26 abschließende Bemerkungen

▼ 756 (fortgesetzt)

Letztlich müssen Theorien sich im Alltag bewähren. Angesichts veränderter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen und Systeme in der westlichen Postmoderne beansprucht der systemisch-konstruktivistische Ansatz mittlerweile auch in pädagogischen und schulischen Arbeitsfeldern Gültigkeit. Diese Dissertation, die das positive Veränderungspotenzial systemisch-konstruktivistischen Denkens für Lehrer in der heutigen Schule anhand der wissenschaftlichen Entwicklung, Durchführung und Evaluation einer Fortbildung zur systemischen Pädagogik für schulische Pädagogen untersuchte, konnte Plausibilität für eine entsprechende Relevanz des Ansatzes nachweisen. Das hier vorgestellte Konzept kann damit seinen eigenen Anforderungen genügen und aus seiner Nützlichkeit für den pädagogischen Alltag seine Legitimation ableiten.

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Allerdings kann auch ein systemischer Ansatz keinen Wahrheitsanspruch vertreten, vielmehr wäre, konstruktivistisch gesehen, „die Anrufung der Objektivität [...] gleichbedeutend mit der Abschaffung persönlicher Verantwortung“ (Rotthaus 1999a, 133). Daher wurden Durchführung und Auswertung der Fortbildung mit der Mitverantwortung der Seminarteilnehmer als selbstorganisierten Systemen gekoppelt. Altrichter et al (2003, 657) betonen, dass darin auch ein demokratischer Aspekt liegt. Grundsätzlich – und auch für diese Arbeit – gilt, dass Forschungsprozesse mit den forschenden Instanzen und ihren Kontexten verknüpft bleiben, d.h. ihre Ergebnisse sind perspektivengebunden (Hug 2004, 129f). „Erkenntnistheoretisch gesehen geht es [...] um nachvollziehbare Formen der expliziten Beschreibung verschiedener Weisen der Wirklichkeitskonstruktion und die kritische Analyse individueller und sozialer Wissensfabrikation“ (Hug 2004, 131). Dies stellt sozusagen den Rahmen dar, innerhalb dessen diese Dissertation verfasst wurde und Gültigkeit beansprucht.

Trotz vielfältiger Hinweise auf die Plausibilität der vorab aus der Theorie entwickelten Arbeitshypothesen muss - gerade aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive – vor übertriebenen, gar zeitlosen Ansprüchen gewarnt werden. Auch für den pädagogischen Bereich gilt, worauf Keeney (2005, 10) hinweist, „dass jede heilige Kuh unseres Feldes nur einen Moment lang heilig ist, denn der heilige therapeutische [bzw. pädagogische, R.M.] Atem weht weiter, um in der unendlichen Konversation, die die Geschichte unseres Berufsstandes ausmacht, den nächsten Beitrag aufzunehmen“. Auch Cecchin et al. (2005, 94f)579 prophezeien, dass man, wenn man zu sehr daran glaubt, dass ein Forschungsergebnis wahr ist, Gefahr läuft, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu kreieren. Andererseits könne es aber „genauso gefährlich sein, Forschungen zu vernachlässigen aus der Angst heraus, Ergebnissen blind zu vertrauen [...]. Die Gefahr liegt nicht in der Forschung, sondern darin, dass [...ihr Rezipient, R.M.] unfähig wird, etwas anderes zu sehen, wenn er zu leidenschaftlich an den Wahrheitsgehalt der Forschungsergebnisse glaubt. [...] Wir möchten die Forschung schätzen, aber nicht blind anbeten.“

Ausdrücklich sei noch einmal betont, dass diese Arbeit, wenngleich sie von den momentanen schulischen Gegebenheiten ausgeht, die aus systemisch-konstruktivistischer Sicht unreflektierte, aktuelle Schulpolitik in Deutschland inkl. der mangelnden finanziellen Ausstattung des Bildungssektors nicht für begrüßenswert hält. Diese Faktoren sorgen dafür, dass auch für systemische Schulpädagogen gilt, dass trotz aller wohl ansteigenden Psychologisierung des Berufs Lehrer bis auf weiteres aufgerufen bleiben, „eine recht große Schülerzahl in einem relativ einheitlichen Rahmen zu unterrichten und ihre Leistungen vergleichbar zu bewerten. Die Möglichkeiten eines differenzierenden Eingehens auf individuelle Besonderheiten stoßen [unter solchen Bedingungen, R.M.] bald an ihre Grenzen“ (Bosselmann 2000,53). Die faktischen politischen und institutionellen Rahmenbedingungen selber sind noch wenig von systemisch-ressourcenorientierten Ideen beeinflusst. Politisch definierte Bedürftigkeit wird weiterhin über die Bedürfnisse und Ressourcen der Schüler gestellt.580 Hier findet die systemisch-konstruktivistische Pädagogik eine Grenze. Sie „kann Defizite in dem Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich nicht egalisieren. Andere Perspektiven und Denkmuster, neue Einstellungen und Handlungsoptionen ermöglichen jedoch, die tägliche Berufspraxis anders zu sehen und zu gestalten. Dies hat sehr viel mit einer realistischen Einschätzung der Berufssituation zu tun. Aber auch mit der Bereitschaft der Betroffenen, die Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und mit Blick auf die vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen die Grenzen in Demut zu akzeptieren“ (Voß 2000b, 15). Eine solche Demut hat nichts mit Unterordnung zu tun, sondern mit einer realistischen Sicht auf den Beruf, aus der heraus dann eine entsprechende Veränderung, auch der Umfelder, angegangen werden kann. Insbesondere bezieht sich die von Voß geforderte und in der Evaluation nachgewiesene (gestiegene) Akzeptanz darauf, dass alles, was sich – wie lebende Systeme (Schüler, Lehrer, Klassen, Kollegien, Schulen, Gesellschaften) – permanent verändert und weiterentwickelt, „eben deswegen unvollkommen“ ist und bleibt (Watzlawick 1994c, 225). Vielleicht konstatieren Oser/ Spychiger (2005, 17) deshalb, dass „das eigentliche [professionelle pädagogische, R.M.] Lernen [...] in der Erfahrung der Grenze des Machbaren in diesem Beruf besteht.“

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Gleichzeitig ging es in der Fortbildung nicht nur um „Generierung von Wissen, sondern auch [um] Entwicklung und Veränderung der untersuchten Praxis“ (Altrichter et al 2003, 647), d.h. um die Aufgabe, „den notwendigen Wandel der Lernkulturen zu konstruieren“ (Voß 2005b, 11). Wenngleich außerschulisch erworbene Qualifikationen von Pädagogen (wie die durch die Fortbildungsreihe erlangten) im Schulsystem immer noch nicht oder allenfalls kaum honoriert werden (Kretschmann 2001b, 19), so bieten sie doch eine wichtige Möglichkeit für den Einzellehrer, sich – die eigene Gesundheit schützend und mehr Gelassenheit entwickelnd - entsprechend in Richtung persönlich angemessener Veränderung auf den Weg zu machen. Systemisch-konstruktivistische Forschung nimmt hierfür die Teilhaber am Forschungsprozess als Experten für ihre Berufs- und Innenwelt ernst und will zu einem veränderten Lehrerbild und –selbstverständnis beitragen.

Altrichter (et al 2003, 657) weist in diesem Zusammenhang allerdings auf eine Falle hin: „Reflektierende PraktikerInnen arbeiten in verantwortlicher Abstimmung mit ihren KollegInnen und KlientInnen an einer Weiterentwicklung der Praxis und ihrer Kompetenzen. Eine derartige Berufsgestaltung benötigt aber auch veränderte Arbeitsbedingungen, z.B. Zeit für Reflexion und Abstimmung [...]. Diese fehlen allerdings weitgehend. Dadurch arbeiten jene, die durch die Praktizierung eines ‚zukünftigen Lehrerbildes’ dazu beitragen wollen, dass es ein gegenwärtiges wird, in einer besonders belastenden Situation.“ Die hier dargestellte Fortbildung hat diese Gefahr, dass die Teilnehmer sich als Avantgarde verbrauchen könnten (Altrichter et al. 2003, 656), von Anfang an berücksichtigt und eine entsprechende Burn-Out-Prophylaxe insb. auch durch das differenzierte Verständnis von Schule als Organisation angeboten. Die Teilnehmer hatten im Anschluss an die Fortbildung die Möglichkeit, auf (teilweise von ihnen gewünschte) weiterführende Unterstützungsangebote beim auftraggebenden Institut zurück zu greifen, die auch mit dem Hauptforscher angeboten wurden: u.a. geleitete Intervision mit supervisorischen Anteilen, ein mehrtägiges Seminar zum Umgang mit ‚Störungsbildern’ bei Schülern sowie ein vertiefendes Rollenspielseminar zur Gesprächsführung und Konfliktbearbeitung. Außerdem konnten sie natürlich in selbstorganisierten Intervisionsgruppen weiterarbeiten.

Die Angebote im Fortbildungsinstitut zielten auf die gleichen Veränderungsmöglichkeiten, die auch die hier evaluierte Seminarreihe anbot und von denen die Mitforscher in den Interviews auch berichteten:

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Konstruktive Anpassungsprozesse führen in einer Gesellschaft, die aufgrund der Geschwindigkeit ihres Wandels lebenslanges Lernen erfordert, dazu, dass ‚Lernkonzepte’ durch umfassendere ‚Entwicklungskonzepte’ ergänzt werden (Clement 2006, 219).581 Hierbei gibt es allerdings keine per se verlässliche Methode und kein immer passendes Modell. Der systemisch-konstruktivistische Ansatz bietet aber einen Kompass, eine Richtung und eine Perspektive.582

Indem systemisches Denken differenzierte Haltungen und erprobte Methoden für den Umgang mit Menschen als selbstorganisierenden Systemen bietet und zugleich die mitunter einengenden Rahmenbedingungen des Kontextes klar benennen kann, führt es zu einer gleichzeitig „optimistischen und bescheidenen Haltung gegenüber anderen Menschen und dem, was man selber bewirken kann“ (Hubrig/ Herrmann 2000, 158). Auf diesem ambivalenten Hintergrund bietet der systemisch-konstruktivistische Entwurf eine Vielzahl von Ideen und Ansatzpunkte für das, was in der gegenwärtigen Bildungssituation dringend vonnöten ist: die Eröffnung eines Raums für einen Dialog darüber, „wie (Lern-)Welten erfunden werden können“ (Balgo / Voß 1997, 68).

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Die Notwendigkeit der eigenständigen Übertragung neuer Impulse auf konkrete Alltagssituationen und je einzelne ‚Fälle’ aber bleibt für alle Pädagogen je individuell bestehen und kann auch von keiner Fortbildung grundsätzlich abgenommen werden. Lernprozesse – sei es bei Schülern, sei es bei Lehrern, die beide letztlich gemeinsam unterwegs sind – verlaufen individuell. „Das Verfahren unseres Geistes, besonders in seinen geheimnisvolleren Wirkungen, kann nur durch tiefes Nachdenken und anhaltende Beobachtung seiner selbst ergründet werden. Aber es ist selbst damit noch wenig geschehen, wenn man nicht zugleich auf die Verschiedenheit der Köpfe, auf die Mannigfaltigkeit der Weise Rücksicht nimmt, wie sich die Welt in verschiedenen Individuen spiegelt“, so Wilhelm von Humboldt bereits 1793583 (Humboldt 1964, 10).

Und so besitzt der systemisch-konstruktivistische Pädagoge vielleicht seine zentrale Stärke im Bewusstsein seines unvermeidbaren eigenen Unterwegsseins (Lindemann 2006): „Es gibt mir ein sehr beruhigendes Gefühl zu sehen, dass wir nie fertig werden mit dem Lernen und in lebendiger Weise nicht perfekt werden“ (G.Schmidt 2004a, 442).


Fußnoten und Endnoten

579  Vgl. außerdem G.Schmidt 2004a, 153.

580  Ähnlich für das Gesundheitswesen: Simon (2001b), und für die Psychiatrie: Ruf (2005, 282).

581  Für die Lehrergewerkschaften bedeutet dies, dass sie statt defensiver Besitzstandswahrung an der Professionalisierung des Berufsstands und an einer systemisch-konstruktivistischen Ansätzen folgenden Weiterentwicklung des Bildungssystems mitwirken sollten (Bauer 2007c, 122f).

582  Formulierung in Anlehnung an Juul 1998, 48.

583  in: „Theorie der Bildung des Menschen in Schule und Universität“



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09.06.2008