

Kontakt

- mit sich selber als (Lehrer und) Mensch (Authentizität)

- mit Schülern/Klasse als Selbstverantwortlichen

- mit Kollegen der Klasse: Ziel ist die gemeinsame Unterstützung des Schülers.

- mit Eltern als Erziehungspartner und Problembetroffene

- mit externen Institutionen der Vorbeugung

- mit sich selbst als (weisem) Richter

- mit Schülern/Klasse als Weisungsbebundenen

- mit Kollegen der Klasse: Ziel ist die gemeinsame Grenzsetzung gg. Schüler/ ggf. Eltern

- mit Eltern als Verbündete oder Gegner

- mit externen Institutionen der Repression

9.1.4 Fallen des schulischen Kontrollkontextes

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Nicht-funktionierende Problemlösungsversuche in Schule zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie nur eine Seite der beiden pädagogischen Kontexte berücksichtigen und dort auch noch ggf. extreme Ausformungen finden. Auf der Seite der Unterstützung kann die Hilfe so weit gehen, dass das schulische Umfeld, u.U. im Verbund mit weiteren schulhausexternen Institutionen Probleme des Schülers (oder der Familie/ eines allein erziehenden Elternteils) so weit kompensieren, dass diese selber keine Verantwortung mehr tragen müssen.311 Auf der Seite von Kontrolle und Zwang kann Schule versucht sein, allein auf kontrollierend-sanktionierende Maßnahmen zu setzen. In beiden Fällen besteht, abgesehen von der geringen Veränderungschance, eine hohe Gefahr für Eskalation, bei entmündigender Unterstützung eher komplementärer Art, bei entmündigender Kontrolle eher symmetrischer Art (Hubrig/ Herrmann 2005, 66). Da aufgrund der Art ihrer Organisiertheit Schule über mehr sanktionierende als unterstützende Macht verfügt, sollen im Folgenden die - im übrigen vielfältigen - Fallen des Kontrollkontextes näher beleuchtet werden.

Der zu Schule gehörende Kontrollkontext wird meistens aus Lehrersicht als unliebsames Nebenprodukt der pädagogischen Arbeit in Schule gesehen, jedenfalls liegt hier nicht der Hauptmotivationsgrund pädagogischer Arbeit. Um so wichtiger ist es, sich diesen Bereich genau und bewusst anzuschauen. Die missbräuchliche Anwendung von Kontrolle und Zwang wie auch der Verzicht auf ihre Verwendung bzw. Aktualisierung stellen beide keine professionelle Umsetzung der Pädagogik dar, die vielmehr ein flexibles und kontextangemessenes Wechselspiel mit diesen beiden Kontexten sein muss. Der Kontrollkontext kann als eine (Spezial-)Form des Durchsetzungskontexts gesehen werden. Grundsätzlich gilt im Kontrollkontext, dass transparente, angemessene und zeitnahe Reaktionen für die Entwicklung der Schüler wichtig sind. Wichtig ist eine für die Entwicklung der Schülerpersönlichkeiten wichtige angemesseneund für die Gegebenheiten verhältnismäßigeGrenzziehung sowie die möglichst klare Kommunikation über (die) Grenzziehung.

Pädagogen sind zu klaren Botschaften nicht nur berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet. Auch bei dem Versuch einer passgenauen individuellen Reaktion auf als problematisch erlebtes Schülerverhalten kann es durchaus dazu kommen, dass der Schüler frustriert reagiert (Scala 1998, 235). Konfrontative Botschaften können und sollten begleitet werden von der Anerkennung dafür, dass das gezeigte Verhalten für das Kind bzw. den Jugendliche momentan subjektiv wichtig und wahrscheinlich subjektiv richtig ist. „Der Gewinn für die Kinder kann in einer authentischen Begegnung mit den [...Pädagogen312] liegen, bei denen die Stimmen auf beiden Seiten deutlicher zu hören sind und die Gefahr von Machtkämpfen geringer wird“ (Omer/Schlippe 2002, 177).

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Die klare Botschaft und die Anerkennung der Person des Jugendlichen können des Weiteren verbunden werden mit einem freundlichen, nicht-pathologisierenden Angebot auf der Beratungsseite, z.B. (gemeinsam) nach Alternativen zu suchen (Rotthaus 1999a, 87). Die Anwendung von Zwang ist nicht per se schlecht, sondern kann vielmehr insofern durchaus als Ressource gesehen werden, als durch einen reflektierten und angemessenen Umgang mit Zwang Verstörungen passieren und Nachdenkensprozesse in Gang kommen können. Rotthaus weist darauf hin, dass “Zwang – in vernünftigem Maße eingesetzt – von Kindern geradezu als befreiend erlebt werden kann, wenn sie dadurch Deutlichkeit und Klarheit der Erwachsenen erleben und wenn sie von überfordernden Entscheidungen [...] befreit werden“ (Rotthaus 1999a, 94).

Definiert ein Pädagoge eine Situation als in den Kontrollkontext im engeren Sinne gehörend, sollte er also darauf achten, wie er – letztlich über seine Präsenz (Kap.9.5) – ebenfalls den Unterstützungskontext angebotsweise aktivieren kann. Rotthaus (1999a, 98f,105f) benennt weitere Aspekte, denen der Pädagoge im Kontrollkontext mit besonderer innerer Achtsamkeit begegnen sollte. Im Blick sollte jeweils sein, dass

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Der Kontrollkontext hält für Pädagogen mehrere Fallen bereit, derer sie sich im Sinne eines professionellen Beobachten und Handelns bewusst sein sollten.

Erstens: Befindet sich der Aufmerksamkeitsfocus von Pädagogen oder Eltern gegenüber Kindern überwiegend im Kontrollkontext, können Problemtrance und selbsterfüllende Prophezeiung die Folge sein und das gemeinsame Verhältnis belasten.

Im Kontrollkontext kann es, zweitens (und ggf. beschleunigt durch den ersten Punkt), zu Machtkampf und Eskalationen kommen. Dann herrscht die Frage vor: Wer setzt sich durch? Wer ist der Boss?' Hier sind deeskalierende Strategien und Methoden durch die Erwachsenen möglichst gezielt und abgeklärt einzusetzen, z.B. Konfrontation nach Abkühlung' und bspw. Versöhnungsgesten (Omer/Schlippe 2002, 56). Ein solcher gewaltloser Kampf gilt nur dem Verhalten des Schülers und nicht seiner Person. So „ist die Botschaft des gewaltlosen Widerstands keine der Dominanz (,Ich bin der Boss!', Du tust, was ich sage!'), sondern eine Verpflichtung (,Ich widersetze mich entschieden kindlicher Gewalt!')" (Omer et al. 2006, 48).

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Eine dritte Falle besteht im schulischen Kontext darin, dass häufig die den Lehrern auferlegte Kontrollverantwortung gar nicht angemessen ausgeübt werden kann. Oftmals ist auch ein zeitnahes Reagieren nicht möglich. Man denke an Pausenaufsichten und Klassenfahrten. Gerade in Fällen verhärteter Konfrontation stehen häufig keine angemessenen Mittel zur Verfügung, die für ein konsequentes Auftreten im Kontrollkontext notwendig wären. Dann kommt es zu einem „Splitting von Verantwortung und Kontrolle" (Ruf 2005, 28). Ordnungsmaßnahmen werden häufig erst spät ergriffen, fallen dann aber gleich unverhältnismäßig hart aus, weil es wenig Abstufungen repressiver Maßnahmen gibt. Im Eskalationsfall, der auch trotz Deeskalationsversuche durch den Lehrer eintreten kann, ist es für den Lehrer wichtig, dass sein Schulleiter hinter ihm steht, und für letzteren, dass die Schulaufsichtsbehörde wiederum hinter ihm steht. Auch hier werden, so meine Erfahrungen in den von mir geleiteten Supervisionsgruppen und den supervidierten Fällen in der hier untersuchten Weiterbildungsgruppe, meist die erforderlichen Ressourcen im Sinne einer ‚Rückendeckung' meist nicht oder nur unzureichend gewährt. Je höher der Rang, desto geringer scheint das Interesse daran, in einer solchen Situation unterstützend für die Lehrerseite zu agieren. Das ist allerdings insofern auch verständlich, als Eskalationen schnell zu Verlierer-Situationen statt zu Win-win-Situationen führen. Die große Gefahr ist, dass die Glaubwürdigkeit eines Lehrers oder auch mittelfristig eines ganzen Schulhauses im Kontroll- und Durchsetzungskontext verloren gehen kann, wenn deutlich wird, dass die Rückendeckung fehlt.

Viertens, wird in Schule häufig übersehen, dass realistisches Ziel negativer Sanktionen immer nur sein kann, dass Menschen, hier also die Schüler, ein bestimmtes Verhalten unterlassen, nicht aber, dass sie ein bestimmtes Verhalten zeigen. Das ist nicht nur in Zwangskontexten nicht möglich (Schweitzer/ Schumacher 1995). Systemisch-autopoietisch gesehen, ist es sogar grundsätzlich unmöglich, einen anderen Menschen zu ändern (Palmowski 2003, 61). Auch dann, wenn Verstörungen als relevante Umwelt wahrgenommen werden, können sie stets nicht mehr als anregen bzw. ‚gerichtet einwirken’. Voraussetzung hierfür ist zusätzlich meist, dass der Lehrer eine „tragfähige menschliche Beziehung“ mit dem Schüler aufbaut (Hubrig/ Herrmann 2005, 70). Der Blick geht im Kontrollkontext also auf Regeleinhaltung; und entscheidend ist dabei, dass der Schüler Handlungen unterlässt. Zielsetzungen im Zwangskontext sind daher - anders als in Beratung oder auch bei Beratung im Zwangskontext (Kap.10.5.1.8) – negativ formuliert und müssen aus der Außenperspektive am Verhalten überprüfbar sein.313

Ziel kann, fünftens, auch nicht sein, dass Schüler bestimmte Einstellungen als die bessere Wahrheit akzeptieren, von denen Eltern oder Lehrer gerne hätten, dass die Schüler sie übernähmen (und die vielleicht auch in durchaus sinnvoller Weise hinter Verordnungen stehen). Hätten die Schüler diese Einstellungen bereits (akzeptiert), hätten sie sich anders verhalten. Das verhindert nicht, dass Sanktionen ausgesprochen und umgesetzt werden können. Der Pädagoge muss aber vermeiden, vom Kind zu verlangen, es solle aus eigener Initiative und eigener Einsicht die Aktivierung des Zwangskontextes (z.B. eine Bestrafung) gutheißen und das tun, was der Erwachsene im Konflikt verlangt. Eine solche Sei-spontan-Paradoxie, die „Selbsterziehungsfähigkeit“ zugleich unterstellt als auch abspricht, vergiftet die Beziehung stärker, als eine klare Forderung zu stellen und deren Realisierung deutlich zu verlangen. Sinnvoll ist es, entweder echte Entscheidungsmöglichkeiten anzubieten - oder aber klare Vorgaben zu machen und deren Erfüllung konsequent und unter Gesichtspunkten von Verhältnismäßigkeit einzufordern, u.U. mit der einfachen Erklärung „weil ich das so will“ (Rotthaus 1999a, 106; Hvg.i.Org.).

▼ 291 

Die Forderung des Erwachsenen bezieht sich hierbei direkt nur auf die Verhaltensebene und nicht auf die Ebene der inneren Ideen und Gefühle: „Das Kind kann der Forderung nachkommen und trotzdem seine innere ablehnende Haltung beibehalten: Das heißt, sein Denken und sein Ich werden akzeptiert, bleiben zumindest unberührt. Das Kind kann seine Selbstachtung bewahren und innerlich so bleiben, wie es ist: Auch kann es nein sagen, es kann kämpfen“ (Rotthaus 1999a, 106). Mit der Forderung nach Einsicht hingegen mag der Erwachsene versucht sein, den leichteren Weg zu gehen, er möchte dann seinen Willen durchsetzen, aber keinen Ärger haben. Anders als manche Eltern/Pädagogen das formulieren, hat das Befolgen von Forderungen nichts mit ‚lieb sein’ zu tun. Kommt das Kind angemessenen Verhaltensforderungen nicht nach, muss es – unabhängig von Nicht/Liebsein - die Konsequenzen tragen (Rotthaus 1999a, 53).314 Diese Ausführungen setzen voraus, dass Eltern es akzeptieren und konstruktiv darauf reagieren, dass Kinder Aggressivität grundsätzlich besitzen und auch für Prozesse der Beziehungsgestaltung und Identitätsfindung leben müssen (Bastian 2001, 62f).

Sechstens verlieren Pädagogen wie Eltern Ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie Drohungen nicht wahrmachen. Deshalb sollten Lehrer, wenn nötig, nur allgemein drohen (z.B.: ‚Hör auf damit, sonst kommst du nach der Stunde zu mir.’) und nicht mit konkreten Folgen, da Sie ansonsten genau diese umsetzen müssen, um Ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. Damit aber schränken Sie Ihren Handlungsfreiraum frühzeitig und auch noch meist unter Stress, also eher unüberlegt, ein. Drohungen auszusprechen bedeutet allerdings - im psychologischen (nicht politischen) Sinne – bereits den Verlust von Macht und Autorität. Die Drohung macht deutlich, dass der Lehrer das Schülerverhalten so einschätzt, dass diese ihm nicht mehr genügende Autorität und/oder Kompetenz zugestehen (Haley 2002, 12ff).315 Außerdem müssen - ebenfalls aus Glaubwürdigkeitsgründen - Versprechungen eingehalten werden.

Siebtens, kann es Lehrern, die sich auch als unterstützende Helfer verstehen, passieren, dass sie, wenn Schüler, die ihnen am Herzen liegen, auf ihre Beratungsangebote nicht eingehen, auf die Kontrollseite wechseln und hier in ihrer Enttäuschung über die Ablehnung durch den Schüler zu einem zu drastischen Vorgehen greifen.

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Andererseits sind sich Lehrer, die gegenüber dissozial orientierten Schülern nicht klar Position beziehen und damit nicht auf ihre leitende Funktion bezüglich Macht, Führung und Ordnung bestehen, wahrscheinlich nicht klar darüber, dass sie so unbewusst ihr angestammtes Recht auf und ihre Verantwortung für diese Größen der schulpädagogischen Beziehungsgestaltung an die Schüler abtreten. In einem funktionierenden pädagogischen System sind die Funktionen bzw. Rollen klar verteilt; Systeme kippen, wenn die Rollen ständig und unausgesprochen über die Verhaltensebene faktisch neu verhandelt werden müssen (Kreter 2005, 127f; Hubrig/ Herrmann 2000, 150).

Entscheidungen und Maßnahmen im Bereich Sanktion und Auswahl sollten stets von Beratungs- und Unterstützungsangeboten präsenter Pädagogen begleitet sein, die der Schüler zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch nehmen kann (Ruf 2005, 84). Mehr Einflusschancen als der einzelne Lehrer hat untereinander abgestimmtes Verhaltens mehrerer für eine Klasse relevanter Pädagogen, ggf. unter Einbezug von und Kooperation mit schulhausexternen Institutionen. Dies muss von der jeweiligen Schule als System geleistet werden (Kap.11.4).

Mit der Bezeichnung ‚Durchsetzungskontext’ für die Bereiche von Anordnung, Auswahl und Kontrolle - darauf soll abschließend noch einmal hingewiesen werden- ist nicht eine meist fatale „Dominanzorientierung: Wer ist der Boss?“ (Omer/Schlippe 2004, 67) gemeint. Gemeint ist auch nicht eine Verherrlichung von Durchsetzungsvermögen in Zeiten sich verstärkenden Konkurrenzkampfes angesichts der zunehmenden Globalisierung. Die zumindest in den Medien zunehmend aktuelle Forderung, den Kindern Grenzen zu setzen, kann unreflektiert viel Unheil anrichten (Bergmann 2001,30; Bünder 2006). Gemeint ist vielmehr, dass es Teil der pädagogischen Aufgabe ist, Schülern gegenüber in aufmerksamer und kontextangemessener Weise sich selbst als Mensch316 und Führungsperson zu zeigen und auch Werte und Regeln des Systems zu vertreten, um den jungen Menschen damit Orientierungsmöglichkeiten anzubieten.

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Die Paradoxien schulischer Organisiertheit durch den Staat sollten dabei nicht unreflektiert weitergegeben werden. Daher lohnt es sich, auf die Zwangskontexte von Schule einen Blick zu werfen.

9.1.5 Schule als Zwangsveranstaltung

Der Kontroll-, Auswahl- und Anordnungskontext in seiner gegenwärtigen Form ist Ausdruck eines bestimmten historisch gewachsenen Modells staatlich organisierter Schule, das u.a. die quasi automatische Zuführung aller Nachwachsenden ins bewertend-auswählende Schulsystem vorsieht. Aus einer Außenperspektive betrachtet, können in diesem Kontext zahlreiche Zwänge ausgemacht werden. Unter systemisch-konstruktivistischer Sicht muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Wahrnehmung von Zwang subjektiv-individuell als psychologischer Prozess geschieht. „’Zwang’ (und Freiwilligkeit) sind Beurteilungskriterien der Beteiligten oder außenstehender Beobachter, d.h. mehrere Personen können in ein- und derselben Situation zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen des Ausmaßes an Zwang in einer Institution kommen“ (Palmowski 1997a, 44). Bei der Bezeichnung von Schule als Zwangskontext muss dies stets mitbedacht werden. Primär geht es bei der Beschreibung und Analyse von Schule als Zwangskontext in diesem Kapitel um eine modellhafte Rekonstruktion aus Schüleraugen und teilweise auch aus Lehreraugen. Eine solche Rekonstruktion ist deshalb sinnvoll, weil sie mehr Bewusstheit für die Kontextbedingungen der schulpädagogischen Arbeit schaffen und damit neue Handlungsoptionen eröffnen kann.

Die Diskussion um (schulischen) Zwang ist nicht einfach. Grundsätzlich kann Zwang bereits dadurch postuliert werden, dass Menschen als soziale Wesen aufeinander angewiesen sind, dass Wirklichkeitskonstruktionen gemeinsam hergestellt und verhandelt werden und dass Sprache selber eine ‚Zwangsveranstaltung’ ist. Sieht man von diesen Aspekten ab, können zwei unterschiedliche Arten von Zwangskontexten im Zusammenhang mit Schule unterschieden werden (ähnlich bei: Palmowski 1997a, 43). Erstens: Es besteht gesetzliche Schulpflicht, die mit Bewertungszwang gekoppelt ist. Dies kann als ‚Zwangskontext im engeren Sinne’ von Schülern erlebt und auch aus einer Außenperspektive so beschrieben werden. Die Schüler sind die einzigen an Schule Beteiligten, die zur Schule gehen müssen und ggf. auch der Schule mit Polizeigewalt z u geführt we r den. Außerdem werden sie unvermeidbar durch Lehrer als Systemvertreter bewertet, sie bekommen, wenn vielleicht mitunter auch nur über Zahlenwert/ Noten, ungefragt eine Einschätzung aus Lehrerhand (die auch den Eltern mitgeteilt wird). Sie sind daher unter diesem (als politisch-rechtlich zu bezeichnenden) Blickwinkel - im Gegensatz zu den offiziellen Schulmythen, denen gemäß Schule für die Schüler gemacht sei - unvermeidbar die schwächsten Glieder im schulischen System.317

▼ 294 

Darüber hinaus bleibt auch nach Ende der gesetzlichen Schulpflicht für die Schüler ein grundlegender Zwangskontext (hier ebenfalls als ‚Zwangskontext im engeren Sinne’ bezeichnet) in einer anderen indirekteren aber nicht weniger wirksamen Form bestehen. Schüler unterliegen der nicht rechtlichen, aber wirtschaftlich-gesellschaftlichen Zwangssituation, dass Schule durch die zentrale Erteilung (und Nichterteilung) von unterschiedlichen Schulabschlüssen über Zugangsmöglichkeiten zu biographieentscheidenden Ressourcen immer noch wesentlich mitbestimmt. Demgegenüber kann zwar relativierend entgegengehalten werden, dass der Wert dieser Abschlüsse fällt. Dies kann aber auch so interpretiert werden, dass dadurch der Druck steigt, Schule mit einem (von Schulform und Notenwert her) möglichst guten Abschluss zu verlassen. Es kann daher argumentiert werden, dass auch diese indirektere Form des ‚Zwanges im engeren Sinne’ durchaus für viele Schüler (auch aus Elternsicht) an Gewicht gewinnt. Beide Interpretationen widersprechen sich nicht, sondern betonen unterschiedliche Aspekte und ergänzen sich.

Ein so verstandener, politisch gewollter ‚Zwangskontext im engeren Sinne’ stellt sozusagen den ganz groben Rahmen dar, innerhalb dessen Schule in den westlichen Industriestaaten zurzeit stattfindet. Auch Alternativschulen verfügen nicht über die Möglichkeit, an diesen ganz grundlegenden politisch vorgegebenen, für sie relevanten rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwas zu verändern. Diesen Rahmen bezeichne ich auch als ‚generellen schulischen Zwangsrahmen’.

Zweitens: Pädagogen können aber innerhalb dieses Rahmens gestalterisch tätig sein. Und sie müssen dies sogar: Da sie nicht nicht handeln können, entscheiden sie sich faktisch mit ihrem Handeln innerhalbeines solchen ‚Zwangskontextes im engeren Sinne’ für einen bestimmten U m gang mit den Bereichen von Kontrolle und Auswahl. Lehrer, Teilkollegien und Schulhäuser müssen also letztlich in jeder Situation, in jedem Einzelfall auf dem Hintergrund ihres Professionsverständnisses mit den institutionellen Vorgaben umgehen. Diese jeweiligen Formen der Ausgestaltung des ‚engeren Zwangskontextes’ bezeichne ich als ‚Zwangskontext im weiteren Sinn’.

▼ 295 

Hier lassen sich nun zwei Sichtweisen unterscheiden. Zum einen können aus Lehrersicht institutionelle Vorgaben aus dem Organisationsbereich leicht zu einem Zwangserleben führen (Palmowski 1997a, 44). Dieses Erleben der Pädagogen ist aber nur als ‚Zwangskontext im weiteren Sinne’ anzusehen, da sie nicht in Schule arbeiten müss(t)en. Insofern kann für sie in ihrem Handeln – zumindest aus einer Außenperspektive – auch die Art und Weise der Organisiertheit von Schule kein Zwangskontext im engeren Sinne darstellen.

Zum anderen hat die Notwendigkeit für Lehrer, Bildungsräume für Schüler innerhalb des generellen schulischen Zwangsrahmens zu gestalten, Auswirkungen auf die Schüler. Diese sind es, die unmittelbar von Entscheidungen der Lehrer betroffen sind: von der Art und Weise, wie Pädagogen die Kommunikation im Unterricht318 sehen und zu gestalten versuchen, von ihrer Art der Beziehungsgestaltung, der Verhängung von disziplinarischen, pädagogischen oder Ordnungsmaßnahmen, der Notengebung und –besprechung usw.. Die Schüler wiederum erleben und beurteilen die pädagogisch-professionelle Ausgestaltung des generellen Zwangsrahmens durch Lehrer, Teilkollegien und Schulhäuser. Das Handeln von Lehrern und Schule kann hier als eher stärker oder eher weniger mit Zwang ‚durchsetzt’ erlebt werden. Aus einer Außenperspektive ist das eine nicht per se besser als das andere, da situationsadäquat eingesetzter Machtgebrauch durchaus eine „positive Ressource“ darstellen kann (Palmowski 1997a, 44). Die Abwägung von Schülerseite aber hat Konsequenzen im Beziehungsbereich zwischen Lehrer und Schülern, da letztere ja nach ihrer eigenen, so gewonnenen Einschätzung handeln. Auf Lehrerseite passiert dasselbe, so dass ein Kultur generierender Kreislaufprozess entsteht. Der Umgang mit dem Zwangskontext durch Lehrer und Schüler hat also wichtige Auswirkungen auf den Schulalltag und verdient daher ausführlichere Betrachtung an anderer Stelle (Kap. 9.12).

Hier sei nur darauf hingewiesen, dass aus Sicht der Schüler dann Zwang im weiteren Sinne vorliegt, wenn sie zu dem Ergebnis gelangen, dass die pädagogische Ausgestaltung von Anwesenheitspflicht, Kontrollmaßnahmen, Bewertung und Auswahl in unverhältnismäßig einengender Art geschieht. Solche Einschätzungen können allerdings Ambivalenzen im inneren Erleben unterliegen (Omer 2002, 35), da das Unterwegssein zwischen den Polen der Fremd- und der Selbstbestimmung ein lebenslanges, beidseitig lust- wie angstbesetztes, sich wechselseitig ausbalancierendes Thema ist.

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Die bisherigen Ausführungen zu schulischen Zwangskontexten lassen sich soweit tabellarisch wie folgt zusammenfassen:

Abb. 9-2: schulische Zwangskontexte

Die Betrachtung von Schule als Zwangskontext wird in Kap.9.12 wieder aufgenommen und dabei auf seine Chancen und Ressourcen für eine systemisch-konstruktivistische Schulpädagogik untersucht werden. Ihre Behandlung in diesem Kapitel rechtfertigt sich dadurch, dass die schulischen Zwangsrahmen sich massiv auf den pädagogischen Umgang mit Angebots- und Durchsetzungskontexten auswirken und daher Lehrern bewusst sein sollten. Darüber hinaus wird in dieser Dissertation die Idee vertreten, dass eine angemessene Handhabung der beiden Kontexte der Pädagogik es Lehrern ermöglicht, Unterricht und Beziehung mit den Schülern so zu gestalten, dass der Zwangscharakter von Schule weniger stark wahrgenommen wird (Kap.9.12.2). Das entlastet die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern und bereichert die Lehr-Lern-kultur so, dass Lernchancen steigen.

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Schulische Pädagogik ist also stark von Zwangskontexten (bzw. der Notwendigkeit des aktiven Umgangs mit ihnen) geprägt. Eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik beachtet diese Kontexte nicht nur, sondern versucht, gezielt mit diesen so umzugehen, dass Beziehung und Lernen erleichtert werden. Dazu gehört, sich nicht einseitig auf die schulischen Zwangskontexte zu verlassen oder zu stützen, sondern sich beider Kontexte der Pädagogik angemessen zu bedienen. Dazu ist eine Metaposition nötig.

9.1.6 Metaperspektive als integrative Kompetenz

Systemisch-konstruktivistische Pädagogik beinhaltet von Lehrerseite aus das bewusste, einzelfallbezogene und situationsangemessene Spiel mit den Kontexten von Angebot und Durchsetzung aus einer Metaperspektive heraus. Ziel der Handhabung der beiden Kontexte der Pädagogik sind qualitative Lösungen, die sowohl die Schulregeln als auch die Person des Schülers berücksichtigen (Hubrig/ Herrmann 2005, 124). Von einem solchen Beobachtungspunkt zweiter Ordnung aus betrachtet, stellt jede Erziehungsmaßnahme ein (Beziehungs-)Angebot dar, das (nach Interpretation) angenommen, verändert oder verworfen werden kann (Huschke-Rhein 1998b, 26). Eine solche Beobachtung (zweiter Ordnung) von Beziehung in Zwangskontexten schließt aus konstruktivistischer Sicht grundsätzlich „Urteilsvorsicht und Anerkennung anderer ein, sie ist eine Einsicht, die als pädagogische Haltung verkörpert wird“ (Siebert 2005b, 77).

Es hilft, die beiden Kontexte der Pädagogik sozusagen als Gedankenexperiment trennen zu können, weil Pädagogen, wenn sie deren jeweilige Implikationen berücksichtigen, für sich und andere dann im Alltag mit größerer Bewusstheit klarer Position beziehen, klarer kommunizieren können. Dies steigert die Qualität der Beziehungsgestaltung zu sich selbst und zu anderen. In Wirklichkeit greifen diese beiden Kontexte immer wieder ineinander über in dem Sinn, dass sie sehr schnell im schulischen Alltags- und Unterrichtshandeln einander abwechseln oder auch schwammig, nicht klar bestimmt sein können. Faktisch aber entscheidet sich der Lehrer durch sein Verhalten permanent für einen dieser beiden Kontexte, da er nicht nicht kommunizieren und nicht nicht handeln kann. Als häufig exponierteste Figur im Klassenraum kann er sich nicht nicht positionieren.319

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Letztlich bestimmen aber nicht der Lehrer allein sondern beide Gesprächsparteien durch ihr Verhalten, in welchem Kontext sie das Gespräch sehen und wo es tatsächlich stattfindet. Die Positionierung in den Kontexten wird also stets kommunikativ verhandelt und damit sozial konstruiert. Günstig ist es, als Pädagoge immer mit kooperativen Signalen und Angeboten zu beginnen (Renner 1997, Axelrod 2005). Fragestellungen wie ‚Wer will was von wem wozu?’ helfen, das Geschehen explizit auf (ggf. auch nicht) vorhandene Aufträge an den Pädagogen abzuklopfen. Eine klare Positionierung im Gespräch erfordert, dass der Pädagoge immer wieder sozusagen von außen aus einer Metaperspektive heraus auf den aktuellen Prozess der Beziehungsgestaltung blickt, sich innerlich wachsam fragt ‚Was tun wir hier?’ und seine Sichtweise und Positionierung auf einer Metaebene dem/n Schüler/n anbietet. Und zwar im Sinne der Fortdauer ‚einbettender Kultur’320 ggf. wiederholt und auch dann, wenn der Schüler dieses Angebot ablehnt (Palmowski 2004a, 52).

Pädagogen benötigen also letztlich für professionelles Handeln die Fähigkeit, eine die jeweilige Situation berücksichtigende Metaperspektive auf diese beiden Kontexte einnehmen und sowohl flexibel wie angemessen zwischen diesen Kontexten wechseln zu können – und zwar unter besonderer Beachtung von schulischen Zwangskontexten. Postmoderne „Autorität muss auf der einen Seite die Forderungen, Regeln und Normen ganz präzise formulieren und gar keinen Zweifel daran lassen, dass sie diese Regeln auch durchsetzen wird [...]. Auf der anderen Seite muss sie sozusagen einen großen Kreis der Gelassenheit, der Großzügigkeit beschreiben“ (Bergmann 2001, 213). Die Fertigkeit, angemessen zwischen den Kontexten des Pädagogischen wechseln zu können und die eigenen Position adäquat anbieten und mittelfristig verständlich machen zu können, soll hier als ‚integrative Kompetenz’ bezeichnet werden; sie beschreibt die Fähigkeit, die beiden pädagogischen Kontexte Angebot und Durchsetzung aktiv und kontextbewusst gestalten zu können. Auf diese Weise kann es gelingen, als Pädagoge glaubwürdig Lehrer- und Beraterverhalten zeigen zu können.321

Benennt der Pädagoge den jeweiligen Rahmen ausdrücklich, kann er Doppelbotschaften vermeiden. Da die Eltern zuhause ebenfalls mit beiden Kontexten umgehen müssen, ist i.d.R. den Kindern und Jugendlichen dieses Wechselspiel vertraut, auch wenn sie insb. in der Pubertät sich auf verbaler Ebene dagegen aussprechen, Grenzen gesetzt zu bekommen (Omer 2002, 35). Das verhindert nicht, dass der Pädagoge stets darauf achten muss, die Ankopplung an sein Gegenüber nicht zu verlieren. Gelingt es den Eltern zuhause nicht, selber eine integrative Kompetenz im Umgang mit den beiden Kontexten der Pädagogik zu entwickeln, werden de Kinder in der Schule wahrscheinlich Grenzen sehr massiv auszureizen versuchen, um Orientierung zu gewinnen. Dann sollte das Kollegium diese Grenzen klar und gleich setzen (was in der Realität selten passiert). Pädagogisches und kommunikatives Ziel ist dabei stets die Förderung der wachsenden Selbstständigkeit der Schützlinge. Die Beibehaltung der Metaperspektive integrativer Kompetenz ist auch wichtig für den Umgang mit Machtarten (Kap.9.1.7) und außerunterrichtlichen Gesprächsformen (Kap.10.5.1).

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Deutlich wird, dass eine situationsunangemessene Positionierung des Lehrers Ausdruck von Verwirrung im eigenen Inneren sein und Missverständnisse in der Kommunikation hervorrufen dürfte. Es ist aber keineswegs immer leicht zu entscheiden, in welchem Kontext man sich wann wie genau positioniert, zumal Kollegen, Schulleitung, Eltern und die Schüler selber u.U. die Situation anders sehen.322 Auch wenn in etlichen Fällen sicherlich beide pädagogischen Kontexte für die Eigenpositionierung des Lehrers in Frage kommen, sollte sich der Pädagoge darüber im Klaren sein, dass jeder der beiden Kontexte seine eigenen Spielregeln hat und wo es Verbindungen und Brücken zwischen den Kontexten gibt bzw. geben kann.

Lehrer sind nicht die Verantwortlichen für den Zwangsrahmen, unter dem sie arbeiten, aber für dessen Ausgestaltung, soweit die Institution Schule dies erlaubt: bspw. für Unterrichtsstil, Gesprächskontexte und -formen und Beziehungsgestaltung (Pleyer 1996, 193). Pädagogik ist damit auch die Kunst, eine angemessene Balance zwischen den beiden Kontexten von Angebot und Durchsetzung zu finden und ein Gespür dafür zu entwickeln, in welchen Situationen bzw. ab wann man als Anbietender oder Durchsetzender oder als begleitender Pädagoge überhaupt überflüssig wird (Pleyer 1996, 192). Um dies zu erreichen, kann es als hilfreich gelten, sich in Selbsterfahrung mit den eigenen Mustern und biographischen Erfahrungen mit den Themen Macht, Druck und Kontrolle auseinander zu setzen, und sich auch eigene Machtgelüste anzuschauen (Schwing/ Fryszer 2006, 332).

In der Interaktion mit anderen Beteiligten wird die Frage, in welchem Kontext man sich befindet, u.U. unterschiedlich gesehen und verbal sowie über faktisches Verhalten verhandelt. Dies ist aber nicht nur eine Frage von Verhandlung sondern auch von Macht im Kommunikationsprozess. Daher ist es sinnvoll, auch mit den Aspekten von Macht in Schule differenziert und bewusst umzugehen.

9.1.7 zwei Machtarten in der Schule

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Ebenso, wie es hilfreich ist, sich als Pädagoge in Schule über die eigene Position in den Kontexten der Pädagogik klar zu sein, ist es hilfreich, zwei Arten von Macht zu unterscheiden. Es lässt sich eine Macht qua Amt, die als ‚politische’ Macht bezeichnet werden kann, unterscheiden von einer informell verliehenen Macht, welche als ‚psychologische’ Macht bezeichnet werden kann. Beide werden im Folgenden erläutert. Vorangestellt sei eine für beide Arten geltende allgemeine Definition von Macht als „die Verfügung über von anderen begehrte Ressourcen“ (Looss 2007). Im konkreten Fall kann dann gefragt werden, um welche Ressourcen es geht, wer sie wozu begehrt und wer über sie mit welchen Mitteln verfügt. Psychologisch gesehen, gilt grundsätzlich, dass jemand nur dann Macht ausüben kann, wenn eine oder mehrere andere Person(en) ihn als mächtig anerkennen (Martin/ Schuster 2005, 54).

9.1.8 politische Macht

Im Durchsetzungskontext hat der Lehrer Anordnungs-, Kontroll-, Bewertungs- und Auswahlfunktionen wahrzunehmen und ist hierfür durch die Organisation mit formaler Macht ausgestattet. Er verfügt über Statusmacht323, also Macht qua Amt, die er sichern (bzw. ‚dauerhaft machen’) kann, indem er seinen Status solange verdeutlicht, bis alle ihn verstanden haben. Hierbei darf er nicht übertreiben, weil Status unter psychologisch-konstruktivistischen Aspekten ein Instrument und kein Selbstzweck ist (mehr dazu im nächsten Unterkapitel). Als Teil der Macht qua Amt besitzt der Lehrer bzw. die Schule auch Sanktionsmacht, wobei Bestrafungen nur als allerletzte Möglichkeit eingesetzt werden sollten (Looss 2007). Drohungen und Versprechungen müssen wahr gemacht werden aus Gründen der eigenen Glaubwürdigkeit.

Der Pädagoge besitzt in der politischen Statusmacht die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. So kann bspw. auf die Aktivität des Klassenlehrers von der Schule ein förderpädagogisches Überprüfungsverfahren eingeleitet werden. Auch im Akt der Sanktionierung aktualisiert der Lehrer seine Macht. Diese Machtart ist gesetzlich festgelegt und gewollt. Sie wird daher hier als ‚politische’ Macht bezeichnet werden.

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Problematisch wird es für Positionsmacht, wenn ein oder mehrere Schüler diese Macht nicht anerkennen. Droht trotz deeskalierender Maßnahmen durch den Lehrer eine unvermeidbare Eskalation im Kontrollkontext, ist der Lehrer auf die Unterstützung der Kollegen, der Schulleitung und u.U. des staatlichen Schulamtes (SSA) angewiesen. Der Lehrer muss vor der Eskalation sich dieser Unterstützung sicher sein können, um nicht nachher, im Regen stehen gelassen, alle Glaubwürdigkeit verloren zu haben und kein Bein mehr auf den Boden des Klassensaals zu bekommen. Schulleitung und SSA haben hier eine ganz zentrale Bedeutung für die Grenzsetzungsmöglichkeiten, die den Kollegen an der Schule möglich ist, und damit auch für die Schulkultur. Die politische Macht gehört primär in den Durchsetzungskontext, wird aber i.d.R. nur dann wahr genommen, wenn sie aktualisiert wird. Aktualisiert wird sie zum einen routinemäßig (z.B. bei Tests, also verdichteten Bewertungsmomenten), zum anderen, wenn sie von anderen in Frage gestellt wird, z.B. durch ein Schülerverhalten, das vom Lehrer als unangemessen und damit seine Macht in Frage stellend erlebt wird oder wenn der Lehrer auf seiner Note besteht, die der Schüler oder die Eltern nicht nachvollziehen können. Das Anzweifeln von Macht ist bereits ein psychologisches Phänomen und bezieht sich nicht auf die Position qua Amt des Lehrers sondern darauf, wie andere beurteilen, dass er sie ausfüllt.

9.1.9 psychologische Macht

Von der politischen oder formalen Macht zu unterscheiden sind eher informelle Aspekte von Macht, die hier unter dem Begriff der ‚psychologischen’ Macht behandelt werden sollen. Macht wird hier als eine sozial verhandelte Zuschreibung durch andere verstanden (Haley 2002, 12ff; Sharp 1979; Omer/Schlippe 2004, 48f) und stellt daher auch kein einseitiges sondern ein kommunikatives und Beziehungs- Phänomen dar (Bateson 1983, 625).

So kann der Pädagoge z.B. Beziehungs- bzw. charismatische Macht 324 zuerkannt bekommen, indem er eigene Werte mitteilt, sichtbar wird in dem, was er will, sich gegen zu viel Verschmelzung sauber abgrenzt und Beziehung durch Ich-Botschaften und Feedback klarstellt. Er kann aber auch Expertenmacht zugerechnet bekommen, wenn andere ihm Kompetenz in Fachlichem und in Führungsfragen zugestehen (Looss 2007). Martin/ Schuster (2005, 57) fügen eine weitere ‚soft power’ an, nämlich Kooper a tionsmacht als Fähigkeit, Kooperation anzubahnen und langfristig aufrechtzuerhalten. Die Ressourcen des Pädagogen sind hier vor allem soziale und kommunikative Kompetenzen, an deren Teilhabe andere Interesse zeigen. Wenn zahlreiche Schüler oder auch Eltern die Kompetenzen in Frage stellen, über die ein Pädagoge zur Erfüllung seiner Aufgaben verfügen sollte, wird politische Macht durch psychologische Ohnmacht unterminiert. Geschieht dies länger, kann es zu einer un(aus)haltbaren Situation kommen, so dass ggf. Begleitung, z.B. Supervision oder Coaching, notwendig wird.

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Machtfragen haben aber darüber hinaus eine grundlegende psychologische Dynamik (Schumacher 2002). Psychologisch gesehen, ist derjenige, der etwas von einem anderen will, in diesem Moment der Macht-Unterlegene. Die relevante Frage ist hier: ‚Wer will was von wem?’ In einem Kontext wie Schule, der Schüler und Lehrer zu Kooperation zwingt, da der Lehrer die Note gibt und ohne Schüler nicht (schüleraktivierend) unterrichten kann, ist, psychologisch gesehen, derjenige der Mächtigere, der weniger vom anderen will. Der vergleichsweise Ohnmächtigere kann der Schüler sein, der eine gute Note will, der Vater, der gerne ein Beratungsgespräch hätte, oder der Lehrer, der guten Unterricht machen will und die Entscheidung über die Zielerreichung vom Verhalten seiner Schützlinge abhängig macht. Besitzen Schüler eine hohe symbolische Bedeutung für das Seelenleben eines Pädagogen, dann steigt seine Abhängigkeit, was im Extremfall zu einer realen Gefährdung auch dieser Schüler werden kann (Bastian 2001, 95). „Durch diese unbewusste Zuschreibung von Macht an das nun gar nicht mehr ‚hilflose’ Kind wächst zunächst auch die Angst vor ihm und seinem Verhalten“ (Bastian 2001, 99).

Problematisch wird es für den Lehrer, sobald er a) etwas von Schülern oder Eltern will, ohne, dass diese das gleiche wollen, und ggf. b) ohne, dass der Lehrer (insb. im Zwangskontext) die Mittel zur Durchsetzung für die Unterlassung eines Schülerverhaltens hätte. So steht der Pädagoge z.B. mit seinen Wunsch allein, dass der Schüler einsehen möge, dass gute Arbeitsorganisation und Verbindlichkeit wünschenswert sind und dass die Eltern ihn dabei durch konstruktive Auseinandersetzung begleiten (Unterstützungskontext). Oder der Pädagoge will, dass der Schüler das Rauchen auf dem Schulgelände unterlässt, aber außer vergeblichen Briefen an die uninteressierten Eltern hält seine Schule keine weiteren Möglichkeiten der Grenzsetzung bereit (Kontrollkontext). Das Gefühl des Ausgeliefertseins an Kinder (Bastian 2001, 112) kann sich im Kontext psychologischer Macht gerade im Umgang mit Klassen durch das disparate Zahlenverhältnis zwischen Schülern und Lehrern ergeben – der gleiche Aspekt kann unter dem Blickwinkel der formalen Macht als Ausdruck der Macht des Lehrers gelten.

Die Schüler als politisch letztes Glied in der Kette schulisch-formaler Macht können also (nur) dadurch Macht erreichen, dass der Lehrer etwas von ihnen will (z.B. sie für die Zwangsveranstaltung Schule motivieren) unddass er ihnen gleichzeitigdie Macht einräumt, (z.B. durch ihr tatsächliches Verhalten) über das Eintreten der Zielerreichung zu entscheiden. Modellhaft professionell verhält sich ein Lehrer erstens, wenn er durchaus Interesse an den jungen Menschen hat, mit denen er zu tun hat, aber die Zielerreichung seiner Zufriedenheit nicht von ihrem Verhalten abhängig macht (dass sie z.B. gute Noten schreiben, seinen Unterricht toll finden oder sein Beratungsangebot dankend annehmen). Und professionelles Verhalten zeigt er, zweitens, wenn er nicht versuchen muss, sich vom Schülerverhalten unabhängig zu machen, denn in der Norwendigkeit des Versuchs bleibt er abhängig (auch in seinem Aufmerksamkeitsfokus) oder wird sogar über die Zeit noch abhängiger (Mücke 2002, 22). Schüler „müssen nicht anders sein, und ich brauche nichts von ihnen“ (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 203).

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Diesem Modell stehen allerdings Arbeiten und Leben als ‚menschlich-realer’ Prozess (Looss 2007) entgegen. Außerdem auch die systemisch-konstruktivistische Didaktik, da Lehrer, die außer Frontalunterricht auch aktivierende Methoden einsetzen wollen, ohne die Aktivität und Mitarbeit von Schülern keinen Unterricht machen können. Dennoch hilft dem Lehrer das Wissen, dass die Schüler im Unterstützungskontext über die Annahme von Angeboten selber entscheiden und im Durchsetzungskontext die Konsequenz ihrer Entscheidung selber tragen müssen. Schüler besitzen für den psychologischen Machtkontext in aller Regel ein sehr feines Gespür.

Politische Macht qua Amt und psychologische Macht qua Nachfrage oder Wunsch sind permanent in Schule vorhanden. Beide Machtarten können in einer Situation zusammenfallen (z.B. wenn Schüler sich auf den Unterricht beim (auch) bewertenden Lehrer freuen), sie können aber auch auseinanderfallen (die Klasse verweigert dem bewertenden Lehrer die Mitarbeit). Ins Bewusstsein treten diese beiden Machtarten meist nur dann, wenn unterschiedliche Vorstellungen der Beteiligten vorliegen. Über psychologische Macht (sowie die Art des Ausfüllens der formalen Macht) entscheiden kommunikative Prozesse, d.h. Macht in der Lehrer-Schüler-Beziehung wird verhandelt und konstruiert; sie wird – so die Position von Konstruktivismus und postmoderner Philosophie - letztlich zuerkannt.

Im Bereich der Zuerkennung von Macht muss – dies ist gerade für den schulischen Bereich wichtig - unterschieden werden, ob dies nur verbal geschieht oder auch im Verhalten Ausdruck findet. Für die Beziehungsgestaltung entscheidend ist die Verhaltensebene. Auf ihr bestimmt der Mächtigere das faktische Beziehungsgeschehen. Bspw. können ‚Verhaltensauffälligkeiten’ eines Schülers die Unterrichtsabläufe massiv stören, obwohl er verbal Besserung verspricht, und eine dauerhafte Nichtveränderung eines symptomatischen Verhaltens kann dann trotz seiner Bekundungen zu Verantwortungskompensationen durch andere Beteiligte auf der Verhaltensebene führen. Auf dieser für die erzieherische Beziehung letztlich entscheidenden Ebene geht es um konkrete Handlungen und nicht um verbales Verhalten bzw. die Absonderung von Schallwellen.

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Es reicht dementsprechend nicht, dass Pädagogen und Eltern sich zwar auf der verbalen Ebene klar zu positionieren versuchen, dabei aber auf eine eindeutige Kommunikation auf Ebene der konkreten Handlungen, auf der auch Konsequenzen für das Verhalten von Schülern liegen, verzichten. Schlippe (Omer/Schlippe 2002, 54; Schlippe 2006, 20)) benennt in diesem Zusammenhang einige zurzeit typische in schulischen Konfliktzuspitzungen ineffektiv bleibende verbale Verhaltensweisen der formal Mächtigen, z.B.

Den auf der Verhaltensebene unterlegenen Lehrern und Eltern bleibt die Definitionsmacht: Der Definitionsmächtigere bestimmt das Beziehungsgeschehen auf der Ebene der verbalen Kommunikation und kann den Verhaltensmächtigen als gestört/ krank/ unnormal definieren, allerdings ohne damit Einfluss auf sein Verhalten zu gewinnen (Clement 2004, 119ff).

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Ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Kontexte der Pädagogik und für Machtfragen in Schule fördern eine gute und von Klarheit geprägte Beziehungsgestaltung mit den Schülern und Eltern. In den beiden folgenden Kapiteln werden weitere hilfreiche Modelle und Ideen in diesem Zusammenhang vorgestellt. Dafür werden idealtypische Analysekriterien, Formen und Bilder der Beziehungsgestaltung mit den Schülern vorgeschlagen (Kap.9.2) und auf wichtige Aspekte in der Kooperation mit dem Elternhaus hingewiesen (Kap.9.3).

9.2 Formen der Beziehungsgestaltung zu den Schülern

Lernen und Unterricht sind in Interaktionen eingebettete Prozesse, die sich immer auch auf dem Hintergrund persönlicher Beziehung zwischen Pädagogen und Schülern abspielen. Beziehung ist, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, also ganz zentral für die Ermöglichung und Begleitung von Lernprozessen. „Beziehung, Beziehungsaufnahme und Beziehungsfähigkeit“ (v.Schlippe 2006, 9), Aufmerksamkeit und Präsenz (Omer/Schlippe 2002, 2004), Aspekte wie die Zuerkennung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit und von Geben und Nehmen (Huschke-Rhein 1998b, 142) sind dann wichtige Begrifflichkeiten systemisch-konstruktivistischer Pädagogik.

Gerade in der Beziehungsgestaltung gibt es vielfältige Möglichkeiten, sowohl mit Schülern auf unterschiedliche Weisen in Kontakt zu treten und damit als Lehrer Freude im Beruf zu finden, als auch bei unreflektierter Beziehungsgestaltung in Burn-out-Situationen hinein zu geraten. Daher macht es für Pädagogen Sinn, sich über ihre Vorstellungen auf diesem Gebiet Klarheit zu verschaffen. Dazu gehört die Frage, welchem Beziehungsmodell sie - im Einzelfall oder generalisiert - im Umgang mit Schülern anhängen. Hierbei sollte beachtet werden, dass Beziehungsgestaltung mit anderen Menschen im Modell systemisch-konstruktivistischer Ansätze durch interaktive Kreislaufprozesse auf einen selbst zurück wirkt. Selbstreflexion ist daher expliziter und wichtiger Bestandteil systemischer pädagogischer Professionalität.

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In den folgenden Unterkapiteln werden Formen der Beziehungsgestaltung zu Schülern in einem allgemeinen schulischen Rahmen beschrieben.326 Zunächst werden die Beziehungsprozess-Größen ‚Geben und Nehmen’ reflektiert (Kap.9.2.1), dann werden drei Formen der Beziehungsgestaltung mit Schülern (Funktionalität - Partnerschaft - Liebe) erläutert und auf ihre Konsequenzen hin untersucht (Kap. 9.2.2), und abschließend werden – in der Tradition systemischer Metaphernarbeit – Bilder und Vergleiche der Pädagoge-Schüler-Beziehung betrachtet (Kap. 9.2.3).

9.2.1 Geben und Nehmen

Einen Schwerpunkt bei der Betrachtung von Lehrer-Schüler-Beziehungen legt Huschke-Rhein (1998b) auf Aspekte von Geben und Nehmen. Damit folgt er Vertretern der systemischen Beziehungsliteratur, die Ebenbürtigkeit in Beziehung als ein ausgeglichenes Verhältnis von Geben und Nehmen beschreiben (z.B. Jellouschek 2001,36; Renoldner et al 2007,105f). Der Lehrberuf zeichnet sich auf einem solchen Hintergrund aus durch ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen und kann daher leicht zu einem Ausbrennen führen, wenn man nicht auf seine Grenzen, Energien, Ressourcen und Quellen achtet. Dies gilt insb. für jene Teile der Lehrerschaft, die, begründet in der Biographie oder Persönlichkeit, den Wunsch verspüren, unter hohem Einsatz etwas von ihnen als wertvoll Erachtetes weiterzugeben an die nächste Generation. Es geht dann um (Weiter)Geben in der Hoffnung, dass die Schüler (an-)nehmen (Huschke-Rhein 1998b, 142).327 Dieser Wunsch trifft zunehmend auf Widerstände, wenn Schülern die Relevanz des zu Lernenden in einer sich schnell wandelnden, pluralen Gesellschaft nicht mehr so einfach nachvollziehen können wie früher, oder, wenn z.B. familiäre Hintergründe Nicht-Lernen als sinnvollere Strategie erscheinen lassen als Lernen. Der Lehrer gibt eher, der Schüler nimmt eher, und damit wächst auch die Burn-out-Gefahr (Boszormenyi-Nagy/ Spark 1993, 58ff), gerade wenn der Schüler nicht nimmt. Das ist die zentrale Falle im Angebotskontext von Pädagogik.328

Konsequenterweise warnt Huschke-Rhein (1998b, 35f und 1998a, 63), dass die Idee der Partnerschaft zwischen Pädagogen und Schülern, wenn sie als formales Austauschverhältnis ausgleichenden Gebens und Nehmens definiert wird, dazu führen kann, dass Pädagogen sich zu sehr auf formale Macht konzentrieren und/ oder Gegenleistungen einfordern. Besser sei es als Pädagoge die eigene Aufmerksamkeit auf die eigene ‚innere Autorität’ (im psychischen System gefühlt und den eigenen sozialen Kompetenzen zugerechnet) zu lenken, in der Selbstständigkeit und Kraft zu finden sei, die dann auch zu durch die Schüler verliehener ‚äußerer Autorität’ (in der Interaktion beobachtbar) führen könne. Zugleich konstatiert Huschke-Rhein (1998b, 141), dass Kinder und Jugendliche vermehrt in Pädagogen nach Vorbildern suchen; und spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚Parentifizierung’329 von Pädagogen, die von Schülern zunehmend als Ersatzmütter oder –väter gesehen würden. Auch dies spricht eher dafür, dass Erziehung und Pädagogik keine Partnerschaft im Sinne eines ausgeglichenen Gebens- und Nehmens sind.

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Dennoch wird die Lehrer-Schüler-Beziehung, auch in der systemischen Literatur, häufig als Lernpartnerschaft zwischen Lehrern und Schülern gesehen. Dieser Begriff wird aber nur selten definiert. Tatsächlich können viele Situationen in Schule aus Lehrersicht als gleichwertig und/ oder partnerschaftlich erlebt werden. ‚Lernpartnerschaft’ kann z.B. ein Aufeinanderangewiesensein ausdrücken in dem Sinn, dass Lehrer gerne von ihrem Wissen und Engagement geben wollen, aber dafür auch aktive, interessierte Schüler brauchen, die die Angebote annehmen – und umgekehrt. Graf (2006, 101) betont weniger ein faktisches als ein grundsätzlich potenzielles Kooperationsverhältnis, wenn sie Schüler als Partner definiert, die etwas zu erzählen haben und bei sie ansprechenden Themen zu kooperieren bereit sind. Kooperation muss dann jeweils - wenn nicht explizit auf einer verbalen Metaebene, so doch unvermeidlich über Verhalten -ausgehandelt werden. Das gilt auch für ein Modell dreier Formen der Beziehungsgestaltung, das Pädagogen eine Reflexionshilfe in der Beziehungsgestaltung mit einzelnen (und Gruppen) sein kann.

9.2.2 pädagogische Beziehungsformen

Die Beziehung zwischen Pädagoge und Schüler(n) ist aus systemisch-konstruktivistischer Sicht von grundlegender Relevanz für Lehr-Lern-Prozesse. Das hier vorgestellte Modell dreier grundlegend verschiedener pädagogischer Beziehungsformen dient der Reflexion pädagogischer Beziehungsgestaltung. Es kann in unterschiedlichen Settings (Einzelreflexion, Weiterbildung, Supervision u.ä.) eingesetzt werden und sich sowohl auf allgemeine Präferenzen einer Lehrperson beziehen als auch auf den Umgang mit konkreten Schülern. Dabei ist es prinzipiell möglich, je nach zeitlich-situationalen Umständen auch denselben Personen gegenüber ein anderes Modell zu ‚verwenden’. Dies passiert in der Praxis meist ohnehin, allerdings i.d.R. unbewusst.

Auch den Schülern sind diese drei Modelle geläufig – und sie verhandeln durch ihr gezeigtes Verhalten faktisch mit, in welchem Modell sich Beziehung zum Pädagogen (wann) gestaltet bzw. gestalten soll. Schüler fragen an, fordern, klagen, überreichen Geschenke, suchen Hilfe, wollen mehr Nähe oder Distanz. Pädagogische Professionalität muss permanent für sich klären, in welcher Art von Beziehung der Lehrer einem Schüler oder einer Klasse in einer Situation und zu einem Zeitpunkt gegenübertritt - und dies dann ggf. auch auf der Metaebene mitteilen. Hilfreich für einen solchen Klärungsprozess kann die folgende Unterscheidung dreier idealtypischer Modelle der schulisch-pädagogischen Beziehungsgestaltung sein. Alle drei – Funktionsträgerschaft, Partnerschaft, (Mentoren-)Liebe - haben ihre Gültigkeit und können Klarheit, Verbindlichkeit und Freiräume schaffen, je nach Situation, Moment, Schüler, Klasse usw.. Mit ihnen angemessen und flexibel spielen zu können, erhöht die Vielfalt pädagogischer Optionen und die Gestaltungskraft.

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Das hier vorgestellte Modell unterscheidet folgende drei modellhaft-idealtypische Beziehungsformen:

Das Modell greift auf soziologische und auf therapeutische Entwürfe zurück und adaptiert und entwickelt diese für Schule. Eine ausführlichere Definition von Partnerschaft findet sich bei Retzer (2004a, 56ff), der sie – allerdings für Paarbeziehungen und nicht für pädagogische oder Eltern-Kind-Beziehungen – von Liebe (ebenda, S.22ff) abgrenzt. Einige seiner Ideen lassen sich auf pädagogische Beziehungsgestaltung übertragen. Diese Überlegungen können ergänzt und kontrastiert werden mit einem Modell der Beziehungsgestaltung wie es Schule als „Funktionssystem“ (Retzer 2004a, 46) nahe legt (vgl.a. Luhmann 2002).

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Die funktionale Beziehung zwischen Lehrer und Schüler lässt sich beschreiben als eher unpersönlich, kommunikativ selektiert und gehemmt mit dem Ziel einer eher lockeren Kopplung von Psyche und Kommunikation. Hier findet der Lehrer seine „Identität als Wissensvermittler, der für Fragen der emotionalen, sozialen und leistungsmotivationalen Integration von Kindern sich als nicht zuständig betrachtet“ (Storath 1998, 67).

Partnerschaftführt Konto über Geben und Nehmen, verhandelt sie im Tausch gemäß einer (in Schule) unausgesprochenen Vertragsebene, die auch die Idee von Vertragstreue (Erfüllung von angesammelten Schulden) beinhaltet, wobei jeder an Partnerschaft teilhaben kann. Sie ist tendenziell gleichberechtigt. Inwieweit die Beziehung zwischen erwachsenen Erziehenden und Kindern bzw. Jugendlichen demokratisch und/ oder gleichberechtigt sein kann, ist umstritten. Diese Diskussion ist auf dem Hintergrund der Aufgabe von Erziehenden zu sehen, junge Menschen auf angemessenen Wegen und mit passenden Mitteln in eine wachsende Selbstständigkeit zu führen. Es geht in Pädagogik also nicht um ein Entweder-Oder von Symmetrie und Asymmetrie sondern um je adäquate Mischungsverhältnisse eines Sowohl-als-Auch. Für die Beschreibung der partnerschaftlichen Beziehungsvariante kann das bedeuten, dass je nach Entwicklungsstand von Schüler /Klasse oder je nach Situation partnerschaftliche Beziehungsangebote gegeben werden können. Es ist allerdings auch denkbar, dass ein Lehrer sein eigenes Selbstverständnis in dieser Beziehungsform findet. Entsprechende Implikationen werden – für alle drei Formen – weiter unten systematisch aufgeführt.

Eine mentorhafte Liebesbeziehung 330 im Sinne der Agape als selbstloser und fördernder Liebe331 ist (höchst)persönlich bei enger Kopplung von Psyche und Kommunikation mit dem Primat der Psyche, sie ist vertragslos und damit ohne Ansprüche, dafür aber verschenkt sie Gaben ohne Berechnung (Retzer 2004a, insb. 46,57). „Lehrer können [...] in Einzelfällen für ein Kind oder einen Jugendlichen als Vorbilder, als Mentoren, persönliche Gesprächspartner, [...] auch als eine Art ‚Seelsorger’ eine bedeutende Rolle spielen“ (Bauer 2007c, 136).

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Aus systemisch-konstruktivistischer sowie aus postmoderner Perspektive reicht bloße Funktionalität, die aufgrund der Art der Organisiertheit von Schule ohnehin im Alltag aus Lehrersicht nicht zu verhindern und im Sinne der Bereitstellung von Routinen durchaus nützlich und notwendig ist, allein wahrscheinlich nicht (mehr immer) aus. Andererseits sind die eigenen zeitlichen und emotionalen Ressourcen als Lehrer beschränkt, so dass es sehr sinnvoll sein kann, wenn man denn Schüler begleiten will, sich aus pragmatischen Gründen der Burn-out-Prophylaxe auf diejenigen zu beschränken, die diese Unterstützung besonders nötig haben und auch annehmen. Letztlich gilt auch für die modellhafte Unterscheidung dieser drei Beziehungsarten, dass die eine nicht per se besser als die andere ist, sondern dass die Beziehungsart kontextabhängig (auch nach der eigenen Situation und dem Selbstverständnis als Lehrer) zu wählen ist. Wichtig ist dann Flexibilität und Bewusstheit der Wahl und Beziehungsgestaltung, sowie ggf. deren explizite Benennung. Postmoderne Lehrer sollten alle drei Formen kennen und sich darüber im Klaren sein, wo sie auch partnerschaftliche und ob sie auch sogar mentorhafte Momente und Elemente leben wollen und können.

Diese drei Formen sollen hier abschließend in umfangreicherer und zugleich stichwortartig-übersichtlichen, tabellarischen Form dargestellt werden.332 Im nächsten Unterkapitel werden dann Chancen der pädagogischen Beziehungsgestaltung, wie sie sich über die Sprache von Bildern und Metaphern eröffnen, behandelt. Dabei gibt es teilweise Überschneidungen mit Ausführungen aus diesem und dem vorherigen Kapitel, allerdings ist die Blickweise dann eine andere, keine analytische sondern eine ganzheitlich-bildhafte.

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Abb. 9-3: Formen der Pädagoge-Schüler-Beziehungsgestaltung

9.2.3 Metaphern der Beziehungsgestaltung

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Weitere Möglichkeiten der Beschreibung pädagogischer Beziehungsmöglichkeiten liegen insb. für den in seiner Bedeutung in der Postmoderne zunehmenden Angebotskontext von Pädagogik vor. Grundsätzlich lassen sich hier vielfältige Aspekte aus dem Beratungsbereich übertragen (Kap.7.2), die in kraftvollen Bildern von Beziehungsgestaltung ihren Ausdruck bekommen können. Einige davon sollen hier kurz beschrieben werden. Metaphern wirken auf einer nicht-kognitiven Ebene und können in einer ganzheitlichen Weise für Pädagogen Klarheit und Orientierung bringen.

Metaphorische und literarische Beziehungsbilder für „helpers, healers, and guides“, also für Berater und Begleiter von Klienten bzw. Begleitung Suchenden, finden sich zahlreich bei Kopp (1971, Zitat S.3). Die Bilder handeln im wesentlichen von lebenserfahrenen potenziellen Vorbildern, wie dies für spirituelle und therapeutische Begleiter üblich ist. Auf dem Hintergrund der These Baumans (1994, 249), dass postmoderne Menschen wie Nomaden durch verschiedene Wahrheiten hindurchziehen und sich jeweils weiterentwickeln müssen in einer unsicher gewordenen Welt (Kap.5.2.3), lassen sich solche Bilder durchaus auf den Unterstützungskontext von Pädagogik übertragen, welcher auch moderne Bilder von Führung im Angebotskontext beinhalten kann (Kap.9.9). Damit liegt Kopp auf der Linie von Willigis Jägers Statement: „Ein Lehrer ist so etwas wie ein Bergführer, der den Berg schon einmal bestiegen hat und dann dem anderen helfen kann. Er wird ihn nicht hinauftragen. Sie müssen sich auf den Weg machen“ (Jäger 2001. Kap.26, Min:1:26). Einige von Kopps Bildern, die sich – auch abhängig vom Alter und Kontext des Gegenübers – v.a. auf den pädagogischen Angebotskontext übertragen lassen, sind z.B.: der unterstützend-verstörende Meister333, der mit Vorschlägen begleitende Mentor334, der bei der Verkörperung des Guten und Schönen helfende „instructor in manners“ des ritterlichen Mittelalters335 oder auch der weise Freund aus Märchen und Kinderbüchern (z.B. in Puuh der Bär). In allen diesen Bildern ist (das Bewusstsein für) die Unvermeidbarkeit des Scheitern enthalten (Kopp 1971, 123ff).

Ein anderes Bild entwerfen Kahl (2004, dvd1, 0:50 Min), Prekop/C.Schweizer (2001) sowie Nouwen (1984, 77ff), die für die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler die Metapher des Gastes und der Gastfreundlichkeit verwenden. „Es gilt, dem Gast einen guten Ort anzubieten und ihm so lange den inneren Halt zu geben, bis er seinen Weg selber kennt. Das bedeutet: [...] Ich kann dir deinen Weg nicht zeigen, aber ich bin bereit, dich auf deinem Weg zu begleiten“ (Prekop/ C.Schweizer 2001, 7). Dem gemäß soll der Lehrer zum Unterrichten „vor allem einen Raum schaffen, in dem der Schüler und der Lehrer unbefangen miteinander verkehren und ihre beidseitigen Lebenserfahrungen als wichtigste und wertvollste Grundlage für Wachstum und Reifung einbringen können“ (Nouwen 1984, 79). Schüler sollen nicht gesehen werden als „schlechthin die armen, bedürftigen, dummen Bettler, die zum weisen Mann“ kommen, sondern als wirkliche Gäste, „die das Haus mit ihrem Besuch beehren und es nicht verlassen werden, ohne ihren eigenen Beitrag geleistet zu haben“ (S.83). Weiter zu beachten ist, dass die Schüler „nur vorübergehend zu Besuch und schon in vielen Räumen gewesen sind, bevor sie den unseren betreten haben“ (S.83). Gastfreundschaft besteht dann darin, sich den Schülern „auf ihrer Suche zur Verfügung stellen, um ihnen zu helfen, die vielen Eindrücke ihres Geistes und ihres Herzens etwas deutlicher zu sehen und Denkweisen und Einstellungen zu entdecken, auf die sie dann ihr Leben aufbauen können. [...] Als Lehrer müssen wir unsere Schüler zum Nachdenken bringen, das zu einem Entwurf führt – zu ihrem“ (S. 83f).

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Wenngleich die bisher angeführten Bilder sich eher im Angebotskontext befinden und keinen Zwangskontext im engeren Sinne beinhalten, wie er für Schule typisch ist, so implizieren sie doch die Möglichkeit und Notwendigkeit von Grenzsetzungen bei Übergriffen (z.B. des Gastes) oder von konfrontierendem Feedbacks (das z.B. ein Mentor auf Grundlage der persönlichen Beziehung gibt).

Bastian (2001, 170ff) führt diesen Gedanken für Beziehungen, die explizit erziehenden Charakter haben, fort. Er benutzt die Idee, dass Eltern und Pädagogen als Trainingspartner wirken, gegen die die Heranwachsenden in spielerischem Sinne kämpfen können, wobei Fehler explizit erlaubt sind. Ein solches Training erfordert nach Bastian klare Regeln. Deutlich muss sein, was erlaubte Mittel und was unerlaubte Fouls sind, wer das Training nötig hat und wer sich dafür zur Verfügung stellt, sowie, dass es eine zeitliche Befristung gibt. Der ältere Trainingspartner sollte außerdem anerkennen (Bastian 2001, 173-175,200):

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Neben Klarheit in der Beziehungsgestaltung zu den Schülern müssen Pädagogen auch die Beziehungen zu den Eltern reflektieren.

9.3 Beziehungsgestaltung und Zusammenarbeit mit dem Elternhaus

Schulen sind aufgerufen, ihren Schülern ein möglichst gutes Angebot bereitzuhalten – der schulische Erfolg des Kindes hängt aber, abgesehen von seinen eigenen Entscheidungen, auch stark von dem Verhalten der eigenen Eltern ab. Grundsätzlich können bis zur Pubertät Elternhaus und Schule als die wichtigsten Bezugssysteme für das Kind angesehen werden, was eine Zusammenarbeit in Erziehungsfragen sinnvoll erscheinen lässt (Hennig/Ehinger 2003, 25), wenngleich nicht alle Autoren so deutlich wie Bauer (2007c, 58) Eltern als „integrale Teilnehmer am ‚System Schule’“ sehen.

Beziehungen gestalten Lehrer nicht nur mit den Schülern sondern auch mit deren Eltern (Keck/ Kirk 2001; Dusolt 2001). Dies ist ein gesetzlich verordnetes Muss und zugleich auch eine große Chance. In der kontextorientierten systemischen Literatur (z.B. Henning, Hubrig/ Herrmann) gelten Schulprobleme als überwiegend – in welcher Form auch immer - verbunden mit der Familie. Auch Klassen und Lehrer können bei Schulkindern Probleme verursachen, aber dies gilt als deutlich weniger häufig (Hubrig/ Herrmann 2005, 39). Aber auch in diesem Fall, ist eine Zusammenarbeit von Elternhaus und Schule sinnvoll und angezeigt. Denn destruktives Schülerverhalten ist häufig mit der üblichen pädagogischen Kommunikation nicht lösbar (Hubrig/ Herrmann 2005, 98).

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Die Kooperation mit dem Elternhaus kann vom Lehrer – wie im Umgang mit den Schülern - eher funktional oder eher engagiert wahrgenommen werden, und findet, auch abhängig vom Kontext (Elternabend, Beratungsgespräch usw.) in unterschiedlichen Formen statt. Direkte Druckmittel auf Eltern gibt es für die Schule nicht, da ihre Klientel die Kinder und Jugendlichen sind. Es entsteht i.d.R. auch kein mentorhaftes Verhältnis gegenüber den Eltern, es kann aber durchaus zur Etablierung eines Beratungs- oder anderweitig kooperativen Systems zwischen Lehrer(n), Eltern und Kind kommen. Insbesondere geschieht es in Schule immer wieder, dass Eltern sich mit der Bitte um Ratschläge (in Erziehungsfragen) an Lehrer (die eher Fachleute für ein Unterrichtsfach sind) wenden. Sie verfolgen dann die „Strategie, ein Problem bei persönlich erlebter Inkompetenz an Experten zu delegieren“ (Storath 1998, 60). Grundsätzlich sollten bei Kooperation oder Konfrontation die jeweiligen Vorstellungen zur Abgrenzung der Verantwortungsbereiche der Beteiligten explizit gemacht werden, um diese zu verhandeln (Leonhardt 1998, 88).

9.3.1 Schule und Elternhaus als Schicksalsgemeinschaft

Schulen und Familien haben beide die letztlich unmögliche Aufgabe, Kinder zu erziehen, wobei die Aufgaben der jeweils einen Seite die Unterstützung der jeweils anderen Seite benötigt336: Sie haben also pädagogische Positionen, die von ihnen als ergänzend-kooperativ oder auch als (potenziell) konkurrierend wahrgenommen und gelebt werden können (Bauer 2007c, 93). Spätestens mit Einschulung337 müssen sich Eltern mit dem öffentlichen Blick der Institution Schule arrangieren. Von allen Einrichtungen, die die elterlichen Bemühungen beeinflussen, ist die Schule die wichtigste (Omer/Schlippe 2004, 164) – und umgekehrt. Auch wird, wenn Kinder Grenzen über- oder unterschreiten, die Verantwortung hierfür von der Gesellschaft, den Medien oder der Politik meist den Erziehern – also Eltern und Pädagogen – zugeschrieben. Beide gehören zu den „am meisten kritisierten Gruppen in der Gesellschaft“ bei ähnlichem Inhalt der Kritik, nämlich „unfähig zu sein, intelligente, wissensbegierige oder mit positiven Werten und emotionaler Gesundheit ausgestatte Kinder aufzuziehen“ (Omer/Schlippe 2004, 168). Insofern können Familien bzw. Eltern und Schulen als „Schicksalsgemeinschaften“ (Retzer/Simon 1998, 2) gesehen werden. Andererseits führt ihre Nähe mitunter zu Formen mangelnder Distanz, so dass ‚Widerstände’ „strukturell geradezu vorprogrammiert zu sein scheinen“ (Storath 1998, 68).338

Eine Kooperation dieser beiden Systeme – basierend auf einer aufmerksamen Offenheit füreinander (Bauer 2007c, 108) - kann vielfältige Vorteile bieten. Insbesondere können Eltern eine wichtige Grundlage für eine positive Einstellung des Kindes zur Schule und den Lehrern sein, und Lehrer können die Präsenz der Eltern im Leben des Kindes erhöhen (Omer/Schlippe 2004, 173). Hilfreiche Haltungen für das Zustandekommen einer Kooperation zwischen Elternhaus und Schule sind wechselseitiger Respekt, die Anerkennung der anderen Seite als souverän (die Eltern zuhause, die Lehrer in der Schule) und beidseitige Unterstützungsangebote. Bei als auffällig erlebten Kindern ist es obendrein nützlich zu sehen, dass die andere Seite sich ebenso schwer tut, mit den Verhaltensproblemen angemessen umzugehen, wie man selbst, so dass beide Seiten sich also gleichermaßen hilflos erleben (Omer/Schlippe 2004, 175).

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Die Kooperation zwischen Elternhaus und Schule kann verschiedene Formen annehmen: man kann gemeinsame Ziele überlegen, einander konsultieren und das Gefühl vermitteln, den anderen zu unterstützen, sich wechselseitig kontinuierlich informieren und dadurch mögliche Missverständnisse zeitnah aufklären (Omer/Schlippe 2004, 172). Die Persönlichkeitsentfaltung von Kindern und Jugendlichen kann auch als schulisches Programm unter Einbindung der Eltern laufen (z.B. Lions Club International 2000, 2002). Bei als problematisch erlebten Schülern können neben dem regelmäßigen Informationsaustausch konkrete Schritte gemeinsam vereinbart und koordiniert werden, so dass es – auch aus Sicht des betroffenen Kindes – zu einem gemeinsamen Vorgehen von Schule und Elternhaus ohne Untertöne des Einforderns oder Anklagens kommt (Omer/Schlippe 2004, 174). Kinder mit als negativ eingestuftem Verhalten werden dann mit ihrer häufig (eher unbewusst) praktizierten Strategie scheitern, Freiraum für ihre Aktivitäten zu gewinnen, indem sie den Abbruch der Beziehungen zwischen Eltern und Lehrern befördern wollen, scheitern (Omer/Schlippe 2004, 165). Familie und Schule haben also unvermeidlich ‚eine enge Beziehung’ wechselseitiger Beeinflussung. Daher können sie sich in ihrem Funktionieren nur entweder unterstützen oder beeinträchtigen, denn Indifferenz gegenüber dem anderen ist immer auch eine Nachricht an das Kind.

Angesichts einer steigenden Anzahl verhaltensauffälliger oder in psychiatrischen Kategorien erfassbar beeinträchtigter Kinder (Bauer 2004b) und insgesamt schwieriger werdenden Erziehungsaufgaben kann – aus einer Außenperspektive betrachtet – davon ausgegangen werden, dass die Sinnhaftigkeit bzw. Notwendigkeit für Kooperation zwischen Schule und Elternhaus generell zunimmt. Das gilt umso mehr, wenn man die These vertritt, dass Schwierigkeiten, die sich in einem System zeigen, auch leicht in einem anderen auftreten können (Hennig/ Knödler 2000, 15,30). Als schwierig angesehene Lehrer führen z.B. zuhause in der Familie des Schülers zu Gesprächsstoff und Sorgen, und als schwierig vermutete Familienverhältnisse führen zu besorgten Gesprächen im Lehrerkollegium. Obwohl die von außen konstatierbare Kooperationsbedürftigkeit zwischen Elternhaus und Schule zunimmt, lassen sich durchaus gegenläufige Verhaltensweisen feststellen.

9.3.2 Spannungen zwischen Schule und Elternhaus

In den Supervisionen und der Fachliteratur der letzten Jahren zeigt sich, dass Konfliktfälle zwischen Elternhaus und Schule (wenn nicht in der Anzahl, so doch zumindest in der Intensität) eher zunehmen. Das betrifft zum einen Eltern, die sich engagieren, dabei aber wiederholt Konflikte mit oder in der Schule austragen, und zum anderen Eltern, die sich aus der Erziehungsverantwortung tendenziell herausnehmen und auf schulische Kontaktierung praktisch nicht reagieren (Bauer 2007c, 92). Für die gewachsenen Spannungen können drei mögliche Gründe angeführt werden.

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Erstens, könnte dies mit den unterschiedlichen Entwicklungen der beiden sozialen Systeme in den letzten Jahren zusammen hängen. In der Schule herrschen faktisch und werden immer noch – soll heißen: trotz dem breiten Einzug der humanistischen Pädagogik in Schule seit den 60/70er Jahren – eher klare hierarchische Beziehungsmuster als selbstverständlich vorausgesetzt. Das hängt zusammen mit der Art der Organisiertheit von Schule. In der Familie hingegen gibt es aber längst andere Beziehungsmuster, die wesentlich stärker mit Freiräumen, flacherer Hierarchie und Aushandlungen zu tun haben und die subjektivierender, kreativer, selbstbestimmter organisiert sind und erlebt werden (Reinhard 2002, 56). Familie und Schule, beide soziale Systeme, haben „in der jüngeren Geschichte offenbar eine Entwicklung durchgemacht, die nicht parallel verlief und aufeinander abgestimmt war“ (Retzer/Simon 1998, 4). Wenn man obendrein annähme, dass auch die Pädagogen in ihrer Professionsarbeit sich eher zu den in den Familien bereits stärker gelebten Werten hingezogen fühlen als zu denen, die Schule aufgrund der Art ihrer Organisiertheit nahe legt, dann bestünde die Gefahr, dass Pädagogen sich mögliche Kritik von Elternhäusern durchaus ‚anziehen’, weil sie ein noch nicht genügend beleuchtetes inneres Dilemma widerspiegelt (wie in Kap.8.3 aufgezeigt). Hilfreich kann hier sein, dass Eltern und Schule Mindesttoleranz gegenüber verschiedenen Erziehungsstilen zeigen (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 196) und sich über die Auswirkungen des staatlich gesetzten Rahmens von Schule auf Unterricht bewusst sind..

Zweitens: Die Beziehung zwischen Schule, Elternhaus und Schulkind (und Peergruppe) ist eine besondere und vielschichtige. Das Schulkind ist in der Position, dass es sowohl mit seinen Eltern als auch mit der Schulklasse und seinen Lehrern täglich umgeht und in diesen Feldern zur Gestaltung der jeweiligen Spielregeln beiträgt. Der Umgang mit den Gleichaltrigen erfordert hierbei allerdings andere Fähigkeiten als der Umgang mit den Eltern oder teilweise auch mit den konkreten Lehrern oder mit Schule als einem verregelten System (Retzer/Simon 1998, 3). Außerdem wird die Peergruppe mit Eintritt in die Adoleszenz wichtiger als die Eltern (Hubrig/ Herrmann 2005, 54f). Die diversen Beteiligten können mithin von den Schülern auch gegeneinander ausgespielt werden, da es die Schüler sind, die den Knotenpunkt zwischen den anderen Beteiligten bilden.

Drittens: ‚Symptome’ von Individuen werden auf familientherapeutischem Hintergrund als Hinweise darauf betrachtet, dass ein erlerntes Verhalten, das in seinem Herkunftssystem (z.B. Familie) eine Funktion für das System erfüllt, dies in einem anderen System (z.B. Schule) nicht mehr tut339. So können bspw. Eltern durch das Schulversagen des Kindes davon abgehalten werden, sich zu trennen oder anderweitig unter Zugzwang kommen, da das Eingreifen von Schule Öffentlichkeit schafft. Einnässen kann von der Familie verheimlicht werden, Gewalt in der Schule aber nicht mehr (Hennig/ Knödler 2000, 37). Eine steigende Anzahl in psychiatrischen Kategorien erfassbar beeinträchtigter Kinder (Bauer 2004b) könnte nun vermuten lassen, dass es zunehmende Erziehungsprobleme auch in den Familien (und nicht nur der Schule) gibt und dass Familien hierüber beschämt sind oder aber, dass sie an einer Änderung gar nicht interessiert sind, weil eine ‚Dysfunktionalität’ im Familiensystem durch den kindlichen oder jugendlichen Symptomträger so kompensiert wird, dass keine Veränderung nötig ist.

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Kommt es zu Kopplungsschwierigkeiten zwischen Eltern und Schule, wird die jeweils andere Seite u.U. zum Sündenbock gestempelt, mit Vorwürfen (statt Kooperationsangeboten) bedacht und man selbst von möglicher Schuld entlastet (Omer/ Schlippe 2004, 85, 166). So kann das schlechte Gewissen externalisiert werden, gleichzeitig schwächen sich Eltern und Schule dann aber selber mit ihren Vorwürfen.

Möglicher Vorwurf aus Punkt 3 an die Eltern wäre, dass sie gar nichts ändern wollen, sich um das Wohlergehen ihrer Kinder nicht genügend kümmern. Ein solcher Vorwurf würde die familientherapeutischen Ideen allerdings falsch verstehen, da es sich um unbewusste Prozesse (des Nicht-Ändern-Wollens) handelt, mit denen auf Beratungsseite durchaus umgegangen werden kann durch das behutsame Angebot eines gemeinsamen Aufbaus eines beraterischen Kooperationssystems. Hennig/ Knödler (2000, 124ff) nennen insb. drei Aspekte der Immunisierung von Familien mit verhaltensauffälligen Kindern: a) die Schaffung eines außerfamiliären Feindes (z.B. ein bestimmter Lehrer), b) Ursachenzuschreibung in der Person anderweitiger Familienmitglieder oder c) in der Person des Schülers selber.

Umgekehrt lassen sich insb. aus Punkt 1 auf dem Hintergrund der humanistischen Alltagspsychologie Vorwürfe von Eltern an Pädagogen ableiten, die teilweise zu Doppelbotschaften geraten: Lehrer sollten die Schüler und die Klasse ‚an der kurzen Leine halten’, aber nur mit den sanftesten Mitteln; sie sollten die Kinder schwer arbeiten lassen, aber nur durch Einsatz ihres persönlichen Charismas (Omer/Schlippe 2004, 171). Der Lehrer soll kontrollieren ohne Kontrollmaßnahmen, Grenzen setzen, ohne einzuengen, und die Kinder vor Gewalt beschützen, ohne deutliche Maßnahmen, externe Unterstützung oder Öffentlichmachung (Omer/Schlippe 2004, 172).

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Schule wie Familien haben bei solchen Kopplungsschwierigkeiten durchaus auch ihren – u.U. sogar gemeinsamen - heimlichen Gewinn: Wichtige Fragen zu Erziehungszielen oder problemen werden nicht gestellt. So brauchen (beide) Systeme eigene blinde Flecken sich nicht anschauen, was anderenfalls wahrscheinlich als verstörender, schmerzlicher und angstauslösender Wahrnehmungsprozess erlebt werden würde. Ohne angemessene Intervention z.B. ins schulische, familiäre oder Peer-System aber kann es passieren, dass verhaltensauffällige oder um Beratung nachsuchende Schüler weiterhin unbewusst über problematisches Verhalten Systeme, denen sie angehören, stabilisieren bzw. in ihnen wichtige chronifizierende Funktionen wahrnehmen. Insofern als Problemsysteme340 über zirkuläre Prozesse aufrechterhalten werden, hat allerdings jedes beteiligte Individuum seine Mitverantwortung für das Gesamtsystem (Hennig/ Knödler 2000, 33f), auch die Schule.

Sinnvoller wäre ein Vorgehen, in dem die Eltern anerkannte Experten für das Kind(verhalten) in der Familie und Lehrer anerkannte Experten für das Kind(verhalten) in der Schule sind. In einer verständnisvollen Führung können Pädagogen durchaus Eltern „selbstsicher und gelassen deutlich machen, dass man klare Vorstellungen davon hat, wie man seinen Unterricht zu gestalten gedenkt, welche Regeln gelten und worin die Ziele bestehen“ (Bauer 2007c, 58). Dies ermöglicht eine klare Grenzziehung in Verantwortlichkeiten und eine Ergänzung des Expertenwissens (Hennig/Ehinger 2003, 84).

9.3.3 Funktionalität von schulischen Symptomen

Die systemisch-konstruktivistische, v.a. die familientherapeutisch geprägte Literatur vertritt überwiegend die These, dass die Prägungen in der Familie stärker seien als die in der Schule, so dass davon ausgegangen wird, dass die überwiegende Mehrzahl von sogenannten Schulproblemen im System Familie entsteht und auf das System Schule übertragen wird (Hennig/Knödler 2000, 14).341 Eine solche Position ist nicht schuldzuweisend gemeint. Sie kann Pädagogen von ggf. zuviel (genommener) Verantwortung entlasten und ihnen Hinweis und Hilfestellung auf dem Weg der Bearbeitung von Schulproblemen ihrer Schüler sein. Jedenfalls lässt sich immer wieder aufzeigen, dass „Kinder, die bis zum Schuleintritt nicht gelernt haben, Konflikte sozial kompetent zu lösen, [...] Verhaltensprobleme oft ebenfalls in der Schule“ zeigen (Omer/Schlippe 2004, 163, unter Verweis auf die Studie von Sanders/Krannich 1999). In diesem Sinne können Schulprobleme Begleiterscheinungen massiver(er) familiärer oder psychischer Probleme sein. Verhaltensauffälligkeiten können auch angesichts eines Verlustes von Leistungsanerkennung in der Schule342 ein persönliches Selbstbehauptungsprogramm darstellen (Findeisen 2006, 196) oder Reaktionen auf unangemessenes Lehrerverhalten darstellen (Singer 2002). Familiäre und schulische Aspekte können sich ergänzen. Bei Unterrichtsstörungen sollte auf diesem Hintergrund immer auch geschaut werden, ob eher außerschulische Hintergründe des Schülers, Aspekte des Unterrichts oder eine Mischung aus beiden Bereichen (welche?) vermutete Zusammenhänge darstellen (Hubrig/ Herrmann 2005, 97).

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Zur Funktionalität von Symptomen im schulischen Kontext stellen Hennig/ Knödler vier Thesen auf, die als sich ergänzend zu verstehen sind und auf eine mögliche „verdeckte positive Kehrseite von schulischen Symptomen“ hinweisen wollen (Hennig/ Knödler 2000, 40). Symptome können darstellen:

Symptome werden in diesem Verständnis häufig als Loyalität zur Herkunftsfamilie angesehen (G.Schmidt 1992, Schneider 2000a, 31) und als von Kindern und Jugendlichen keineswegs bewusst eingesetzt. Dennoch spricht die Familientherapie von „Symptominszenierung“ (Hennig/ Knödler 2000, 52), um das ‚Gemachte’, Konstruierte der Situation aus einer Außensicht zu verdeutlichen. Symptome, die im Kontext Schule entstehen bzw. gezeigt werden, schaffen – auch das rechtfertigt den Begriff der ‚Inszenierung’ - Öffentlichkeit, so dass sie sich z.B. von den Eltern nicht länger ignorieren lassen, weil Rückmeldungen – und damit Druck - von außen ins Familiensystem gelangen. Da Schullaufbahn und Berufschancen häufig von Elternseite als miteinander verbunden angesehen werden, entsteht Druck im Inneren des Familiensystems, die eigene elterliche und kindliche Verantwortung und Handeln zu reflektieren (Hennig/Ehinger 2003, 14).

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Zwar können Probleme, systemisch betrachtet, in der Regel nur dort gelöst werden, wo sie entstehen (Hubrig/ Herrmann 2005, 48) – und insofern kann das Familiensystem als das „wesentlich wichtigere und einflussreichere von beiden“ (Hennig/ Knödler 2000, 36) betrachtet werden. Dennoch kann eine angemessen und wertschätzend kooperierende Schule das Elternhaus deutlich unterstützen. Kommt es zum Kontakt der Eltern mit Schule, ebenso wie mit schulischen Kooperationspartner wie Jugendamt oder Erziehungshilfe, so können neue Sichtweisen und Handlungsoptionen auch im Familiensystem entstehen, die Symptomverhalten überflüssig machen. Grundsätzlich sollte der Kontakt mit Eltern zunächst „auf der Basis der gemeinsamen Sorge um das Kind“ hergestellt werden, wobei erste Schritte und Angebote von Lehrerseite als den formal Mächtigeren und den häufig auch kommunikativ Kompetenteren ausgehen sollten (Hubrig/ Herrmann 2005, 123).

9.3.4 Kooperation bei vermutetem familienfunktionalem Symptom

Systemisch-konstruktivistisch ist es eine nützliche Sichtweise für die erfolgreiche gemeinsame Bearbeitung von auffälligem Verhalten oder anderen Problemen von Schülern bei vermutetem familienfunktionaler Symptomatik, sowohl Kinder, Eltern, Lehrer als auch Mitschüler gleichermaßen als Gefangene eines destruktiven Musters zu sehen, zu dem alle unbewusst beitragen und unter dem auch alle in der Gegenwart hilflos leiden (Omer/Schlippe 2004, 86). So gesehen sind viele, vielleicht die meisten Schulprobleme „Inter-System-Probleme“ (Omer/Schlippe 2004, 163), die sich durch enge Parallelen zwischen der Situation von Eltern und Pädagogen auszeichnen. Nur mit einem kontextbewussten systemischen ‚Inter-System-Blick’ können solche Probleme dann angemessen angegangen werden, und nur dann können wechselseitig stärkende Mechanismen greifen. Hierzu muss allerdings obendrein die familiäre Kommunikation nicht als Ursache von Pathologie ihre Bedeutung finden, sondern als Ressource für Veränderung ihren Wert zuerkannt bekommen (Hubrig/ Herrmann 2005, 79).

Hilfreich für Schule oder andere begleitende Institutionen ist es, gegenüber den Eltern deutlich zu signalisieren, dass das Aufsuchen fremder Unterstützung immer auch Ausdruck eigener Selbstständigkeit und Präsenz ist (Hargens 2006, 76) und dass es legitimer Weise unterschiedliche Sichtweisen auf ein Problem geben kann. So kann (bzw. können) dann die Problemsicht(en) der Eltern - wenn sie denn ein Problem sehen - in kooperativer Weise als Ausgangspunkt für gemeinsame Gespräche und Auftragsklärung genommen werden (Conen 1996, 183). Es sollte nicht erwartet werden, dass Eltern untereinander stets die gleichen Sichtweisen und Ziele haben.346 Ollefs/Schlippe (2006, 149f) schlagen für die Begleitung von Eltern mit langfristig auffälligen Kindern einige Punkte vor, denen ein Begleiter besondere Aufmerksamkeit zuwenden sollte: die Reduktion von Schuldgefühlen und Scham bei den Eltern sowie ihrer Isolierung; Unterstützung von deeskalierendem Verhalten der Eltern, insb. Unterbrechung von Dominanzkämpfen oder komplementär-übertrieben-helfenden Konstellationen; Anerkennung von Konflikten auf Paarebene als unvermeidbar bei langanhaltenden Problemverläufen; Unterstützung berechtigter Hoffnungen. Sollten kooperative Einladungen nicht fruchten, kann, je nach vermutetem Schweregrad, es notwendig werden, dass Pädagogen als ‚Anwälte des Kindes’ (Schumacher 2002) den Eltern gegenüber konfrontativer auftreten (Bauer 2004b, 35). Letzteres ist bei Kindeswohlgefährdung sowieso der Fall, dann finden sich Lehrer in der Position und Verantwortung eines ‚Wächteramtes’ wieder (Menne 2006).

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Liegt ein Symptom vor, das vermutlich für ein Gesamtsystem eine wichtige Funktion erfüllt, so macht es Sinn, die relevanten Bezugspersonen zu berücksichtigen. Die Wahrscheinlichkeit, relevante Informationen über Schulprobleme zu erhalten, steigt auf familientherapeutischem Hintergrund erheblich, sobald mehrere relevante Bezugspersonen hinzugezogen oder zumindest mitgedacht werden.347 Die Wahrscheinlichkeit, relevante Informationen über Schulprobleme zu erhalten, sinkt rapide, sobald die Eltern für die Schulprobleme in anklagender oder unter Gesichtsverlust drohender Weise verantwortlich gemacht werden. Umgekehrt führt die Vorstellung von Elternseite, dass Lehrer „wertlose und zerstörerische Figuren“ seien, „die auf jede mögliche Weise unter Druck gesetzt werden sollten“, ebenso zielsicher zum Beziehungsabbruch (Omer/Schlippe 2004, 170).

Gespräche mit Eltern und Kindern vor einem solchen Hintergrund funktionaler Symptome müssen einfühlsam und wertschätzend (unter besonderer Berücksichtigung möglichen Gesichtsverlusts einzelner Mitglieder) anhand z.B. zirkulären Fragens geführt werden. Grundsätzlich sollten solche Gespräche immer wieder zu Kooperation einladen, was bedeutet, den anderen gut aussehen zu lassen (Palmowski, zit. nach Schlippe 2006, 42). Mit Eltern, die zur Kooperation eingeladen werden sollen, sind mögliche Ziele und Aufgabenverteilung grundsätzlich zu erörtern und ggf. zu verhandeln (Hubrig/ Herrmann 2005, 122). Ebenfalls hilfreich ist es, den Eltern zu unterstellen, dass sie ihr Kind lieben, sich um es sorgen, dass sie versuchen, mit ihren momentan verfügbar geglaubten Ressourcen ihm gute Eltern zu sein, sowie dass sie über vielfältige Ressourcen und Kompetenzen verfügen (Conen 1996, 179). Hargens erwähnt weiterhin, dass er – ressourcenorientiert - den Eltern auch immer unterstellt, bereits präsent zu sein, und dann eher über die Arten und Weisen, wie sie präsent sind und sein könn(t)en, mit ihnen spricht (Hargens 2006, 76). Darüber hinaus beinhaltet eine ressourcenorientierte Sichtweise nicht nur, nach Fähigkeiten beim Kind zu suchen, sondern auch, diese der erfolgreichen Erziehung348 durch die Eltern zuzuschreiben (Hargens 2006, 80). Bei mangelnder Grenzsetzung auf Elternseite spielt – wie bei den Lehrern selbst – „nicht selten Überforderung und nackte Erschöpfung“ hinein (Bastian 2001, 143).

Wird den Eltern so Wertschätzung entgegen gebracht und ihr Selbstwertgefühl zu steigern versucht (Hennig/ Knödler 2000, 99), dann kann auch an den so ermittelten Kompetenzen der Eltern angesetzt werden (Hargens 2006, 80). Auch sollte ggf. überprüft werden, ob Eltern (und Lehrer) der Schule ggf. zu viel Bedeutung verleihen (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 192). Letztlich geht es darum, einem Kind oder Jugendlichen zu helfen, aus der Rolle des Symptomträgers heraus zu kommen, indem ein neues Gleichgewicht im Familiensystem hergestellt wird (Hennig/ Knödler 2000, 145). Vereinzelte, alleinerziehende und überforderte Eltern sollten (insb. bei einer ihnen im Problem hilfreichen Vernetzung „Schulter an Schulter“, vgl. Pleyer 2006, 104) unterstützt und möglichst nicht ersetzt werden - auch dann nicht, wenn die Eltern selber (unbewusst) zu ihrer Schwächung beitragen (Omer/Schlippe 2002, 138).349 Außerdem sollten Pädagogen, solange sie die Chance haben, die Eltern noch mit ins Boot zu holen, es vermeiden, mit Schülern, selbst wenn diese dies suggerieren, eine Koalitionsbildung gegen die Eltern zu betreiben (Schumacher 2002). Vor allem aber sollten Pädagogen es tunlichst unterlassen, sich als die ‚besseren Eltern’ zu fühlen oder so aufzutreten (Hubrig/ Herrmann 2005, 42). Umgekehrt heißt das aber auch, dass man als Lehrer Eltern nichts beweisen muss (Gómez Pedra/ Schneider 2000, 204).

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Eltern sind die zentralen Bezugspersonen für das Kind. Deutlich wird hier auch, dass die Unterstützung eines anderen Familienmitgliedes (als das Kind) hilfreich sein kann, um indirekt zu einer Entlastung bzw. Unterstützung des Schulkindes selber kommen zu können. Dies kann (z.B. bei der Entlastung erschöpfter Alleinerziehender350) zugleich depathologisierende Wirkung haben. Um die Ernsthaftigkeit des Vorgehens von schulischer Seite zu verdeutlichen, kann von Eltern verlangt werden, sich auf der Arbeit frei zu nehmen, um in der Schule zu einem Beratungsgespräch zu erscheinen oder eine Mitteilung entgegenzunehmen (Hennig/ Knödler 2000, 67). Fragen zu Neutralität oder Positionierung als Anwalt des Kindes und zu Umgang mit ‚Widerstand’ werden an späterer Stelle behandelt (Kap.10.5).

Auffassungen aus der Familientherapie sollten nicht absolut gesetzt werden. Die Familientherapie hat wichtige Einsichten gebracht; aber nicht jedes Symptom zeigt auf ‚dysfunktionale Familien’ (G.Schmidt 2004b).351 Ideen der Familientherapie erweitern den Horizont im Sinne eines Einbezugs familiärer Kontextbedingungen, können aber den Blick für andere Vorgehensweisen verstellen, wie sie z.B. das Elterncoaching oder Beratungsstellen im Allgemeinen anbieten. Unabhängig vom vertretenen beraterischen Ansatz sollten Verhaltensauffälligkeiten des Kindes, wenn die Eltern diese als negativ bewerten und hier einer Problemtrance anhängen, im beraterischen Prozess positiv umgedeutet werden. Omer bietet hier die Metapher der natürlichen Dominanzorientierung des Kindes an, Aarts (2006) jene des Kindes mit besonderen Bedürfnissen, das seine Eltern herausfordert (Schlippe 2006, 17). Für Eltern gilt, dass die Art, wie sie ihren Kindern, anderen Eltern und den Lehrern ihrer Kinder begegnen, sich auf den Schulalltag auswirkt (Gómez Pedra 2000b, 22).

Schulprobleme stehen unter den Beratungsanlässen in Erziehungsberatungsstellen zahlenmäßig an erster Stelle. Eine Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus mit weiteren außerschulhäuslichen Einrichtungen wie Beratungsstellen kann für alle Seiten äußerst sinnvoll sein (Kap.11.4.2). Hierbei gilt, dass Eltern Auftrag- und Zielgeber und „Experten für ihre Kinder und deshalb ebenso Mannschaftsmitglieder wie Erzieher und Therapeuten“ sind (Pleyer 2006, 105)352. Die positiven Potentiale diverser Systeme für selbstständiges Lernen sollten dann im Sinne eines Synergie-Effekts verstärkt werden (Huschke-Rhein 1998b, 160). Sollte der Schüler oder die Familie in diesem Zusammenhang ‚sich eine Therapie holen’, so kann dies vom unterstützenden Umfeld (und natürlich den Betroffenen selber) als harte Arbeit und nicht als Ausdruck von etwas Krankhaftem angesehen werden (Hargens 2006, 81). Die Verantwortung für das eigene Leben muss bei den Eltern und Schülern bleiben

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Ob eher mit Eltern oder eher mit den Kindern und Jugendlichen direkt oder gar mit ganzen Familien gearbeitet werden soll, wird in der systemisch-konstruktivistischen beraterischen Literatur unterschiedlich gesehen bzw. empfohlen. Familientherapeuten schlagen die Arbeit mit der ganzen Familie vor (z.B. Hennig/Ehinger 2003; Hennig/Knödler 2000; Leonhardt 1998,90). Vertreter des Elterncoachings sehen hingegen in den Eltern die „Hauptklienten“ (Omer/Schlippe 2002, 188; Tsirigotis et al 2006); dabei geht es nicht um deren Beziehungsprobleme sondern darum, wie die Eltern ihre Kinder ‚noch angemessener unterstützen’ können (Hubrig/ Herrmann 2005, 106) und welche Unterstützung sie selber dafür vielleicht von außerhalb brauchen. Hennig/Ehinger (2003, 132f) machen den Versuch, die Frage der Gesprächsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen an inhaltlichen Aspekten zu orientieren. Sie schlagen die Einbeziehung der Schüler vor, wenn (a) es Fortschritte zu vermelden gibt, (b) es Vereinbarungen zu treffen gilt, die das Kind aktiv miteinbeziehen, (c) die Erfahrungen und Sichtweisen des Kindes mit zur Sprache kommen sollen, (d) das Kind erleben soll, dass Eltern und Lehrerin an einem Strang ziehen. Sie raten hingegen von der Einbeziehung der Schüler ab, wenn (a) die Gefahr besteht, dass das Kind auf der ‚Anklagebank’ sitzen wird, (b) den Eltern mit deutlichen Worten vermittelt werden soll, dass beim Kind kognitive Grenzen für bestimmte Leistungen vorhanden sind, (c) ein Konflikt zwischen Eltern und Lehrer vorliegt. Letztlich ist es allerdings meist gerade in den schultypisch komplexen Situationen für den beratenden bzw. begleitenden Lehrer hilfreich, zunächst die interessierten und willigen Kunden im Problemsystem zu ermitteln und vorwiegend mit diesen zu arbeiten (Hubrig/ Herrmann 2005, 131).353

Auch können sich Eltern gegenseitig austauschen und unterstützen – schon allein dadurch, dass sie bemerken, dass sie ähnliche Sorgen haben (Schweitzer-Rothers 2006, 240). In jedem Fall aber muss sich professionelle Unterstützung354 in Erziehungsfragen daran messen lassen, inwieweit sie dazu beiträgt, Selbstsicherheit und Selbstwirksamkeit der Erziehenden zu vergrößern (Bünder 2006, 211). Wenn keine Beratungsstelle oder Eltern ‚greifbar’ sind, ist allerdings auch vorstellbar, dass der Beratungslehrer mit einem jüngeren Schüler ein ‚Überlebenstraining’ im Beratungsprozess gestaltet (Schumacher 2002). In der Arbeit mit Eltern und Familien kann es hilfreich sein, rebellierende Schüler bzw. Kinder und Jugendliche zunächst in ihrer Rebellion zu respektieren in dem Sinne, dass „der Gegenstand des Respekts das legitime Streben [ist], das sich hinter der Rebellion verbirgt“ (Omer/Schlippe 2002, 195). Der empathischen Beschreibung der kindlichen Rebellion sollte dann eine empathische Beschreibung der Einstellung bzw. Situation der Eltern erfolgen. In der Arbeit mit Eltern habe Omers Konzept der Präsenz im übrigen, so Hargens (2006, 82), ihn angeregt, sich „immer auf die Suche zu begeben, diese Präsenz zu finden, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht vorhanden scheint.“

Erzieherische Präsenz verlangt von Pädagogen und Eltern - und auf einer Metaebene zu diesen von begleitenden Beratern - Kraftanstrengungen, Umfeldbedingungen und zeitliche Ressourcen in einem Umfang, wie sie häufig – gerade in Schule – erst mal nicht zur Verfügung stehen. Daher ist die aktive Einbindung von Eltern bei verhaltensauffälligen Schülern so wichtig. Ein besonderer Blick muss also aus Pädagogensicht auf der Frage liegen, wer welche und wie viel Verantwortung übernimmt; Eltern sollten nicht in der Passivität bleiben (können), sondern ihre Eigenverantwortung sollte prinzipiell be- und geachtet werden (Düring 2006, 169).

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In diesem Kapitel (9.4) klangen bereits einige Auffassungen über Erziehung und Erziehungsprobleme an, die erfolgreiche Prozesse erschweren. In den letzten Jahren haben weitere Ideen gesellschaftlich und medial Fuß gefasst, die für die erfolgreiche und kooperative Lösung erzieherischer und schulischer Probleme zwischen Pädagogen, Eltern und Kinder nicht ungefährlich sind. Einige wichtige von ihnen sollen im nächsten Kapitel begutachtet werden.

9.4 bei Erziehenden gängige Mythen und ihre Fallen

Wie in Kap. 9.2 gesehen, gibt es unterschiedliche Vorstellungen über erzieherische und pädagogische Beziehungsgestaltung. In diesem Zusammenhang lassen sich eine große Anzahl von in der Schule gängigen Mythen finden.355 In diesem Kapitel geht es um den Ausschnitt von ‚Mythen’ bzw. von aus systemisch-konstruktivistischer Sicht fragwürdigen Erzählungen zum Erziehungsprozess, die aktuell unter den erwachsenen Erziehenden verbreitet und gängig sind. Die heutigen Eltern und Lehrer sind häufig von Ideen einer humanistischen Alltagspsychologie geprägt, die ihre Relevanz haben, aber auch ihre Fallen. Der systemisch-konstruktivistische Ansatz zeichnet sich gegenüber dem humanistischen Ansatz u.a. dadurch aus, dass Kontexte stärker betont werden und neben verstehenden auch verstärkt konfrontative Momente in den Blick genommen werden können. Damit vermag der systemisch-konstruktivistische Ansatz andere Aspekte mit ins Spiel zu bringen oder vorhandene anders zu beleuchten.356 Der humanistischen ‚Alltagspsychologie’ (zumindest ihren alltagstheoretischen Formen) wird mittlerweile vorgeworfen, unrealistischerweise das „vollständige Lösen aller Konflikte, die vollständige positive Interaktion der Menschen untereinander“ anzustreben und dabei zu wenig den Widerstreit und die Konflikthaftigkeit des Lebens mit seinen vielfältigen Differenzen und Unterschieden zu sehen oder zu akzeptieren. Die humanistische Alltagspsychologie „führt zu kitschigen Vorstellungen dessen, wie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aufgebaut sein soll: Statt davon zu sprechen, was an Verkehrtem ansteht und wo das Falsche und Schwache [...] eine Quelle der Verbesserung sein könnte, wird das Angenommensein allein, die Sozialbeziehung allein, das gute Gefühl an sich, das ‚Es-stimmt-für-mich’ allein betont. Dass beide notwendig sind, die Transformation der kognitiven Strukturen und das positive Sozialklima“ (Oser/ Spychiger 2005, 17) wird dabei übersehen.

In diesem Kapitel werden gängige Erzählungen von Eltern und Pädagogen im Zusammenhang mit Schule behandelt, die aus systemisch-konstruktivistischer in dieser Form als nicht nützlich betrachtet und daher als Mythen bezeichnet werden. Die meisten der nachfolgend dargestellten wichtigsten Mythen sind durch die Psychoanalyse und die humanistische Psychologie geprägt, wie sie in den letzten Jahrzehnten das öffentliche Bewusstsein beeinflusst haben und als Alltagstheorien auch in den Köpfen vieler an Schule Beteiligten existieren. Es geht hier nicht darum, andere Erzählungen zu verdammen, sondern auf ergänzende bzw. alternative Sichtweisen hinzuweisen, die das eigene Handlungsrepertoire erweitern können. Da alle Theorien von unterschiedlichen Prämissen ausgehen und unterschiedliche Schwerpunkte setzen, sind sie alle – auch die systemisch-konstruktivistische – in ihrer Reichweite und Nützlichkeit beschränkt.357

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In Anlehnung an Omer/Schlippe (2004, insb. Kap. 4) lassen sich einige gängige Annahmen bzw. kursierende Mythen benennen358, die in ihrer Undifferenziertheit negative bzw. gefährliche Konsequenzen für Personen, die junge Menschen begleiten, haben können. Als unreflektierte, überlieferte allgemeine Glaubenssätzen können sie zur Schwächung von Eltern und Pädagogen beitragen: Es handelt sich hier um ‚An-Sichten’ (durch die der teilnehmende Beobachter seine Umwelt mit beeinflusst), die, was Schule betrifft, nicht durch die Organisationsstrukturen von Schule nahegelegt (Kap.6.2) sondern eher gesellschaftlich konstruiert sind (Kap.6.1). Systemisch-konstruktivistische Sichtweisen können in diesem Zusammenhang alternative Sicht- und Handlungsweisen eröffnen.

Eine erste solche Annahme stellt die Idee dar, dass bei Vorliegen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten (grundsätzlich) nur die Gegenseite (nur Eltern oder nur Pädagogen) Verursacher kindlicher Verhaltensstörungen seien.359 Die Verführung, in einfachen Ursache-Wirkungs-Ketten zu denken, statt Kreisläufe und Umfelder mit zu berücksichtigen, kann dazu führen, wesentliche Faktoren zu übersehen und Kooperation zu verhindern. Hierher gehört auch, in vereinfachten Kategorien von Opfern (z.B. Kinder) und Tätern (z.B. Eltern/ Lehrer) zu denken. Außerdem versuchen Kinder und Jugendliche manchmal mehr Freiräume zu gewinnen, indem sie Schule und Elternhaus gegeneinander ausspielen. Und Lehrern wird mitunter von Eltern die Macht unterstellt, bei den Kindern großen Schaden anzurichten, während ihnen gleichzeitig Ohnmacht attestiert wird, Kinder zu erziehen und Wissen zu vermitteln. Nützlicher wäre häufig, mittels eines ‚ Inter-System-Blicks’ Kinder, Eltern, Lehrer und Mitschüler gleichermaßen als Gefangene eines destruktiven Musters zu sehen, zu dem alle unbewusst beitragen. Dann können wechselseitig stärkende Mechanismen greifen.

Ein zweiter Mythos besteht in der Annahme, dass aggressive Verhaltensformen stets und ausschließlich Symptome für tieferliegende psychologische Probleme wären. Destruktive Verhaltensweisen direkt anzugehen, führt hingegen häufig durchaus zu Verbesserungen zumindest auf der Verhaltensebene, und zwar ohne Behandlung ‚tieferer Ursachen’. Das direkte Eingehen auf destruktive Verhaltensweisen kann zu einer Veränderung der Eltern-Kind-Beziehung führen, die Therapie überhaupt erst ermöglicht. Mehr Handlungsoptionen erhält man häufig, wenn man sich ‚seelische Störungen’ und aggressives Verhalten als ein ‚Nebeneinander’ vorstellt statt als eine (Mono-)Kausalverknüpfung. Dagegen führt ein verstehendes und permissives Vorgehen bei kindlicher Aggressivität meist zu einer Verschlechterung und einer negativen Langzeitprognose (Omer/Schlippe 2004, 86).

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Ein dritter Mythos (als logische Konsequenz aus dem zweiten) ist, dass die beste Antwort auf auffälliges Verhalten eines Kindes eine individuelle Psychotherapie wäre. Dies stellt nicht nur tendenziell eine problematische Beziehungsbotschaft an das Kind dar, nach dem es nicht für sein Verhalten verantwortlich wäre, sondern es kann von ihm auch noch als Kränkung erlebt werden. Therapie kann so als disziplinarische Maßnahme vom Kind verstanden werden, was sozusagen ein Widerspruch in sich selbst wäre (Omer/Schlippe 2004, 88). Der Therapeut kann dann allenfalls mit einem ‚Besucher’ arbeiten anhand der Frage ‚Wie kann ich dir helfen, dass du mich so schnell wie möglich wieder los wirst?’ (Conen 1996). Bei Eltern und Schule kann auf dem Hintergrund des dritten Mythos die Tendenz der Abgabe von Verantwortung an professionelle Dienste verstärkt werden. Obendrein kann die Alternative einer Familientherapie - in ähnlicher Weise wie Einzeltherapie für das Kind - für die Familie als demütigend oder pathologisierend interpretiert werden (G.Schmidt 2004b). Omer/Schlippe raten dazu, zumindest bei stark verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zunächst die Eltern zu stärken und mit diesen zuarbeiten.360

Dass alles, was das Kind brauche, Akzeptanz, Wärme und Freiheit von behindernden Forderungen wäre, kann als eine vierte gefährliche Annahme gesehen werden. Diese Einstellung vergrößert Gefühle von Schuld und Hoffnungslosigkeit bei Eltern und Lehrern, wenn diese bereits auf Grenzsetzungen weitgehend verzichten. Das verschlimmert das Problemverhalten des Schülers meist noch. „Die Lehrerin muss [dann] kontrollieren ohne Kontrolle, anhalten, ohne zu bremsen, und beschützen [z.B. vor selbstschädigendem Verhalten] ohne Unterstützung“ (Omer/Schlippe 2004, 172). Außerdem führt diese Annahme ggf. zu wechselseitigen Schuldvorwürfen zwischen Eltern und Lehrer nach dem Motto: Hätte der andere Erziehende nur frühzeitig und „hinreichend sensibel und akzeptierend für die Nöte des Kindes“ gehandelt, wäre es erst gar nicht zu einem Problem gekommen. Dies ist teilweise auch mit der Hoffnung verbunden, dass die andere Seite die ungeliebte Funktion der autoritativen Grenzsetzung übernehmen möge, so Omer/Schlippe (2004, 167).

Die beiden Autoren nennen noch zwei weitere problematische Sichtweisen. Wenn die Privatsphäre eines Kindes oder Jugendlichen als völlig unverletzbar angesehen wird, wird ggf. übersehen, dass Privatsphäre nur ein Wert neben anderen wie die Sicherheit des Kindes oder der Mitschüler ist. Ihr Vorwurf geht dahin, dass in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften sich Eltern und Lehrer teilweise eher zu stark als zu wenig zurücknehmen (Omer/Schlippe 2004, 98). Die Idee361, dass, wenn Überredung nicht funktioniere, es eben Gewalt im Sinne von Anschreien, Drohen, harten Strafen und Schlägen (eher in der Familie, mitunter aber auch in der Schule) sein müssten, bringt die Gefahr des weiteren Verlustes von Präsenz und Gefahr des Beziehungsabbruchs.

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Als ein zentrales Gegenkonzept zu den hier vorgestellten Mythen und insb. gegenüber dem vierten Mythos (dass das Kind einfach nur Akzeptanz, Wärme und Freiheit von behindernden Forderungen brauche) schlagen verschiedene Autoren, allen voran Omer/Schlippe, das Konzept der pädagogischen Präsenz vor.

9.5 pädagogische Kraft durch Präsenz

Aufgrund Haim Omers Konzept der Autorität durch präsente Beziehung (Omer/Schlippe 2002, 2004; Weinblatt et al 2004; Tsirigotis et al 2006) für die Beratungsarbeit von Eltern und Familien verhaltensauffälliger Jugendlicher ist der Begriff der ‚Präsenz’ wieder verstärkt in die sozialpädagogische und v.a. die beraterische Diskussion gekommen. Die Idee der Präsenz ist nicht neu, bereits Nickel (1979) bspw. betonte die Kombination von emotionaler Bindung und erzieherischer Struktur als die entscheidenden Parameter für kindliche Entwicklung. Allerdings passt der Begriff der ‚Präsenz’ gut zur gegenwärtigen Gesellschaft, die mittlerweile den Kindern und Jugendlichen gegenüber ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom entwickelt hat in dem Sinn, dass Kinder vielfach sich selbst überlassen sind und wenig Aufmerksamkeit erhalten (Bauer 2004b, 35).

Omers Konzept der Präsenz als Autorität durch Beziehung und ohne Gewalt bezieht sich zunächst auf Fälle, in denen das Eskalationsniveau auf einer Stufe steht, auf der andere, insb. mediative Methoden des Konfliktmanagements meist nicht mehr greifen (Düring 2006,165; Glasl 1999 u. 2000). Wesentliche grundlegende Annahmen, Sichtweisen und Haltungen der Konzeption Omers lassen sich aber durchaus auch auf weniger eskalierte Situationen und, wenngleich teilweise mit Einschränkungen, so doch auch gut auf die schulisch-pädagogische Situation übertragen: „Das Thema der ‚Präsenz der Lehrer’ können wir direkt neben die Frage nach der Präsenz der Eltern stellen, denn die Versuchung, die Autorität bereitwillig aufzugeben, betrifft auch sie“ (Omer/ Schlippe 2004, 165). Sowohl für Pädagogen wie für Eltern will Omers Konzept explizit die beiden Kontexte bzw. Seiten der Pädagogik (Kap9.1) vereinen (Omer/Schlippe 2002, 26). Ein Schwerpunkt des Konzepts liegt auf dem Umgang mit und der Bearbeitung von Konflikten. Prämisse ist dabei, dass Kinder über eine (angemessene) Austragung von Konflikten reifen und dass „Konflikte [...] ein Gegenüber [brauchen]“ (Bergmann 2001, 126). Es geht um „die Kunst, so umfassend präsent zu sein wie nötig und sich dann so rasch überflüssig zu machen wie möglich“ (Bastian 2001, 202).

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Im Folgenden wird zunächst Präsenz als eine pädagogische Qualität beschrieben (Kap.9.5.1) und in verschiedenen Aspekten exemplarisch verdeutlicht (Kap.9.5.2). In Kap.9.5.3 wird ihre innere Verbindung mit Prozessen der eigenen Persönlichkeitswerdung von Pädagogen erläutert; inneres Wachstum und die Fähigkeit, sich zu zeigen, spielen hier eine wichtige Rolle (Kap.9.5.4). Schließlich wird der Begriff der bedingungslosen Präsenz, wie er aus der buddhistischen Psychologie stammt, in seiner Konsequenz für mentorhafte Beziehungen Schule betrachtet (Kap.9.5.5).

9.5.1 Präsenz als pädagogische Qualität

Der Begriff der ‚Präsenz’ wird in der Literatur - nicht nur bei Omer/Schlippe (2002, 2004)362 - vielfach verwendet, umschrieben und kaum genau definiert. Er ist aber vielleicht auch nicht genau zu definieren, da pädagogische oder elterliche Präsenz letztlich ein Bewusstsein oder ein Gefühl meint. Auf Seiten der Eltern ist es das „Bewusstsein, als Mutter, als Vater im Zentrum der Familie zu stehen“ (Omer/Schlippe 2004, 33) bzw. als Lehrer momentan im Zentrum der Klasse zu stehen. Und auf Seiten der Kinder und Jugendlichen das Gefühl, dass Pädagogen bzw. Eltern durch ihre Haltung und ihr Verhalten faktisch (und nicht nur verbal) aufrichtiges Interesse, Engagement und Anteilnahme ausdrücken, dass die Kinder und Jugendlichen es wert sind, so ernst genommen zu werden, dass sie Unterstützung und Konfrontation im persönlichen Kontakt erfahren und spüren können. „Jedes Kind braucht die intensive und dauerhafte Zuwendung von Bezugspersonen, die sich dem Kind erstens liebvoll widmen, die es zweitens aber auch die Einhaltung sozialer Regeln lehren, und die ihm drittens Ziele setzen und das Kind für seine Bemühungen loben“ (Bauer 2007a, 87). Erziehende sollten als beruhigende, orientierende und lenkende Faktoren wirksam und spürbar werden. Bergmann spricht hier von „personaler Autorität“ (2001, 34,70). Damit ist Präsenz ein Konzept dialogischer Interaktion (Omer/Schlippe 2002, 177). Um dialogisch präsent sein zu können, muss man ‚selbstständig stehen’ können, eine Mindestausprägung an eigener Persönlichkeit und Individuation besitzen: „Präsent zu sein bedeutet, jemand zu sein, jemand mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Um aufzuwachsen, braucht das Kind so einen Jemand“ (Omer/ Schlippe 2002, 30). Bauer (2007c, 27f) übersetzt diesen Aspekt des präsenten ‚Da-Seins’ als eine Begleitung durch Beziehung, die „von Interesse, Nachfragen, Ansporn und Forderung, auch von Kritik, aber ebenso von Anteilnahme, Hilfe und Ermutigung“ gekennzeichnet ist (Bauer 2007c, 39). Präsenz, so Bauer weiter, sei die Ausstrahlung von etwas Einzigartigem, das von ‚Menschen mit Eigenschaften’ ausgeht, die in ihrem vitalem Auftreten und in ihrem Eintreten für eigene Werte menschlich bleiben. So vermögen Sie, in Kindern und Jugendlichen Resonanz zu erzeugen und für diese Vorbildcharakter zu gewinnen. Dies sei wichtiger als – eine ohnehin illusionäre – Perfektion. Präsenzfähigkeit hat also mit eigenen Reifungsprozessen zu tun (mehr dazu in Kap. 9.5.5).

„Erzieherische Präsenz“ (Girolstein et al. 2006, 126) besitzt – aus einer Außenperspektive beschrieben - nach Omer/Schlippe (2002, 35,66,82,157) folgende wesentliche Komponenten, die zu einer Kenntnis der eigenen Stärke führen, welche wiederum den Erziehern kooperatives Verhalten erleichtert (Hargens 2006,72):

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Eltern und Erzieher „müssen bei ihrer Erziehungsaufgabe präsent sein als Person wie in ihrer Funktion. Dabei müssen sie bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, Grenzen zu setzen sowie Grenzüberschreitungen in einer Art gewaltlosem Widerstand gegenüberzutreten – und das immer auf der Grundlage des Respekts“ vor den Kindern (Hargens 2001, 48). Präsenz bedeutet, dass die Schüler sich darauf verlassen können, dass sie mit dem Pädagogen reden können, dass er dann, wenn es nötig ist, da ist und ggf. die nötige Verantwortung übernimmt (Hargens 2001, 52). Während Omer sein Präsenz-Konzept mit Kindern und Jugendlichen mit eher starkem problematischem Verhalten entwickelt hat und dementsprechend meist einen ernsten bis bestimmten Ton anschlägt, weist Hargens (2006,71) darauf hin, dass Präsenz auch spielerische Komponenten auf Seiten der Eltern und Pädagogen beinhaltet. Letztlich können sie nur über eine aktive Auseinandersetzung mit ihren Funktionen und ‚Rollen’ und deren Ausgestaltung angesichts eigener und fremder Erwartungen ihre Haltungen und Verhaltensweisen klären und sichtbar machen (Hennecke et al. 2006, 97). Damit folgen sie Clement, der - im Zusammenhang mit seiner prozessualen Spiel-vs-Ernst-Unterscheidung für den Übergang zwischen zwei Systemzuständen (Clement 2004, 167) - das spielerische Ausprobieren im Möglichkeitsbereich betont. Diese spielerische Sichtweise erleichtert die Übertragung des Präsenzmodells auf auch weniger existenziell ernste pädagogische Situationen und generalisiert es damit in Bezug auf schulischpädagogische Beziehungsgestaltung.

Die präsente Haltung von Pädagogenseite kann durch folgende weitere Sätze übersetzt werden: „Ich bin hier!“, „Ich kann deiner Wut und deinen Verletzungen widerstehen.“, „Ich g e be nicht auf, ich gebe dich nicht auf!“, „Ich will mit euch arbeiten und unterwegs sein!“, „Ich lasse mich von euch prüfen und supervidieren.“ „Es ist mir nicht egal, was du tust und wie du dich entwickelst. Manchmal durchkreuze ich deine Pläne, Deine Wut halte ich aus, weil du mir wichtig bist. Auf mich kannst du dich verlassen.“ (letzter Satz aus: Kreter 2005, 102).

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‚Präsenz’ bringt einen zentralen Aspekt von Pädagogik für diejenigen Lehrer in den Blick, die bei der oben getroffenen Unterscheidung zwischen Funktionsträgerschaft-Partnerschaft-(Mentoren)Liebe (Kap. 9.2.2) sich für eine der beiden letztgenannten Formen, vor allem aber für mentorhafte Aspekte interessieren. Pädagogische Präsenz kann in beiden Kontexten der Pädagogik wichtige Grundlage für eine erfolgreiche Beziehungsgestaltung sein. Erfolgreich meint hier nicht harmonisch, sondern bezieht sich gerade auch auf die Qualität des Konfliktmanagements. Im Durchsetzungskontext ist jedenfalls stets zu fragen, ob die geplante Maßnahme „den Sinn einer stabilen und vor allem persönlichen Präsenz“ vermittelt oder nur als „eine Art roher und distanzierter Macht“ funktioniert (Hargens 2006, 69).

Es kann beim Thema Präsenz auch um das Wiedererlangen von Initiative gehen, darum, nicht „nur zu reagieren“. Unvorhersehbarkeit des Verhaltens von Begleitern als positive Unberechenbarkeit im Unterstützungsbereich kann dann ein guter und effektiver Ausdruck von Präsenz sein. Hierzu kann gehören, Unterstützungsangebote ggf. auch wieder zurückzuziehen oder abzubrechen (Omer/Schlippe 2002, 94). Berechenbarkeit von Regeln allein schafft jedenfalls noch keine Präsenz. Die Stärke des Konzepts von Haim Omer besteht gerade darin, dass Durchsetzungskontexte mit Präsenz und Angeboten verbunden werden.

9.5.2 Aspekte pädagogischer Präsenz

Omer und Schlippe (2002, 88ff) benennen insb. acht Aspekte ihres Präsenzkonzepts, die elterliche und auch pädagogische Kraft verleihen können. Diese sollen hier kurz vorgestellt und erläutert werden. Zusätzlich ist zu untersuchen, (in)wie(weit) sie sich auf Schule übertragen lassen

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  1. körperliche Präsenz: Für Kinder ist Körperkontakt wichtig, er drückt unmittelbar die Präsenz der Eltern aus. Im Wachstums- und zunehmenden Ablösungsprozess des Kindes bedienen sich die Begleiter, gerade auch Erzieher und Pädagogen, zunehmend symbolischer Ausdrucksformen, die das Vorhandensein innerer Aufmerksamkeit bedeuten (Omer/Schlippe 2002, 88; Eisentraut/G.Weber 2006, 243). Im Symbolischen des Ausdrucks liegt eine besondere Chance, Haltungen und gerade erwähnte (innere) Sätze auf Verhaltensebene gegenüber Einzelnen oder Gruppen auszudrücken wie „Ich bin hier!“, „Du wirst mich nicht los!“. Es geht um die Bereitschaft, sich direkt mit der eigenen persönlichen Anwesenheit einzubringen und dem anderen aufmerksam und wach zuzuwenden (Omer et al. 2006, 49).
  2. das Territorium: Die Kraft von Verhalten und Interventionen auf diesem Gebiet stammt aus dem tiefsitzenden Raumgefühl des Menschen (Omer/Schlippe 2002, 91). Territorium(sbesitz) ist eine wichtige Grundlage und Größe bei Entwicklung von Individualität (eigener und der der Schüler). Gegen einen absoluten territorialen Anspruch eines Kindes muss reagiert werden i.S. eines gewaltlosen Kampfes gegen das Verhalten des Kindes(Omer et al 2006, 48) mit dem Mittel der Präsenz: „Das ist (zunächst einmal) mein Territorium. Ich bestimme hier (was im Kontroll- und Auswahlkontext passiert).“ Der persönliche Raum der Kinder und Jugendlichen muss allerdings respektiert werden, aber nur soweit er in legitimer Weise beansprucht wird (Omer/Schlippe 2002, 93.)
  3. Aufsicht: Statt ständig physisch anwesend zu sein, signalisieren die Eltern ihre Dazugehörigkeit und positive Sorge dadurch, dass sie jederzeit wissen, wo ihr Kind sich befindet und was es tut. Und das Kind weiß, dass sie es wissen. Solche Bedingungen (die Lehrer wissen quasi jederzeit, wo die Kinder sich während der Schulzeit befinden und was sie tun) sind im (insb. großen) Schulhaus viel schwieriger herzustellen und müssen auch nicht im gleichen Maß (wie von den Eltern) hergestellt werden. Verbindliche, transparente und von allen Lehrern eingeforderte gemeinsame Regeln können ein schulhäuslicher Ausdruck von Präsenz sein. Darüber hinaus hat im Kindes- und Jugendlichenalter gefühlte Lehrerpräsenz aber auch mit Präsenz als einer Qualität persönlicher Beziehung zu tun (Omer/Schlippe 2002, 97). Im günstigen Falle treten Aspekte von Kontrolle zunehmend zurück, während andere Aspekte von Präsenz bleiben: Interesse für und am anderen und Anteilnahme. Das Angebot wohlmeinender und nicht-wissender Fragen folgender Art kann hier hineingehören: „Wie stellst du dir dein Leben vor?“, „Hast du e i ne Idee, wie ich/wir dich unterstützen kann/können?“. Das Ziel von Aufsicht365 ist nicht einfach nur Kontrolle sondern die Übermittlung von Präsenz (Omer/Schlippe 2002, 99).
  4. Zeit: Der Faktor Zeit bildet zusammen mit dem Raumanspruch366 der Eltern die Grundlage elterlicher Präsenz: „Ich nehme Zeit und Raum ein, folglich bin ich!“ (Omer/Schlippe 2002, 93). Es geht hier nicht nur um Geduld und Ausdauer sondern auch um die Bereitschaft und Möglichkeit, Zeit zu investieren bzw. aufwenden zu können. Den in den Abschnitten 3 und 4 genannten Notwendigkeiten stehen in Schule oftmals erhebliche institutionelle Ressourcenbeschränkungen entgegen, die zu beachten sind.
  5. verbales Verhalten: Haben Eltern oder Lehrer ihre Präsenz verloren, reden sie meist viel und wirkungslos. Sie brauchen dann Unterstützung dabei, weniger zu sprechen und, wenn, dann mit Worten, die für den Schüler Bedeutung besitzen.367 Der Rückzug ins Leise-Reden und auch ins Schweigen (nicht als Beleidigung) in Kombination mit anderen Präsenz zeigenden Maßnahmen kann eine kraftvolle Intervention sein, um zu zeigen, dass man wieder präsent ist. Ein weiteres Mittel kann sein, das Gleiche in anderen Modalitäten (z.B. Indikativ statt Konjunktiv) oder Kontexten (z.B. Kontrolle statt Unterstützung) zu sagen.
  6. keine ängstliche Zurückhaltung: Eltern und Pädagogen sind oft von zwei Seiten her ängstlich: Sie sind besorgt, dass das Kind sie zurückweisen oder gar angreifen könnte und sie dem Kind Schmerz oder Leid zufügen könnten. Hilfreich kann es hier sein, diesen Ängsten vor sich selbst überhaupt Ausdruck zu verleihen. Die Gefahr ist, dass Ängste um Kinder sich als größer erweisen als die Sorge bzw. Sorgfalt, die man für sich selber aufbringt. Ängste um das Kind (u.U. von anderen Beobachtern als Rückgratlosigkeit erlebt) können also auch Ausdruck von Fürsorge und Loyalität sein.
  7. Belohnung und Bestrafung können dann zu Trägern der Elternpräsenz werden, wenn sie in neuer Betonung eingesetzt werden. Bsp.: Nach einem Wutanfall oder Störverhalten wird das Kind hinaus geschickt und in dieser Zeit persönlich betreut (= Präsenz; vgl. z.B. das Trainingsraumkonzept368) und nicht allein gelassen. Bei dieser Art des Konsequenz-Zeigens ergibt sich eine völlig andere Art der interpersonalen Wirkung. Die Regeln werden festgesetzt von den Eltern und Pädagogen, die zugleich Schiedsrichter sind: „Wenn ich pfeife, war es Foul.“
  8. Netzwerke: Hilfreich kann die Bildung eines Netzwerks sein, in dem alle zusammen an einem Strang ziehen, so wird Präsenz für alle Beteiligten vereinfacht (Kap.11.4). Entscheidend ist, dass Pädagogen bzw. Eltern das Gefühl haben, dass die eigenen erzieherischen Anstrengungen von anderen unterstützt und mitgetragen werden (Omer/Schlippe 2002, 35).

Präsenz ist eine die pädagogischen Kontexte übergreifende Haltung, sie gilt sowohl für den Unterstützungs- wie (bei Omer ja gerade) den Kontroll- und Bewertungskontext. Im Unterstützungs- und Angebotskontext kann sich Präsenz bspw. darin zeigen, dass ein Pädagoge im Rahmen des ihm Möglichen Lernprozesse in Einzel- und Gruppenarbeitsphasen unterstützt, von sich aus offen nachfragt369, wenn es Schülern schlecht geht, bei Problemen sich erst mal Zeit nimmt (oder anberaumt), erwünschtes Verhaltens positiv bekräftigt und lobt. Im Durchsetzungs-, Kontroll- und Bewertungskontext kann sich Präsenz bspw. darin zeigen, dass ein Pädagoge Raumpräsenz ausstrahlt, den Blick schweifen lässt, Schüler einfach drannimmt (aber hierbei niemanden zu etwas gegen seinen Willen zwingt und niemanden bloßstellt), aufkommende Störungen frühzeitig und konsequent durch kleine Gesten unterbindet, nonverbale Stoppsignale vereinbart und einübt, verbale Hinweise kurz, präzise und positiv370 formuliert. (Nolting 2002). Teil (aber eben auch nur Teil) der Präsenz im Durchsetzungskontext ist die Berechenbarkeit des Pädagogenverhaltens. Über Präsenz als einer freundlich interessierten Haltung können Störungen, die sich ausbreiten könnten, frühzeitig verhindert werden.

Wenn Kinder trotzdem die Macht errungen haben, Erwachsene zu beschämen (was i.d.R. einfacher ist als anders herum, da Eltern und Pädagogen sich für die Regelsetzung verantwortlich fühlen), ist es angebracht, über das Recht der Erwachsenen, die Kinder zu beschämen, nachzudenken (Omer/Schlippe 2002, 95). Dazu kann auch ‚positive Schamlosigkeit’ gehören – d.h. bspw. die Fähigkeit, im Kollegium oder auch gemeinsam als Kollegen vor den Eltern einer schwierigen Klasse zur eigenen Beschämung stehen zu können. Ein solches Bekenntnis kann Zeichen eigener Souveränität und Selbstvalidierung sein, die Wiedererlangung der Machtposition bedeuten und zugleich zu Kooperation einladen. Auch Kreter (2005, 58) rät Schulen und Kollegen, dass sie in solchen Fällen mit ihren Erziehungsproblemen „den Zustand der Diskretion verlassen sollten, in denen jeder einzelne glaubt, er müsse etwas leisten, dulden und ertragen, was kein einzelner leisten, dulden und ertragen kann, ohne damit gleichzeitig ein Krankheitsrisiko einzugehen“. Darüber hinaus appellieren Omer und Schlippe grundsätzlich, Güter abzuwägen und kein Gut absolut zu setzen.371

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Auch das Konstrukt der Lernbehinderung oder gar seelischen Krankheit ist kein ‚Freifahrtschein’ – weder für Kinder und Jugendliche, noch für Eltern und Pädagogen. Auch hier gilt, dass Verhaltensauffälligkeiten produzierende Heranwachsende auf die Konfrontation mit Regeln, Überzeugungen und Grenzen angewiesen sind, wahrscheinlich – so jedenfalls Omer/Schlippe (2002, 163), - sogar noch stärker als andere Schüler, „denn je chaotischer die innere Welt des Kindes ist, um so mehr braucht es einen geordneten, stabilen Rahmen“. Eine Umdeutung ungezügelten Verhaltens als „’normaler’ menschlicher Egoismus und ein ebenfalls ‚normales’ universelles Verlangen nach Bequemlichkeit, Genuß und Macht“, die ein Kind mit Vitalität und Klugheit auslebt (Omer/Schlippe 2002, 164), wirkt zugleich entpathologisierend und eröffnet neue Handlungsoptionen.

9.5.3 Differenzierung und Selbstvalidierung

Die Fähigkeit zur Präsenz, wie sie in den beiden vorherigen Kapiteln beschrieben wurde, ist die erlernbare Fertigkeit, Grenzsetzung und emotionale Verbundenheit, Nähe und Distanz angemessen auszubalancieren. Dieses Können fällt nicht vom Himmel, es ist in mühsamen, teilweise schmerzhaften und selbstbezüglichen Transformationsprozessen im Sinne eines sozialen oder Persönlichkeitslernens zu erwerben. Stierlin (1994) sprach in diesem Zusammenhang von ‚bezogener Individuation’. Ein verwandtes, aber neueres und stärker postmodernes Konzept hierzu legt Schnarch (2006, vgl.a. Clement 2004372) vor, der von ‚Differenzierung’ spricht. Seine Grundlage ist die postmoderne Idee der Nutzbarmachung von Unterschieden bei Beziehungspartnern für die beidseitigen persönlichen Entwicklungsprozesse. Unterschiede sind hier bereichernde Ressource und nicht Bedrohung.

Den Begriff der ‚Differenzierung’ verwendet Schnarch für die Fähigkeit, Unterschiede in der Beziehung für das persönliche Wachstum der Beteiligten sowie der Beziehung selber zu nutzen. Schnarch spricht daher von der Fähigkeit zur ‚Differenzierung’ auch als einer Form postmoderner Herstellung von Vertrautheit. Sie ist die Fähigkeit, in Beziehungen Nähe und Distanz, Innen-, Außen- und Metaperspektive, Individualität und emotionale Verbundenheit zu kombinieren. Schnarch spricht auf diesem Hintergrund auch von ‚Intimität’. Es geht hierbei nicht um Persönlichkeitsmerkmale sondern um „Prozesskompetenz in der Beziehungsgestaltung mit nahen Personen“ (Clement 2004, 78). Außerdem grenzt sich Schnarch von einem weiteren durchaus gängigen Intimitätsbegriff ab, der wie folgt definiert werden könnte: „Wenn immer mehr Bereiche des Erlebens und Verhaltens eines Menschen für einen anderen zugänglich und relevant werden und dieser Sachverhalt sich wechselseitig einspielt, entsteht Intimität“ (Ruf 2005, 24).

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Differenzierung bzw. Intimität bei Schnarch sind ein ‚Prozess qualitativ höherer Ordnung’ bzw. die Fähigkeit zu diesem:

Abb. 9-4: Differenzierung als Fähigkeit, Gebundenheit und Selbstständigkeit balancieren zu können (Schnarch 2006, 68)

Hilfreich ist ‚Differenzierung’ in den allgemeinen Beziehungen zu den Schülern und insbesondere dann, wenn es zu Prozessen oder Momenten der ‚dichten’ oder ‚nahen’ (vielleicht auch nur einseitig inneren) Begleitung durch den Pädagogen kommt. Letzteres ist ja häufig bei als problematisch erlebten Schülern und/ oder Eltern der Fall. Eine solche differenzierte Präsenzfähigkeit wird zurzeit aus mehreren Gründen von Pädagogen verstärkt abverlangt. Erstens wird die westliche Gesellschaft zunehmend pluraler; Unterschiede sind zunehmend als Ressourcen nutzbar zu machen (Honneth 1993, Beck 1993, Bauman 1996). Zweitens werden Pädagogen durch Schüler – zurzeit mit steigender Tendenz - in Funktionen gesehen, die Eltern zumindest teilweise ersetzen sollen, so dass hier eine gute Verbundenheit bei gleichzeitiger angemessener Abgrenzung für alle Beteiligten immer wichtiger wird (Omer/Schlippe 2002, 2004). Darüber hinaus verlangt , wie schon in Kap.5.2.3 gesehen, eine postmoderne Gesellschaftsstruktur von ihren Mitgliedern, dass sie ein höheres kognitives und moralisches Differenzierungsniveau erreichen als in modernen Gesellschaften (Kegan 1991, Kohlberg 1996). Das betrifft den Lehrer selber, der ja seine Autorität von den Schülern verliehen bekommt, als auch die Schüler, die in diese postmoderne Gesellschaft hineinwachsen müssen bzw. sollen. Insofern kann der Pädagoge auch als differenzierter und präsenter Begleiter von Menschen gesehen werden, die selber Differenzierung erreichen und Präsenz lernen können bzw. sollen. Für postmoderne Beratungsprozesse gilt, dass nicht nur ‚Heilung’ dort Thema ist sondern zunehmend auch einfach Begleitung und Selbstentdeckung (Schlippe/Schweitzer 2002, 114).

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Schnarch versteht Differenzierung als Prozess, durch welchen wir ein klar abgegrenztes Selbst entwickeln und dabei in nahen Beziehungen zu wichtigen Anderen bleiben (Clement 2004, 78), und als Fähigkeit, ein stabiles Selbstwertgefühl zu wahren und dabei in emotionalem Kontakt zu anderen zu sein (Schnarch 2006, 66). „Wer differenziert ist, muss nicht auf Distanz gehen, um bei sich zu bleiben“ (Clement 2004, 78). Es geht um ein In-Einklang-Bringen der Bedürfnisse nach Individualität und nach Miteinander – ein lebenslanges Thema und ein lebenslanges Lernen sind hier also angesprochen.

In Anlehnung an Clement (2004, 79) können fünf Punkte benannt werden, die zu einem solchen Differenzierungskonzept im pädagogischen Bereich (vielleicht von Partnerschaft, jedenfalls aber von mentorhafter Liebeshaltung) gezählt werden können (vgl. Kap. 9.2.2):

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Den Reichtum postmoderner Beziehungsgestaltung macht nicht der Zustand der Harmonie aus sondern die Fähigkeit der Differenzierung. Diese zeichnet sich u.a. durch die freundliche Betonung und das Zulassen von Unterschieden aus sowie durch die aktive Suche nach ihnen.373

Akzeptiert man diese postmoderne Sichtweise, dann wird die Unterscheidung zweier Arten von Validierung in Beziehungen möglich und wichtig (Clement 2004, 81f). Macht ein Beziehungspartner sein Denken und Handeln von der Zustimmung und Akzeptanz des anderen abhängig, so geht es um eine fremdvalidierte Vertrautheit. Das Regulationsprinzip der Beziehung ist die ‚negative Rückkopplung’, auf Ängstigendes oder Bedrohliches wird mit Beruhigung reagiert. Dies kann durchaus die Beziehung kurzfristig stabilisieren, ein solches Vorgehen daher als partnerschaftlich wertvoll gesehen werden. Langfristig bietet ein solches Vorgehen eher weniger Entwicklungsmöglichkeiten.

Wenn dahingegen ein Beziehungspartner die Andersartigkeit seines Denkens und Handelns vor dem Beziehungspartner öffentlich macht und damit in die „offene Selbstkonfrontation in Gegenwart eines emotional bedeutsamen Partners“ (Clement 2004, 80) geht, kann von selbstvalidierter Vertrautheit gesprochen werden. Die Gefahr, die hier lauert, ist die Beschädigung bzw. Beendigung der Beziehung, wie sie bisher war. Genau dies ermöglicht aber die Neustrukturierung von Systemen (z.B. der Beziehung, aber auch der beiden Partner bzw. der Beziehung). Die Einführung von Differenz kann als Bedrohung für Bindungsgewissheit und damit als Musterunterbrechung wirken.

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Die beiden Formen der Vertrautheit können noch einmal tabellarisch kontrastiert werden, bevor sie im nächsten Kapitel ihre pädagogischen Implikationen eruiert werden.

fremdvalidierte Vertrautheit

selbstvalidierte Vertrautheit

schwache Differenzierung

starke Differenzierung

Angst vor Andersartigkeit und Unzufriedenheit wird als bedrohlich erlebt

Angst vor Ablehnung kann mit Lernprozessen und der Erneuerung von Beziehung assoziiert werden

eigene Andersartigkeit und Bedürfnisse werden im Dienst der erstrebten Harmonie hinten angestellt

die eigene Andersartigkeit und die des Gegenübers wird als bereichernd erlebt

9.5.4 pädagogische Chancen von Selbstvalidierung

Für den Bereich der Pädagogik, der als zentrale Themen Autonomie und Bindung sowie Selbstständigkeit und Abhängigkeit kennt, bietet das Präsenzkonzept wichtige Chancen. Insbesondere innerhalb einer pädagogischen Partnerschaft oder erst recht einer mentorartigen Liebeshaltung ermöglicht es weitergehende Differenzierungen auf Bewusstseins- und Handlungsebene, die mit der Verbindung von Selbstständigkeit und Abhängigkeit zu tun haben (Hubrig/ Herrmann 2005, 50). Autonomie und Abhängigkeit sind dann keine unvereinbaren Gegensätze sondern einander bedingende Kriterien für Beziehungsgestaltung, die nach entsprechenden Mischungsverhältnissen suchen (Schumacher 2002).

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Wird eine pädagogische Beziehung als ein partnerschaftliches Verhältnis gesehen, das obendrein auf dem Hintergrund einer humanistischen Alltagspsychologie von Rücksicht und Gegenseitigkeitserwartung geprägt sein soll, hat dies zwei mögliche Implikationen, je nachdem wie von der Gegenseite diese Beziehung gesehen wird. Wird sie ebenso gesehen, dann einigen sich beide Seiten auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies kann dazu führen, dass Schüler/ Klassen vom Lehrer kaum gefordert und wenig konfrontiert werden, wodurch ein harmonisches Miteinander gesichert werden kann, aber Entwicklungschancen verloren gehen. Auch wäre es möglich, auf einer Metaebene dieses Verhältnis zu benennen und Verantwortung an die (wohl eher älteren) Schüler zurück zu delegieren nach dem Motto: ‚Mit wie viel Einsatz ich als Lehrer hier arbeite, bestimmt sich durch den Einsatz, den Sie bringen’. Dies kann z.B. zu anregenden Diskussionen unter den Schülern selber führen. Wird die Idee von Gegenseitigkeit und Rücksicht durch die Schüler nicht geteilt, besteht allerdings die Gefahr, als Pädagoge massive Handlungseinschränkungen zu erleiden. Dann bietet das Modell der selbstvalidierten pädagogischen Beziehungsgestaltung Chancen zu einer Neupositionierung und Rückgewinnung von Handlungsoptionen.

Im Gegensatz zu einer harmoniebetonenden Version humanistischen Alltagspsychologie kann es für den Pädagogen also wichtig sein, sowohl sich präsent im Umgang mit Schülern und Eltern zu verhalten, als auch sich deutlich zu positionieren und angemessen abzugrenzen – und in diesem Vorgehen gleichzeitig entscheidende Entwicklungschancen zu sehen und anzubieten. Das Setzen von Grenzmarkierungen eröffnet ihm neue Handlungsmöglichkeiten, und Verhandlungschancen über die gemeinsame Beziehungsgestaltung werden möglich oder weiter geöffnet. Clement (2004, 76) unterscheidet hierbei fünf Intensitätsstufen von Rücksichtnahme:

Abb. 9-6: Intensitäten antizipierter Rücksicht (Clement 2004, 76)

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Um vorhandene Chancen ausreizen zu können, müssen beide Seiten mit ‚Grenz-Markierungen’ umgehen können (d.h. der Lehrer auch, wenn die Schüler so kommunizieren). Auf Kontextpassung ist aber stets zu achten. Auf den Stufen 2-4 nimmt sich der Pädagoge tendenziell zunehmend aus der Präsenz heraus; er lässt Forderungen sowie Konfrontation, die zu Erziehungsprozessen dazugehören, mehr und mehr fallen. Auf Rücksichtsstufe ‚null’ hingegen koppelt sich der Pädagoge nicht mehr an seine Schülerschaft an und wird deren Aufmerksamkeit (und ggf. deren Zuerkennung von Autorität) verlieren. Allgemein gilt, je höher der Differenzierungslevel in der Beziehung, desto tragfähiger wird sich selbstvalidierte Vertrautheit zeigen – auf beiden Seiten.

Selbstvalidierte Vertrautheit kann verstanden werden als Teil von Selbstständigkeit in postmodernen Zeiten. Sie ist daher nicht nur Erziehungsmittel, sie ist damit auch Erziehungsziel. Das Differenzierungskonzept ergänzt also Zielbestimmungen postmoderner Erziehung; hierin liegt ein weiterer Vorteil des Differenzierungsmodells.

Die Einführung von Differenz nach dem Motto „Ich sehe das anders, glaube, dir diese Differenz zumuten zu können, und bin weiterhin präsent“ kann auch gezielt eingesetzt werden, um zu versuchen, Veränderungen und Entwicklungen anzuregen. Hierbei ist dann allerdings zu beachten, dass hinzuschauen ist, wie viel und welche Art der Differenz als entwicklungsfördernd eingeschätzt wird. Verstörungen müssen angekoppelt passieren. Das gilt übrigens auch umgekehrt, d.h. für die Einschätzung des Differenzierungslevels von Lehrern durch die Schüler bei der Beantwortung der Frage: ‚Was können wir ihm zumuten? Wie viel Kritik kann er annehmen? Was und wie viel kann ich ihm von meinen Problemen notfalls erzählen?’ Postmoderne Schüler, so eine These dieser Arbeit, sind ja auf der Suche nach Orientierung, Reibungsfläche und Vorbildern (Hubrig/ Herrmann 2005, 50) und testen dementsprechend ihre Lehrer auf deren Standfestigkeit im Beziehungs- und Kommunikationsbereich. Systemisch-konstruktivistisch gesehen, steht und fällt ein Lehrer aus Schülersicht dadurch, ob er in diesem Bereich stimmig handelt. Stimmiges Handeln besteht darin, sich in Verhalten und verbalen Äußerungen übereinstimmend, klar und präsent zu positionieren. Hierbei können Schüler durchaus anerkennen, wenn es neben anderen Pädagogen auch mal einen Lehrer gibt, der auf der Ebene der funktionalen Beziehung bleibt374, solange er sich sauber an die dortigen Regeln hält: u.a. straffe Führung, faire Noten, Ausstrahlung, dass er ‚hier etwas vermitteln will und die Schüler (etwas) lernen sollen’ , eigener Arbeitseifer und gute Vorbereitung.

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Außerdem ermöglicht Differenzierung es einem Pädagogen, gerade in Konfliktsituationen ein „unerschrockenes Respektieren“ (Omer/Schlippe 2004, 174) des Gegenübers als Person375 praktizieren zu können. Respekt wird hier nicht verstanden als ein spontanes Gefühl sondern als eine Fähigkeit, die nur über eigene Lern- und Selbstreifungsprozesse, über ein kontinuierliches An-sich-selbst-Arbeiten erworben werden kann.

Schließlich steigert die professionelle und ‚natürliche’ Handhabung von Differenzen als etwas Bereicherndem die postmoderne Vorbildfunktion des Lehrers und so die Wahrscheinlichkeit, dass Schüler ihm Respekt und Autorität zuerkennen. Seine Vorbildfunktion erstreckt sich auch darauf, den Mut an den Tag zu legen, sich zu zeigen, sich anderen ‚zuzumuten’, und dabei mit der Angst vor Ablehnung, die in sozialen Bezügen natürlich und menschlich ist, umgehen zu können. Aufgrund der Betonung der Unterschiede in einem Rahmen des Zusammenarbeitens zieht ein Konzept von bereichernder Differenz – anders als ein Harmoniekonzept – notwendig häufiger Verhandlungen nach sich. Es ist ein grundsätzlich und explizit auf Dialog angelegtes Konzept und damit ein anstrengenderes als ein Konzept der ‚Gleichstimmung’ und des Einklangs. Das Differenzkonzept ist auch dann, wenn der Lehrer sich und seine Wertvorstellungen im Durchsetzungskontext zeigt, mit dialogischer Grundhaltung und Wertschätzung verbunden. Grundhaltung ist u.a. die Bereitschaft, zum angemessenen Zeitpunkt ggf. zu verhandeln und auch selber dazuzulernen.

Insgesamt können Differenzierung und Präsenz, da sie Kommunikations- und Verhandlungsmöglichkeiten erhöhen, als ein Konzept dialogischer Interaktion (Omer/Schlippe 2002, 177) beschrieben werden. Um präsent und dialogisch auftreten und handeln zu können, muss man ‚selbstständig stehen’ können und „jemand mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen“ (Omer/Schlippe 2002, 30) zu sein. Differenzierungsprozesse können als angstauslösend erlebt werden, weil sie Individuationslernen herausfordern – von Schülern wie auch von Lehrern. Präsenzfähigkeit hat also mit eigenen Reifungsprozessen zu tun. Differenzierung ist mithin nicht nur Prozesskompetenz sondern auch Ausdruck von Selbsterfahrung und Reifung als Person und Individuum (in einer individualisierten Gesellschaft). Als Lernziel stellt es – passend zum lebenslangen Lernen der Postmoderne – eher ein ‚Entwicklungskonzept’ als ein ‚Lernkonzept’ dar(Clement 2006, 219).

9.5.5 bedingungslose Präsenz

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Einen Schritt weiter noch als die Ideen von Schnarch und Clement zur Präsenz geht v.a. die buddhistisch inspirierte konstruktivistische Psychologie, wie sie im englischsprachigen Raum u.a. durch Therapeuten wie Welwood (2002, 1996), Kornfield (1993), Kopp (2000, 1994) und den buddhistisch inspirierten Religionsphilosoph Krishnamurti (1986, 1995, 2004) vertreten ist. Dieser Ansatz schöpft aus der Tradition spirituellen Lehrens und Lernens und bedient sich teilweise ihrer Sprache und Metaphern. Er ist wahrscheinlich eher für Beratungslehrer von Relevanz, erweitert und differenziert aber das Sichtfeld derjenigen Lehrer, die für sich mitunter auch das Modell mentorhafter Begleitung wählen (vgl. Kap. 9.2.2).

Grundlegende Gedanken dieses Ansatzes werden hier kurz ausgeführt und auf mögliche Bedeutungen für die postmoderne Pädagogik befragt. Diese Ausführungen gehören, einerseits und streng genommen, eher in den Beratungsbereich (vgl. Kap. 10), da die Qualität einer Präsenz als bedingungslosem Dasein in der Begleitung stärker in der Intimität von Beratungssituationen gefordert ist als in allgemeinen pädagogischen Prozessen. Andererseits passen die hier dargestellten Gedanken aber auch sehr gut und grundsätzlich ins Thema der Präsenz, die auch im normalen Unterrichtsgeschehen quasi als Hintergrundmusik spürbar ist (oder eben nicht). Ihren Platz hat achtsame Präsenzfähigkeit – so die buddhistische Forderung – gerade im Alltag, also auch im schulischen Alltag täglichen Unterrichtens und des üblichen Umgangs mit den Schülern.

Im Folgenden soll kurz die neben der Konstruiertheit von Welt – das Gehirn selbst gilt der buddhistischen Psychologie lediglich als Sinnesorgan (Reichle 1994) – zweite wichtige Grundidee der buddhistischen Psychologie illustriert werden, die Vergänglichkeit. Aus der Kombination dieser beiden Prinzipien ergeben sich dann Konsequenzen für Lehre und Lehrer-Sein. Diese werden mit Darstellungen der systemisch-konstruktivistischen Psychologie verglichen und angereichert, wie sie in dieser Arbeit bereits in vorherigen Kapiteln erläutert wurden.

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Welt und Selbst sind Konstrukte (bzw. Illusionen) und unterliegen einem permanenten Wandel. „Die Unklarheit, die Unlösbarkeit und die Unvermeidbarkeit der menschlichen Situation“ macht aus dem Leben „einen Sack voller Wechselhaftigkeit, Mehrdeutigkeit und Vergänglichkeit“. Der Mensch darf „nur behalten, was er bereit ist loszulassen“ (Kopp 2000, 10f). Das führt aber nicht zur nihilistischen Verzweiflung und zum existenzialistischen Kampf gegen die Sinnlosigkeit. Reife besteht vielmehr darin, Welt und Selbst in ihrer unvollkommenen Fehlerhaftigkeit in Demut anzunehmen - und sich genau dadurch transformieren zu lassen, Reifungsprozesse zuzulassen376. Das ist allerdings ein schmerzhafter und kein leichter Weg. „Das Wichtigste ist, überhaupt anzufangen“, aber dann gibt es auf dem Weg durchs Leben „auch die Ausdauer und das ist: wieder und wieder und wieder anfangen. [...] Der Weg wird dich deine Unschuld, deine Wunschbilder und deine Gewissheit kosten“ (Kopp 2000, 15) und langfristig zum ‚ganzen Menschen’ befreien.

Für die Pädagogik lassen sich drei Aspekte folgern, die kurz genannt und dann erläutert werden sollen:

1. Lehrer müssen selber durch teilweise schmerzhafte Prozesse persönlichen Wachstums und Reifung hindurch gehen, hierbei ihre Fehler als Entwicklungschancen schätzen und zu einer reifen und spielerischen Haltung gegenüber der Leere bzw. Absurdität des Daseins gelangen. Dann verfügen sie über die Fähigkeit,

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2. anderen in Authentizität und über Nicht-Wissen das zu lehren, was sie (die Lehrer) selber erfahren haben, sowie das zu geben, was sie (die Schüler) längst besitzen (Kopp 2000, 21)377, sowie

3. auch in schwierigen Situationen bedingungslos präsente Begleiter zu sein.

Der erste Punkt hebt darauf ab, dass Lehrer, um Vorbild und Begleiter sein zu können, die Bereitschaft mitbringen müssen, für eigenes persönliches Wachstum und Entwicklung sich selbst zu konfrontieren, zu erfahren und Schmerzen anzunehmen. Glaubhafte pädagogische bzw. psychosoziale Führungsqualität besteht dann u.a. darin, die Höhen und Tiefen der eigenen Bewusstseinswelt und der eigenen Lebenserfahrungen kennen und aushalten zu können (Welwood 2002, 134). Eine solche persönliche Selbsterfahrung und –reflexion ist in der Lehrerausbildung nicht vorgesehen und wird auch kaum in Weiterbildung angeboten und, falls vorhanden, wenig nachgefragt. „Es gibt viele Ausbildungsprogramme zur Vorbereitung auf dienende Berufe aller Art. Aber nur selten betrachten wir diese Programme unter dem Aspekt einer Einübung in die freiwillige Armut. Stattdessen bemühen wir uns um mehr Ausrüstung [...]. Aber eine echte Ausbildung zum Dienen erfordert einen schwierigen und oft schmerzlichen Prozeß der Selbstentäußerung“ (Nouwen 1984, 103). Letzteres lässt sich allerdings vielleicht in der Auseinadersetzung mit schwierigen Schülern und deren manchmal noch schwierigeren Eltern auch gar nicht verhindern.

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Fehler sind auf diesem Weg unvermeidlich und Lehrmeister. „Es sind gerade die Schwierigkeiten, Fehler und Irrtümer, aus denen wir wirklich lernen. Leben bedeutet von einem Irrtum zum nächsten zu gehen“ (Kornfield1993, 94). Dies entspricht ziemlich genau der Idee des negativen Wissens von Oser/Spychiger (2005), die weiter oben bereits beschrieben wurde. Eine essentielle Fähigkeit, um Menschen als Lehrer begleiten zu können, ist es dann, angemessen mit eigenen Fehlern umgehen und an ihnen in eine produktive Demut hineinwachsen zu können. Kopp (1976) sammelte dementsprechend unter Mitarbeit therapeutischer Kollegen eine Dokumentation eigener Therapeutenfehler. „If we do not understand our limitations, we do not understand our being. If we cannot accept our limitations, we cannot accept our being. Humility is a necessary virtue if we are to accept and to be honest with ourselves. [...] Humility is quite compatible with feelings of pride, joy and self-respect” (Furey 1987, 21).

Gerade im Kontext Schule mit seinen eigenen Regeln kann, „eingeschränkte [eigene] Kompetenz zeigen zu lernen“ (Kreie 1990, 236), ein sich selbst respektierender Weg und Zeichen erhöhter Kompetenz sein. „Um helfen zu können, müssen wir auch den Mut haben, unsere Grenzen zu sehen und auch Fehlschläge hinzunehmen, ohne anderen die Schuld zu geben“, schreiben auch Omer/Schlippe (2002, 205). Nur mit einer solchen „psychology of humility“ (Furey 1987) können wir im Angesicht von Fehlern einen freundlichen Umgang mit anderen378 und mit uns selber erreichen: „Kinder und Jugendliche müssen das Gefühl haben, dass wir nicht verzweifeln, wenn sich unsere Zielsetzungen für sie nicht erfüllen. [...] Erziehung ist für alle, die daran beteiligt sind, immer auch eine existenzielle Grunderfahrung, und sie macht uns die Grenzen unserer menschlichen Möglichkeiten permanent deutlich. Wie wir eine solche Grenzsituation überstehen, das bildet den Nachwuchs“ (Dollase 2001, 74). Bergmann (2001) betont, dass „tief empfundener Respekt [...] Offenheit für das Menschliche an sich“ ist (S.157) und sieht die Grundlage erzieherischer Autorität in einer „tiefen Ruhe, Beständigkeit, Gelassenheit und Großzügigkeit“ (S.193).

Formen meditativer Selbsterfahrung können als Stressprophylaxe (nicht aber als Stressabbau) und als Fähigkeit dienen, auch in schwierigen Beratungs- und Lebenssituationen von Schülern spürbar präsent bleiben zu können. Unter solchen Bedingungen kann der Lehrer mit personaler Präsenz, mit Weitsicht und Geduld begleiten: “Teaching is the noblest profession [...] It is an art that requires not just intellectual attainments, but infinite patience and love” (Krishnamurti 2004, 17). „The educator must be concerned from the very beginning with this quality of love, which is humility, gentleness, consideration, patience and courtesy” (Krishnamurti 2004, 11). “Was wir brauchen, ist ein Becher Verstehen, hunderttausend Liter Liebe und ein Ozean Geduld“ (Franz von Sales, zit.n. Kornfield 1993, 80). Solche Haltungen spüren auch kleine Kinder im Alltag.

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Zu Punkt 2: Ziel von Lehre ist dann nur scheinbar, den Schüler „in eine höhere Ebene geistigen Verstehens“ einzuführen; tatsächlich geht es langfristig vielmehr darum, ihn dazu anzuleiten, „seine unvollkommene und endliche Existenz in einer letztlich nicht zu bewältigenden Welt zu akzeptieren“. Das unnötige Festhalten an Illusionen nimmt dann die Kraft für den Umgang mit den Widersprüchen des Lebens (Kopp 1994, 20). Das ist keineswegs tragisch gemeint, sondern impliziert eine Leichtigkeit von Loslassen-Können: „Das Leben ist manchmal schwer, häufig ungerecht, vielleicht immer absurd, aber tragisch ist es nicht“ (Kopp 1982, 11). Lehrer müssen für diese Aufgabe einfach nur „most extraordinarily human members of the community“ sein (Kopp 1971, 3).

Als explizite Lehre ist dies sicherlich eher was für ältere oder erwachsene Schüler; aber als implizite Lehre, die sich in den inneren Haltungen des Lehrers spiegelnd verkörpert, als versteckter Lehrplan also, kann sie grundsätzlich wirken. Es geht hier also darum, keine Lehre mitzuteilen, sondern sie zu verkörpern (Kopp 2000, 20). Wesentliches Instrument des Lehrens, seiner Beziehungsgestaltung und Kommunikation ist der Lehrer selbst. Ziel für Schüler ist allerdings nicht Nachahmung, sondern ihren eigenen Weg zu suchen. Dafür ist Achtsamkeit, Wachheit und die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung wichtiger als Wissen (Krishnamurti 2004,13; 1986,13), da Wissen das Bisherige konserviert und damit Lernen verhindert, wie bei Fritz Simon (2002, 157) gesehen. “It is only out of the initial blurriness that something fresh can unfold [...]. That is why we usually have to let ourselves not know before we can discover anything new” (Welwood 2002, 90). Nach Nouwen (1984, 99) müssen sich Lehrer auf „ein ausgesprochenes Nicht-Wissen vorbereiten, eine docta ignorantia, eine Gelehrsamkeit, die nichts weiß“.379

Dafür müssen Lehrer auch unangenehm wirken: “Students cannot expect to have their teacher respond to them in the way they want, give them the validation and approval they would like, or make them feel good. Genuine [...] masters neither hold out promises and rewards nor encourage projection and idealization. They continually throw you back on yourself” (Welwood 2002, 163). Und auch Schüler müssen unbequem sein: In diesem Prozess darf nichts akzeptiert werden, „which you yourself do not see clearly“ (Krishnamurti 1995, 18).380 Weniger brauchbar sind Vergleiche zwischen den Schülern oder anhand von Standards, da sie vom Prozess des Individuums wegführen. Krishnamurti (2004, 86) sieht in seiner radikalen Sichtweise hierin sogar einen Verstoß gegen die Menschenwürde. „Das Leben zu verstehen, heißt, sich selbst zu verstehen, und damit beginnt und endet alle Erziehung“ (Krishnamurti 1986, 12).

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Der dritte Punkt spricht die Fähigkeit an, auch in schwierigen Situationen bedingungslos präsenter Begleiter zu sein. Bedingungslos bedeutet hier nicht, alles zuzugestehen: „Immer tun, was man will, ist ein zutiefst verderblicher Einfluß“ (Omer/Schlippe 2002, 165). Es geht um ein Dasein, ein Halten bzw. Mit-Aushalten von schwierigen Lebenssituationen, denen Schüler unterworfen sein können. Das heißt auch, dass es hier u.a. um die ‚großen Lebensthemen’ wie Liebe, Verzweiflung und Tod geht. Diese benötigen oft zunächst weniger Interventionen als ein Mit-dem-Schüler-Sein. “When children are in pain, what they most want is this kind of presence [...]. They want to know we are really there with them in what they are going through” (Welwood 2002, 145). Es ist aber keineswegs einfach, sondern bedarf der oben angesprochenen eigenen Klarheit und unerschrockenen bodenständigen Reife, “[to let] the other person’s experience resonate in and through me. I find that I most enjoy my work and am most helpful when I can respond to the other person’s work as part of our journey in common – toward discovering an authentic ground of human presence amidst the turbulent crosscurrents of the mind” (Welwood 2002, 171). Hierfür ist innere Leere beim Begleiter hilfreich, der seine begrenzten Möglichkeiten angesichts des Lebens, wie es ist, akzeptiert und der sich dauerhaft überflüssig machen muss: „Unsere Erfüllung besteht darin, Leere381 anzubieten, unser Nutzen im Nutzlos- und unsere Macht im Ohnmächtigwerden“ (Nouwen 1984, 104). Eine wichtige Vorstufe hierfür, ist die Fähigkeit, Stille und Schweigen (z.B. auch im Unterricht) aushalten zu können, auf die z.B. Hilbert Meyer (2006) hinweist.

Unter solchen Voraussetzungen ist auch im psychologischen Setting eine akkomodative Bewusstseinserweiterung zweiter Ordnung möglich. Dementsprechend wird die Rolle des Begleiters definiert: Der Berater “does not explain content; he expands awareness of patterning” (Welwood 2002, 94). Hierfür muss sein ‚Siedepunkt’ höher sein als der des Begleiteten, so ja auch eine in Therapeutenkreisen bekannte Metapher (Clement 2007), die auch für den normalen Unterricht, also Punkt 2, gilt. Nach Welwood (2002, 224) können diese Fähigkeiten des Lehrers oder Begleiters als über die Agape (vgl. Kap. 9.2.2) sogar hinausgehend beschrieben werden: “While impersonal presence is the source of an equal concern and compassion for all beings (agape, in the Western terms), personal presence is the source of eros – the intimate resonance between oneself, as this particular person, and another, whose particular suchness we respond to in a very particular way.” Von dieser Fähigkeit, mit unbedingter Präsenz da sein und begleiten zu können, können alle Schüler altersunabhängig gerade in Beratungssituationen profitieren

Letztlich ist Präsenz „für das Kind“ da (Omer/Schlippe 2002, 209). Und die am wenigsten invasive Form von Präsenz läuft über die Grundhaltungen und personalen Fähigkeiten des Lehrers. Wollte man diese Form der verstärkt mentorhaften Begleitung – für eine postmoderne Gesellschaft ist sie durchaus vorstellbar – konsequent umsetzen, so ginge dies nur in sehr kleinen Klassen (Krishnamurti 2004, 37).

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Pädagogische Präsenz als Fähigkeit zu achtsamem Kontakt beinhaltet auch eine Wachsamkeit für die Ressourcen von anderen und einem selbst.

9.6 Ressourcenbetonung

Die Betonung von Ressourcen und Fähigkeiten ist im systemischen Ansatz - besonders in seinen lösungsorientierten (z.B. de Shazer, Bamberger) oder hypnotherapeutischen (z.B. G.Schmidt) Spielarten - geläufig. Ressourcenorientierung geht davon aus, dass jeder Mensch über ausreichend Ressourcen zur Alltags- und Problembewältigung verfügt, diese aber momentan nicht nützt, weil es dafür für ihn gute Gründe gibt (Renoldner et al 2007, 32). Ressourcenorientierung fokussiert auf das Erleben eigener Gestaltungsfähigkeit und eigener Gestaltungsverantwortung und unterstützt damit das eigene Tun (G.Schmidt 2004a, 189). Vor allem aus hypnosystemischer Sicht gelten Kompetenzen nicht als statisch, sondern sie werden dann erlebt, „wenn man die gestellten Aufgaben mit den gerade subjektiv erlebten Fähigkeiten [...] bewältigt“ (G.Schmidt 2004a, 113).

Das ist auch eine Frage der Kontexte. Konstruktivistisch gesehen, macht es Sinn, bei zumindest von außen als problematisch erlebtem Verhalten (von Schülern, Eltern, Kollegen, Schulleitung, eigenem), nach den darin verborgenen Fähigkeiten zu suchen, die i.d.R. für bestimmte, häufig auch außerschulische Kontexte durchaus ‚passen’ und insofern prinzipiell Lernleistungen und Kompetenzen darstellen.

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Aus ressourcenorientierter Sicht (auf andere oder sich selbst) gilt grundsätzlich im systemischen Ansatz:

In postmodernen Zusammenhängen gilt außerdem die systemisch-konstruktivistische Warte, dass Diversität und plurale Sinngebung den Status von Ressourcen erhalten. Nicht nur Gruppen, sondern auch bereits Individuen - Schüler wie Lehrer - können unter einem ressourcenorientierten Blick als „polypotent“ (Gergen 2003, 63), mit vielen Fähigkeiten ausgestattet, gesehen werden. Im Folgenden werden zunächst Konsequenzen einer ressourcenorientierten Haltung des Pädagogen gegenüber den Schülern (Kap. 9.6.1), dann sich selbst gegenüber (Kap. 9.6.2) beschrieben.

9.6.1 ressourcenorientierter Blick auf die Schüler

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Ein ressourcenorientierter Fokus auf Schüler ist für diese deshalb günstig, weil sie ihre Fähigkeiten anerkannt und rückgespiegelt bekommen. Ihre Fähigkeiten werden soz. in einem sozialkonstruktionistischen Prozess Wirklichkeit und dienen der Stärkung der Selbstorganisation der Schüler. Aber auch für den Lehrer wirkt eine solche Sichtweise zumindest bei als schwierig erlebten Schülen entlastend, weil deren Verhalten in einer solchen Interpretationshaltung nicht als gegen den Lehrer gerichtete Destruktion sondern als anderweitig motivierte Fähigkeit erlebt wird. Ein Verhalten, das als Störung oder Provokation aufgefasst werden könnte, wird dann nicht (mehr) ‚persönlich genommen’, so dass der Grad an innerer Irritation und Infragestellung geringer ausfallen und gesundheitsunterstützend wirken kann. Eine solche allgemeine ressourcenorientierte Sichtweise, dass jeder Mensch – aus Sicht der konstruktivistischen Epistemologie kann er gar nicht anders – für ihn sinnvoll handelt, kann nicht nur dem Lehrer helfen, mit schwierigen Schülern anders umzugehen (Molnar/Lindquist 2002), sondern auch den entsprechenden Schülern es vereinfachen, ein anderes Verhalten zu zeigen, wenn der Lehrer nicht in eine mögliche Eskalation mit eingestiegen ist.382 Ein Ressourcenfokus ist Teil der Kunst der Deeskalation (Omer/Schlippe 2002).

Die Ressourcen-Haltung bedeutet des Weiteren im Angebotskontext „vom Defizit zum ‚Profizit’“ zu gehen (Balgo 1997a). Im Beratungsbereich im engeren Sinne bedeutet sie insb., dem Gegenüber vorhandene Lösungskompetenz zuzurechnen, die er i.d.R. in meist zahlreichen Ausnahmesituationen vom Problem auch bereits gelebt hat. Im Unterrichtsbereich bedeutet Ressourcenorientierung, den Schülern ausreichende Lernfähigkeit zuzurechnen, solange der Lehrer methodisch angemessen vorgeht. Ein solcher Blickwinkel ist zugleich eine Betonung der Wichtigkeit und Unhintergehbarkeit der Selbstorganisation von lebenden Systemen und kann helfen, übertriebene Wünsche, wie sie gerade engagierte Pädagogen mitunter spüren und vorschnell umsetzen, zu relativieren – zugunsten der Selbstständigkeit der Schüler und des ‚Energiehaushaltes’ des Lehrers. „Die Auffassung, dass nicht sie, sondern ihre Klienten die Lösungen haben, entlastet sie davon, Probleme anderer zu ihren eigenen zu machen. Das ist umso bedeutender, als die generelle Orientierung des Lehrerberufs, ‚es besser zu wissen als die Schüler’, zu einer habituellen Ausrichtung der Lehrerpersönlichkeit wird“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 19).

Ressourcenorientierung verlangt insb. auch einen anderen Umgang mit Fehlern, wie dies bei der Beschreibung postmodern-konstruktivistischer Fehlerkulturen (Kap.7.9.3) bereits geschildert wurde. Auch kann ein Unterrichtsfach ‚Würdigen und Bewerten’ eingerichtet (Heuwinkel 2002, 40) und ebenso wie Diagnostik (Burr 2000) ressourcenorientiert gestaltet werden. „Wir müssen den Kindern Wörter geben, mit denen sie ihre Existenz ausdrücken können. Sie brauchen keine Wörter für ihre Probleme, sondern für das, was sie sind. Sie müssen ihr Sein in der Welt ausdrücken können“ (Juul, zit.n. Gründler 1998, VI). Ressourcenorientierung bedeutet keine Schonhaltung; entsprechend der Lernstandsanalyse können Schüler durchaus (heraus)gefordert werden. Und konsequenterweise sind Schüler ebenso zur aktiven Konfliktbearbeitung (auch in der Klasse) aufzufordern und hierbei zu begleiten (Hubrig/ Herrmann 2005, 135).

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Der Blick auf den Möglichkeitsraum steht hier im Vordergrund – und dies passt keineswegs nur zu Therapie sondern ebenso zu Pädagogik. Letztere kann ebenso wie erstere als ein gemeinsames Ringen um Wirklichkeitsdefinitionen (Schlippe/Schweitzer 2002, 137) verstanden werden und besitzt ebenfalls die Funktion der Entfaltung von Möglichkeiten im reifenden Individuum. Ohnehin wird seit Jahren zunehmend deutlich, dass auch ‚klinische Hilfesysteme’ aus dem reinen ‚Symptomheilen’ zunehmend heraus treten und sich diversifizieren in Systeme der Anleitung, Beratung, Begleitung, Therapie und Selbstentdeckung (Schlippe/ Schweitzer 2002, 114; Ludewig 1992, 123). Auch in der Pädagogik gibt es eine Diversifizierung der Berufsanforderungen, die zunehmend in den Bereichen von Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung eine Bewusstseins- und Kompetenzerweiterung verlangen. Voß z.B. spricht von einem ’Kontinuum Unterrichten – Erziehen – Beraten’ (Voß 2005c, 92).

Die Aufrechterhaltung einer Ressourcenorientierung wird in Schule als staatlicher Organisation insofern erschwert, als die Bewertungs-, Selektions- und Kontrollfunktionen von Schule durch den Staat bzw. seine aufsichtszuständige Bürokratie stärker in den Blick genommen und leichter überwacht werden (können) als Aspekte des Lernens im Angebotskontext der pädagogischen Profession (Hubrig/ Herrmann 2005, 17). Aus der Perspektive bürokratisch-technokratischer Schulsteuerung heraus ist eine ressourcen- und lösungsfokussierende Sichtweise (auf Schüler oder Lehrer-Selbst) nicht unbedingt nötig, vielmehr steht sie im schulischen Alltag mit dessen knappen (Zeit-)Ressourcen einem schnellen, möglichst reibungslosen Ablauf mitunter auch im Wege.

Systemisch-lösungsorientiertes Handeln in Schule beruht also auch darauf, dass Pädagogen sich immer wieder eine ressourcenorientierte Sichtweise und Haltung bewusst machen und diese sowohl im Angebots- wie im Durchsetzungskontext bei der Betrachtung gerade auch des als problematisch Erlebten zu berücksichtigen suchen. Allerdings müssen Lehrer in ihrem faktischen, jeweiligen Arbeitskontext dabei stets für sich schauen, wo, wann und in welchem Umfang ein lösungsorientiertes Handeln an ihrer Schule so möglich ist, dass es sich wirkungsvoll gestalten kann. Auch die Ressourcenorientierung ist nicht per se über alle Zweifel erhaben, sondern sie muss – nicht nur als Handlungsstrategie sondern auch dann, wenn man sie (wie in dieser Dissertation) als innere Haltung versteht - pädagogische Arbeitskontexte berücksichtigen. Ein Anrennen gegen bürokratische ‚Mauern’ kann sowohl den Schüler als auch den Lehrer in eine geschwächte Position bringen: der Schüler kann bspw. Hilfeansprüche verlieren und der Lehrer seine eigene Energie(ressourcen), ohne die er nicht angemessen unterrichten kann. Außerdem besteht die Gefahr, nach erfolglosem Anrennen gegen bürokratische Gegebenheiten oder anders ‚gepolte’ Kollegien, für sich selber den Ressourcenblick auf der Bewusstseinsebene, wo er immer möglich ist, zu verlieren.

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Dieser letzte Punkt ergibt sich aus der Unterscheidung von Handlungs und Bewusstseins-Ebene. Aus einer Außenperspektive auf Schule kann konstatiert werden, dass ein ressourcen- und lösungsorientiertes Handeln gegenüber den Schüler im Bereich des Angebotskontextes von Pädagogik eher leichter fallen dürfte, da die Aufgaben der Selektion und Kontrolle in diesem Bereich nicht im Fokus liegen. Aber auch im überwachenden und überprüfenden Durchsetzungskontext kann der Pädagoge auf der Bewusstseinsebene (soz. als Wahl eines bestimmten inneren Blickwinkels) jederzeit einer ressourcen- und lösungsorientierten, die Schüler und ihn unterstützenden Sicht folgen - auch wenn er deutlich nach außen handelt und in ernsthafter Form Grenzen setzt. Sich in einen Schüler hineinversetzen zu können, heißt nicht, ihm keine klaren Grenzen aufzuzeigen.

Im übrigen wirkt ein ressourcenorientierter Lehrerblick auf die Schüler in mehrfacher Hinsicht auf den Lehrer selber zurück. Nicht nur steigt, wie oben beschrieben, die Wahrscheinlichkeit, dass seine Schüler sich ressourcevoller und damit selbstständiger verhalten. Sondern Schüler können auch Energien und alternative Sichtweisen mitbringen, die dem Pädagogen in der Ausübung seines Berufes behilflich sein können. Außerdem bietet ihr Verhalten permanente kommunikative Rückmeldungsschleifen an, die der Pädagoge in einem quasi supervisorischen Sinne für sich nutzen kann. Die Schüler selber sind also „eine Ressource des Lehrers“ und können ihm helfen eine neugierige Haltung aufrecht zu erhalten, die die Freude am Beruf steigern kann (Palmowski 1998c, 74).

9.6.2 Ressourcenblick auf sich als Pädagoge

Die Orientierung an Ressourcen hat für den Lehrer - neben wichtigen Folg(erung)en im Bezug zu seinen Schülern und deren Eltern - auch und gerade im Umgang mit sich selber erhebliche entlastende Konsequenzen. Nur dann, wenn Pädagogen sich selber in einer ressourcevollen Position und entsprechende Energien zur Verfügung halten, vermögen sie auch, angemessen zu unterrichten und Schüler unterstützend und konfrontierend zu begleiten. Andernfalls droht das Abrutschen in eine Problemtrance (G.Schmidt 2004a, 191), da der Lehrberuf zwar häufig hohes Engagement aber „keine positive Rückmeldungen von Schülern, Eltern oder Kollegen“ mit sich bringt (Bauer 2004b, 34). Auf das eigene Wohlergehen zu achten, wird ein um so wichtigeres Ziel, als Erziehung, streng systemisch-konstruktivistisch betrachtet, eine Unmöglichkeit ist. Reinhard (2003, 289) schlägt deshalb die innere Haltung vor: „nicht mehr erziehen müssen – nur gut für sich selbst sorgen dürfen“.

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Miller (1992,38f) weist anhand von selbst erhobenen Umfragewerten bereits Ende der 80er Jahre – also zu einem Zeitpunkt, seit dem die Verhaltensauffälligkeiten von Schülern deutlich zugenommen haben (Bauer 2004b) - nach, dass das Augenmerk von Lehrern im Unterricht ganz überwiegend bei der Tätigkeit der Schüler ist. Mit deutlichem Abstand ist die Aufmerksamkeit bei der eigenen Tätigkeit als Lehrer und bei den seelischen Vorgängen der Schüler, die seelischen Vorgänge in einem selber als Lehrer kommen weit abgeschlagen sozusagen auf dem letzten Platz der Aufmerksamkeit. Eigenes Empfinden wird von Pädagogen in komplexen Situationen wie Unterricht also nur reduziert wahrgenommen - obwohl es gerade auf diesen Aufmerksamkeitsfokus ankäme, wenn Belastungen angemessen aufgefangen und bewältigt und vor allem eigenes Wohlbefinden gesichert und ausgebaut werden sollen.

Für Lehrer kann es also wichtig sein, ggf. stärker auf sich und die eigenen Bedürfnisse und Ressourcen zu achten. Da diese eng mit dem eigenen Selbstbild zusammenhängen, das gerade in den belastenden Konfliktsituationen quasi automatisch aktiviert wird, sollten die Annahmen und Überzeugungen über die eigene Person sich bewusst gemacht werden. „Die Art unserer pädagogischen Leitideen, das Ausmaß unserer Risikobereitschaft, unsere persönlichen Bedürfnisse, Einstellungen und aktuellen emotionalen Befindlichkeiten sind wichtige Einflußgrößen auf unser konkretes Verhalten“ (Palmowski 2003, 35). In den Blick gehören des Weiteren die vom System zur Erledigung der Aufgaben zur Verfügung gestellten (und auch: nicht gestellten) Ressourcen, wie z.B. auch Beratungs- und Kooperationsstunden (Palmowski 1998a, 23).

Für psychosomatische bzw. psycho-vegetative Prophylaxe ist es von zentraler Wichtigkeit, mit sich selbst und seinen Empfindungen angemessen in Kontakt sein zu können. Ein solches Vorgehen zu erlernen, bedeutet z.B., den ‚eigenen Körper als Vertragspartner’ (G.Schmidt) zu sehen, den „Leib [...] als Teil unserer Person, der uns anzeigt, was wir uns zumuten können und was nicht“ (Jellouschek 2003, 85). Die Eigendynamik des Organismus wird wahr- und ernstgenommen, das Eigenverhalten auf ihn abgestimmt. Dann kann geschaut werden, welche Bedeutungsgebungen, Ideale und Grenzsetzungen stimmig sind - was teilweise auch positive Demut verlangen kann. Lösungsfokussierung und Flow bedeuten „nicht, dass man sich immer locker und fröhlich erleben müsste [...]. Es geht darum, jeweils das den Erfahrungen und Kontexten der Beteiligten [also auch von sich selber, R.M.] aus ihrer Sicht angemessenste Erleben zu unterstützen“ (G.Schmidt 2004a, 61f). Bei psychosomatischen Mustern kann außerdem die Anerkennung wichtig sein, dass, etwas für die anderen zu tun, auch heißt, etwas für sich selber zu tun im Sinne eines akzeptablen heimlichen Gewinns und als Würdigung einer erfolgreichen Überlebensstrategie.

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Nach außen kann professionelle Distanzierungsfähigkeit mitunter kühl wirken (Hubrig/ Herrmann 2005, 32), sie bedeutet aber keineswegs inneres Unbeteiligt-Sein sondern Differenzierungsfähigkeit im Sinne Schnarchs (2006), also eine angemessene Kombination aus In-Kontakt-Sein und gleichzeitig angemessener Abgrenzungsfähigkeit (Kap.9.5.3). Sie dient der eigenen Gesundheit und einer angemessenen Dienstfähigkeit. Denn Lehrersein heißt nicht nur viel geben und Angebote machen, sondern eben dies im 45-Minuten-Rhythmus bei großer Personenzahl und multiplen gleichzeitigen Vorgängen (Hennig/ Knödler 2000, 95). Soziale und helfende Berufe stellen in der Regel Tätigkeiten dar, in denen viel Energie verbraucht wird, so dass ein angemessener Selbstschutz, eine stimmige (sich selbst schützende und zugleich Nähe ermöglichende) Grenzsetzung in der Beziehungsgestaltung von zentraler Bedeutung für die eigene Gesundheit ist. Wichtig und hilfreich auf diesem Hintergrund sind ein wohltuendes Energie- bzw. Stressmanagement, aktive Regenerierungsfähigkeit und eine gute Work-Life-Balance (Kretschmann 2001a, Hennig/ Knödler 2000, 95; Hennig/Keller 1995; Bauer 2004b, 36, Seiwert 2002a,b). Diese nützen aber wenig, wenn der Pädagoge nicht auch mit sich selbst, seinen eigenen inneren Resonanzen, seinen Körperempfindungen und Gefühlen aktiv und bewusst verbunden ist. Achtsamer Umgang mit sich selbst, bedeutet auch, zu versuchen, in solchen Kontexten verstärkt zu arbeiten, in denen man seine Stärken am besten entfalten kann, und sich für Bereiche größerer Unsicherheit oder Verletzbarkeit Unterstützung durch Kollegen oder Experten (vgl. Kap.10.9) zu organisieren (Schwing/ Fryszer 2006, 329).

Die Einnahme und Aufrechterhaltung einer Ressourcenhaltung hängt auf Pädagogenseite, so wurde in diesem Kapitel deutlich, eng mit der Fähigkeit zusammen, eigene körperliche und seelische Empfindungen wahr- und ernstnehmen zu können.

9.7 der Umgang mit eigenen Empfindungen und Gefühlen

Der angemessene, freundliche Umgang mit und die wertschätzende Fokussierung auf innere Resonanzen, Empfindungen, Stimmungen und Gefühle ist nicht nur für pädagogische Beziehungsgestaltung und Vorgehen wichtig, sondern in ihnen kann ein grundsätzlicher gesundheitsförderlicher Selbstschutz des Pädagogen selber gesehen werden (G.Schmidt 2004a, 74; Simon/Weber 2004, 60ff). Menschen mit geringer Körperwahrnehmung sind anfällig(er) für psychosomatische Beschwerden (Hubrig/ Herrmann 2005, 189). Schützende emotionale Intelligenz (Goleman 1997) zeichnet sich u.a. durch die Fähigkeit aus, über das Wahrnehmen und Befragen eigenen Empfindens Beziehungen (zu sich selbst383 und zu anderen) angemessen zu regulieren. Die Akzeptanz ambivalenter und auch negativer Gefühle sowie die Fähigkeit über sie in dafür angemessenen Situationen sprechen zu können (Bastian 2001, 77), gehören in die Bereiche von Selbstmanagement, sozialer und Führungskompetenz sowie angemessener Arbeitsorganisation .

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Ein solches Vorgehen ist gerade in Schule sehr nötig, da sie ein Umfeld darstellt, in dem es Lehrern häufig kaum gelingt, mit der Wahrnehmung bei sich selbst und dem eigenen Befinden oder gar Wohlergehen zu bleiben (Miller 1992,38f). Umso wichtiger wird diese Sicht und Fähigkeit aber, wenn man in Betracht zieht, dass Schüler heute stärker als früher in pädagogischen Beziehungen ihre Grenzen austesten wollen bzw. müssen. Bei innerer Stimmigkeit kann der Pädagoge auch klarer mit übertriebenen Ansprüchen von Eltern oder Schulleitungsseite umgehen und ggf. ‚nein’ sagen (Gómez Pedra / Schneider 2000, 197).

9.7.1 in Kontakt zum eigenen Empfinden sein

Schüler, die als schwierig empfunden werden, gelten als die deutlichste Belastung für Lehrer. Sie führen Pädagogen eher an emotionale als an rationale Grenzen (Bergmann 2001, 179). Um dennoch in seinen Ressourcen bleiben (Hargens 2004a, 112) und damit auch um präsent sein zu können, ist es als Pädagoge hilfreich, mit den eigenen Empfindungen und Gefühlen in Kontakt zu sein.384 Gemeint ist hier nicht eine Identifikation mit ihnen sondern, sie wahrzunehmen und zugleich sich eine Außenperspektive zu bewahren, also Innen- und Außenwahrnehmung so zu verbinden, dass Meta- und Selbstbeobachtungen möglich sind: „Professionelles Verhalten [...ist] dann gegeben, wenn ich zu meinem Verhalten so viel Distanz habe, dass ich gleichsam aus der Perspektive eines Beobachters mein Verhalten begründen kann“ (Hargens 2004a, 89). Man muss diese Meta- und Selbstbeobachtungen allerdings keineswegs immer mitteilen, wie die ‚humanistische Alltagspsychologie’ vielleicht vorschreibt - aber man kann besser auf das achten, was man selber benötigt, wenn man weiß, wie es einem geht (Goleman 1997).

Ressourcenorientierung und ein Achten auf eigenes Befinden und eigene Gefühle bedeutet für den Pädagogen auch, sich leichter professionell abgrenzen zu können von den Problemen anderer (Hubrig/ Herrmann 2005, 136). „Mein Befinden, mein Gefühl spielen eine große Rolle, und es ist mir zunehmend wichtiger geworden, auch für mein Wohlbefinden in der [...unterrichtlichen und beraterischen, R.M.] Situation zu sorgen – immer respektvoll und immer mit den Kund(inn)en. Mein Wohlbefinden hilft mir, meine professionelle Haltung leichter zu organisieren, neugierig und interessiert zu bleiben“ (Hargens 2004a, 79). Die Heidelberger Schule hat dies in folgendem Motto zugespitzt ausgedrückt: „Wenn es jemandem im Raum gibt, dem es besser geht als mir, dann habe ich etwas falsch gemacht“ (Mücke 2002, 75).385 Natürlich sollte hierbei bedacht werden, dass sich dieser Spruch auf therapeutische Kontexte bezieht und nicht auf Klassenraumsituationen mit teilweise über dreißig pubertierenden Jugendlichen, die im Zwangskontext unterrichtet werden. Er betont aber, wie wichtig für alle an Schule Beteiligten und wie grundsätzlich legitim als Pädagoge die Haltung ist, auf sich selber zu achten.

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Gefühle wahrnehmen heißt meist, sich anhand ambivalenter Gefühle zu orientieren, da unsere Gefühlswelt im Regelfall mehrdeutig ist. Das anvisierte Wohl(be)finden ist dabei eher im Bauch zu erspüren, als mit dem Kopf zu denken. Der Systemik wird häufig – und aufgrund ihrer kognitiven Orientierung vielleicht nicht immer ganz zu Unrecht – der Vorwurf gemacht, Gefühlen und Empfindungen nicht den ihnen angemessenen Platz im Leben und im pädagogischen oder therapeutischen Prozess zuzugestehen (G.Schmid 2004b). Auch die Hirnforschung geht in den letzten Jahren in die Richtung, emotionale Aspekte von Lernprozessen stärker zu betonen (Damasio, Ciompi).

Gunther Schmidt (2004a, 73,194) schlägt auf diesem Hintergrund z.B. die Kombination systemischer Elemente mit Methoden der Aufmerksamkeitsführung und Präsenz für einen selbst vor, insb. die Focusingmethode (Gendlin 1998, Cornell 1997, Welwood 1996). Es geht G.Schmidt v.a. darum, dass Pädagogen hierbei eine „sichere Beobachterperspektive aufbauen [...] können, aus der heraus sie geschützt, sicher, mit Kraft ihre Muster betrachten.“ Dabei gelten für die ressourcenorientierte systemische Sicht alle Gefühlsreaktionen als kontextuell wertvoll und das Unbewusste als besonders reicher, flexibler und lernfähiger Schatz der bisherigen Lebenserfahrung (G.Schmidt 2004a, 62,147).

Das heißt auch, dass man sich keine Gefühle verbieten oder sich ihrer schämen sollte, da sie wichtige Informationsträger sind. In erzieherischen Bezugnahmen ist es obendrein als ‚normal’ also, gesund und üblich, anzusehen, „auf Kinder wütend zu sein, vor ihnen Angst zu haben oder sie zur Hölle zu wünschen. Pädagogen sind „verletzlich, kränkbar und mit nur begrenzter Geduld ausgestattet. Und es ist ebenso normal, dass Kinder ihre [... Erzieher] zur Hölle wünschen“, da eine ihrer wesentlichen Aufgaben darin besteht, als soziales und exemplarisches Ko r rektiv den Kindern Lernchancen im sozialen Umgang mit anderen zu ermöglichen (Bastian 2001, 28).

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Der Umgang mit bzw. ein Achten auf eigene Gefühle ist grundsätzlich ein zentraler Regulator für Beziehungen und Grenzsetzungen. Pädagogen müssen sich auf dem Kontinuum von Nähe und Distanz immer wieder neu verorten, je nach Situation und gemäß Ihrer Persönlichkeit. Wichtig ist hierbei, wie gerade gesehen, dass Sie auf Ihre Bedürfnisse achten. Der Weg der Pädagogik ist i.d.R. ein Weg der Mitte zwischen den Polen von Nähe und Distanz, von Freiheit und Bindung, von beschützender und freigebender Hilfe. Je klarer den Pädagogen ihre Nähe- und Distanzbedürfnisse sind, desto angemessener können sie für sich sorgen, desto wohler können sie sich fühlen. Die Wahrnehmung emotionaler Vielfalt auf der Bewusstseinsebene kann dabei Eindeutigkeit auf der Verhaltensebene ermöglichen, nach Durchspielen und Abwägen der Möglichkeitsräume kann eine Entscheidung einfacher fallen: eine anstehende Entscheidung (z.B., einen bestimmten Schüler u.U. mit auf Klassenfahrt zu nehmen) kann angenehme und unangenehme Empfindungen gleichzeitig auslösen. Nimmt man beide Seiten wahr und gibt ihnen (z.B. in Form eines inneren Teams) Raum, kann man bei vorhandener emotionaler Ambivalenz - für sich selbst stimmig – entscheiden. Je klarer (nicht: eindeutiger) man mit seinen Gefühlen ist, desto klarer und eindeutiger kann man handeln und kommunizieren.

Auf diesem Hintergrund kann der freundliche Umgang mit sich selber bzw. ein funktionstüchtiges, demokratisiertes inneres (reflecting) Team (G.Schmidt 1992 und 2004a,195f) als Fähigkeit der Beziehungsgestaltung und des ‚Grenzmanagements’ angesehen werden. Dies kann wiederum als zentrale Kompetenz gelten, um Burn-out-Symptomen zu begegnen bzw. diese zu verhindern. Dies soll kurz anhand der Studie von Schaarschmidt (2005) illustriert werden. Schaarschmidt unterscheidet vier Formen der Bewältigung psychischer Anforderungen durch Lehrkräfte mit unterschiedlichem Zugang zu den eigenen Ressourcen und mit unterschiedlichem Umgang mit (Ab)grenz(ung)en. Diese lassen sich in Kurzform wie folgt darstellen:

Abb. 9-7: psychische und somatische Beschwerden der vier Bewältigungsmuster im Lehrberuf (erstellt nach Schaarschmidt 2005, 24ff)

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Die gesundheitlichen Risiken vor allem körperlicher aber auch seelischer Art liegen klar bei den beiden unteren Mustern. Anhand eines weiteren Schaubildes der Studie von Schaarschmidt (s.u.) wird sehr deutlich, dass die eingeschränkte Distanzierungsfähigkeit, die ein wesentlicher Ausdruck von angemessenen Grenzsetzungen ist, gerade bei den Risikomustern auffällig ist. Außerdem scheint auch die Fähigkeit, innere Ausgeglichenheit und soziale Unterstützung zu erlangen, die als eine wesentliche Folge einer aufrechterhaltbaren ressourcenvollen Haltung gelten kann, nur begrenzt gelebt zu werden. Eine Problemtrance entsteht, ablesbar an einer ausgeprägten reisignativen Tendenz. In einer ausdifferenzierten Übersicht bei Schaarschmidt (2005, 24) fallen in diesem Zusammenhang besonders die Punkte 5, 6, 8, 10 und 11 auf (die Risikomuster sind dunkler gezeichnet):

Abb. 9-8: differenzierte Kriterien und Werte der vier Bewältigungsmuster im Lehrberuf nach Schaarschmidt (2005, 24)

Insb. die Punkte 1 bis 3 lassen eine weitere Vermutung zu. Aufgrund der relativen Nähe der Muster A und G (eher hohes Engagement im und Interesse am Beruf) sowie der Muster B und S (eher geringeres Engagement im und Interesse am Beruf) kann die These aufgestellt werden, dass der Ausbau von Fähigkeiten der Ressourcenaktivierung und angemessenen Distanzbalance Vertreter der Risikomuster dabei unterstützen kann, sich in Richtung der verwandt wirkenden, gesünderen Muster zu entwickeln (A ♢ G und B ♢ S).

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Diese Entwicklungsvermutungen lassen sich noch über einen zweiten Weg begründen (nicht überprüfen). Das Risikomuster B findet sich vor allem in Hauptschulen und (dort, wo es keine Hauptschulen gibt, auch in) Gesamtschulen (Schaarshmidt et al 2003, 16). Es handelt sich hier um Schüler, deren Verhalten häufiger als in anderen Schultypen anhand von Konzentrationsschwäche, Verhaltensauffälligkeit und Demotiviertheit beschrieben wird und häufig auf kognitive, familiäre oder gesellschaftliche Gründe zurückgeführt wird – allesamt Gründe, auf die der Pädagoge wenig direkten Einfluss besitzt. D.h. auch hohes Arbeitsengagement kann diese Gründe (wie z.B. hohe Arbeitslosigkeit im gering qualifizierten Sektor) nur eingeschränkt kompensieren. Das eher für den gymnasialen und den Grundschulbereich typische Risikomuster A (Schaarschmidt et al 2003, 16) findet sich hingegen in einer Arbeitsumgebung, in der aufgrund der Aufnahmebereitschaft der jungen Schüler bzw. der fachlichen Ausrichtung des Gymnasiums ein erhöhter Arbeitseifer des Lehrers durch zumindest indirektes positives Feedback der Schüler zu erhöhter Arbeitszufriedenheit führen kann.

Insb. im Hauptschulbereich wäre wichtig, verstärkt zu schauen, wie der dort tätige Pädagoge sich seine Ziele so definiert, dass sie – nicht zuletzt angesichts der autopoietischen Selbststeuerung der Schüler – als realistisch gelten können. Schließlich lässt Punkt 11 grundsätzlich bei Burn-out-Tendenzen die Vermutung zu, dass Formen von Supervision und kollegialer Unterstützung hilfreich sein dürften (Schaarschmidt et al 2003, 16; ebenso Bauer 2004a, 15).386

Einfühlungsvermögen ist, wie gesehen, wichtig für den Ressourcenblick auf den Schüler. Um als Lehrender und Begleitender angemessen empathisch sein zu können, ist es hilfreich, eine gute Selbstwahrnehmung zu besitzen (Renoldner et al 2007, 59). Ein anderer Punkt ist, diese dann auch am richtigen Ort angemessen zu benennen.

9.7.2 Gefühle in der Beziehung benennen

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Pädagogen können mittels Gefühlsäußerungen auch zur Beziehungsgestaltung beitragen. Lehrer müssen sich dabei bewusst sein, dass sie im Angebotskontext anderen Funktionen und Regeln als im Durchsetzungskontext unterliegen. Generell gilt, dass man sich bei einem Austausch (aber nicht notwendig bei einem einseitigen Äußern) von Gefühlen auf eine symmetrische Ebene begibt, da Gefühle nicht nachprüfbar und daher auch nicht verhandelbar sind.

Im Unterstützungs- und Angebotskontext begegnet der Lehrer den Schülern tendenziell symmetrisch. Hier können authentische Gefühlsäußerungen helfen, Beziehungen zu definieren und (ab)zuklären. Auch eine authentische Äußerung von Wut oder Enttäuschung vor der Klasse ist hier nicht grundsätzlich zu verbieten, wenn sie nicht Methode der Unterdrückung (bei regelmäßigen Wutanfällen) oder Parentifizierung (bei ostentativem, Mitleid erheischendem Leiden) der Schüler ist. Der Lehrer zeigt sich als Mensch (d.h. nicht perfekt) und legt ggf. einen Konflikt als heißen und damit bearbeitbaren Konflikt sichtbar auf den Tisch. Damit macht er sich potenziell verletzbar, weshalb, Gefühle zeigen zu können, eine Stärke ist. Der Lehrer zeigt sich fähig, seine Grenzsetzungen und Profile mitteilen und auf sich selber acht geben zu können - so ermöglicht er eine saubere Beziehungsgestaltung und kann als Vorbild dienen. Gefühle sollten dann ohne Anklage und offen geäußert werden. Nicht vergessen werden darf hierbei, dass Schüler als Lernende mit Gefühlen oft (noch) nicht voll angemessen umgehen können. Der Erwachsene muss es aushalten können, wenn Kinder bzw. Jugendliche Gefühle unkontrolliert äußern. Hierbei stellt z.B. bei Beleidigungen und Bedrohungen der Kontrollkontext eine Grenze dar, über deren Einhaltung der Lehrer zu wachen hat. Ziel als Lehrer kann sein, eigene Gefühle zuzulassen, gezielt und für sich selbst stimmig sowie für andere annehmbar zu kommunizieren - und so zugleich den Kindern zu helfen, ihrerseits angemessen mit Gefühlen und Empfindungen umgehen zu lernen. Die Lehrkraft besitzt hier Vorbildfunktion.

Im Durchsetzungskontext begegnet der Lehrer seinen Schülern als formal überlegene Person, sie müssen sich an Regeln halten, deren Einhaltung er überwacht. Auch hier kann der Lehrer kontextbezogene Gefühle wie z.B. Verärgerung angemessen äußern. Dies ist eine einseitige Mitteilung von Gefühlen, kein gemeinsamer Austausch. Der Schüler darf bei Sanktionen ausdrücklich abweichender Meinung sein und seine eigenen Gefühle haben. Wäre das nicht der Fall, wäre diese Grenzsetzung überflüssig. Wenn der Lehrer über seine Gefühle spricht oder sie anderweitig relativiert, verlässt er den Kontroll- und Zwangskontext. Das heißt nicht, dass er dies nicht tun sollte – im Gegenteil: es ist wichtig und hilfreich für die Beziehungsgestaltung, die eigene „erlebte, lebendige Reaktion“ zu erläutern, aber eben zeitlich versetzt, „hinterher“ (Bastian 2001, 61).

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Ziel als Lehrer kann auch sein, frühzeitig angemessen zu reagieren, d.h. kontextbezogene Gefühle prompt und gezielt authentisch mitzuteilen oder (insofern Unterricht als Inszenierung begriffen werden kann) angemessen zu inszenieren, solange die Gefühle (z.B. Beleidigt-Sein) den Pädagogen noch nicht überwältigt haben und Körper und Stimme noch offen und durchlässig sind.

Beide Kontexte der Pädagogik setzen voraus, dass der Lehrer in seiner eigenen Individuation bzw. Reife vorangekommen ist und eigenständig steht (und nicht z.B. auf die Liebe oder Zuneigung der Schutzbefohlenen angewiesen ist). In beiden Kontexten beziehungsbelastend ist ein Äußern von Gefühlen, das die Schüler unangemessen ab- oder aufwertet. Selbstklärungsprozesse der Lehrperson können immer wieder hilfreich sein, u.U. mit externer Unterstützung (Super-/ Intervision, Coaching). Gefühlsäußerungen sind hingegen beziehungsbelastend (bis ‚missbräuchlich’), wenn sie Schützlinge herabwürdigen oder parentifizieren. Solche Äußerungen sind z.B. dauerhaft einseitig geäußerte aggressive Gefühle oder verdeckte Appelle nach Schonung und Unterstützung an formal Macht-Schwächere. Solche Appelle sind problematisch und müssen, wenn schon, klar inhaltlich und zeitlich begrenzt sein (mit eindeutigem zeitlichem Endpunkt, z.B. bei Erkältung: ‚Seid bitte leiser als sonst so lange, wie ich keine Stimme habe; ich gebe euch bescheid, wenn’s vorbei ist’). Und sie funktionieren nur dort, wo auch eine symmetrische menschliche Beziehung besteht zwischen Lehrer und Klasse. Bitten um Mitleid oder übertriebene Unterstützung sind gegenüber formal Machtschwächeren unangebracht. Geht es dem Pädagogen schlecht, muss er auf sich selbst achten – und genau darin den Schülern Vorbild sein, was sich u.U. auch darin äußert, dass er für eine Zeit den Kontakt mit ihnen abbricht und nicht zum Unterricht erscheint. Schülern von den Dingen zu berichten, die im Leben des Lehrers im Moment nicht okay sind (Scheidung, Krankheit usw.), würde den Schülern zu viel Verantwortung aufbürden.

Der Lehrer kann aber dann über persönliche Probleme berichten, wenn er sie erfolgreich bewältigt hat (im retrospektiven Sprachspiel). Dann sollte er erzählen, wie ihm das gelungen ist. Für Schüler interessant in diesem Zusammenhang ist insb. die Beziehungsgestaltung zu seinen eigenen Eltern (Franke-Gricksch 2000, 176). Hier kann er dann wieder Vorbild und Orientierungsgeber sein. Der Pdäagoge vermittelt in einem solchen Fall immer auch Werte, die seine Entscheidung widerspiegeln und die die Schüler nicht übernehmen müssen (und teilweise auch gar nicht können, weil sie in anderen Umfeldern leben). Es sind nur Anregungen. Außerdem ist – angesichts der momentanen Ausgestaltung der Mediengesellschaft allzumal - grundsätzlich zwischen „exhibitionism and valid self-revelation“ (Thomas 1976, 161) zu unterscheiden. Letztlich bieten der pädagogischen Situation angemessen spontane, „liebende, wütende, aufmerksame, traurige, ungeduldige, kranke, zärtliche“ Pädagogen den Kindern auch die Möglichkeit, sie als Menschen zu spüren und die Echtheit und Reife von Beziehung zu testen (Levold 2002, 10).

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Der Umgang mit eigenen Intuitionen kann zu einem im systemisch-konstruktivistischen Beratungsansatz zentralen Phänomen führen, zu Respektlosigkeit.

9.8 pädagogische Respektlosigkeit

Die systemisch-konstruktivistische Idee der Respektlosigkeit (engl. ‚irreverence’) gegenüber Ideen bzw. die Idee der Neugier beschreibt die (in der reflexiven Postmoderne gefragte) Fähigkeit, Prämissen, also grundsätzliche Denkvoraussetzungen, in Frage stellen zu können (Cecchin 1988, 202). Es geht um „ein Sich-Erlauben und Dazu-Stehen, kreativ von gewohnten Ideen abzuweichen, wenn es nützlich ist“ (Cecchin et al. 2005, 12). Respektlosigkeit wendet sich hier nicht gegen Personen und auch nicht per se gegen Autorität sondern vielmehr gegen die hingenommene, nicht-hinterfragte Selbstverständlichkeit von Ideen im eigenen Kopf und im sozialen System - sie ist also Metareflexion. „Um in Institutionen zu überleben und nicht verrückt zu werden, bedarf es ein wenig Respektlosigkeit“ (Cecchin et al. 2005, 67). Für die heutige Schule gilt dies vielleicht noch verstärkter als in anderen Institutionen, weil im Schulsystem der Doppelbindungsgrad hoch ist.387

Respektlosigkeit betrifft verschiedene Bereiche bzw. Aspekte, die Cecchin et al (2005) für therapeutische und beraterische Settings ausführen, die sich jedoch problemlos auf Schule übertragen lassen. Respektlosigkeit

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Respektlosigkeit kann dazu führen, gegen den Strom zu schwimmen (Cecchin et al. 2005, 96). Sie ist nicht Ausdruck von Perfektion sondern gerade davon, dass Perfektion nicht erlangbar ist. Noch einmal soll betont werden, dass der systemische Begriff der ‚Respektlosigkeit’ sich nicht gegen Personen richtet sondern gegen die unnütz oder schädlich werdende Eingefahrenheit von Denkmodellen. Insofern lässt sich Respektlosigkeit nur formal und nicht inhaltlich beschreiben. Sie entspricht der grundlegendsten Haltung des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes, in eher unergiebigen Situationen relevante Unterschiede zu machen.

Das kann eine spielerische Qualität haben. Bspw. sind Kinder und Jugendliche „völlig im Recht, wenn sie es den [...]Erziehenden kräftig unter die Nase reiben, dass sie sie wieder einmal dabei ertappt haben, wie sie Wasser predigen und Wein trinken“ (Bastian 2001, 160). Eine respektlose Einstellung, die menschliche Nicht-Perfektion für alle Seiten (also auch die der jungen Menschen) reklamiert, kann für alle Beteiligten Freiräume schaffen, wobei die Schüler durchaus dem Pädagogen Autorität (z.B. aufgrund seiner Demut gegenüber der Nichtsteuerbarkeit des Lebens) einräumen. Respektlosigkeit und Demut gegenüber der Nicht-Perfektion des Lebens bzw. den üblichen menschlichen Unzulänglichkeiten unterminieren also nicht den pädagogischen Führungsanspruch von Lehrern, sondern können ihn stärken.

9.9 pädagogische Führung

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Zu Pädagogik gehört es - auch dann, wenn Lehrer sich dessen eher nicht bewusst sind -, Klassen und Menschen über die (Mit-)Gestaltung von Beziehungsgeschehen angemessen zu führen und zu leiten. Dies stellt eine „vielfältige und hochkomplexe Angelegenheit“ (Renoldner et al 2007, 113) dar. Daher soll hier eine systemisch-konstruktivistische Sicht von Führung in der Postmoderne auf die alltägliche Arbeit mit Schülern in der Schule bezogen und dargestellt werden. Gemeint ist hier nicht eine Anleitung im Sinne der Anordnung des Durchsetzungskontextes (Weisungen, Befehle). Vielmehr geht es um Führungs- und Leitungskompetenzen, die für und in beiden pädagogischen Kontexten gelten. Einige Differenzierungen sind hier vorab hilfreich.

Erstens: Renoldner et al (2007, 80) unterscheiden Leiten und Führen wie folgt: ‚Leiten’ beschreibt eine besondere, mit Verantwortung verknüpfte Funktion in einem System. ‚Führen’ bezeichnet hingegen „ein energetisch aufwendiges Verhalten wie Initiative, Nachdruck, Fürsorge, Nachfragen, Bewerten, Ton angeben usw.“), das nicht an eine Leitungsposition geknüpft sein muss. Lehrer haben sowohl leitende als auch führende Funktionen gegenüber Schülern. Unter postmodernen Aspekten wird Autorität wahrscheinlich nicht zuerkannt, wenn ein Pädagoge versucht, ohne angemessene Führungsqualitäten zu leiten. Pädagogisches Verhalten bezieht sich häufig auf beide Aspekte (führen und leiten), die auch leicht zusammen fallen können. Insofern lassen sich die Begriffe synonym benutzen. Mit steigender Selbstständigkeit der Schüler ist die pädagogische Fähigkeit, Leitung und Führung differenzieren zu können und Qualitäten von Führung zunehmend auf die Schüler zu übertragen, hilfreich, um jungen Menschen einen angemessenen (begleiteten) Übergang in wachsende Autonomie zu ermöglichen. Hier müssen die beiden Begriffe dann unterschieden werden

Zweitens: Es lassen sich des weiteren drei Dimensionen systemisch-konstruktivistischer Leitung bzw. Führung unterscheiden: vorangehen, begleiten und organisieren. Diese müssen mit dem eigenen Führungsstil verbunden werden, um authentisch sein und angemessen wirken zu können (Renoldner et al (2007, 92):

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Abb. 9-9: drei Dimensionen von Führung (Renoldner et al 2007, 92, leicht verändert)

Das schulischpädagogisches Leadership wird erleichtert, wenn der Lehrer auf eigene Ziele, Ressourcen und Wohlergehen achtet und die Schüler als gleichwertige Menschen ansieht (vgl. Kap.9.6). Das Management von Organisationsprozessen muss Schülerwünsche und die institutionelle Einbettung mit den eigenen Vorstellungen verbinden und die Selbstorganisationsfähigkeiten der Beteiligten (z.B. im Konfliktmanagement) angemessen berücksichtigen (Kap.11). Die Bedeutsamkeit der coachenden individuellen Begleitung ist im Bereich der pädagogischen Profession ohnehin gegeben und nimmt mit der postmodernen Individualisierung und dem steigenden Beratungsbedarf in schulpädagogischen Feldern weiter zu.

Drittens: Im Kapitel zu Machtfragen in Schule (Kap.9.1.7) wurde bereits zwischen verschiedenen Machtarten unterschieden: Im Bereich der formellen Macht qua Amt gibt es die Status- und Sanktionsmacht (an Leitung geknüpft); im informellen Bereich die Beziehungs- und Expertenmacht (als Ausdruck von Führungskunst). In diesem Kapitel geht um schulpädagogische Menschenführung in einer diese Aspekte vereinigenden Weise auf dem Hintergrund der systemisch-konstruktivistischen Theorie.

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Um Klassen und Schüler als Menschen erfolgreich führen zu können, gibt es - in Anlehnung an Hargens (2001) – weitere hilfreiche Grundsätze zu beachten: Was der Pädagoge im Führungsbereich tut, sollte seiner inneren Haltung entsprechen und ihm zugleich flexibles Vorgehen ermöglichen. Verschiedene Führungsstile sollten hierfür je nach vorliegender Situation abrufbar sein, bei Bewusstsein für die eigenen ‚Heimatbereiche’ des Pädagogen, also für Vorgehensweisen von Leitung, die ihm besonders liegen (vgl. Schaubild unten). Mit Looss (2006) lassen sich vier Formen der leitenden Positionierung im Umgang mit hierarchischen Prozessen unterscheiden390:

Abb. 9-10: Formen des Umgangs mit Triangulation in leitender Position (nach Looss 2006)

Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive kann die jeweilige Positionierung in metakommunikativen Rückkopplungsprozessen mit den Schülern auch - ggf. zeitversetzt - besprochen werden. Leiten bzw. Führen (von autopoietischen Systemen) kann jedenfalls systemisch-konstruktivistisch immer nur als wissendes Miteinander und letztlich gemeinsam gestaltete Beziehung geschehen. Ohne ‚Mitarbeiter’ nutzt Führungskunst wenig, kann ein Lehrer keinen Unterricht machen. Da der Pädagoge immer Teil eines umfassenden Ganzen ist, bleiben die anderen (Schüler, Eltern, Kollegium) bedeutsam und (nicht immer, aber immer auch) hilfreich.

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Leiten und Führen zeigen und beweisen sich in der Kommunikation des Alltags, in dem sie auf angemessenes Führungswissen zurückgreifen; dazu gehört insb., so viel Wissen wie nötig und nicht mehr Wissen als nötig zu suchen und zu verwenden. Nicht alles zu wissen, verringert mögliche Konflikte (auch im Inneren), weil man sich nicht um alles zu kümmern muss. Die Schüler supervidieren den Pädagogen in der alltäglichen Interaktion sowieso permanent indirekt.

Ziel von Führen, von erfolgreichem Leiten und Lehren ist angemessene Handlungsfähigkeit der Beteiligten, daher muss Führen an ‚smart’en Zielen ausgerichtet sein. Ziele müssen immer wieder klar benannt werden und das, was geschieht, muss vor dem Hintergrund der Ziele besprochen werden. Auch ist es ohne klare Zieldefinition schwer, Fortschritte zu bemerken, seien es die eigenen, die der Klasse oder einzelner Schüler. Der Leitende kann systemisch-konstruktivistisch im Umgang mit lebenden Systemen immer nur zur Zielerreichung ‚bei-steuern’. Hochkomplexe Systeme wie Menschen, Klassen, Unterrichtsgeschehen sind nicht einseitig und nicht zielgerichtet steuerbar – auch aufgrund hoher Interdependenzen. Führen kann nur ziel-dienlich, nicht aber ziel-gerichtet sein. „Beisteuern meint die Kompetenz, sich erken n bar, verantwortlich und anschlussfähig daran zu beteiligen, Perspektiven zu weiten und neue Möglichkeiten zu erschließen, ohne dies einseitig und allein entscheidend tun zu können“ (Loth 1998, 41).

Die Ziele und Aufgaben, die sich ein Lehrer setzt, müssen sich an den Erforderni s sen der Arbeitsumgebung orientieren, insofern ist u.a. die Art der Organisiertheit von Schule und ihren Zwangskontext berücksichtigen (Pleyer 1996, 193). Der Lehrer ist nicht (all)mächtig, er kann und muss als Leitender aber die Rahmenbedingungen optimieren, die Zielerreichung überprüfen und aufgrund seiner Beobachtung von Prozessen und von eigenen Empfindungen intervenieren. Der Pädagoge benötigt hierbei Rückmeldungen, Zeit, Geduld und Beobachtungssensibilität.

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Leiten und Führen sollten mit angemessener Offenheit statt finden, d.h. sie schließen immer auch die Suche nach dem Nutzen der Konstruktionen anderer Menschen für den Gesamtprozess mit ein (z.B. die ökonomische Intelligenz von Schülern391; oder dass Schüler über den Konflikt ihre Eltern ins gemeinsame Gespräch führen). Das kann auch eine Infragestellung und Überprüfung eigener Ziele als Pädagoge bedeuten. Unterschiede sind wertzuschätzen, weil nur so in pluralen Welten die Erreichung von gemeinsamen und zugleich von legitimen individuellen Zielen möglich ist. Perspektivenwechsel hilft verstehen, dass jeder seine guten Gründe für seine Verhaltensweisen hat. Das Wertschätzen von Unterschieden und Perspektivenwechsel sind also wichtige Lehrerressourcen

Pädagogische Leitung geschieht insgesamt viel weniger über konkrete Befehle und Anordnungen als durch das Setzen von Rahmenbedingungen. Allgemein gilt, dass die Festlegung des erwünschten kommunikativen Rahmen sicherzustellen hilft, dass der gewünschte Erfolg überhaupt eintreten kann. Der leitende Lehrer tut das, was dazu beiträgt, dass alle ihre Arbeit optimal erledigen können. Insb. muss der Pädagoge immer klar in dem sein, was verhandelbar, und dem, was nicht verhandelbar ist. Selbstverständlichkeiten sollten immer wieder erwähnt werden, damit sie nicht verloren gehen. Gleichzeitig sollte auch ein bisschen Freude und Spaß in den (Berufs)Alltag eingebracht werden oder zumindest zugelassen werden.

Der Pädagoge organisiert den Rahmen (beider pädagogischer Kontexte) und sorgt für deren Einhaltung. Dieser Rahmen beeinflusst Beziehung, Interaktion und Kooperation zwischen den Beteiligten. Da jeder für das, was er tut, gute Gründe hat, sollte der Lehrer dem Schüler ggf. bei Unverständnis zunächst wertschätzend Fragen stellen. Ein solcher struktureller Rahmen ermöglicht - zieldienlich und wertschätzend – Kreativität. Angesichts der in Schule noch immer üblichen Fehler-(Bemerk)-Kultur - Bewertungen beruhen stärker auf den Fehlern als auf den Leistungen – ist es günstig, eine ressourcenorientierte Sichtweise zu vertreten und zu leben.

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Auch Delegation ist ein wichtiger Bestandteil von Führung. In der Schule lässt sich dieser Aspekt u.a. dadurch übersetzen, dass der Pädagoge seinen Schülern im eigenständigen Arbeiten vertraut und sie ‚kommen lässt’ (eher unterstützt und nur dort kontrolliert, wo es unbedingt nötig erscheint). Delegation kann für den ‚einfachen’ Lehrer aber auch manchmal heißen, gegenüber Kollegen und Schulleitung ‚nein’ zu sagen (Kretschmann 2001a).

Moderne Führung und erzieherische Leitung geschehen auch durch Präsenz (Kap. 9.5) und den ‚vorbildlichen’ Umgang mit inneren Resonanzen und Gefühlen (Kap. 9.7; sowie: Goleman 2003). Viele leitende Aufgaben auch in der Wirtschaft werden mittlerweile in einer Position ausgefüllt, die derjenigen von Erziehenden ähnelt, für die Präsenz eine Haltung und eine Fähigkeit - und nicht ein Gefühl - ist (Hargens 2001, 49). Bei ggf. notwendigen Disziplinarmaßnahmen ist es sicherlich vorteilhaft, ein Spektrum von differenziert abgestuften Schritten zur Verfügung zu haben. Diese betonen jedoch die Fehler-(Bemerk)-Kultur und leiten eher durch Furcht. Disziplinierungsmaßnahmen sind in der Regel nichts anderes als rigide Grenzsetzungs- bzw. Einschüchterungsmaßnahmen – wenn man anders nicht weiterzukommen weiß. Pädagogen sollten also im Gespräch bleiben und präsent sein, um vom Kontroll- in den Unterstützungskontext ‚über-leiten’ (oder zumindest dazu einzuladen)zu können.

Wie gesehen, können hochkomplexe Systeme nicht zielgerichtet sondern nur zielorie n tiert gesteuert werden. D.h. auch, Pädagogen können nicht alles wissen, was in den Schülern oder in der Klasse vor sich geht. Das ist auch nicht nötig, wenn man durch und über Fragen führt. Dann allerdings muss man auch damit einverstanden sein, die Antworten zu hören. Ist man nur an einer Bestätigung seines bisherigen Wissens interessiert, kann man auch gleich anordnen. Legitime Fragen sind mithin offene Fragen, deren Antwort nicht schon im Vorhinein feststehen. Da mit Fragen auch manipuliert werden kann, ist die innere Haltung des Führenden entscheidend. Gerade Unterrichtsführung geschieht durch das Aufwerfen von Fragen, auf die die Antworten nicht schon vorher feststehen. Dabei gilt, dass dort, wo der Leiter nicht versteht, er fragen muss mit den Haltungen von Neugier, Respekt und Wertschätzung (sonst ist er Besserwisser). Kommt seine Botschaft anders an als gewünscht, ist es gut, entsprechend nachzufragen.

▼ 369 

Leitung und Führung müssen mit einer größeren Anzahl von Paradoxien umgehen, wie dies für das pädagogische Arbeitsfeld ja auch schon im Zusammenhang mit der Darstellung der beiden Kontexte der Pädagogik dargelegt wurde. In der folgenden Tabelle finden sich typische und zentrale Widersprüche von pädagogischer Führung im schulischen Bereich für den ‚einfachen’ Lehrer, der letztlich in jeder paradoxen Situation schauen muss, welchen Umgang mit der jeweiligen Paradoxie ihm angemessen erscheint. Darüber hinaus kann es sich lohnen, zu schauen, wo man sich im allgemeinen des schulischen Alltags einordnet, wenn man die Widerspruchspaare als jeweilige Endpunktes eines Kontinuums versteht, dessen Spielraum Flexibilität in der pädagogischen Leitung, Führungsarbeit und Beziehungsgestaltung ermöglicht.

Führungsparadoxien

sowohl

als auch

gute Beziehung zu den Schülern aufbauen

angemessene Distanz wahren

als Vorbild führen

sich im Hintergrund halten

den Schülern vertrauen

darauf achten, was geschieht

tolerant sein

wissen, wie’s gemacht werden sollte

die eigenen Ziele im Kopf haben

die Interessen von Schule und Staat wahren

seine eigene Zeit gut planen

flexibel bleiben

offen seine Ansichten bekannt geben

andere nicht verletzen

Visionen haben

mit beiden Beinen auf dem Boden stehen

Konsens erreichen

falls notwendig, konsequent bleiben

dynamisch auftreten

überlegt handeln

selbstsicher auftreten

bescheiden auftreten

Führen heißt auch sich zeigen (und keineswegs unverwundbar oder abgehoben zu erscheinen), weil es das richtige Maß an Nähe und Distanz und „Beziehungsmanagement“ verlangt und weil es individuell mit der eigenen Person zu füllen und zu leben ist. Führung ist letztlich ein „Lebensstil“ (Pinnow 2005, 232), der auf Liebe zum Menschen (ebenda, 229) fußen muss: „Wer führen will – und nicht nur herrschen – muss Menschen achten, mögen, schätzen, respektieren und sie so nehmen, wie sie sind, denn es gibt keine anderen. Menschen lassen sich nicht verwalten oder managen, sondern nur führen“ (ebenda, 233).

▼ 370 

Eine letzte für schulpädagogische Felder wichtige Unterscheidung soll hier noch eingeführt werden. Leitung und Moderation sind Führungsaufgaben, sie unterscheiden sich aber erheblich, wie im folgenden Schaubild deutlich wird. Beide gehören zum zentralen Handwerkszeug eines Lehrers.

Unterschied Klassen/ Gruppen

leiten

moderieren

inhaltliche Beteiligung, bspw. Stellungnahme, Bewertung, ggf. Verstärkung von Beiträgen

inhaltlich unparteiisch, Sicherung der gleichrangigen Beachtung aller Aussagen

Konzentration auf dem Inhalt

Konzentration auf Auswahl und Anwendung von Methoden. Gruppe trägt die ausschlaggebende Verantwortung für den Inhalt

Führung primär als Verantwortung im Bereich der Inhalte

Führung ausschließlich als Verantwortung in der Wahrung der Form392

Vertretung von Vorgaben und Zielen des Schulhauses; Aufzeigen eigener Prioritäten, ggf. eigene Willensdurchsetzung

verantwortlich für den Willensbildungsprozess der Gruppe bei Gleichwertigkeit aller Teilnehmer und Beiträge

Vorgabe konkreter Arbeitsziele

Förderung/ Begleitung der Gruppe bei deren Erarbeitung eigener Ziele

Leiter vermeidet, ignoriert, tadelt Störungen oder ermahnt die Parteien zur Sachlichkeit

Moderator teilt neutral der Gruppe seine Wahrnehmungen über Störungen mit begleitet sie beim eigenständigen Umgang damit, ggf. methodische Hilfestellung

Leitung anhand klar gestellter oder etablierter ungeschriebener kommunikativer Regeln

Unterstützung der Schüler, Regeln für den Umgang miteinander zu formulieren

Ein Leiter ist hierarchisch höhergestellt; seine Aussagen besitzen ein besonderes Gewicht.

Ein Moderator besitzt methodische Verantwortung. Hierarchien treten in den Hintergrund.

Das Wechselspiel von Leitung und Gewähren-Lassen sowie die grundsätzliche Vielfalt möglicher Funktionen und Positionierungen in Schule erfordern auf Seiten des Pädagogen ein hohes Bewusstsein im Umgang mit Verantwortung.

9.10 Umgang mit Verantwortung

▼ 371 

Das Thema Verantwortung spielt in Schule aus mindestens drei Gründen eine zentrale Rolle. Erstens schafft der Wertekodex breiter Teile der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft „unrealistische und überhöhte Erwartungen an die eigene berufliche Tätigkeit“ (Kretschmann 2001c, 100). Diese führen zu Über- oder Unterschätzung: „Größenwahn und Perfektionismus einerseits, chronifiziertes schlechtes Gewissen, Angst zu versagen und fortwährende Selbstzweifel andererseits liegen eng beieinander“ (Bastian 2001, 137). Zweitens lässt der Umgang mit jungen Menschen, die erklärtermaßen im Erziehungsprozess selbstständig(er) werden sollen, Fragen des Umgehens mit Verantwortung - wer übernimmt wann wie viel Verantwortung (nicht mehr)? – zum zentralen Thema von Lernprozessen und schulischem Alltagsleben werden. Und drittens ist die Beantwortung der letzten Fragen mit erheblichen Unwägbarkeiten verknüpft, da die Schüler selbstorganisierende Systeme sind, so dass diese Fragestellung permanent präsent ist.

Schule kann insofern auch verstanden werden als ein Spiel um Verantwortung, das die beteiligten Lernenden, Pädagogen, Eltern usw. spielen. Mitunter kommt es vor, dass „Erziehungsdefizite kontextuell weitergereicht werden“ und bei den Lehrern verbleiben sollen, so Huschke-Rhein (1998a, 62), wodurch Lehrer unter zusätzlichen Druck kommen. Ebenso lässt sich konstatieren, dass Lehrer von sich aus häufig Verantwortung übernehmen, zu „Überverantwortlichkeit“ (Huschke-Rhein 1998a, 68) neigen, wie es in sozialen Berufen393 nicht unüblich (allerdings ggf. gesundheitsgefährdend) ist. Die Überzeugung, jedem - zumal im institutionellen Kontext – helfen zu können, „ist romantisch und naiv“ (Cecchin et al. 2005, 54).

Vor einem solchen Hintergrund muss Ziel von Selbstreflexion und Handeln die angemessene Reduktion einer möglicherweise vorhandenen Verantwortungsüberlastung der Pädagogen sein (Huschke-Rhein 1998a, 68). Das gilt zumindest dann, wenn man unterstellt, dass gesellschaftlicher Erfolgsdruck Pädagogen in ein übertriebenes Verantwortungsgefühl hineinbringen mag, und, dass es biographische Gründe für Menschen in sozialen Berufen geben mag, Verantwortung auf sich zu ziehen (‚Verantwortungsstaubsauger’).

▼ 372 

Ein angemessener und reflektierter Umgang mit Verantwortung ist in jedem Fall Teil von pädagogischer Kompetenz und Professionalität.394 Die systemisch-konstruktivistische Beratung hat einige essenzielle Regeln für die Handhabung von Verantwortung in pädagogischen Feldern modellhaft formuliert (Schumacher 2002; Simon/Weber 2004, 24):

Folgenden weiteren, grundsätzlichen, strukturelle, Verantwortlichkeitsaspekten sollte der erwachsene Erziehende genüge tun (u.a. Rotthaus 1999a, 116):

▼ 373 

Daneben lassen sich vier Bereiche unterscheiden, in denen ‚Ver-Antwortung’ auf Lebens- und Arbeitssituationen reagiert bzw. antwortet:

Verantworten als...

...antworten

wollen

ist i.d.R. eine Frage der

Wertorientierung

können

Qualifikation

dürfen

Autorisierung

müssen

Zuständigkeit

▼ 374 

Eigene Klarheit im Umgang mit Verantwortung erleichtert es Pädagogen im Lehrer-Beruf, dessen Arbeitszeit nur zum Teil festgelegt ist, Prioritäten zu setzen und das berufliche und private Leben in Prozessen und Entscheidungen des Zeitmanagements aufeinander abzustimmen.

9.11 Work-Life-Balance

Zeitmanagement wird heute auch Work-Life-Balance genannt, um zu verdeutlichen, dass in postmodern-pluralen Zeiten die verschiedensten Lebensbereich miteinander verbunden werden müssen, wenn man systemisch in Interdependenzen denkt. Gerade für den Lehrberuf, der ja nur zum Teil geregelten Zeiten unterliegt, da sich Freizeit, Hausarbeit und außerschulhäusliche Arbeitszeit vermischen (Kretschmann/ Lange-Schmidt/ Kirschner-Liss 2001, 39), können im Bereich der Work-Life-Balance wichtige Anregungen für Pädagogen gefunden werden. Allerdings verlangt gerade der Lehrberuf aufgrund der erforderlichen zeitlichen Flexibilität ganz eigene Bedingungen für Zeitmanagement. Verstärkt gilt deshalb gerade für den Lehrberuf, was ohnehin gilt: dass auch gängige Konzepte von Work-Life-Balance von kurzsichtigen Gefahren begleitet sein können.

Mögliche Fallen von Work-Life-Balance für Lehrer sollen daher hier kurz aufgeführt werden - soz. als zu beachtender Rahmen zur umfangreichen Literatur zum Thema (in der sich auch die wichtigen Instrumente und Methoden befinden: vgl. z.B. Seiwert 2005, 2002a, 2002b, Koenig et al 2001) und für das individuelle Zeitmanagement selber. Feststellungen aus dem Zeitmanagement können

▼ 375 

Angesichts dieser nicht unproblematischen Aspekte der Work-Life-Balance ist es für Lehrer wichtig, sich auf die eigene Wahrnehmung zu verlassen (und nicht auf starre (z.B. Zeitmanagement-Regeln) und flexibel zu reagieren nach dem Motto: „M a che das, was dir gut tut und was zu dir passt, in deiner eigenen Zeit.“

Zeit ist auch ein gutes Stück weit Illusion. Vor allem die Verbindung von ‚schneller arbeiten = mehr Freizeit/ Wohlergehen’ entpuppt sich schnell als ‚un-wirkliche’ Vorstellung, weil man im Lehrberuf nie ‚fertig’ wird, sondern immer noch besser, detailgenauer versuchen kann, den Rahmen zu gestalten und Unterricht vorzubereiten. Wichtige zentrale Anregungen können daher sein, im eigenen Tempo zu arbeiten, um seine eigene Zufriedenheit zu finden; immer wieder stimmige Pausen einzulegen; sich mit einem Anrufbeantworter und ISDN-Anlage mit verschiedenen Nummern zu finanzieren; Freizeit vorher festzulegen und einzuhalten; oder ein ‚Bitte nicht stören’-Signal ans häusliche Arbeitszimmer zu hängen.

▼ 376 

Zeitmanagement arbeitet auf Zielzustände hin. Das kann versklaven aber auch Klarheit über Zielorte und Wege geben. Das offizielle Ziel der Schule, dass die Schüler Schulabschlüsse erreichen, liegt nicht in der Hand der Lehrer. Daher ist insb. zu klären, was für Lehrer ihre konkreten, realistisch durch eigene Kraft erreichbaren Ziele sind, wann sie also von sich behaupten würden, ein guter Lehrer zu sein. Außerdem ist auf Ressourcen, Stärken und das eigene Profil ein Schwerpunkt zu legen. Vielfältige Anregungen für stimmiges Zeitmanagement für vor, während und nach der Schule sowie Anregungen für eine bessere Arbeitsorganisation von Lehrern finden sich ausführlich bei Kretschmann (2001, 129,131,137).

Die persönlichen Zeitanforderungen und -wünsche für das, was einem wichtig ist, variieren nach der jeweils gegebenen Lebenssituation. Wichtig ist hierbei, die verschiedenen Lebensbereiche zu berücksichtigen und angemessen zu mischen. Seiwert unterscheidet die vier Kategorien Kontakte und Familie, Beruf und Leistung, Körper und Gesundheit, Sinn und Werte. Fischer-Epe/Epe (2004, 17) entwerfen ein etwas detaillierteres ‚Haus des Lebens’:

Abb. 9-14: Work-Life-Balance anhand des ‚Haus des Lebens’ (Fischer-Epe/Epe 2004, 17)

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Bei Seiwert (2005, 126ff) findet sich auch die Idee, dass man nicht mehr als sieben definierte „Lebenshüte oder Lebensrollen“ haben sollte. Interessant für Lehrer könnte es sein – auch aufgrund der Vielfalt ihres Jobs - zu schauen, welche ‚Hüte’ sie vielleicht absetzen müssen, worauf sie sich beschränken müssen, um ihren Job (nach welchen eigenen erreichbaren Zielkriterien?) angemessen zu erledigen.

Zentrale These aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist, dass Klarheit über Grenzen und Aufgaben pädagogischer Verantwortung ein verändertes, gezielteres, klareres Work-Life-Balance-Verhalten ermöglicht, da interne Prioritäten Handeln deutlicher konturieren können. Wichtig für den Umgang mit den Grenzen und Aufgaben pädagogischer Verantwortung auf dem Hintergrund eines persönlichen, ausgewogenen Work-Life-Verhältnisses ist – das wurde weiter oben bereits erwähnt – die Kenntnis schulpädagogischer Kontexte. Dazu gehören insb. die Zwangskontexte von Schule.

9.12 Umgang mit Zwang

Auf schulische Zwangskontexte wurde bereits in Kap.9.1.5 ein erster Blick geworfen. zum Abschluss des neunten Kapitels sollen sie ausführlich thematisiert werden. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Gründen. Erstens ist die Fachliteratur der letzten Jahrzehnte überwiegend aus humanistischer Sicht geschrieben, die aber Kontextbedingungen – im Vergleich zur systemischen Sichtweise – vernachlässigt. Zweitens scheint in den letzten Jahren das Bedürfnis von Schülern zuzunehmen, in Schule ihre Grenzen zu erfahren (systemisch-konstruktivistisch verstanden als: Orientierungsbedürfnis), so dass begrenzende Rahmenbedingungen von Schule stärker in die Aufmerksamkeit bzw. den Fokus treten. Drittens stammt viel Fachliteratur auch zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik aus der Förderpädagogik oder der Erwachsenenbildung und beziehen sich nicht primär auf den allgemeinen schulpädagogischen Bereich. All diese Gründe sprechen dafür, den Bereich des Zwangs in Schule für den Regelschulbereich eingehender zu beleuchten und auch auf seine Chancen hin unter systemisch-konstruktivistischen Aspekten zu untersuchen.

▼ 378 

Der Zwangsaspekt der staatlichen Schule ist, wie gesagt, auch in der bisherigen Literatur zur systemischen Pädagogik und Beratung in Schule bislang eher wenig beachtet worden. Die dennoch vorhandenen Aufsätze und Bücher stammen oft aus dem Bereich der Förderpädagogik oder jenem der Erwachsenenbildung (oder sind für sie geschrieben). Dies sind beides Kontexte bzw. institutionelle Arbeitsbedingungen, in denen zwangs- und kontrollorientierte Rahmenbedingungen weniger strikt oder weniger nötig erscheinen (mögen). Förderschülern ist vielleicht weniger mit Zwangsmaßnahmen ‚beizukommen’, oder Förderpädagogen sind u.U. vom Selbstverständnis her weniger gewillt, auf einen solchen Kontext zurück zu greifen (für sie ist es ja auch sinnvoll einen deutlichen Unterschied zum Funktionieren der anderen Schultypen zu setzen). Bei erwachsenen Schülern kann ein höherer Grad der Selbstorganisation bzw. der Selbststeuerung vorausgesetzt werden. Wie dem auch sei: Staatlich organisierte Schule findet zumindest die ersten neun Jahr in einem Zwangskorsett als Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht statt. Dies wurde gerade vom Bundesverfassungsgericht noch einmal umfassend bestätigt.396

Gerade für eine systemisch-konstruktivistisch ausgerichtete Arbeit muss in diesem Zusammenhang selbstverständlich konstatiert werden, dass Zwang und Kontrolle zunächst nicht zu Konzepten von Autopoiese und dem Respekt vor dem Schüler zu passen scheinen, die ja weiter oben als grundlegende Paradigmen der systemischen Arbeit gekennzeichnet wurden (Schwing/ Fryszer 2006, 330). Andererseits zeichnet sich systemisches Denken aber auch durch die Berücksichtigung von Umwelten bzw. Kontexten aus. Und hier ist eben festzuhalten, wie bereits geschehen (Kap 9.1.5), dass Schule eine Zwangsveranstaltung ist - sowohl in einem engeren, generalisierten als auch in einem weiteren auf Einzelfallsituationen bezogenen Sinne:

Darüber hinaus kann Schule mit Situationen zu tun bekommen, in denen Gesetzesverstöße oder Fremd- oder Eigengefährdungen vorliegen, z.B. Gewalt, Mobbing, drastische Magersucht, Selbstmordabsichten, sexueller Missbrauch, Scheidungskriege auf Kosten des Kindeswohls. Hier besitzt Schule staatlich verliehene Verantwortung und teilweise auch rechtliche ‚Wächterfunktion’ und muss aufgrund gesellschaftlichen Auftrages und eigener ethischer Prinzipien tätig werden. In solchen Kontexten ist „Krise die Regel und nicht die Ausnahme“ (Alberstötter 2006a, 49).

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Schule als...

Zwangsveranstaltung im engeren Sinn

generalisierter Rahmen

Schule als gesellschaftliche Veranstaltung mit Anwesenheitspflicht, mit nicht-verhandelbaren Vorgaben und mit Kontroll- sowie Bewertungsfunktion

Zwangsveranstaltung im weiteren Sinn

pädagogisches Handeln in Einzelsituationen

situationsabhängiger Umgang mit den Bereichen von Anordnung, Kontrolle, Bewertung und Auswahl durch Lehrer, Teilkollegien und Schulhäuser im konkreten Schulalltag

gesell. Institution mit Wächterfunktion

Gesetzesverstößen, Selbst- und Fremdgefährdung

Aktivierung von bzw. Kooperation mit schulhausexternen gesellschaftlicher Institutionen mit aktiver Kontrollfunktion bei vermuteter Selbst-, Fremd- und Kindeswohlgefährdung

Für die schulische Pädagogik sind daher folgende Punkte im Zusammenhang mit Kontrollkontexten wichtig: Erstens, sich der Verfasstheit von Schule als Zwangsveranstaltung im engeren Sinne bewusst zu sein und der Auswirkungen, die das für Schüler-, Klassen-, Eltern- und Lehrerverhalten mit sich bringen kann (Kap.6.3.1).

Zweitens muss in problematischen Situationen grundsätzlich unter- und entschieden werden, ob ein Lehrer bzw. Schule sich in der gegebenen Situation noch im Kontext der angemessenen Eigenverantwortung des Gegenübers befindet oder ob Interventionsversuche in die Selbstorganisation des Schülers angebracht sind, die ihm – zumindest tendenziell397 - Verantwortung entziehen.398: Das ist die Frage, ob sich eine Situation noch im Angebots- oder bereits im Kontrollkontext befindet.

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Drittens muss, wenn eine Situation im Kontrollkontext festgestellt wird, entschieden werden, ob ein Gesetzesverstoß bzw. ob Selbst- bzw. Fremdgefährdung vorliegen, so dass schulhausexterne Institutionen in repressiver Funktion hinzugezogen werden müssen. Gesetzesverstöße, Selbst- und Fremdgefährdungslagen können als Sonderfall einer (erweiterten399) schulischen Kontrollfunktion verstanden werden. Schule ist hier allerdings allein zu ‚schwach’, um angesichts der Art der mangelnden Eigenverantwortung ausreichend angemessen intervenieren zu können, und muss auf außerschulhäusliche Institutionen mit ausgeprägterer Kontrollmacht bzw. Zwangsbefugnissen zurückgreifen bzw. mit diesen zusammenarbeiten (Polizei, Psychiatrie, Jugendamt u.ä.). Gerade bei möglicher Selbst- und Fremdgefährdung stellt sich die Frage, ob der Schüler noch in einer Weise Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt (bzw. ob Eltern/ Erziehungsberechtigte/ Alleinerziehende noch in einer Weise Verantwortung für ihre Aufgaben übernehmen), dass keine externen Kontrollinstanzen in ihrer zwangausübenden Funktion hinzugezogen werden müssen. Dies ist mit anderen Worten die Frage, ob die Situation sich noch in einem Kontext des ausreichenden Vertrauens in die spontane, individuelle oder familiäre Selbstorganisation befindet. Wird diese Frage verneint, muss der erweiterte Kontrollkontext aktiviert werden, in dem „Dritte diese Verantwortung (teilweise) entziehen bzw. übernehmen und bestimmte Maßnahmen gegebenenfalls ohne Kooperation oder im Extremfall gegen den Willen des [...Gegenübers, R.M.] durchsetzen“ (Alberstötter 2006a, 45). Letzteres kann dann als ein deutlicher Eingriff in die Autonomie des Gegenübers erlebt und verstanden werden.

Viertens: Da die Kontrollebene der Pädagogik – aus systemisch-konstruktivistischer Sicht - in einem „lebendigen Zusammenhang“ mit der Angebotsebene (d.h. mit Hilfs- und Unterstützungsofferten) stehen sollte, ist als einzelner Lehrer bzw. als Schulhaus – ggf. in Kooperation mit schulhausexternen Institutionen - zu schauen, wie der Durchsetzungskontext (zumindest mittelfristig) mit dem Angebotskontext verbunden werden kann, und zwar im Sinne einer Metaperspektive als integrative Kompetenz (Kap.9.1.6). Dies erfordert eine hohe Flexibilität, deren Vorteile weiter unten ausführlich dargestellt werden sollen. Prinzipiell wichtig ist es, mit der Ausgestaltung der Zwangskontexte jeweils so umzugehen, dass für den/die Betroffenen eine veränderte, unterschiedsbildende Situation entsteht, die zu neuen Kosten-Nutzen-Einschätzungen und damit zu veränderten Handlungsanreizen führen kann.

In diesem Kapitel werden zunächst spezifische Zwangskontexte von Unterricht und Schule identifiziert und beschrieben (Kap.9.12.1). Das darauffolgende Kapitel (9.12.2) untersucht Möglichkeiten für die pädagogische Nutzung von Gestaltungsräumen, die sich aus einer reflektierten Nutzung bzw. Utilisierung von Zwang als Ressource ergeben. Die Betrachtung der Relativität - bzw. des wechselseitigen Aufeinander-Bezogenseins - von Selbst- und Fremdbestimmung in den beiden pädagogischen Kontexten von Durchsetzung und Angebot (Kap.9.12.3) leitet über zur Fragestellung, wie der generelle schulische Zwangskontext auf eine Art und Weise aktiv ausgestaltet werden kann, die pädagogische Prozesse befördert (Kap.9.12.4). Um dies erfolgreich leisten zu können, sind insb. Aspekte von Metakommunikation, Transparenz und pädagogischer Präsenz zu beachten (Kap.9.12.5). Abschließend wird der Umgang mit Zwang, wie er auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund hier vorgeschlagen wird, kontrastiert mit der Sichtweise von schulischem Zwang in anderen Modellen (Kap.9.12.6), die zum Großteil bereits aus Kap.6.1 bekannt sind.

9.12.1 spezifische Zwangskontexte von Unterricht und Schule

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Lehrer sind in ihrer Profession aufgerufen, mit „Macht als Ressource“ (Pleyer 1996, 189) und „Zwang als Zaun für Freiräume“ (Pleyer 1996, 191) umzugehen. Systemisch-konstruktivistisch gesehen, geschieht dies mit dem Ziel der zunehmenden Selbstständigkeit der Schüler, d.h. des Überflüssigwerdens als Pädagoge. Pädagogik zeichnet sich angesichts der grundsätzlichen Ambivalenz des Lebens zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit gerade auch durch die Kunst aus, eine angemessene Balance zwischen den beiden Kontexten von Angebot und Durchsetzung zu finden und ein Gespür dafür zu entwickeln, in welchen Situationen Pädagogen sich ab wann wie positionieren und eingreifen oder die Dinge laufen lassen (Pleyer 1996, 192). Grundsätzlich haben Pädagogen dabei die Aufgabe, zu lernen, wie sie der Autonomie des Kindes in angemessener Weise mehr und mehr Raum geben können (Omer/Schlippe 2002,180). Außerdem können Konflikte zwischen Schülern ebenso wie Elternverhalten, bei dem sich die Frage stellt, ob sie das Kindeswohl noch angemessen berücksichtigen, Lehrer in Vermittlungs-, Grenzsetzungs- oder Schutzfunktionen hineinbringen.

Innerhalb des Zwangsrahmens im engeren, generellen Sinne lassen sich idealtypisch verschiedene Abstufungen im pädagogischen Umgang mit Zwang und Kontrolle im weiteren Sinne unterscheiden, wie das unten stehende Schaubild verdeutlicht. Die in Schule stattfindende Bewertung sowie vorhandene, bindende Regeln ermöglichen Orientierung und sie sind durch den politisch gewollten Rahmen als gegeben gesetzt. Wie aber mit ihnen umgegangen wird, bietet Spielräume und verschiedene Möglichkeiten, die in der jeweiligen Entscheidung des einzelnen Lehrers im konkreten Moment liegen.

  1. Eine explizite Umsetzung von Zwangskontexten geschieht in der Anwendung von Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen (also von Zwangsmaßnahmen).
  2. In Schule bzw. im Schulhaus explizit vorhandene Regeln – und hierzu gehört auch, dass Schülerverhalten bewertet wird – gelten allerdings auch (schon), wenn gegen sie (noch) nicht verstoßen wird, sie binden das Schülerverhalten, indem bestimmte Handlungsoptionen ausgeschlossen werden.
  3. Versuchte (Bei)Steuerung des Schülerverhaltens durch Schaffung für ihn positiver Anreize400 gewährt dem Schüler noch nicht so viel Selbstverantwortung wie
  4. eine partnerschaftliche Kooperation zwischen Lehrer und Schüler. In beiden Fällen (3 und 4) bleibt das Schülerverhalten auf den Lehrer bezogen – tendenziell unter Vernachlässigung des Einbezugs der Peergroup.
  5. Schüler können aber auch aus eigener Motivation heraus die Zusammenarbeit miteinander suchen, wobei der Pädagoge noch für einen einbettenden Rahmen sorgt.
  6. Gibt der Lehrer auch noch die Aufgabe ab, den Rahmen selber zu bestimmen, und überträgt bzw. überlässt es den Schülern, über diesen Rahmen zu verhandeln, dann begleitet er sie nur noch in einer rein moderierenden Funktion.

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Abb. 9-16: Schule als Zwangsveranstaltung: genereller Schulzwang und spezifische Zwangskontexte auf der Lehrer-Schüler-Beziehungsebene

Je nach Stand der Klasse, Tagesform und Methode kann der Lehrer unterschiedliche Formen der Ausgestaltung des Zwangskontextes im weiteren Sinne wählen bzw. ausprobieren. Die oben stehenden Ausführungen sind als Modell zu verstehen, weitere Zwischenstufen sind gut denkbar. Die Entscheidung des Pädagogen für eine dieser Stufen kann er auf dem Hintergrund des obigen Modells ggf. auch den Schülern mitteilen bzw. mit ihnen verhandeln. Modellhaft betrachtet, wächst von 1 bis 6 (bzw. im oben stehenden Schaubild von links nach rechts) die Größe der Freiräume und Selbstverantwortung der Schüler.401

Selbstmotivierte Kooperation von Schülern ist vergleichsweise selbstbestimmter, setzt allerdings voraus, dass die Schüler über Eigenmotivation verfügen, auf die der Lehrer nur über die Gestaltung einbettender Rahmen und sein persönliches Verhalten Einfluss nehmen kann. Eine zentrale These systemisch-konstruktivistischer pädagogischer Arbeit besagt, dass Eigenmotivation in kooperativen Situationen steigt. Es ist davon auszugehen, dass Schüler dann, wenn sie den einbettenden Rahmen402 mitverhandeln können (Palmowski 1997a, 47), mit erhöhter Motivation und Engagement dabei sind: So erlernen und probieren sie kooperatives Verhalten aus, während sie zugleich zunehmend selbstbestimmt sich verhalten.403 Auch im späteren Leben und auch in den sozialen Beziehungen schon während der Schulzeit müssen Menschen Kooperation verhandeln.

▼ 383 

Einerseits ist die linke Seite des Schaubildes nicht prinzipiell besser als die rechte, da hier soz. ein Kontinuum dargestellt ist, auf dem der Pädagoge sich in Schule in den konkreten Fällen des Umgangs mit einzelnen Schülern und Klassen unter Aspekten der ‚Passung’ bewegt. Es geht also um pädagogische Stimmigkeit und Viabilität seiner Beobachtung, Erklärung und Bewertung der vorliegenden Situation, des Verhaltens des Schülers und seiner Entwicklungserfordernisse und -chancen. Spätestens bei Fragen der Kindeswohlgefährdung besitzen Lehrer ein gesellschaftlich anvertrautes „Wächteramt“, das sie auch in Konfrontation zu den Eltern bringen kann. Aufgrund mangelnder Ausbildung auf dem Gebiet der Beobachtung besorgniserregender Auffälligkeiten entsteht allerdings faktisch in Schule oft eine „Grauzone zwischen missionarischem Aktionismus über resignative Hilflosigkeit bis hin [...] zum Rückzug auf eine Identität als Wissensvermittler“ (Storath 1998, 67).

Andererseits legen die Idee der Autopoiese, die soziologisch beschreibbaren Anforderungen der Postmoderne und Schulgesetzestexte nahe, dass das Ziel schulischer Bildung und Erziehung im rechten Bereich der gewachsenen Autonomie zu suchen ist. D.h. die jeweils eingesetzten pädagogischen Mittel, die jeweils getroffenen pädagogischen Maßnahmen sollen dazu beitragen (und hierauf sind sie im Professionsbereich zu überprüfen und ggf. zu diskutieren), dass Schüler zunehmend und langfristig sich autonom verhalten können. Darüber darf nicht vergessen werden, dass der bürokratisch-institutionelle Rahmen von Schule zunächst einmal den ungestörten Ablauf von Schule als Organisation garantiert sehen will, den der Lehrer stets mitbedenken muss.

9.12.2 Bejahung von Zwang als einer Ressource

Umgangsformen mit Zwang in Schule gibt es, da der Umgang mit Zwang und Kontrolle letztlich an den Einzelfall geknüpft ist, in tendenziell unbegrenzter Zahl. Möglich ist – aus einer Innenperspektive heraus – auch die Negierung oder Tabuisierung des Zwangskontextes. Aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive, wie sie in dieser Arbeit vertreten wird, würde dies zwar eine Komplexitätsreduzierung der Sichtweise auf Schule bedeuten und damit den Umgang mit Schule aus Lehrersicht vermeintlich vereinfachen. Allerdings wäre – aus einer Außenperspektive – die Konsequenz und der Preis hierfür der Verzicht auf wichtige (Bei-)Steuerungsinstrumente für Pädagogen, die in einem Zwangskontext unterrichten. Auch würden Schülern damit wichtige Orientierungsmöglichkeiten und Chancen der Grenzerprobung genommen. Omer et al (2006, 47) halten daher sowohl eine Tabuisierung wie auch eine Ignorierung von Macht in pädagogischen Beziehungen für gefährlich und kontraproduktiv.

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Verschiedene systemisch-konstruktivistische Autoren im pädagogischen und therapeutischen Bereich404 vertreten daher die Position, bei einer Arbeit in Zwangskontexten diese zu bejahen, transparent zu machen und zum langfristigen Wohle aller an Schule Beteiligten zu utilisieren405. Zwangskontexte schaffen teilweise „erst den Rahmen und die Voraussetzung, dass [...Schüler, R.M.] sich mit Hilfsangeboten auseinander setzen“, wenn Verstöße gegen gesellschaftliche oder ethische Regeln mutig, kunstfertig und respektvoll angesprochen werden (Schwing/ Fryszer 2006, 331). Das heißt, Macht- und Verantwortungsgefälle zwischen Pädagogen und Schülern müssen im Dienst einer von Achtung getragenen Beziehung und der angemessenen Verselbstständigung der Kinder und Jugendlichen stehen (Omer/Schlippe 2004, 38f).

Hierzu kann der Pädagoge sich bei abweichenden Ansichten mit dem Schüler z.B. ggf. gemäß den Anklagen des Schülers für ‚nicht immer gerecht’ und sogar ‚schuldig’ bekennen, zugleich bei seinen Überzeugungen bleiben, die Angelegenheit nicht weiter diskutieren, grundsätzlich präsent bleiben und es sich dabei gut gehen lassen (Omer/Schlippe 2002, 168). ‚Es sich gut gehen lassen’ versteht Omer als Akzeptanz, dass ‚konstruktive Ungerechtigkeit’ zur erziehenden Funktion gehört (Omer/Schlippe 2002, 170f). Damit folgt er der Forderung der Heidelberger Schule, dass man als Pädagoge stets darauf achten sollte, selber ressourcevoll mit sich umzugehen (Mücke2002, 75). Es geht hierbei darum, eine solche präsent-erzieherische Position „im Sinne von Entwicklungsförderung, Ressourcenerweiterung und Ermutigung zur Verantwortungsübernahme auszufüllen“ (Levold et al. 1992, 307). Außerdem sollten Kontrolle und Hilfe so verknüpft werden, dass „sowohl ein spontaner Zugriff in akuten Situationen als auch [...] die Entwicklung weitsichtiger Pläne“ verfolgt werden können (Omer/Schlippe 2002, 31). Dies erfordert eine um- und einsichtige Metaposition zur jeweiligen Dynamik, die Kontexte und mögliche Entwicklungslinien berücksichtigt. Machtverhältnisse können dann aktiv und offen benannt werden, und eine von Manipulation und Bewertung freigehaltene Beratung wird dann auch in einem Zwangskontext durchaus möglich (Pleyer 1996, 193).

Ein wesentlicher Vorteil von Zwang ist, dass er durch die Reduktion von individuellen Verhaltensoptionen schneller und wirksamer als angebotene Dialoge (aber nie verlässlich) erwünschtes Verhalten beim anderen erreichen kann, und mitunter über das erzwungene Verhalten auch zu Musterveränderungen führt: „So wird Zwang als sichernd und ordnend verstehbar, ja sogar unverzichtbar, um einen geschlossenen Freiraum als solchen wahrnehmen und gefahrlos in Besitz nehmen zu können“ (Pleyer 1996, 191f). Aus einer solchen Sicht geht es in Schule „nicht um die Frage von Zwang oder Nicht-Zwang, sondern nur um seine relative Bedeutung und das heißt auch Größenordnung“ (Palmowski 1997a, 44).

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Die These der Notwendigkeit eines miteinander verknüpften Wechselspiels von Angebot und Durchsetzung, von Unterstützung und Zwang wird ergänzt durch die Idee, dass, je mehr Selbstständigkeit jungen Menschen attestiert wird, desto weniger Zwang und Kontrolle eingesetzt werden müssen. Insofern als Schule auf die Verselbstständigung, auf das Mündigwerden ihrer Klientel zielt, hat sie aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ein grundsätzliches Anliegen darin, sich zu fragen, wie (weit) sich der Anteil des Zwanges in Schule reduzieren lässt (Palmowski 1997a, 47). Dieser Blickwinkel sollte sich immer wieder von Pädagogenseite aus bewusst gemacht werden, denn aufgrund der Art ihrer Organisiertheit liegt in der Institution Schule ein Schwerpunkt der Aufmerksamkeit in der Organisation von vornherein auf dem Kontrollkontext - mit u.U. negativen Auswirkungen für eine Verringerung von Zwang in Schule.406

Darüber hinaus aber sagt diese These der möglichst größten angemessenen Freistellung von Zwang nichts über das jeweils konkret anzuwendende genaue Ausmaß von Kontrolle bzw. Zwang im Einzelfall aus, da es sich hier um individuell zu treffende Entscheidungen im Professionsbereich handelt. Grundsätzlich gilt hier, dass je mehr Verantwortung die Umwelt übernimmt, desto weniger braucht (bzw. kann) der Schüler übernehmen, da das Spiel um Verantwortung ein Nullsummenspiel ist. Die entscheidende Frage aus pädagogischer Sicht lautet dann: ‚Welches Maß an Fremdkontrolle ermöglicht die (zurzeit) angemessenste Form der Eigenverantwortung?’ (Ebbecke-Nohlen 2007). Noch grundsätzlicher hatte bereits Kant die Frage: „Wie cultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ als Grundfrage der Pädagogik bezeichnet (Kant, zit.n. Seidel 2000, 39).

Erschwert wird eine solche Einschätzung auch immer dadurch, dass die Kinder und Jugendlichen mit ihrem Verhalten auf die entsprechende Kultur des Umgangs mit Zwang einwirken. Systemisch-konstruktivistisch gilt in dieser komplexen Situation, dass Lerner und Lehrende „nach Möglichkeit dialogisch auszuhandeln [haben], welche konstruktiven Wege und Mittel ihnen als Ressourcen bereitstehen und welche Lösungen sie hierbei auf der Inhalts- und Beziehungsseite ausprobieren wollen“ (Reich 2005, 188). Das beinhaltet ggf. die Möglichkeit, den Umgang mit bzw. das Ausmaß von Zwang selbst zu verhandeln (Palmowski 1997a, 47) - und nicht nur andere Aspekte unter Zwang zu verhandeln: „In diesem Sinne geht es beim Erziehen auch darum zu klären, welche Regeln und welche Rahmenbedingungen Gegenstand eines gemeinsamen Aushandelns sein können und welche nicht. Und dies stellt eine wesentliche Aufgabe des Erziehens dar – die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Rahmen, Regeln und den daraus resultierenden Konsequenzen“ (Hargens 2006, 73). Auch in üblichen Alltagsfragen sind dann von Erzieherseite Gesprächssituationen mit in dem Sinn offenem Ausgang zu suchen, dass die Kinder und Jugendlichen prinzipiell jederzeit eigene gestalterische Beiträge und Möglichkeiten beisteuern können, wenngleich grundlegende Regeln der Beziehungsgestaltung hierbei i.d.R. nicht angetastet werden (Hargens 2006, 73). Auch die schulische Aufgabe der Bewertung kann der Pädagoge in dialogischer Form unter Einbeziehung der Schüler gestalten (Honisch 2004, 119), was nicht Objektivität herstellt oder erhöht, aber „die Möglichkeit einzelner Beurteiler, ihre Entscheidung zu begründen, [...] erweitert“ (Heuwinkel 2002, 42).407 Auf solchen Wegen wird die Selbstorganisation der Schüler – in den möglichen Grenzen - respektiert und gestärkt

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Ein derartiges Vorgehen verändert radikal die Verantwortungssituation z.B. sich auffällig verhaltender Schüler. Sie unterliegen nicht mehr passiv der Gefahr, dass ihnen etwas zustößt, was sie nicht wollen – eine Situation, die nur Ausweichen, Vermeidung und ein So-tun-als-ob-Spiel erlaubt. Sondern sie können ein gesteigertes Risiko (und damit zumindest unterstellt erhöhte Verantwortung) aktiv übernehmen, wobei sie in dem Maße, wie sie investieren, gewinnen können (Palmowski 1997a, 47). Damit wird der Schüler in einen Rahmen gestellt, in dem er unter pädagogischer Begleitung und in Konfrontation mit klaren Rückmeldungen Konfliktbearbeitung, selbstständigeren Umgang mit sich selbst und Dissensmanagement (Palmowski 1997a, 47f) weitergehender als bisher erlernen kann.

Eine grundsätzliche Bejahung von Zwang, auch in Kooperation mit schulhausexternen Institutionen, bedeutet nicht, dass Lösungen (auch in sich zuspitzenden Krisen) linear-kausal aufoktroyiert werden könnten (Kron-Klees 1997, 59). Allerdings muss ein Verhalten von Schüler- und/ oder Elternseite, das auf Handlungsebene eine erhebliche Nichtübernahme von Verantwortung zeigt, zur Reaktion und Aktivierung des Kontrollkontextes führen. In ‚härteren’ Fällen übernehmen dann Schule und hinzugezogene außerschulhäusliche Institutionen „Substitutionsfunktionen für die zu wenig entwickelten Fähigkeiten“ der kontrollierten Personen (Simon 2001b, 121), seien es Kinder oder auch ihre Eltern.

Auf diesem Hintergrund unterschiedlicher Eskalationsintensität ist es hilfreich, verschiedene Stufen von Konflikteskalationen unterscheiden zu können. Die Stufenmodelle Glasls (1997, 2000) sind hier hilfreich, aber relativ differenziert und für schulpädagogische Handlungsfelder recht komplex. Eine wesentliche didaktische Reduktion im Sinne eines einfacher anwendbaren Handwerkzeugs schlägt, abgeleitet von Glasl (2000, 114f,130), Alberstötter (2006a, 36) vor. Er unterscheidet drei Eskalationsstufen, wobei die Intensität und Notwendigkeit der Aktivierung von Beratungs- und Zwangskontexten mit den Eskalationsstufen zunehmen.

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Abb. 9-17: Konflikteskalationsstufen und schulische Reaktionsmöglichkeiten (in Anlehnung an Alberstötter 2006a, 36)

Deutlich wird hier, dass in Situationen, in denen „die Selbstkontrolle des primären Systems versagt und auch professionelle Formen von ‚Hilfe’ (Beratung, Therapie) am Ende sind“, eine Notwendigkeit von Grenzsetzung und Kontrolle von außen entsteht. Dafür muss Schule ebenso wie Gesellschaft über Begrenzungsmacht verfügen, um Machtmissbrauch einschränken zu können (Schwing/ Fryszer 2006, 331) – sei es im Klassenraum (d.h. im Zuständigkeitsbereich Schule) oder im Elternhaus (d.h. im Zuständigkeitsbereich Gesellschaft). „Die Warnfunktion gesellschaftlicher Teilsysteme und die Aufgabe staatlicher Organe [wie Schule408], ihr ‚Wächteramt’ professionell wahrzunehmen, kommen dann zum Tragen“ (Alberstötter 2006b, 196f). Hier wird Kooperation und Vernetzung für die Schule zu einer notwendige Strategie, um hocheskalierende Konflikte überhaupt eindämmen zu können (vgl. Kap. 11.4). Ein zu eng gefasstes Verständnis von Schweigepflicht kann dann problematisch werden, um die Kooperation effektiv zu gestalten (M.Weber 2006a,b).

Grundsätzlich sollten zwei Dinge im Umgang mit Schülern an dieser Stelle nicht vergessen werden. Erstens, autoritäre Konzepte, die den Schwerpunkt des eigenen Blicks auf den Zwangskontext legen „implizieren, dass die Lösung von außen kommen muss. Letztlich führen sie zu Abhängigkeit und auch eher zu einem Selbstbild von Inkompetenz“ (G.Schmidt 2004a, 154). Zweitens sollte berücksichtigt werden, dass Schüler junge Menschen in intensiven und manchmal verwirrenden Reifungsprozessen sind. „Und bist du nicht willig, so gebrauch ich Ge...duld“ (Pleyer 1996, 194), kann dann in als konflikthaft erlebten Situationen ein erster Schritt zur Entspannung von Seiten des Pädagogen sein.

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Schulische Pädagogik kann, da sie mit der nachwachsenden Generation zu tun hat, gar nicht anders, als mit Selbst- und Fremdbestimmung umgehen zu müssen. Unter Rückgriff auf die Unterscheidung zweier Kontexte der Pädagogik lassen sich Auto- und Heteronomie idealtypisch diesen Kontexten tendenziell zuordnen

9.12.3 Auto- und Heteronomie in den pädagogischen Kontexten

Als Modell beinhalten der Angebots- und der Durchsetzungskontext der Pädagogik einen je unterschiedlichen Umgang mit Selbst- und Fremdbestimmung der Heranwachsenden. Das liegt daran, dass die beiden Kontexte Ausdruck der paradoxen Zielsetzung von Schule und Erziehung sind, Selbstständigkeit junger Menschen in einem (gerade ja auch schützend gemeinten, i.d.R. mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden abnehmenden) Rahmen von zumindest teilweiser Heteronomie409 zu ermöglichen. Das Schaubild Abb. 9-16 auf S.356 kann dementsprechend ergänzt werden:

Abb. 9-18: Auto- und Heteronomie auf dem Hintergrund der pädagogischen Kontexte von Angebot- und Durchsetzung als Formen der Lehrer-Schüler-Beziehung

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Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass es in helfenden Berufen günstig sein kann, darauf zu achten, nicht zu viel Verantwortung abzunehmen (Palmowski 1997a,45; Hargens 2003). Es geht dabei aber nicht um ein Entweder-Oder, sondern (wie so häufig in der systemischen Sichtweise) um ein Sowohl-als-Auch: Wer in Situationen diagnostizierter (noch) eingeschränkter Selbstständigkeit von Schülern Lernprozesse unterstützen und vorantreiben möchte, „wird eine Balance finden müssen zwischen Festhalten und allmählichem Loslassen“ (Pleyer 1996, 192), zwischen Fremd- und Selbstbestimmung.

Am linken Rand des Schaubildes – z.B. beim Systemausschluss (bspw. Schulverweis oder Zwangseinweisung eines Schülers in die Psychiatrie aufgrund von Selbst- oder Fremdgefährdung) - ist die Übertragung von Verantwortung auf Schule und andere gesellschaftliche Institutionen des Kontrollkontextes nicht mehr Verhandlungssache mit dem Schüler oder Eltern. Am rechten Rand des Schaubildes wird Schule als Erziehungsfunktion ggf. überflüssig, während sie z.B. in der Oberstufe oder in Teilen der Erwachsenenbildung immer noch eine Auswahlfunktion besitzt. Deutlich wird hier, dass in der gleichen Situation – je nach Blickwinkel der (involvierten) Beobachter - verschiedenen Kontexten parallel Gültigkeit zugesprochen werden kann. Unter hypno-systemischen Aspekten (G.Schmidt 2004a) kann der Lehrer410 durch sein Verhalten den Fokus der Aufmerksamkeit verschieben.

9.12.4 Die Ausgestaltung des Zwangsrahmens

Im Folgenden soll - auf dem Hintergrund des pädagogischen Kontinuums zwischen Durchsetzung und Angebot sowie zwischen Hetero- und Autonomie - die Ausgestaltung des schulischen Zwangsrahmens genauer betrachtet werden. Hierbei wird zurückgegriffen auf die sechs idealtypischen Abstufungen im pädagogischen Umgang mit Zwang und Kontrolle im weiteren Sinne, wie sie im Kapitel 9.12.1 bereits unterschieden und eingeführt wurden, sowie auf die aus der Autopoiese-Prämisse abgeleitete Forderung, dass so viel Freiräume wie entwicklungsangemessen möglich gewährt werden sollten. Gerade der letzte Punkt unterliegt stets der verantwortlichen Interpretation des Pädagogen und ist insofern relativ und – wie der Umgang mit Zwang und Freiräumen immer – für ihn risikobehaftet.411 Zugleich weist die Idee der Selbstorganisation auch auf folgenden, bedeutsamen Punkt hin: Pädagogen, die ein offenes und überzeugtes Ja zum vorhandenen Zwangskontext im engeren Sinne und zum aktivier- und gestaltbaren Zwangskontext im weiteren Sinne geben und offensiv vertreten können, besitzen den Vorteil und die Freiheit, mit Schülern, die aktiv ihre Verantwortung in einem solchen ursprünglichen Zwangsspiel ergreifen, eine Form der Beziehungsgestaltung aufzubauen und zu erweitern, die Regeln aus dem Zwangskontext zunehmend überflüssig machen kann (Pleyer 1996, 195). Unannehmbarem Veralten von Schülern muss der Pädagoge sich effektiv entgegen stellen und zugleich versuchen, Eskalation zu vermeiden bzw. entgegen zu wirken (Omer/Schlippe 2002, 57). In transparenter Weise kann er ‚Produktinformationen’ über Unterstützungsangebote anfügen, die zu einer gleichrangigen und achtungsvollen Kooperation an anderer Stelle und in einem anderen Setting einladen (G.Schmidt 2004a, 67). Das in diesen Zusammenhängen vielleicht am wirksamsten einsetzbare Mittel für den Pädagogen ist die eigene Person und seine Beziehungsgestaltung: „Der Gegenpol von Zwang ist nicht Freiheit, sondern Verbundenheit“ (Martin Buber, zitiert nach Voß 2000b, 34).

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Für die Entscheidung, wo auf diesem Kontinuum es sich in einer Situation oder in einem Entwicklungsprozess zu verorten gilt, können die nachfolgenden Überlegungen hilfreich sein. Aus den bisherigen Überlegungen können nunmehr wichtige Implikationen für die Ausgestaltung der Abstufungen im pädagogischen Umgang mit Zwang und Kontrolle (Abb. 9-16, S.356) entwickelt werden:

  1. Im Bereich der Kontroll- und Disziplinarmaßnehmen müssen neben den gesetzlichen auch die schulhäuslichen Bestimmungen berücksichtigt werden. Die Pädagogik befindet sich hier weit im Bereich der Fremdbestimmung im Sinne einer hierarchischen ‚Top-down-Position’. Der Lehrer (bzw. ein Teilkollegium oder die Schulleitung) haben bereits klare, nicht-verhandelbare Anweisungen gegeben (Kontext ‚bindende Regeln’) und ziehen im hier beschriebenen Bereich Konsequenzen im Sinne von pädagogischen Sonderaufgaben oder Strafen im Zusammenhang mit Unterricht sowie im Sinne von pädagogischen oder auch Ordnungsmaßnahmen. Der Schüler besitzt hier letztlich keinen Einfluss, er wird nicht mehr gefragt (allenfalls befragt). Dennoch ist es günstig, ihm Unterstützungsmöglichkeiten auch weiterhin412 anzubieten. Außerdem sollte von Seite des Lehrers (bzw. der Schule durch Lehrer) ‚Präsenz’ gezeigt werden (Kap. 9.5). Diese erleichtert es dem Schüler, sich in Richtung größerer Selbstständigkeit zu bewegen, und zwar ohne (größeren) Gesichtsverlust. Günstig ist auch, wenn das Schulhaus im Sinne eines Konfliktmanagementsystems klare Zuständigkeiten und Abläufe inklusive etablierter und bekannter Unterstützungsmaßnahmen kennt (Kap. 11.4). Dies kann zugleich ein Weg sein, den Schüler in eine kooperative ‚Kundenposition’ im Beratungsbereich zu bringen (Kap.10.7). Eine Vernetzung mit schulhausexternen Institutionen liegt hier eher im repressiven Bereich.
  2. Auch im Kontext von Auswahl und bindenden Regeln fallen gesetzliche und die schulhäuslichen und die in der Klasse gültigen Regeln ins Gewicht. Letztere sind aber aus Schülersicht deutlich verhandelbarer als gesetzliche Vorschriften oder quasi im ganzen Schulhaus bekannte und praktizierte Regeln. Der Lehrer befindet sich ja in der Position, dass er in der heutigen Postmoderne in der Autoritätszuteilung von seinen Schülern abhängig ist und gleichzeitig aufgrund seiner pädagogischen Funktion Grenzen setzen muss. Er steht also in der Zwickmühle, letztlich die Grenzen so zu setzen, dass er sich einerseits selber (und den Auftragskontext) nicht verrät und andererseits die überwiegende Mehrheit der Schüler der Klasse oder des Kurses diese akzeptieren. Autorität beruht in der Postmoderne nicht auf bloßer Macht sondern vor allem auf ‚Präsenz’ (Kap. 9.5). Auf diesem Hintergrund kann es sinnvoll sein, als Pädagoge unter Wahrung der eigenen Vorstellungen ggf. mit den Schülern Regeln und auch Gratifikations- und Sanktionsmöglichkeiten (Palmowski 2003, 60) zu verhandeln. Günstig kann es hier außerdem sein, den Faktor Zeit mit ins Spiel zu bringen und eine Regelung für einen bestimmten Zeitraum zu etablieren und dann das Ergebnis zu evaluieren.413 Solche Verhandlungen sind triadischer Art, d.h. sie erfolgen unter Hinweis des Pädagogen auf einen Dritten, z.B. das Gesetz und sein Gewissen414. Dies gilt auch für alle Beratungen und Mediationen im Zwangskontext (Kap. 10.5.1.8). Die Einstellung des Pädagogen betont in diesem Kontext die Ressourcen des Schülers und vorhandene Lösungsmöglichkeiten bzw. –fähigkeiten und versucht ggf., ihn als ‚Kunden’ für Beratung zu gewinnen. Auch in diesem Rahmen ist Präsenz zu zeigen, wobei hier die Entwicklung hin zu positiven Anreizen und raus aus expliziten Formen der Umsetzung des Zwangskontextes geht. Eine Vernetzung mit außerschulhäuslichen Institutionen ist hier eher präventiven Charakters.
  3. Ein dritter modellhafter Bereich der Umsetzung des generellen schulischen Zwangsrahmens ist die Arbeit mit positiven Reizen. Diese kann der Lehrer versuchen gezielt vorzugeben, was bei der Unterschiedlichkeit von Schülern in pluralen Lebenswelten sicherlich nicht einfach, vielleicht auch letztlich in Perfektion uneinlösbar ist. Dieser Punkt zeigt dennoch Einflussmöglichkeiten des Lehrers auf, Zwangskontexte zu transformieren bzw. durch die eigene Sicht und das eigene Handeln auch für andere umzudeuten. Der Unterschied zu den bereits genannten Bereichen liegt darin, dass hier explizite Zwangskontexte nicht genannt oder aktualisiert werden müssen. Die Idee des positiven Anreizes passt (insb. aus verhaltenstherapeutischer Sicht) durchaus zu bzw. wird getragen von einer Ressourcen- und Lösungsorientierung. Unterstützungsangebote bedürfen hier nicht mehr der Triangulation. Die Arbeit mit Anreizen bleibt dennoch ein energetisch anstrengendes Unterfangen, weil es der Forderung unterliegt, dass der Lehrer über positive (nicht expliziten Zwang verwendende oder mit ihm drohende) Anreize motivieren muss, wobei der Schüler entscheidet, ob er sich motivieren lässt. In einer Zwangsveranstaltung (die die Schule im engeren Sinne ja bleibt), motivieren zu wollen, kann u.U. zum Burnout führen. In diesem Kontext ist auch denkbar, dass aus Schülersicht einfach positive Anreize vorhanden sind, die nicht notwendig durch Lehrerhand geschaffen wurden. Aus Sicht des Lehrers dienen die Anreize (in dieser dritten Kategorie) eher dem geordneten Verhalten' der Kinder als bereits der Einleitung von Kooperation unter ihnen.
  4. In den vierten Bereich fallen Formen der expliziten Kooperation zwischen Pädagoge und Schüler(n). Wie auch bereits im dritten Zwangskontext im weiteren Sinne' bleibt das Verhalten des Schülers hier primär und eng auf den Lehrer bezogen, der Beziehungsaspekt wird jedoch stärker betont. Vorgehen von Lehrer- wie von Schülerseite wird ggf. besprochen und kann verhandelt werden.
  5. Selbstmotivierte Kooperation der Schüler untereinander bei einem gegebenen einbettenden Rahmen erfordert ein bereits höheres Maß an Individuation (Stierlin 1994) bzw. Differenzierung (Schnarch 2006) auf Seiten der Schüler. Sie kooperieren nicht nur mit dem bzw. bezogen auf den Lehrer und nicht nur aufgrund von expliziten Zwängen oder Anreizen, sondern sie kooperieren untereinander in der Verfolgung eigener Ziele, während sie abweichendes Eigeninteresse anderer als legitim sehen können. Der Lehrer hat hierbei allerdings noch die Aufgabe, einen einbettenden Rahmen bereit zu stellen. Dieser soll v.a. die Kooperation unter den Schülern aber auch zwischen ihnen fördern. Im Unterricht ist dies z.B. die Funktion des pädagogischen Moderators oder Leiters von Gesprächen und Verhandlungen der Schüler untereinander. Die Didaktik richtet sich hier bereits an einer (aus der Außenperspektive) zunehmend selbstverantwortlichen Selbstorganisation der Schüler aus. In diese vierte Kategorie gehören auch kooperative Beziehungen vom Einzelschüler zum Lehrer, die durch einen hohen Grad expliziter Gleichwertigkeit gekennzeichnet sind, u.a. auch Beratungssituationen im engeren Sinne (Kap. 10.5.1.7). Der Lehrer ist in dieser fünften Kategorie Prozessverantwortlicher und tritt als solcher auch in Erscheinung. Das gibt ihm auch die Chance, damit zu beginnen, ebendiesen Rahmen ggf. kooperativ zu verhandeln.415
  6. In einem Bereich mit noch mehr Freiräumen für Schüler findet eigenmotivierte Kooperation in einem nunmehr von den Schülern untereinander selbstverhandelten (und nicht mehr nur einbettenden) Rahmen statt. Dieser selbstverhandelte Rahmen ist zuvor i.d.R.. mit Beteiligung des Lehrers ausgehandelt worden, d.h. der Lehrer war hier selbst - nicht formal, aber im Kommunikationsprozess gleichwertiger - Verhandlungspartner.415 Dies ermöglicht es ihm, sich nunmehr soweit zurückzuziehen, dass er noch intensivere Formen der selbstorganisationalen Didaktik durchführen kann, die er auch nicht mehr durch die differenzierte und explizite Gestaltung des einbettenden Rahmens anstoßen muss. Auf Schülerseite setzt dies allerdings voraus, dass sie über ein Interdependenzverständnis sowie ein hohes Maß an (aus der Außenperspektive konstatierter) Selbstverantwortung verfügen. Der Lehrer, der - systemisch-konstruktivistisch betrachtet - ohnehin immer nur ,bei-steuern' kann, leitet hier letztlich v.a. (nur) noch durch seine Grundhaltungen (Hubrig/ Herrmann 2005, 73), Kommunikations- und Beziehungskompetenzen sowie seine Persönlichkeit. Diese Aspekte stellen dann Sinnattraktoren' dar und sind insgesamt die am wenigsten ,invasive' Form von Präsenz.

Für alle sechs Abstufungen der Zwangskontexte im weiteren Sinne gilt, dass bei nichterfüllten Anforderungen durch die Schüler der Pädagoge freundlich im Ton und bestimmt in der Sache nachhaken und ruhig auf Angebote der Schüler warten sollte. So kann er sein Interesse, seine eigene Überzeugung und seine Wertschätzung ausdrücken (Hargens 2006, 79) - dafür, dass wachsende Selbstverantwortung des Schülers ein hohes und aus seiner Sicht gemeinsam anzusteuerndes Gut ist. Notfalls kann der Pädagoge auch Freiräume wieder enger ziehen.

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Auch in einem Kontext von starkem Zwang können Schüler grundsätzlich in ihrer relativen Entscheidungsfreiheit gewürdigt werden (Schwing/ Fryszer 2006, 333). Hierfür ist allerdings von Anfang an Transparenz – insb. im Sinne des Offenlegens und einer klaren Definition der Ausgangslage - erforderlich. Für alle die gerade genannten Formen der Ausgestaltung des generellen schulischen Zwangsrahmens gilt, dass der Pädagoge - aus einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive - die Schüler als selbstorganisierende, lebende Systeme ernst nehmen und insofern auf Metakommunikation, Transparenz und Präsenz besonderen Wert legen sollte.

9.12.5 Metakommunikation, Transparenz und Präsenz im Zwangskontext

Metakommunikation, Transparenz und Präsenz würdigen und stärken – in beiden Kontexten des Pädagogischen – die Autonomie, Kompetenz und Gleichrangigkeit des Gegenübers (G.Schmidt 2004a, 84). Im Bereich der expliziten Umsetzung von Zwangsmaßnahmen besteht Transparenz u.a. darin, dass die geltenden Regeln bekannt sind und unter Aspekten von Verhältnismäßigkeit konsequent umgesetzt werden. Dazu gehört auch im Sanktionsfall die Regel, gegen die verstoßen wurde, zu benennen. Zusätzlich kann und sollte hier auf bestehende Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten (innerhalb und außerhalb des Schulhauses) hingewiesen werden. Die Situation und Kommunikation bleiben aber konfrontativ und verbindlich und werden nicht durch Hinweise auf Triangulation abgeschwächt. Die besondere Kunst besteht hier darin, „selbst bei einem hohen Konfliktpotential kleine Veränderungen in Richtung Deeskalation wahrzunehmen [...Dann] können positive Rückmeldungen zu einer heilsamen Irritation in einer Negativkultur [...von] Entwertungen werden“ (Alberstötter 2006a, 50). Alle anderen fünf Kontexte, beginnend mit triangulatorischen Situationen, müssen darüber hinaus immer wieder die Metaebene einführen und ggf. Kommunikation und Beziehung aus der Metaposition benennen, um (zunehmende) Kooperation und Schülerselbstständigkeit zu ermöglichen (G.Schmidt 2004a).

In allen Kontexten sind Formen der Präsenz umzusetzen. Die von Omer/ Schlippe (2002, 2004) vorgeschlagenen Ideen der Präsenz im Elterncoaching sind i.d.R. nicht ohne die Eltern und günstigenfalls eher in einer externen Beratungsstelle als in der Schule durchzuführen. Die dahinterstehende Grundhaltung klarer und gewaltfreier Eigenpositionierung bei grundsätzlicher Kooperationsbereitschaft unter von der formalen Machtseite bestimmten Bedingungen ist allerdings auch für Schule hilfreich und auf sie übertragbar..

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Damit ergibt sich aus Sicht der hier vertretenen Form der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik das abermals ergänzte Schaubild Abb. 9-19 auf S.371. Dort sind die Zwangskontexte ‚positiver Anreiz’ (weiter oben Punkt 3) und ‚partnerschaftliche Kooperation’ (weiter oben Punkt 4) in einen Punkt zusammengefasst.416 Das Schaubild wird im unteren Bereich für alle fünf genannten Bereiche von ‚Zwangskontexten im weiteren Sinne’ ergänzt durch: Möglichkeiten der Einflussnahme von Schule (als Bildungssystem) und des Schulhauses, Verhaltensbeschreibungen von Schülern und Lehrern und Möglichkeiten des Einbezugs von Eltern und schulhausexternen Institutionen.

Die in Kap. 7.2 erwähnten systemischen Grundhaltungen gelten für alle aufgeführten Zwangskontexte und werden im Schaubild nicht extra erwähnt. Es hält jedoch einige weitere Aspekte systemisch-konstruktivistischer Pädagogik fest, die im Zwangskontext Schule abrufbar und anwendbar sind. Die Anführung dieser Gesichtspunkte dient dem Vergleich mit anderen Modellen zum Umgang mit schulischem Zwang im folgenden Kapitel.

Abb. 9-19: systemische Pädagogik und Zwangsveranstaltung Schule

9.12.6 Unterschiede zu anderen pädagogischen Modellen

▼ 393 

Das hier dargestellte Modell des Umgangs systemisch-konstruktivistischer Pädagogik mit schulischen Zwangskontexten hat in Teilen natürlich seine Vorläufer, von denen es Stärken übernommen hat und von denen es sich auch abgrenzt. In Rückgriff auf die Alltagspsychologien der letzten Jahrzehnte und ihre Sicht auf Schule und Erziehung (Kap.6.1) sollen Ähnlichkeiten und Unterschiede der Modelle verdeutlicht werden. Zugleich kann diese Gegenüberstellung auch Pädagogen eine Möglichkeit bieten, eigene Identität und Stärken zu verorten sowie unterschiedliche Sichtweisen von Kollegen, Eltern und Schülern einzuordnen und ggf. (systemisch-respektlos) zu hinterfragen.

Der Blick auf die Vorteile der jeweiligen Modelle, wie er in diesem Kapitel unternommen wird, folgt (auf Form-Ebene) der systemisch-konstruktivistischen Ressourcenorientierung und (auf Inhalts-Ebene) dem in dieser Arbeit entworfenen Modell systemisch-konstruktivistischer Pädagogik.

Im ersten Unterkapitel wird idealtypisch eine Sichtweise von schulischen Zwangskontexten konstruiert, die in ihnen einen Schwerpunkt pädagogischer Beziehungsgestaltung erblickt (50/60er Jahre, Kap. 9.12.6.1). Gegenüber gestellt wird in Kap. 9.12.6.2 eine Sicht, die versucht, auf Zwangsmaßnahmen und Zwangskontexte im weiteren Sinne (möglichst) gänzlich zu verzichten (späte 60er und 70er Jahre). Abschließend wird ein eher globalisierungsgeprägtes Modell konstruiert, in dem Selbstorganisation und Konkurrenzdruck sich zu einem indirekten Zwangsrahmen ergänzen (90er Jahre, Kap. 9.12.6.3).

9.12.6.1 Zwang als Schwerpunkt pädagogischer Beziehungen

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Wie bereits in Kap.6.1.1 beschrieben, zeichnete sich die Pädagogik der 50er und teilweise auch noch der 60er Jahre dadurch aus, dass Zwang, Anweisung und Kontrolle als Grundlage und Schwerpunkt pädagogischer Beziehungen galten. Das Menschenbild war ein deutlich mechanistisches. Innerhalb des generalisierten Schulzwangs ergaben harte Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen sowie klare und wenig Abweichung erduldende Regeln in Schulhaus und Unterricht einen den Schüler weiter einengenden und zugleich eher starr orientierenden Zwangsrahmen bei einer klaren formalen Hierarchie. Über ein aus heutiger Sicht vergleichsweise hohes Maß an Fremdbestimmung sollte Selbstbestimmung der jungen Menschen für eine vergleichsweise weniger veränderungsdynamische Gesellschaft mit eher einheitlichen und starren Werten erreicht werden. Die Vorstellungen von Beeinflussung und Lernen folgten dem mechanistischen Modell direkter Übertragbarkeit, die ggf. durch harte Zwangsmaßnahmen sicherzustellen war.

Abb. 9-20: mechanistische Sicht (50/60er Jahre) auf den Zwangsrahmen von Schule

Auch wenn eine solche Sicht für den Beginn des 21. Jahrhunderts sicherlich wenig(er) ‚passend’ ist, so kann doch anerkannt werden, dass eine solche Pädagogik sich nicht nur durch die Bereitschaft auszeichnet, in Auseinandersetzungen Grenzen überhaupt ziehen zu wollen, sondern auch durch die Fähigkeit, zu einer strikten und klaren Grenzziehung greifen zu können. Für (experimentelle) Selbstorganisation der Schüler bleibt freilich eher wenig Platz.

9.12.6.2 Verzicht auf Zwangsmaßnahmen

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Mit den kulturellen Umwälzungen in Westdeutschland ab Mitte der 60er Jahre (vgl. Kap.6.1.2), setzt sich dort zunehmend ein Modell verständnisvollen, gleichberechtigten Umgangs in der pädagogischen Beziehungsgestaltung durch. Der Lehrer steht, konsequent gedacht, auf der gleichen Ebene wie die Schüler, als Gleicher unter Gleichen. Große Freiräume zur Selbstorganisation (sollen) entstehen. Verständnis äußernde Erklärungen und Ratschläge bei gleichzeitigem (möglichst weitgehenden) Verzicht auf Kontroll- und Zwangsmaßnahmen versuchen, den generalisierten Zwangsrahmen zu kompensieren oder gar zu negieren. Auch im Kontrollbereich bleibt die Beziehung nicht nur gleichwertig, sondern auch gleichrangig und gleichberechtigt (waagerechter Pfeil).

Abb. 9-21: ‚verständnisvoll-humanistische’ Sicht (70/80er Jahre) auf den Zwangsrahmen von Schule

Wenngleich in heutigen Zeiten teilweise ‚grenzen-loser’ Erziehung die Verantwortung des Pädagogen für eine angemessene Gestaltung von Kontroll-, Zwangs- und Feedback(/Berwertungs)fragen als Teil von Pädagogik wieder stärker zu werden scheint, so kann und muss dem humanistischen Ansatz – auch in seiner eher alltagspsychologischen Ausprägung – doch angerechnet werden, vielfältige Aspekte ins Blickfeld der praktischen und theoretischen Pädagogik gebracht zu haben. Diese sind auch für das Verständnis einer systemisch-konstruktivistischen Pädagogik, wie es in dieser Arbeit vertreten wird, wichtig.

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Beziehungsgestaltung, Kommunikation, Lehrerauftreten und ‚-persönlichkeit’ werden wichtig, insb. Empathie und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel. Machtfragen und unterschiede werden aus- und angesprochen sowie Möglichkeiten von Machtmissbrauch zwischen den potenziell Betroffenen frühzeitig diskutiert. D.h., es wird eine Metaebene in die verbale Kommunikation der (als gemeinsam definierten und erlebten) Beziehung eingeführt. Ebenso werden Fragen der (Gleich)Wertigkeit und nach Rechten von Schülern aufgeworfen und in den Kommunikationsraum aktiv eingeführt. Der Exkommunikation von Schülern, die durch das bürokratisch-technische System Schule zumindest in Teilen vorprogrammiert ist, wird offensiv begegnet. Selbstorganisationsräume werden zunehmend gesehen und geöffnet (wenngleich teilweise vielleicht noch eher blind gegenüber dem generellen Zwangskontext im engeren Sinne von Schule) und (unter Gleichen) verhandelbar. Vorgehen, Funktionen und Verantwortlichkeiten werden verhandelbarer. Und – zumindest gesellschaftliche und familiäre – Rahmenbedingungen werden entschuldigend und in einer das Individuum entpathologisierenden Weise ‚in Rechnung gestellt’; d.h. Kontexte werden berücksichtigt, die individuenzentrierte Sichtweise von Problemen tritt langsam in den Hintergrund.

9.12.6.3 indirekter Zwang durch Konkurrenzdruck

Ab Mitte der 80er Jahre entwickelt die Globalisierung eine Kraft, die sowohl von einer Deregulierung (quasi eine Verringerung der Einengung von Rahmen) als auch von erhöhtem Konkurrenzdruck begleitet wird (vgl. Kap.6.1.3). Zwangsrahmen – v.a. staatlich festegelegte - gelten als unzeitgemäß und unverhältnismäßig einengend; sie zu unterlaufen wird legitim. Der sich selbst organisierende Ausgleich von Kosten-Nutzen-Perspektiven – hier folgt die Logik des Modells spieltheoretischen Marktideen – führt quasi automatisch zu einer „Form des fairen, kooperativen Wettbewerbs“, zu ‚co-opetition’417 (Pinnow 2005, 20). Der Lehrer dient allenfalls als derjenige, der individuell fördert, ggf. Anreize zur Verfügung stellt oder, als Konkurrent zur medialen Welt, als Unterhalter agiert. Schule ist auf der ‚Durchsetzungsseite’ der Pädagogik eigentlich nur als Auswahlinstitution (gesellschaftlich) relevant, in der Schüler sich bei Chancengleichheit gegenüber stehen. Transparenz des eigenen Verhaltens ist dann weniger wichtig als ggf. die Klarstellung und Betonung der eigenen Konkurrenz- und Kampfbereitschaft.

Abb. 9-22: ‚Globalisierungspädagogik’-Sicht (80/90er Jahre) auf den Zwangsrahmen von Schule

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Allerdings finden sich im Modell der ‚Globalisierungspädagogik’ wichtige systemisch-konstruktivistische Ideen. Deutlich benannt werden von diesem Modell z.B. die Relativität von Weltbildern, die Forderung nach einer erhöhten Eigenverantwortung418, die explizite Einführung von Interessenwahrnehmung in den Kommunikationsraum, was zu einer Notwendigkeit von Verhandlungen führt. Der Abgleich bzw. das Aushandeln von Zielen ermöglichen Selbstorganisation, die einen hohen Stellenwert bekommt. Wer sich selbstorganisiert, sind unterschiedliche Individuen, deren Differenz explizit bereichernd sein kann.

Der Lehrer braucht dann eigentlich nicht zu steuern; er dient am ehesten als Motivator.419 Schlechte Schulleistungen liegen an der mangelnden Motivationskompetenz des (noch) gegenwärtigen Schulsystems oder des Lehrers (wobei letzterer ggf. ‚Co-opetition’ verhindernde Aspekte des Schulsystems durch seine Motivierungsfähigkeiten kompensieren können soll). Wer sich nicht an die (konkurrenzbetonenden) Regeln hält, fällt aus dem Spiel heraus bzw. soll durch den Lehrer über Anreize in den Austausch zurückgeholt werden. Die Autorität des Lehrers liegt in seiner Haltung, diese ist allerdings auf ein souveränes Beobachten und minimales Intervenieren beschränkt. Sein Kommunikationsstil ist also wichtig, bekommt aber im Vergleich zum humanistischen Modell insofern einen weniger wichtigen Stellenwert, als die Beziehungsgestaltung zu den Schülern nicht so bedeutsam ist. Eine ‚funktionale’ Beziehungsgestaltung (vgl. Kap. 9.2.2) reicht aus. Diese Sichtweise reduziert systemische und konstruktivistische Aspekte auf bloße Selbstorganisationsprozesse unter Vernachlässigung von Beziehungs- und Kommunikationsprozessen in Lehr-Lern-Umfeldern. Dieses Modell birgt daher auch die Prämissen für eine – aktuell durchaus zu beobachtende Gefahr der – finanz- bzw. sparorientierten Durchökonomisierung von Schule durch den Staat. Es kann eine Schul-Bürokratie mit ungenügender finanzieller Ausstattung dazu einladen, sich aus der Verantwortung für die aktive Gestaltung von Bildungsprozessen in der Gesellschaft schrittweise immer weiter zurückzuziehen.

Anhand des Globalisierungsmodells wird auch deutlich, dass der generelle Zwangscharakter von Schule zwar historisch gesehen ab einem bestimmten Zeitpunkt vom (sich industrialisierenden) Staat durchgesetzt wurde und wird, aber keineswegs unabwendbar oder prinzipiell nötig ist. In diesem Modell macht der staatlich verhängte Zwangscharakter von Schule allenfalls deshalb Sinn, weil die (Aus)Bildung einer ausreichenden Anzahl von Mitgliedern des Wirtschaftssystems sich für den Staat ökonomisch auszahlt. Denkbar wären hier aber auch Sichtweisen wie, dass es ökonomisch preiswerter kommt, ausgebildetes junges Humankapital von außerhalb ins Wirtschaftssystem einzuführen oder eine gewisse Prozentzahl nichtvermittelbarer Arbeitsloser zu akzeptieren und so vergleichsweise unrentable staatliche Bildungskosten für entsprechende Schulbereiche zu sparen.

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Demgegenüber geht eine systemisch-ressourcenorientierte Sicht, die Lernen als kommunikativen und begleiteten Prozess versteht, von anderen Prämissen aus - wie z.B. dass Kinder der Reichtum einer Gesellschaft sind420 und der Bereich von Erziehung und Bildung daher umfangreiche finanzielle Ausstattungen durch den Staat erhalten sollte.

In diesem Kapitel 9 wurde das in dieser Arbeit vertretene Modell systemisch-konstruktivistischer Pädagogik - insb. gegenüber Kapitel 7 - um weitere wichtige, idealtypische und konkrete Bestandteile ergänzt und ausdifferenziert. Im Mittelpunkt stand dabei die Wichtigkeit einer (für Lehrer und Schüler ressourcenorientierten) Beziehungsgestaltung unter besonderer Berücksichtigung des Zwangsaspektes des Schulbesuches. Das nächste Kapitel führt die bisherigen Überlegungen noch einen Schritt weiter und sucht nach den Implikationen systemisch-konstruktivistischer Sichtweisen für den schulischen Beratungskontext.


Fußnoten und Endnoten

293  im Interview mit der Zeitschrift ‚emotion’ (12/2006)

294  Insofern beruft sie sich nicht nur auf Inhalte und Anhaltspunkte bisheriger Veröffentlichungen, sondern ergänzt diese zum Teil auch, v.a. in den Kapiteln 9 bis 11. Dabei werden auch auf die bisherigen Ausführungen zu schulischen Rahmenbedingungen berücksichtigt.

295  Ähnliche Begrifflichkeiten bzw. Begriffspaare finden sich in der Literatur, z.B. begrenzen und bekräftigen (Nolting 2002, 71); fördern und fordern (Schwing/ Fryszer 2006, 331), institutionell-sanktionierend und beratend-fördernd (Hubrig/ Herrmann 2005, 124), Beratungs- und disziplinarischer Kontext (Hubrig/ Herrmann 2000, 153), Vertreter der Schulregeln und helfende Berater (Hubrig/Herrmann 1997, 169), verstehende Zuwendung und Anspruch/Führung (Bauer 2007c, 39,54,58), Regeleinhaltung und Hilfe (Hubrig/ Herrmann 2005, 66), Kontrolle/Sanktion und Hilfsangebote (Palmowski 1997,46 und 1998, 21), Fürsorge und Kontrolle (Schwing/ Fryszer 2006, 331); Supervisorenrolle und Wärter-/Polizistenrolle (Pleyer 1996, 188), Festhalten und Loslassen (Pleyer 1996, 190), Festigkeit und Liebe (Omer/Schlippe 2002, 25), normativer und Problemlösekontext (Ruf 2005, 62), Lenkung und Freiheit (Bergmann 2001, 185); Liberalität und regelorientierte Konsequenz (Zangerle 1998, 46), klassischer Berater und Vertreter schulischer Normen (Storath 1998, 66); struktureller Auftrag der Sozialkontrolle und zwischenmenschliches Angebot an unterstützender Beratung (Storath 1998, 67), Aufsicht und Kontrolle und Veranlassung anderer zu Entwicklung zu Verhaltensveränderung (Schwing/ Fryszer 2006, 329f); Beamter und Künstler (Reinhard 2002, 54); Spiel zwischen Unterstützung und Herausforderung (Omer/Schlippe 2002, 88).

296  „Die Zeit des Wartens ist die Zeit der beruhigenden, Geduld spendenden Autorität“ (Bergmann 2001, 118).

297  So auch Siebert: „Lehre ist ein Angebot“ (Siebert 2006, 160).

298  „Die zentrale Problematik [...] in der gegenwärtigen Gestaltung der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler kann [...] darin gesehen werden, dass der Lehrer den Unterrichts- und Erziehungsauftrag nicht vom Schüler selber hat“ (Palmowski 2004a, 51) sondern (eher soziologisch betrachtet) von der Gesellschaft oder (eher rechtlich-politisch betrachtet) vom Staat.

299  und nicht etwa umgekehrt, wie es vom schulischen Organisationsrahmen – Schule hat die Funktion der Auswahl - her gedacht ist: Der Schüler soll und muss, um später Zugang zu entscheidenden gesellschaftlichen Ressourcen zu haben, seine Versetzung anstreben und sich dementsprechend der Klasse, dem Lehrer und dem Schulhaus gegenüber verhalten (Kap.6.2).

300  Ob der ‚Schüler’ entscheidet oder die ‚Nachfrage’ eines Schülers, kann für die Konzeptionierung der Beziehungsebene (z.B. rein funktional vs. persönlich) einen Unterschied machen (Kap.9.2).

301  Das System sei in Unordnung, wenn „die inoffiziellen Regeln der Schüler und Eltern bestimmen, was gilt, sie bekommen Macht ohne Verantwortung“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 124). Vgl. dazu auch Weber 2002.

302  Was im Sinne des Vorlebens des achtsamen Umgangs mit eigenen Ressourcen durchaus legitim sein kann.

303  Omer/Schlippe (2002, 167) ergänzen, dass sich zurückgesetzt fühlende Kinder durch Beschwichtigungen und Wiedergutmachungsversuche der Eltern eher in ihrer Sichtweise und vor allem anklagenden Handlungsweise im Sinne eines Teufelskreislaufs bestätigt sehen.

304  Auch Lehrer werden Opfer von Beleidigungen und anderen (auch körperlichen) Übergriffen (vgl. die entsprechenden Ausführungen in Kap.2.1).

305  vgl. Kap.10.5.1.1.

306  direktem Schulzwang: bis zur neunten Klasse werden Schüler ggf. durch die Polizei der Schule zugeführt; und indirektem schulischem Zwang: noch immer entscheidet Schule bis zum Abitur (über dessen Erreichen die Lehrer entscheiden) über Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen mit (vgl. auch Kap.9.12).

307  Dass Kinder am besten ihre Konflikte allein lösen, gilt spätestens dann nicht mehr, wenn sie sich mit ihrem Verhalten deutlich im Kontrollkontext befinden. Aber auch vorher schon können Unterstützungen (z.B. mediative Verfahren) ihnen in ihrer Entwicklung helfen, solange der Pädagoge im Blick hat, nicht mehr als das Nötige zu tun. Zu viel Unterstützung hat langfristig entmündigende Wirkungen.

308  Omer/Schlippe (2004, 57) sprechen in diesem Zusammenhang auch davon eine „,innere ‚Stoßdämpfer’-Einstellung gegen die Provokationen und Ausdrucksformen der Feindseligkeit zu entwickeln“.

309  Versöhnungsgesten und -angebote erfolgen im Gegensatz zu Besänftigungsgesten als Beziehungssignale ohne Bedingungen (Omer/Schlippe 2004, 61) und sind genau dadurch ein Signal der Stärke.

310  In etlichen Situationen kann es angebrachter sein, sich lediglich als Erwachsener selber schützen zu wollen, als auch noch den jugendlichen Schüler erziehen zu wollen in dem Sinne, dass er doch einsehen müsse, was für ihn gut sei. Ein solches Vorgehen würde die Selbstorganisationskräfte im Schüler entmündigen. Unfruchtbare Diskussionen können durch die explizite Akzeptanz der Selbstverantwortung des Schülers für die Werte, für die er sich ‚momentan für sein weiteres Leben’ entscheidet, vermieden werden. Die Konsequenzen seiner Handlungen muss er dann aber auch selber tragen. Gerade eine eskalierte Situation kann dadurch deeskaliert werden, dass die Ansprüche auf Bewusstseinsebene verändert werden (der Schüler muss nicht zustimmen), während sie auf Verhaltensebene aufrecht erhalten bleiben (er muss sein Verhalten ändern oder Konsequenzen auf sich nehmen). Erwachsene Eltern oder Pädagogen können dann ggf. auf Anleitungen und Anordnungen verzichten, aber nach dem Motto handeln: ‚Wir respektieren deine Grenzen und werden dafür sorgen, dass du unsere respektierst’ (Omer/Schlippe 2002, 183).

311  Gut gemeinte, aber übertrieben Hilfe kann entmündigend wirken und zu Fürsorge werden. Dann wird Fürsorge gewährt „nach Maßgabe der sozialen Instanz, des eigentlichen ‚Auftraggebers’“ – und nicht mehr Hilfestellung gegeben, die sich „nach dem mit dem/den Betroffenen frei ausgehandelten ‚Auftrag’“ richten würde (Ludewig 2002, 173).

312  Im Original bezieht sich diese Textstelle auf die Eltern. Viele Aspekte des Präsenzkonzepts von Haim Omer lassen sich aber vom Prinzip her problemlos auf schulische Kontexte übertragen, allerdings muss berücksichtigt werden, dass Eltern die Erziehungsberechtigten sind und für das Kind i.d.R. weitaus wichtiger und bedeutender sind als die anderweitig begleitende Pädagogen.

313  Vgl. hierzu Omer/Schlippe (2004, 54 Fußnote): „’Nicht mehr die Schwester schlagen’ genügt als Ergebnis für den gewaltlosen Widerstand. Hingegen könnte ein Ziel wie ‚freundlich zu ihr sein!’ von dem Jugendlichen als aversive Gernzüberschreitung erlebt werden“, da ihm hier eine totalitär anmutende Sei-spontan-Paradoxie auferlegt wird.

314  Nach Rotthaus ist es ein „Recht“ der Kinder, Forderungen oder Ratschlägen nicht nachkommen (ebenda).

315  Der Lehrer ist hier zweifach unterlegen. Zum einen zeigt die Situation, dass er drohen zu müssen glaubt, dass er davon ausgeht, dass die Gegenseite ihm die Zuerkennung von Autorität/ Kompetenz entzogen hat. Zum zweiten will er in dieser Lage etwas vom Schüler (ein Verhalten, das unterlassen oder gezeigt werden soll), so dass er (solange der Schüler nichts von ihm will) in die Position des psychologisch Unterlegen kommt (Kap9.1.9).

316  Mehr zu Aspekten von Selbstvalidierung in Kap.9.5.4.

317  Psychologisch ist es hingegen so, dass Lehrer, die außer Frontalunterricht auch aktivierende Methoden einsetzen, ohne die Aktivität und Mitarbeit von Schülern keinen Unterricht machen können.

318  Für den für Schüler besteht Anwesenheitspflicht.

319  Bei einem Überprüfungsverfahren auf Förderschulbedarf bspw. kann der Förderschulpädagoge sich selbst durch sein Verhalten z.B. im Beratungskontext zu etablieren versuchen. Wollen die Eltern aber keine Ratschläge bekommen, so wird er sich in seinem Verhalten ggf. stärker im Auswahlkontext wiederfinden. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass im schulischen Kontext Gespräche mit Schülern und Eltern nur selten reine Beratungsgespräche sind.

320  vgl.Kap.5.1.

321  Carl Rogers hat bereits 1942 beide Berufsrollen als nicht in einer Person vereinbar gesehen (Palmowski 1997c, 100 unter Verweis auf Rogers 1994 [Original 1942]). Dass beide Funktionen verschiedene innere Logiken verfolgen und unterschiedliche Dynamiken hervorrufen, verhindert nicht, sie als Pädagoge kontextbewusst und zeitabhängig in einer Person ausgestalten zu können.

322  Einige kurze Beispiele sollen dies verdeutlichen: Ein zwölfjähriger Fünftklässler hat auf dem Pausenhof einen Mitschüler mit einem Klappmesser bedroht, dessen Besitz für ihn gesetzlich verboten ist, aber richterlich nicht bestraft wird. Die Schülerin einer sechsten Klasse schreibt an die Klassenlehrerin einen Brief, in dem sie sich mehr Ordnung in der Klasse wünscht, so dass die Lehrerin sich fragt, ob sie den Brief verlesen und darüber diskutieren lassen oder ob sie das Gewünschte einfach durchsetzen soll. Ein Lehrer trifft einen ihm bekannten Schüler der achten Klasse während der Pause rauchend außerhalb des Schulgeländes, was verboten aber von der Schulkultur faktisch, auch von der Schulleitung, toleriert wird und üblich ist.

323  auch: ‚Positionsmacht’ (Martin/ Schuster 2005, 55).

324  auch ‚Identifikationsmacht’ (Martin/ Schuster 2005, 56).

325  Reden von Seiten der Erwachsenen wirkt dann „wie eine Garantie dafür [...], dass das Kind weiter tun kann, was es will. Aus diesem Grund versuchen viele Kinder, besonders Adoleszente, ihre Eltern in Streitgespräche zu verwickeln. Sie wissen aus Erfahrung, dass die Eltern nicht handeln, solange sie argumentieren“ (Omer/Schlippe 2004, 41).

326  In einem späteren Kapitel (10.5.3) werden Formen der Beziehungsgestaltung speziell für den Beratungsbereich dargestellt.

327  Bei der hier von mir angestellten Betrachtung der Aspekte von Geben und Nehmen in Schule gehe ich von Tendenzen aber nicht von einer Gleichsetzung (Lehren = Geben; Lernen = Nehmen) aus (vgl.a. Hartmeier 2004, 115).

328  Man kann dies auch ganz anders betrachten: immerhin geben Kinder und Jugendliche viele Jahre ihres jungen Lebens (gut acht- bis zehntausend Stunden), um in der Schule anwesend zu sein.

329  Parentifizierung: das Drängen in eine Elternrolle

330  Bauer (2007c, 76) spricht von „Liebe zu Kindern und Jugendlichen“ als Voraussetzung für den Lehrberuf, übrigens neben den Faktoren Liebe fürs und Kompetenz im eigenen Fach, Lebensfreude, Kontaktfreudigkeit, Sensibilität im Umgang mit anderen und Humor.

331  Gemeint sind hier ausdrücklich nicht Auffassungen aus dem psychoanalytischen Bereich, für den jegliche Beziehung eine erotische Beziehung ist im Sinne der erotischen Übertragung: „Die Erotik bildet die tiefste Grundlage des unbewußten Phantasieerlebens. Die ersten Erfahrungen des Säuglings [...] sind eingebettet in die präödipale Erotik von Mutter und Kind. [...] Die Befriedigung erotischer Wünsche wird zur wertvollsten und zugleich schmerzlichsten aller menschlichen Erfahrungen. Augrund ebendieser Eigenschaften schafft die Erotik psychische Bindungen“ (Mann1999,15).

332  Die Abkürzungen ‘L’ und ‘S’ bedeuten Lehrer bzw. Schüler.

333  the Zaddik (Judentum), the curer of souls (Christentum), the compassionate Buddha, the master of tao, the teacher of ethics (Konfuzianismus)

334  als „a counselor who will set down precepts by which other men may be guided” (Kopp 1971, 77), in der Antike, insb. bei den Stoikern, wie z.B. Seneca.

335  Hierbei geht es nicht, wie zurzeit teilweise in der Diskussion, um das Erlernen von geschliffenen oder auch grundlegenden gesellschaftlichen Umgangsformen (engl. ‚manners’), sondern um eine Verkörperung des Guten und Schönen durch eine Transformation des Selbst (Kopp 1971, 83).

336  „A total development of the child can be brought about only when there is the right relationship between the teacher, the student and the parents“ (Krishanmurti 2004, 6).

337  in geringerem Maße bei Eintritt in den Kindergarten

338  Zu Erziehungsschwierigkeiten und Schulproblemen auf interkulturellem Hintergrund vgl. Schlippe et al 2004, 207ff.

339  jedenfalls nach Auffassung entsprechender, hier: schulischer Beobachter, die dies fest(zu)stellen (glauben).

340  Problemsysteme sind Kommunikationssysteme, die von Beteiligten um auffälliges Verhalten eines als auffällig definierten Menschen gebildet werden. Sie sagen zunächst, systemisch-konstruktivistisch gesehen, nichts über die (Charakter-)Eigenschaften des Symptomträgers aus.

341  An der Stelle sei darauf hingewiesen, dass dies für Pädagogen mit familientherapeutischen Ansätzen (wie z,B. Hennig) „sehr oft“ (Hennig/ Knödler 2000, 14) der Fall ist, während Vertreter anderer Ansätze ausdrücklich vor einem Automatismus nach dem Motto ‚auffälliges Kind = kaputte Familie’ warnen (z.B. Omer, G. Schmidt), da dies zu kurz greifen und alternative, ggf. sinnvollere Handlungsweisen verbauen kann. Familientherapeutische Herangehensweisen bergen außerdem die Gefahr, Familien zu defizitär zu beschreiben (G.Schmidt 2004a, 31)..

342  Er meint damit v.a. schlechte Beurteilungen und Noten.

343  Konkretere Beispiele in Hennig/ Knödler 2000 auf S.45-59; Systemfunktionen in verschiedenen Familientypen oder familiärer Entwicklungsphasen auf S:69-89.

344  Neuere Konzepte schlagen hier eher Elterncoaching vor als Familientherapie (z.B. Omer).

345  Die Zuordnung eines realen Falles zu einer dieser Kategorien kann sich schwierig gestalten (z.B. bei einem Mehrgenerationenkonflikt in der Familie können alle vier Kategorien betroffen sein). Das verhindert aber nicht, dass dieser modellhaft-strukturierende Blickwinkel die Chancen für die Vielfalt und kontextuelle Angemessenheit von Reaktionen von Seiten eines Pädagogen bzw. von Schule erhöht.

346  Hargens spricht in diesem Zusammenhang von der Normalität von „Multi-Ziel-Familien“ (Hargens 2006, 77).

347  Nochmals sei darauf hingewiesen, dass nicht jedes auffällige Verhalten Gründe in der Herkunftsfamilie haben muss. Es gibt von Schülern gezeigte oder ihnen attribuierte Probleme, die in der Schule entstehen und dort gelöst werden müssen (und sich häufig z.B. mit einem Lehrer- oder Klassenwechsel geben), wie z.B. unangemessenes Lehrerverhalten. Es gibt auch genetische und bio-chemische oder neurologische Erklärungen. Reinhard (2003), Hubrig/ Herrmann (2005) und andere haben allerdings darauf hingewiesen, dass zurzeit neurologische und bio-chemische Erklärungsmuster für Verhaltensweisen herangezogen werden, die effektiv über therapeutische oder beraterische Maßnahmen bearbeitet werden könn(t)en.

348  oder auch den (besonders robusten, energetischen usw.) Genen (G.Schmidt 2004b).

349  Die Vertreter von Ordnungen in Familien und Organisationen sehen hier folgende Hierarchie: „Erst kommen die Eltern, und dann kommen die Kinder, und dann kommen die Lehrer. Das ist die Ordnung. Eltern vertrauen die Kinder den Lehrern an, und die Lehrer vertreten dann die Eltern den Kindern gegenüber. Sie können das nur, wenn die Eltern einen Platz im Herzen der Lehrer haben. Jeder Lehrer, der meint, er sei besser als die Eltern, hat bereits verloren. Ein Kind liebt seine Eltern, wie immer sie sind, nicht den Lehrer“ (Hellinger et al 2000, 32). Zur Diskussion um Hellinger und, ob er überhaupt in den systemisch-konstruktivistischen Bereich zu zählen sei, sei verwiesen auf: Weber/Schmidt/Simon 2005. G. Schmidt (2004a, 192) stellt dem ‚Wissen über richtige Ordnungen’ den Begriff der „systemischen Demut“ entgegen, die die Verantwortung für die Brauchbarkeit von Thesen ausdrücklich beim begleiteten Gegenüber belässt. Problematisch an Hellinger ist aus konstruktivistischer Sicht sicherlich die Idee von Wahrheitsbesitz im Bereich der Ordnungen. Dennoch gibt es bei ihm interessante Aspekte. Hier ein weiterer aus der gleichen Quelle: „Das Größte, was es gibt – ist die Würde. Und das größte Geschenk ist, jemand in seiner Würde anzuerkennen und in seiner Größe und in seiner Besonderheit – wie immer sie ist“ (ebenda, S.78). - Franke-Gricksch (2001, 172) weist als ausgewiesene Vertreterin des Hellinger’schen Ansatzes in und für Schule explizit darauf hin, dass es nicht zum pädagogischen Auftrag des Lehrers gehört, Familien aufzustellen, und rät davon ab. Zur Diskussion um Aufstellungsarbeit in Schule vgl. auch: Gómez Pedra 2000a, Brena 2004, Balgo 2004.

350  Zur bes. Problematik alleinerziehender Mütter vgl. Omer/Schlippe (2002, 70ff).

351  G.Schmidt (2004b) warnt vor einer „milden Paranoia“, die entstehen kann, wenn der Berater seinen Focus auf Dysfunktionalitäten in Familien richtet und damit rechnet, dass die Familie Gegenregulationen vornehmen wird, um die Nichtveränderung des Problemsystems und damit der Familie sicher zu stellen, denen dann wiederum in weiser Voraussicht von Therapeutenseite mit paradoxen Mitteln frühzeitig entgegen gewirkt werden muss.

352  Pleyer, Leiter einer Tagesklinik für Kinder, ergänzt (ebenda): „Wir erwarten von den Eltern von Beginn an, dass sie die Zusammenarbeit mit uns sofort beenden, wenn sie mit einer der Maßnahmen nicht einverstanden sind oder wenn sie sich keine Hilfe davon versprechen. Ihre Verantwortung ist es dann, sofort neue Bedingungen mit uns auszuhandeln.“

353  Bei jüngeren Schülern erweist es sich allerdings meist als deutlich effektiver, mit den Eltern zu arbeiten, so Hubrig/ Herrmann (2005, 151).

354  das gilt auch für Supervisionen und kollegiale Fallberatungsgruppen

355  z.B. die Effektivität des ‚Rotstift-Blicks’ oder das psychosoamtische ‚Aufmerksamkeitsdefizits’ des Lehrers sich selbst gegenüber als Ausdruck von Engagement

356  Außerdem sollte auch unterschieden werden zwischen den Ausführungen Carl Rogers (1993, 1994) und umlaufenden Interpretationen. Angemerkt sei auch, dass Rogers seine Therapie keineswegs auf die Methoden und Vorgaben beschränkte, die später als die Rogerianische Therapie bekannt wurden (Farber et al. 1996).

357  Sollte sich in den nächsten Jahren (und Jahrzehnten) die systemisch-konstruktivistische Sichtweise in Schule durchsetzen, dann würden, dadurch dass sie zur herrschenden Erzählung würde, wieder andere Aspekte ins Hintertreffen geraten und vielleicht ausgeblendet werden. In Kap. 10.8 habe ich daher Stärken und Schwächen (bzw. Beobachtungsschwerpunkte und –winkel) der beiden Beratungsformen (humanist. und syst. Psychologie) kontrastiert, um zu verdeutlichen, dass sie sich – auf einer praktischen Ebene trotz teilweise unterschiedlicher Prämissen - gut ergänzen können.

358  Eine weitere, eher unspezifische Sammlung von Mythen findet sich bei Hartmeier (2004,115f).

359  Diese Annahme ist nicht Ausdruck psychoanalytischen oder humanistischen Gedankengutes.

360  Ähnlich Hennig/Knödler (2000, 144), denen gemäß erst an der Eltern-Kind-Beziehung gearbeitet werden muss, bevor möglicherweise die Paarbeziehung der Eltern in den Brennpunkt gerückt werden kann.

361  auch diese beruht nicht auf psychoanalytischen oder humanistischen Ideen.

362  Es gibt auch anderweitige Begriffe wie z.B. „waches Begleiten“ (Kron-Klees 1997, 58; hier gegenüber Familien durch die Jugendhilfe).

363  Um heranwachsende Kinder als Persönlichkeit respektieren und vielleicht auch lieben zu können (und sie weder als Objekt der eigenen Sentimentalität oder der eigenen funktionalen Lehrbemühungen zu sehen), ist es hilfreich, sie als Person zu würdigen und nicht als bemitleidenswerte Menschen zu behandeln (Omer/Schlippe 2002,166). Zu unterschiedlichen Mitleids-Konzepten vgl.a. Abb. 9-3 in Kap.9.3.2.

364  und ggf. nicht nur zu diskutieren und zu argumentieren, denn Präsenz als lebendige Wirklichkeit zeigt sich auf der Handlungsebene (Hennecke et al 2006,93)

365  eher „Auf-Sicht auf“ als „Aufsicht über“

366  Wird das Kind in selbstverantwortlicher Weise autonomer, nehmen beide Faktoren ab.

367  „Einige Kinder sind Meister im Karikieren des elterlichen [pädagogischen, R.M:] Sprechstils, darin wird besonders deutlich, wie perfekt die Eltern [Pädagogen, R.M.] für das Kind schon vorhersehbar geworden sind“ (Omer/Schlippe 2002, 100).

368  vgl. z.B. Bründel/Simon 2003. Im Trainingsraum (wohin der Schüler geht, wenn er sich nach der Ermahnung, dass er sich mit abermaligem Stören für den Trainingsraum entscheide, erneut auffällig verhält) sind dementsprechend die Gesprächsmethoden kooperativ (Bründel/Simon 2003, 60ff).

369  als Rückmeldung: „Ich sehe dich – gerade auch dann, wenn es dir nicht gut zu gehen scheint.“ und als Angebot: „Ich bin da, wenn du willst, können wir reden.“ Der Schüler braucht nicht zu antworten.

370  gemeint ist hier: ohne sprachliche Verneinung.

371  Bspw. wachse die Privatsphäre des Kindes zusammen mit ihm und sei als hoher westlicher Wert zu respektieren - in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften nähmen sich Eltern und Lehrer allerdings teilweise vielleicht eher zu stark als zu wenig zurück. (2002, 98).

372  Clement bezieht sich in seinem Buch auf die englische Originalausgabe von Schnarch 2006, die bereits 1997 unter dem Titel ‚passionate marriage’ in New York erschien.

373  Sowohl die Konzeption Schnarchs (2006) als auch Clements (2004) stammen aus der systemisch-konstruktivistischen Sexualtherapie. Die Konzepte wurden entwickelt im therapeutischen Umgang insb. mit Paaren mit langer gemeinsamer Beziehungsgeschichte, bei denen sich zeigt, dass die (angstbesetzte) aktive Suche nach Unterschieden in der Beziehung sowie nach einem reifen Umgang mit diesen Unterschieden der Beziehung und dem Paar wieder mehr Lebendigkeit verleiht. Es geht hier nicht nur um Akzeptanz, dass der andere (vielleicht sogar erschreckend) anders ist, sondern Wertschätzung dieser Feststellung.

374  Oder ein bestimmter Lehrer immer wieder auch auf die Ebene der Funktionsträgerschaft geht.

375  nicht aber von dessen Ideen

376  Reifungsprozesse, Akkomodationen, sind auch in der systemisch-konstruktivistischen Psychologie nicht gezielt herstellbar.

377  Ähnlich Palmowski (1998, 134 in Anlehnung an Efran 1992, 112): „Es ist einfacher, sich zu ändern, wenn es einem erlaubt ist, der zu sein, der man ist.“

378  was manchmal leichter fällt als mit einem selber, vgl. Kopp 1976, VII.

379  Darauf hatte auch Sokrates schon hingewiesen.

380  "Rely not on the teacher/person, but on the teaching. Rely not on the words of the teaching, but on the spirit of the words. Rely not on theory, but on experience. Do not believe in anything simply because you have heard it. Do not believe in traditions because they have been handed down for many generations. Do not believe anything because it is spoken and rumored by many. Do not believe in anything because it is written in your religious books. Do not believe in anything merely on the authority of your teachers and elders. But after observation and analysis, when you find that anything agrees with reason and is conducive to the good and the benefit of one and all, then accept it and live up to it” (Buddha im Kalama Sutra; http://www.alc.enta.net/kalama.htm).

381  Präsenz erhöhter präkognitiver Aufmerksamkeit im Augenblick, R.M.

382  Vgl. a. Kap. 10.6.10 ‚positive Konnotationen und Umdeutungen’

383  bzw. im inneren Team, also ‚in sich selbst’

384  Dies gilt auch und verstärkt noch für Beratungsprozesse (Kap. 10.6.7).

385  Ähnlich Kopp (2000, 9), der seine Arbeit immer mit zwei Vorsätzen beginnt: „Ich will auf mich selbst achten, und es soll mir Vergnügen machen.“

386  dazu mehr in Kap.10.9.

387  Konservative Systeme wie Schule verschärfen in pluralen, unsicher gewordenen, sich schnell wandelnden und Anpassung verlangenden Welten Doppelbindungen auch dadurch, dass sie tendenziell eher langsam auf Veränderungen außerhalb reagieren.

388  andernfalls kann keine relevante Unterscheidung getroffen werden.

389  „Man bittet normalerweise nicht die Institution, sich zu ändern, sondern versucht eher, innerhalb des Systems zu überleben“ (Cecchin et al. 2005, 53). Dennoch bleiben Einflussmöglichkeiten auf das System (vgl.Kap.8.1.3, und 11).

390  bzw. vier Positionen im Umgang mit Triangulation in hierarchisch geprägten Situationen.

391  gemeint ist hier: nicht mehr zu tun, als nötig, zum Erreichen der selbstgesteckten Ziele.

392  Kap.10.5.1.

393  Rohr und Ebert (2001, 63) sehen das als ein typisches Persönlichkeitsmuster von Lehrern. Vgl. a. Schmidbauer 1999.

394  Huschke-Rhein (1998, 31) weist darauf hin, dass Verantwortungsgefühl eine personale Kategorie ist. Eine Person kann sich entscheiden, Ziele und Wertvorstellungen einer Organisation wie Schule (nicht) zu übernehmen - oder einen bestimmten Posten anzunehmen, der mit mehr Verantwortung ausgestattet ist.

395  Der „Carpe Diem“-Slogan im Film ‚Club der toten Dichter’ zeigt die Anfälligkeit des Systems Schule für dieses Motto.

396  Und zwar im Zusammenhang mit einer Klage eines sich fundamentalistisch zeigenden Elternhauses: „Die [Bundesverfassungs-]Richter haben damit die verhältnismäßig strenge deutsche Schulpflicht bestätigt. Und dies gleich dreifach zu Recht. Sie haben die anerkannten Schulen - öffentliche wie private - gegen die Unterstellung in Schutz genommen, sie würden Kinder verderben. Sie haben auf die Pflicht des Staates hingewiesen, [fundamentalistische] Parallelgesellschaften zu verhindern, wie immer sie motiviert sein mögen. Und sie sind für das Recht der Kinder eingetreten, von Dingen zu erfahren, die im Weltbild ihrer Eltern nicht vorkommen“ (SZ-Kommentar 21.6.06).

397  Sie stellen auch in schwächerer Ausprägung von Grenzsetzungen symbolisch oder rituell zumindest in Frage, dass der Schüler aus der Außensicht der Kontrollierenden seiner Eigenverantwortung angemessen gerecht wird.

398  Verantwortung ist ein Nullsummenspiel: Hat der eine mehr, hat der andere weniger (Kap.9.10).

399  erweitert insofern, als hier Schule über ihre eigentlichen kontrollierenden Funktionen hinausgreift und auch ggf. Handlungen des Elternhauses einschätzen muss.

400  Dies sind eher Vorstellungen aus der Verhaltenstherapie als der systemischen. Ich nenne sie an dieser Stelle, um den Unterschied zur nächsten Stufe (partnerschaftliche Kooperation) deutlich zu machen. Nicht nur aus systemisch-konstruktivistischer Sicht sondern bereits auch aus VT-Sicht macht es Sinn, das Arbeiten mit Anreizen gemeinsam mit dem Schüler abzusprechen. Dann aber findet die Absprache selber auf einer tendenziell partnerschaftlichen Ebene statt, die Umsetzung (selbst und für sich allein genommen), zeugt aber eher von einer (noch) asymmetrischen Beziehung.

401  Diese sechs Abstufungen werden in Kap. 9.12.4 weitergehend ausgeführt.

402  Der einbettende Rahmen wird hier verstanden als innerhalb des generalisierten Zwangs umgesetzte Beziehungsgestaltung, die den generalisierten Zwangsrahmen ggf. ‚auffangen’ und im faktischen Verhalten und Erleben transformieren kann (Kap.9.12.2).

403  Hierfür reicht es nicht, dass eine Situation vom Lehrer als kooperativ konzipiert wird. Letztlich entscheiden die Schüler selber, ob sie faktisch eine Gesamtsituation eher als zur Kooperation einladend ansehen oder eher nicht.

404  z.B. Omer/Schlippe (2002, 2004); Pleyer (1996), Palmowski (1997).

405  ‚Utilisation’ bedeutet, den Versuch, die diversen Beiträge von Kommunikationsbeteiligten „als wertvolle, kompetente Angebote zu behandeln, als Informationen darüber, was gerade als notwendig für eine zieldienliche Kooperation“ erachtet wird (G.Schmidt 2004a, 186f; sowie Erickson 2003, Erickson/Rossi 2004)

406  weil Aufmerksamkeitsfoki die Qualität selbsterfüllender Prophezeiungen gewinnen können (G.Schmidt 2004a,b).

407  Das setzt voraus, dass im Vorhinein Klarheit über die zu erreichenden Ziele besteht, die auch vorab zumindest in Teilen verhandelt oder in beraterischen Gesprächen festgelegt werden können (Honisch 2004, 119). All dies enthebt den Lehrer selbstverständlich nicht davon, für die Notengebung unter den rechtlich vorgegebenen Regeln (z.B. Gleichheit) Verantwortung übernehmen zu müssen. Es geht nicht um eine Abgabe von formaler und inhaltlicher Verantwortung einer Funktion, sondern vielmehr um die Übernahme von Verantwortung im Zusammenhang mit dem Wie der Handhabung der Bewertungsfunktion.

408  diese nennt Alberstötter explizit (2006b, 197).

409  Der Begriff der ‚Heteronomie’ (Fremdbestimmung) meint die Handlungsoptionen reduzierende Gestaltung von Kontexten durch erziehende Subjekte (z.B. Pädagogen) und Systeme (z.B. Gesetze, Schulhausregeln) und steht systemisch-konstruktivistisch unter dem Vorbehalt der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion.

410  Die Schüler freilich auch.

411  Ein Übersicht verleihendes, entsprechendes Schaubild zu diesem Unterkapitel befindet sich an seinem Ende (Abb. 9-19 auf S.370).

412  Vor der Anwendung solcher Zwangsmittel sollten i.d.R. Unterstützungsmaßnahmen bereits angeboten worden und nicht wahrgenommen (= auf Handlungsebene abgelehnt) oder gescheitert sein. Sollten sie gescheitert sein, kann es günstig sein, nunmehr andersartige Angebote zu machen.

413  Das kann sogar für solche ‚hoheitlichen’ Aufgaben wie Bewertung gelten. Ein Beispiel: Notengebung liegt in der Verantwortung des Lehrers; er kann aber bei einer frühzeitigen Besprechung des Leistungszwischenstands, wenn der Schüler die Note nicht nachvollziehen kann, ihm für einen Zeitraum die Möglichkeit anbieten, nach dem Unterricht regelmäßig die Sichtweisen über Qualität und Quantität der Mitarbeit auszutauschen, so dass sich Sichtweisen angleichen können und der Machtunterlegene sich im möglichen Rahmen ggf. ernst(er) genommen fühlt – was wiederum Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung hat. Dadurch, dass der Lehrer in der beidseitigen ‚Probezeit’ mit seiner Aufmerksamkeit stärker beim Schüler fokussiert ist als sonst, kann er seinen bisherigen Eindruck gezielt überprüfen.

414  In der Situation der vorherigen Fußnote legt das Gesetz ihm Notengebungs- und Gleichbehandlungszwang auf. Um nach den für alle gleich gültigen Kriterien alle fair zu bewerten, steht ihm aber nur seine subjektive Wahrnehmung zur Verfügung.

415  Dies findet allerdings auf einem ganz anderen Niveau von Freiheitsgraden und Kooperationsfähigkeiten statt als im Bereich 2 (‚Auswahl und bindende Regeln’), in dem explizite Zwangsanwendung ‚im Raum steht’.

416  Für das dritte Kästchen im folgenden Schaubild gilt außerdem: Der volle/ausgefüllte Pfeilkopf in Richtung Schüler verdeutlicht den Versuch der aktiven (Bei-)Steuerung durch den Lehrer. Die Pfeilspitze vom Schüler zum Lehrer ist leer bzw. offfen gezeichnet. Man könnte sie auch ausgefüllt zeichnen, dann würde sie das Lehrer-Schüler-Verhältnis in eine Wechselseitigkeit bringen, wie sie für partnerschaftliche Kooperation kennzeichnend ist.

417  Als Verbindung von ‚cooperation’ und ‚competition’.

418  Diese ist, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, aus epistemologischen Gründen nicht zu vermeiden.

419  Ähnlich wie im Wirtschaftsbereich diskutiert werden kann, inwieweit staatliche Eingriffe eher nötig oder eher schädlich sind, kann für die Pädagogik in einem solchen Modell kontrovers diskutiert werden, inwieweit der Lehrer eingreifen soll. Sollte er das tun (das wäre sozusagen eine abgeschwächte Version der Globalisierungspädagogik), würde er dies über die Gestaltung von Kontexten tun, da die Selbstorganisation in diesem Modell von zentraler Wichtigkeit ist. Der Lehrer wäre dann stärker auch in der Funktion als Moderator gefragt. - Wenn Bauer (2007, 125) die „Ansicht, Kinder und Jugendliche seien biologische Selbstläufer“, als zu den „Grundirrtümern unserer Zeit“ gehörend kritisiert, dann wendet er sich gegen eine solche ‚Globalisierungspädagogik’, die zwar Selbstorganisation betont, aber die Bedeutung einbettender Kulturen vernachlässigt.

420  Vgl. Kahl 2006.



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09.06.2008