10 ‚Beratung’ in Schule als Spezialfall systemischer Pädagogik

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Nachdem bisher v.a. der Aspekt systemisch-konstruktivistischer Pädagogik unter Berücksichtigung ihres Kontextes (Schule bzw. Schulhaus) im Mittelpunkt stand, soll in diesem Kapitel der Begriff der ‚Beratung’ in Schule unter systemisch-konstruktivistischem Blickwinkel betrachtet und erörtert werden. Die Ausführungen zu Schule und Schulhaus als Kontext bzw. System gelten hier selbstverständlich weiterhin. Eine These dieser Dissertation ist, dass die Anzahl von über bloßes pädagogisches Vorgehen nicht mehr zu erreichenden Schülern bzw. ‚Fällen’421 ansteigt. Damit ist in Schule ein Bereich betroffen, der dort allgemein und undifferenziert ‚Beratung’ genannt wird, aber qualitativ ganz unterschiedliche Formen und Aspekte von Gesprächen beinhaltet bzw. abdecken muss.422 Die klassische Beratungssituation (‚Beratung im engeren Sinne’), dass ein „Ratsuchender mit einem Anliegen aktiv und freiwillig an einen Berater seines Vertrauens, seiner Wahl“ (Storath 1998, 65) herantritt, ist in Schule immer noch eher ein Ausnahmefall. Im Verlauf dieses 10. Kapitels wird der schulische ‚Beratungs’-Begriff deshalb ausdifferenziert. Es wird deutlich werden, dass Instrumente aus dem Bereich der Beratung im engeren Sinne zwar durchaus auf etliche ‚schulische Beratungs’-Situationen übertragbar sind, aber keineswegs auf alle. Teilweise stellt eine simple Übertragung sogar ausgesprochene Fallen dar.

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In den letzten Jahren müssen Lehrer immer häufiger strukturell unterschiedliche und oft konflikthafte Gespräche mit Eltern und Schülern führen, ohne i.d.R. dafür eine Ausbildung bekommen zu haben (Hubrig/ Herrmann 2005, 117).423 Darunter befinden sich Gespräche, die in therapeutischen oder beraterischen Kreisen auf keinen Fall als Beratungsgespräche gekennzeichnet würden. Die Vielfalt möglicher Positionen ist für die Pädagogen verwirrend, ihre aktuelle Positionierung häufig unklar, da ein ganzes Spektrum abzudecken ist – von einfühlsamstem Zuhören bis hin zur Funktion als Agent der sozialen Kontrolle, insb. bei Kindeswohlgefährdung (M.Weber/Schilling 2006). Einige Lehrer, so kritisiert Voß (2005c, 89), betrachten schulinterne wie –externe Beratungsangebote auch lediglich als eine Leistung, deren Erfolg es ihnen ermöglicht, ihr Kerngeschäft, den Unterricht, (wieder) reibungslos(er) zu absolvieren.

Es geht im Bereich schulischer ‚Beratung’ (‚im weiteren Sinne’)424 letztlich um das breite Spektrum außerunterrichtlicher Gespräche mit Schülern, Eltern und Kollegen. Eine theoretische Ausdifferenzierung des (Funktions)Bereiches von Schule kann dementsprechend hilfreich sein, um in der Praxis Fallen zu vermeiden und um als Pädagoge angemessen sich orientieren und andere Menschen begleiten zu können. Ein solches Vorgehen theoretischer Differenzierung ist auch deshalb sinnvoll, weil eine Vielzahl von Aspekten der Gesprächsführung im Beratungsbereich methodisch auf die Unterrichtsgestaltung übertragbar ist und dort bereichernd und gesundheitsvorsorglich wirken kann.

Es gibt zahlreiche Aspekte systemischer Beratung, die, z.B. weil sie zu Beratung im engeren Sinne gehören, relativ einfach auf schulische Beratung im engeren Sinne übertragbar sind. Diese sind in diversen Publikationen gut aufbereitet dargestellt (z.B. Schlippe/Schweitzer 2002, Bamberger 2005, Mücke 2003,2004, Simon 1999a). Grundlegende Übertragungen zentraler systemisch-beraterischer Aspekte auf schulische, v.a. förderpädagogische Kontexte gibt es ebenfalls in didaktisierter und überschaulicher Form (z.B. Palmowski 1998a, Hennig/Knödler 2000, Hubrig/Herrmann 2005, Renoldner 2007). In diesem Kapitel werden solche Grundlagen zum Teil als bekannt vorausgesetzt, wichtige beraterische Aspekte (im engeren Sinne) dementsprechend eher knapp dargestellt, allerdings auf generellere schulische Kontexte hin ggf. ergänzt.

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Nach Überlegungen zum Beratungsbedarf an Schulen in der Postmoderne (Kap. 10.1), werden grundlegende Aspekte systemischer Beratung für den Kontext Schule knapp zusammengestellt (Kap. 10.2) und Unterschiede zwischen Beratern (bzw. Therapeuten) einerseits und Pädagogen (bzw. Lehrern) andererseits herausgearbeitet (Kap. 10.3). Aufgrund der Funktionsvielfalt von Pädagogen bietet Schule ein breites Spektrum von ‚Einladungen’ bzw. Fallen an, mit denen professionell umzugehen ist, wenn Freude am Beruf erhalten oder gesteigert werden soll (Kap. 10.4). Ein Schwerpunkt des Kapitels liegt auf Möglichkeiten grundsätzlicher Positionierung von Pädagogen (Kap. 10.5), die weit umfassender sind als die Positionierung einer Beratung im engeren Sinne. Wichtiger als die Kenntnis bestimmter Gesprächstechniken ist es für Pädagogen, sich zunächst einmal überhaupt darüber klar zu sein, wie sie sich angesichts der Vielzahl ihrer Funktionen in einer bestimmten Situation positionieren (können). Ein solches Vorgehen bietet – auch unabhängig von der Verfügbarkeit ausdifferenzierter beraterischer Gesprächtechniken einen sicheren Stand und eine klare Richtung für außerunterrichtliche Gespräche in allen Schultypen.

Basale systemisch-konstruktivistische Methoden und Foki für außerunterrichtliche Gesprächsführung in der Schule sind zumeist bekannt und werden in Kapitel 10.6 kategorisiert zusammengefasst. Es folgt eine Zusammenstellung von Mitteln und Wegen, in den Kontexten von Pädagogik und Schule andere Menschen zu Kooperation einzuladen und zu gewinnen (Kap. 10.7). Vor- und Nachteile systemischen Arbeitens in Pädagogik und Schule werden in Kap. 10.8 Chancen und Gefahren humanistischen Vorgehens gegenüber gestellt. Diese beiden Ansätze sind theoretisch in bedeutenden Teilen unterschiedlich, können aber in der Praxis im Sinne einer situationsangemessenen Suche nach Nützlichkeit und Passung sehr gut einander ergänzend benutzt werden. Das abschließende Kapitel zur Supervision für Lehrer (Kap.10.9) stellt bereits einen Übergang zum 11.Kapitel („systemisch-konstruktivistische Schulorganisationsentwicklung“) dar, insofern Lehrer als Mitglieder der Organisation Schulhaus für sich Lernprozesse durchlaufen und deren Ergebnisse in der Organisation institutionalisieren können.

10.1 postmoderner Bedarf schulischer ‚Beratung’

Enttraditionalisierte, unübersichtliche, plurale Multioptionsgesellschaften mit dem Trend zur zunehmenden Spezialisierung erfordern von den Bürgern (und eine globalisierte, konkurrenzbetonte Weltwirtschaft verlangt von den Organisationen) ständige Veränderung und weiteres Lernen. In den bisherigen Kapiteln wurde bereits deutlich, dass der schulische Beratungsbedarf zunimmt oder zumindest zunehmen wird. Institutionell betrachtet, werden Schulhäuser zunehmend lokale Lösungen ausarbeiten müssen, interne Evaluation und externe Kooperation werden zunehmen (Kap. 11). Beratungs- und Verhandlungsnotwendigkeiten nehmen zu, wenn normative Vorstellungen – wie insb. im Bereich der Erziehung – immer pluraler werden. „Die ständig wachsende Bedeutung von Beratung ergibt sich demnach logischerweise und zwangsläufig aus der immer geringer werdenden Bedeutung oder Akzeptanz allgemeingültiger oder als verbindlich deklarierter Vorgaben und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit der subjektiven oder lokalen Entscheidungsfindung“ (Palmowski 2000b, 52). Bereits 1989 wies Speck darauf hin, dass der Beratungsbedarf nicht nur in der Förderpädagogik wachse und dass Lern- und Verhaltensstörungen von Schülern unter förderpädagogischen Kollegen immer weniger inhaltlich kongruent gehandhabt würden. In Schule und Erziehung differenzierten sich Lehrerfunktionen und auch Elternrollen weiter aus und würden unübersichtlicher und unsicherer (Palmowski 2000b,51; Speck 1989,361). „Chronische Probleme und Konfliktsituationen“ haben „in den letzten Jahren ständig zugenommen“ (Palmowski 1998a, 15). Auch Fragen von Gruppendynamik (von Klassen als Systemen) werden wichtiger. Palmoswski (2000b, 52) konstatiert, dass „Beratung in dem hier beschriebenen Sinne nicht mehr ausschließlich der Ort ist, an dem es um die Auflösung von als problematisch erlebten Konstellationen geht, sondern viel mehr: Beratung ist der kontinuierliche und notwendige Prozeß der Refle[x]ion und der Planung von Veränderung im Gesamt schulischer Wirklichkeiten“.

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Tatsächlich wird Beratung aber noch immer weniger nachgefragt, als dies – aus einer Außenperspektive betrachtet - der Fall sein könnte.425 Voß (2005c, 92ff) nennt hier u.a. folgende zwei Gründe. Erstens: Ein Hilfebedürfnis von Eltern- oder Lehrerseite wird als Schwäche oder gar Bedrohung empfunden. (In Beratungssituationen muss der Berater von Eltern oder Lehrern mit dem ‚Widerstand’ gehen und Bedenken vorweg- und ernst nehmen.) Zweitens: Der in unserer Gesellschaft noch immer pathologisierende Begriff der Psychotherapie wird zu schnell herangezogen, ggf. mit dem Nachteil, dass überindividuelle Problematiken auf einen Indexpatienten abgewälzt werden (Omer/ Schlippe 2004, 84f). Alternative Begriffe wie z.B. ‚psychosoziale Beratung’ könnten einem in Schule gegebenen Kontinuum ‚Unterrichten – Erziehen – Beraten’ wesentlich gerechter werden und weniger abschreckend wirken.

Beratungsbedürftigkeit steigt in der (angehenden) Postmoderne nicht nur bei Schülern sondern auch für Schulhäuser, Lehrer und Eltern. Viele Systemisch-konstruktivistische Pädagogen und pädagogische Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass die Veränderungen der Postmoderne „dazu führen werden, dass das Unterstützungsbedürfnis der Eltern und Lehrer wächst und entsprechend die Bereitschaft und Offenheit für [...] Beratung“ (Voß 2005c, 93). „Beratung wird eine der wichtigsten Aufgaben der zukünftigen Pädagogik sein“, „eine normale Angelegenheit und die Standardaufgabe einer ganz normalen Pädagogik“, und zwar sowohl die persönliche Beratung wie auch die Beratung von Schule als Organisation (Huschke-Rhein 1998b, 10,11). Außerdem steigt der Stellenwert von Beratung an Schule, wenn Schule die kooperative Zusammenarbeit mit anderen Institutionen verstärkt (Palmowski 1998a, 15); vgl. dazu Kap. 11.4.

Aufgabe von Schule und Pädagogik wird es zukünftig vergleichsweise weniger sein, Verhaltensvorschriften für Kinder zu geben, und mehr, Orientierungsangebote zu machen und junge Menschen auf dem Weg der Identitätsfindung zu begleiten. Neben grundlegenden Kulturtechniken und der Vermittlung von (Selbst)Lernmethoden verbleiben in potsmodern-konstruktivistischen Zeiten also vor allem beraterische Aufgaben beim Lehrer, um „die Schüler auf ihren Irrwegen durch die Flut der Optionen und Risiken beratend zu begleiten“ (Schweitzer 2005, 81). Huschke-Rhein (1998b, 8) bezeichnet Pädagogik konsequenterweise explizit als „Beratungswissenschaft“. Das Erlernen von Beratungshaltungen und -methoden muss dementsprechend zu einem integralen Bestandteil von Lehreraus- und –weiterbildung werden (ebenda, S.26).

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Pädagogik – stets immer auch als reflexive Metaperspektive auf ihre zwei Hauptkontexte Unterstützung und Zwang - wird so zu einer „Lebensbegleitungswissenschaft“ (Huschke-Rhein 1998b, 23), die eine Expansion pädagogischer Aufgabenfelder erlebt. Huschke-Rhein (1998b, 85) konstatiert in diesem Zusammenhang bereits die „Öffnung des Therapiebegriffs in Richtung eines offenen und damit auch pädagogisch verwendbaren Beratungskonzepts“, das „zu einer praxisnäheren Pluralisierung von Beratungsangeboten auch in pädagogischen Feldern geführt hat“. Hier ist allerdings auf zwei Fallen hinzuweisen.

Erstens kommt es immer wieder vor, dass die fachliche und pädagogische Kompetenz der Lehrer von Eltern und Schülern auf psychologische Beziehungsthemen übertragen wird (Hubrig/ Herrmann 2005, 119). Eltern offerieren in der Bitte an Lehrer um Ratschläge „partiell ihre Erziehungsautonomie und investieren Lösungshoffnungen, ohne sich über den Beratungskontext, die institutionelle Rolle des [schulischen, R.M.] Beraters und die möglichen Konsequenzen ihrer Ratsuche immer hinreichend klar geworden zu sein“ (Storath 1998, 61). Das ist insofern verständlich, als in der Postmoderne Pädagogen Autorität verliehen wird v.a. aufgrund von besonderen beziehungsgestaltenden und kommunikativen Kompetenzen. Übersehen wird, dass Lehrer dies genauso lernen müssen wie die Eltern auch, weil dies nicht Teil ihrer Ausbildung war. Teilweise werden von Lehrern solche Angebote der Übertragung von Erziehungsautonomie mit bestem Wissen und Gewissen auch angenommen oder sogar herausgefordert.

Zweitens gibt es in Schule letztlich eine Vielzahl von „Gesprächsangeboten, die eher ‚zwanghaft’ und fremdbestimmt zustande kommen, in denen die Autonomie der Gesprächspartner institutionelle Grenzen erfährt, und die trotzdem als ‚Beratung’ gehandelt werden“ (Storath 1998, 65). Auch wenn institutionell klar zu sein scheint, wer den Rat zu geben und wer ihn anzunehmen hat, entsteht hier oft faktisch eine „Unklarheit bis hin zu Verdrehung, wer sich eigentlich was mit welcher Verbindlichkeit aus welchem Anlaß von wem wünscht“ (Storath 1998, 66). Obendrein kommt es in Schule noch immer häufig zu einer ungenügenden Berücksichtigung von Kontextfaktoren – all dies bei Zeitknappheit und hohem Veränderungsdruck (Storath 1998, 64). Dies sind eher ungünstige Voraussetzungen für erfolgreiche Gespräche.

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Schulische außerunterrichtliche Gespräche - insofern sie unklare Positionierungen für Pädagogen herausfordern - ranken sich um Probleme. Probleme sind, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, mehr als ‚bloße’ ‚Schwierigkeiten’, ‚Herausforderungen’ oder ‚Leiden’, weil einiges passieren muss, damit ein Problem überhaupt entsteht. Ein schulisches Problem kann definiert werden als ein veränderungsbedürftiger und veränderbarer Zustand von jemandem, der oder dessen Umfeld wiederholt mit Lösungsversuchen gescheitert ist, wobei in Schule über diese Person bzw. ihr Verhalten so kommuniziert wird, dass Energien von Lehrern gebunden werden (in Anlehnung an: Schlippe/Schweitzer 2002,103; Schmidt 2004a). Das sich um das definierte Problem herum ergebende Kommunikationssystem wird im systemisch Ansatz als ‚Problemsystem’ bezeichnet und kann über den schulischen Rahmen hinausgehen.426 Da Heranwachsende sich altersbedingt in teilweise turbulenten Entwicklungsprozessen und Übergangsphasen befinden, ist es von außen oft schwierig festzustellen, was Problem und was lediglich Schwierigkeit ist, wo es eher um Kenntnisse und Lernstrategien oder eher um ein massiv in Beziehungskontexte eingebettetes Problem geht. So muss jeweils geschaut werden, wo Schwerpunkte in ‚Beratungsprozessen’ zu setzen sind: eher im inneren System der Person, der Familie, dem schulischen Umfeld oder dem Helfersystem (Hubrig/ Herrmann 2005, 100).427

Soll an Schule beraten werden, sind für eine solche Praxis theoretische Grundlagen und praktische Instrumente nötig. Im folgenden Kapitel werden wichtige theoretische Grundlagen für den Bereich der Beratung im engeren Sinne an Schule zusammenfassend aufgeführt, bevor nach einem Blick auf Unterschiede zwischen Lehrern und Therapeuten (Kap.10.3) Instrumente für die Praxis eines erweiterten Beratungsmodells (ab Kap.10.4) vorgestellt werden.

10.2 systemisch-konstruktivistische Beratung in Schule

Systemisch-konstruktivistische Gesprächführung für außerunterrichtliche Aussprachen im Kontext Schule (also schulische Beratung im weiteren Sinne) stellt ein eigenständiges Gebiet dar, auf das systemische Haltungen und Methoden der Beratung im engeren Sinne (bzw. Sinne des ‚Kunden’ nach de Shazer 428 ) nur zum Teil leicht übertragbar sind. Allerdings gibt es bereits auch im Bereich der systemischen Therapie einige Überlegungen – gerade aus dem Bereich der Psychiatrie und aufsuchenden Familienhilfe kommend -, wie im Umfeld von Zwangskontexten beraten werden kann (Ruf 2005; Pleyer 1996; Conen 1996; Schwing/ Fryszer 2006,329ff). Lehrer müssen nun (anders als in der Psychiatrie, wo dies ggf. aufgeteilt werden kann) sowohl die unterstützend-beratende Funktion als auch die kontrollierende in ihrer Person vereinigen. Diesen Gegebenheiten muss ‚Beratung’ in Schule im Allgemeinen und muss der einzelne Lehrer in der konkreten Situation Rechnung tragen.

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In diesem Kapitel wird der Bereich schulischer Beratung im engeren Sinne betrachtet, d.h. es geht um Fälle, in denen Personen (Schüler, Eltern, ggf. Kollegen) von sich aus als Kunden im Sinne de Shazers mit einem Anliegen auf Veränderung kommen, zu der sie selbst beitragen möchten, ohne genau zu wissen wie. Die systemische schulische Beratung im engeren Sinne kann als eine Spezialform systemischer Pädagogik und „als eine Sonderform menschlichen Lernens“ (Hennig/ Knödler 2000, 151) gesehen werden. Voß (2005c, 92) siedelt sie auf einem Kontinuum von ‚Unterrichten – Erziehen – Beraten’ an. Sie kann auch Konfrontieren enthalten und muss keinesfalls gleich Therapie sein, wenngleich sie sich hier wichtige Anreize holen kann. In ihrer ressourcen- und kompetenzorientierten Ausrichtung (Schildberg 2005) unterscheidet sie sich von einem traditionellen, medizinischen, individuumszentrierten Krankheitsbegriff, der in Schule noch überwiegend gebräuchlich ist.

Auch wenn der Beratungsbegriff in Schule umfassender verwendet wird, sollen hier zunächst Grundideen und –haltungen systemischer Beratung expliziert werden, erstens, weil es immer wieder Situationen gibt, in denen Schüler, Eltern oder Kollegen als ‚Kunden’ kommen, und, zweitens, weil die Kenntnis und Anwendung der hier beschriebenen Haltungen und Methoden hilfreich sein können, um zur Bildung von Kooperationssystemen in schwierigen Situationen einzuladen (Kap. 10.7).

In jedem Fall muss in schulischen Kontexten verstärkt die Erfahrung aus Beratungskontexten im engeren Sinne berücksichtigt werden, dass Ratsuchende i.d.R. mit ambivalenten Wünschen und Vorstellungen eine ‚Beratung’ aufsuchen oder ihr beiwohnen (Storath 1998, 62). Für die schulische Situation gilt dies verstärkt – aus Schülersicht, weil Lehrer immer auch bewertende Funktion haben, und aus Elternsicht, weil diese um diese Macht des Lehrers ebenfalls wissen, aber auch, weil sie bspw. eigene ungute Erfahrungen als Schüler gemacht haben. Teilweise laden Pädagogen auch selber zu einem Beratungs- bzw. Unterstützungsgespräch im engeren Sinne ein (Hubrig/ Herrmann 2005, 120).

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Als zentrale Ideen systemischer Beratung im engeren Sinne in Schule (vgl.a.Kap.10.5.1.7) können u.a. folgende Aspekte gelten: Wertschätzung, Ressourcen- und Lösungsorientierung, Verhaltensfunktionalität im Heimatsystem, Neutralität bzw. Allparteilichkeit, zirkuläres Denken, Berater ist Beobachter zweiter Ordnung als Systembeteiligter, die Explizierung von Systemspielregeln (Mustererkennung) aus einer Metaposition, Kontextberücksichtigung, Kundenorientierung und Kunde als Experte für sein Leben und gleichwertiger Gesprächspartner, Kontraktierung, Achtsamkeit für die wirklichkeitsschaffende Funktion von Sprache sowie für Aufmerksamkeitsfoki, Erzählweisen und ihre Implikationen, eine depathologisierende, relativierende und Ambivalenzen zulassende Sprache, das Erzeugen neuer Information (insb. durch das Anbieten neuer (Leit-)Unterscheidungen), das Erfragen der Ansichten der Beteiligten und das Spiel mit Wirklichkeits- und Möglichkeitsräumen (Renoldner et al 2007,40; Schlippe et al 2004,94; Voß/Haug 2000,181f; Palmowski 2006).

Beratung setzt über Kontakt bzw. Beziehungsaufbau die Schaffung eines ‚affektiven Fundaments’ (Welter-Enderlin/ Hildenbrand 2004) und eines Kooperationsrahmens (G.Schmidt 2004a) voraus, welche einen Rahmen bereitstellen, innerhalb dessen Beratungsprozesse zwischen den Polen von Stabilität und Veränderung stattfinden können: Hierfür sind Haltungsfragen wichtig. Die in Kap.7.2 auf S.149 erwähnten systemischen Grundhaltungen für Beratungssituationen im engeren Sinne gelten hier analog: persönlicher Kontakt, Respekt und Wertschätzung gegenüber Person, ihrer Autonomie und Selbstverantwortung, Ressourcen- und Lösungsorientierung, Neugierde, Respektlosigkeit gegenüber Ideen, Anerkennung der Koevolution durch Partizipation und Eigenverantwortung, Umgang mit ‘Widerstand’ als Information über das Klientensystem, Kontextberücksichtigung, Relevanz für den Alltag.

Die Kunst der Neutralitätswahrung429 besteht darin, bei vorhandenen Ambivalenzen des bzw. der Klienten im beraterischen Dialog mit diesen Ambivalenzen so umzugehen, dass sich für die Klienten neue Bewertungs- und/oder Handlungsmöglichkeiten ergeben (Clement 2004, 157). Die Ressourcenorientierung gilt als Pädagoge und Berater auch sich selbst gegenüber, d.h. der Berater sollte darauf achten, mit seinen Empfindungen und Fähigkeiten in Kontakt zu bleiben und dass es ihm im Gespräch gut geht (Hubrig/ Herrmann 2005, 112). Dass der Berater als teilnehmender Beobachter immer auch das Beratungssystem beeinflusst, gibt ihm zum einen überhaupt die Möglichkeit, Veränderung anzuregen, zum anderen für das, was er tut, aber auch die Verantwortung. Einflussmöglichkeiten von Beratern werden stets vom Klienten verliehen und sind jederzeit kündbare Positionen (Clement 2004, 142).

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Überblicksartig lässt sich systemisch-konstruktivistische Beratung von traditionelleren Formen der Beratung wie folgt unterscheiden:

konventionelle Beratung

systemisch-konstruktivistische Beratung

individuumszentrierte Sichtweise

Individuum als selbstständiges System mit Kontextbezogenheit

lineare (Mono)kausalität

Zirkularität und Reflexivität

Fokus auf Inhalt

Fokus auf Form und Muster

wirklichkeitsspiegelnde Funktion von Sprache

wirklichkeitsschaffende Funktion von Sprache

Aufdeckung des Unbewussten430

Spiel mit Wirklichkeits- und Möglichkeitsräumen

(bestimmende) Gewissheit

Neugier, Zweifel und dialogische Offenheit

methodische Bindung und Starre

methodische Vielfalt und Kreativität

Wert auf Verstehen

Wert auf Nicht-Verstehen

Widerstand brechen

mit dem ‚Widerstand’ gehen

pathologisierende Beratungsmodelle

ressourcen- und lösungsorientierte Beratungsmodelle

Misstrauen ♢ Berater weiß, was für Klienten gut ist

Vertrauen ♢ Klient weiß, was für ihn gut ist.

einseitige Behandlung

Ko-Inspiration und Kooperation

patronisierende Fürsorge, Berater als Experte

Kundenorientierung, Kunde als Experte

Distanzierung ♢ Berater als Zuhörer

Kontakt ♢ Berater als Prozessbeteiligter (immer wieder in Beobachtungsposition zweiter Ordnung)

Für die systemisch-konstruktivistische Beratung in Schule ist aufgrund der Komplexität der Institution und der vielfachen Eingebundenheit von Schülern in verschiedene Systeme (Familie, Schule, Klasse, Peers usw.) im Konfliktfall die Möglichkeit der Berücksichtigung verschiedener Kontexte wichtig. Hierbei werden Konflikte als Problemsysteme gesehen, d.h. als Kommunikationssysteme, die sich um das als auffällig definierte Verhalten eines oder mehrerer Menschen bilden. Sie sagen zunächst, systemisch-konstruktivistisch gesehen, nichts über seine Charaktereigenschaften aus.

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Pädagogen sollten Kennzeichen von Problemsystemen um „schwierige Schüler“ kennen. Zu nennen sind hier insb.:

Jede dieser Beschreibungsebenen bietet Interventionsmöglichkeiten. Den ersten kooperativen Schritt in Richtung Lösungssuche sollten die aufgrund ihrer formalen Machtposition die Lehrer unternehmen (Hubrig/ Herrmann 2005, 108).

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Die folgende tabellarische Übersicht stellt den Versuch eines modell-logischen, analytisch-idealtypischen Überblicks über systemisch-konstruktivistisches Arbeiten im Beratungsbereich im engeren Sinne dar. Aus einigen wenigen grundlegenden Prämissen werden zunächst allgemeinere Folgerungen, dann aus diesen wiederum erste Deduktionen für beraterisches Arbeiten abgeleitet. Im Anschluss hierzu werden Haltungen und Methoden abgeleitet und zugeordnet.

Abb. 10-2: Systemische Beratung im engeren Sinne - Kompendium-Tabelle

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Eine Übersicht zu systemisch-konstruktivistischen Haltungen und Methoden im Beratungsprozess im engeren Sinne als Schaubild unter besonderer Berücksichtigung der Etablierung und Erhaltung der Beziehung zwischen Berater und Beratenem bietet Schlippe:431

Abb. 10-3: Beratungsbeziehung (Schlippe et al. 2004, 77)

Wenngleich die Kenntnis und bewusste Anwendung beraterischer Sichtweisen, Haltungen und Handwerkszeug im Kontext Schule hilfreich sein können, sind Pädagogen keine Therapeuten und ihr Kerngeschäft bleibt der Unterricht.

10.3 Unterschiede zwischen Lehrern und Therapeuten

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Lehrer gleichen in ihrer Funktion als Erziehende eher den Eltern als Therapeuten. Wie bei den Eltern ist die Interaktion und Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern auch „Bestandteil des Alltagslebens“ und behandelt nicht primär die „Reflexion von Verhaltensweisen, Kommunikations- und Beziehungsmustern, Gefühlen und Gedanken“ (Leonhardt 1998, 82) - wenngleich diese letzteren Aspekte in einer postmodernen konstruktivistischen Schulgestaltung wünschenswerter und nötiger werden. Auch kann der Erziehungsauftrag - anders als ein Beratungsauftrag – von Pädagogen nicht zurückgegeben werden432 (Hargens 2002, 30433).

Allerdings lassen sich erhebliche Parallelen erkennen zwischen verschiedenen Situationen von Gesprächsführung in Schule, die zu Kooperation einladen wollen und in denen ein ähnliches - aus systemisch-konstruktivistischer Sicht günstiges – Vorgehen hilfreich ist. Hennig/ Ehinger (2003, 81) zeigen wichtige Gemeinsamkeiten zwischen beraterischer und unterrichtlicher Gesprächsführung auf.

Abb. 10-4: analoge kommunikative Grundprozesse von Unterrichten und beraterischer Gesprächsführung (Hennig/ Ehinger 2003, 81)

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Beratung in Schule geht aber freilich über das Unterrichtsgeschehen hinaus und erfordert immer wieder auch ‚respektloses, reflektiert-mutiges Wagen’ (Cecchin et al. 2005, 76f). Die Grenzen zwischen pädagogischer und beraterischer Unterstützung sind fließend. Schlippe/Schweitzer (2002, 114) unterscheiden fünf Formen von Hilfesystemen434, deren Beschreibungen (vgl. unten Abb. 10-5, Unterpunkte 2) auf schulische Unterrichts- und Beratungssituationen übertragbar sind. Vor allem die ersten drei Aspekte sind für Schule relevant, auch bereits im Unterricht.435 Beiträge zur Auflösung von Problemsystemen – unten als ‚Therapie’ bezeichnet - kann auch Schule leisten. Der fünfte Punkt scheint zunächst in eine eher schulferne Richtung von Fürsorge (Ludewig 2002, 173)zu zeigen; allerdings kann über gut gemeinte Hilfsangebote Verantwortung durch Pädagogen in einer Art übernommen werden, dass eine krisenhafte, problemlösende Entwicklung beim Schüler (in seiner Familie) gerade verhindert wird (Hargens 2003).

Abb. 10-5: Unterstützungssysteme (nach: Schlippe/Schweitzer 2002, 114)436

In der Postmoderne und aus systemisch-konstruktivistischer Sicht sind Zusatzausbildungen für den ‚normalen’ wie gerade auch für den Beratungslehrer also angebracht. Beratung hat angesichts steigender problematischer Fälle nicht nur der Beratungslehrer zu unternehmen, von ihm wird aber ein gegenüber den Kollegen gesteigertes Wissen und Können in diesem Gebiet zu erwarten sein. Neben der Einübung von Haltungen und Methoden muss es bei solchen Fortbildungen auch um eine Suche nach den angemessenen eigenen Grenzen gehen (Kap.12.2).

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Eine besondere Funktion im Beratungsbereich kann aufgrund seiner Funktion dem Beratungslehrer zufallen. Seine Wichtigkeit wächst ohnehin mit dem allgemein steigenden Beratungsbedarf (Huschke-Rhein 1998b, 153)437, aber auch dadurch, dass Beratungsstellen wochenlange Wartezeiten haben, Schulpsychologen überlastet sind und Therapeuten in Privatpraxis teuer sind (Voß 2005c, 90). Der Gang zu allen drei letztgenannten Anlaufstellen hat obendrein pathologisierendere Nebenwirkungen als ein Gespräch im Schulhaus.

Die Klärung eigener Positionen (im System wie im Einzelfall) ist gerade für Beratungslehrer besonders wichtig, da ihre konkrete Funktion im System des Schulhauses i.d.R. unklar ist, so dass unrealistische und mitunter widersprüchliche Erwartungen an ihn herangetragen werden. So erwarten Kollegen gelegentlich die Vermittlung von schnell wirksamen, standardisierten, unmittelbar anzuwenden Techniken (‚Rezepten’) - bei Nichteinmischung in ihren Unterricht und Klassen, sowie unter Respektierung ihrer inhaltlichen und formalen Definition von Solidarität für Entscheidungen und Maßnahmen (Palmowski 1998a, 26). Außerdem versuchen meist verschiedene Seiten, den Beratungslehrer zum Koalieren zu bewegen. Hier ist die Kenntnis von Einladungen bzw. Fallen und vom Umgang mit diesen hilfreich, die im folgenden Kapitel (10.4) behandelt werden. Die Funktion von Beratungslehrern oder Förderpädagogen muss im System des jeweiligen Schulhauses verhandelt und veröffentlicht werden. Der Klärung der eigenen Position als (Beratungs-)Lehrer im konkreten Fall sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet: Umgang mit Fallen (Kap. 10.4) und die Positionierung in Gespräch und Konflikt (10.5). Erst nach ausreichender Klarheit über schulpädagogische Positionierungen (insb. gegenüber Schülern, Klassen und Eltern) macht eine gezielte Methodenwahl (10.6) Sinn, um das Gegenüber gezielt zur Kooperation einzuladen (10.7).

10.4 Fallen und ‚Einladungen’

In als konflikthaft erlebten schulischen Situationen versuchen in der Regel verschiedene Seiten (meist unbewusst), den Pädagogen zur Übernahme von – aus einer Außenperspektive betrachtet - unrealistischen oder für den Beratungsprozess eher hinderlichen Aufgaben zu bewegen oder ihn zum Koalieren ‚einzuladen’. Bspw. möchte der Schulleiter den beratenden Pädagogen als Handlanger für die eigenen suggerierten oder direkt vorgegebenen Lösungsvorstellungen sehen, während betroffene Kollegen erwarten, in der Richtigkeit ihrer vom Direktor abweichenden Meinung Unterstützung zu finden, um gegen diesen im Entscheidungsfindungsprozess zu koalieren, während der betroffene auffällige Schüler im begleitenden Lehrer ein Sprachrohr und Druckmittel gegenüber den eigenen Eltern erblickt, die wiederum sich eigentlich nur wünschen, der Lehrer möge seine Kollegen und die Schulleitung zu Nachsicht bewegen (Palmowski 1998a, 27). Solche Einladungen sind nicht notwendig Ausdruck perfiden Taktierens, sondern eher davon, dass Ratsuchende i.d.R. mit ambivalenten Wünschen und Vorstellungen eine ‚Beratung’ aufsuchen oder ihr beiwohnen (Storath 1998, 62). Außerdem wird der Beratungsbegriff in Schule meist sehr unklar verwendet.

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Die Problematik bzw. Falle besteht nun darin, dass der Pädagoge bei Annahme solcher ‚Einladungen’ in seinen Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt wird. Beratungsprozesse werden dann (zumindest vom beratenden Pädagogen) als anstrengend, wenig fruchtbar und vielleicht sogar als unmöglich erlebt. (Vermeintliche) Anliegen anderer Beteiligter sind also frühzeitig zu hinterfragen bzw. genauer zu bestimmen. Neutralität (Kap. 10.6.8) und Auftragsklärung (Kap. 10.6.3) sind hier hilfreiche Instrumente.

In Anlehnung an Schumacher (2002), Bachmair et al (1998, 128f) und Palmowski (1995, 27) sollen hier anhand einiger Beispiele solche unbewussten Erwartungen bzw. Einladungen im schulischen Umfeld exemplifiziert werden. Einladungen

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Im Umgang mit solchen Einladungen sind einige Punkte hilfreich zu beachten. Da sind zunächst die psychischen Machtverhältnisse (Kap.9.1.9). Bei der Beratung im engeren Sinne will der Pädagoge nichts von den Eltern oder den Schülern, sondern diese wollen etwas von ihm. Im Kontext von Kontrolle und Auswahl hingegen informiert der Lehrer die Erziehungsberechtigten über eine ‚Tat-Sache’, also einen ‚Sachverhalt’.

Grundsätzlich kann eine Auftragsklärung (‚wer will was von wem wozu?’, Kap.10.6.3) nützlich sein ebenso wie eine Klärung des Interaktionsangebots (Besucher, Klagender, Kunde, Kap.10.5.3) oder eine Selbstthematisierung des Beraters (z.B. ‚Ich würde Ihnen gerne mitteilen, was ich im Moment meine zu spüren...’, Kap.10.6.7). Des Weiteren ist bei scheiternden Kooperationseinladungen ein Übergang in den Kontext von Kontrolle und Selektion, d.h. zur reinen ‚Informationsweitergabe’, fast immer möglich oder die Infragestellung bzw. Ablehnung von Beratung.

Klarheit gegenüber ‚Fallen’ bzw. ‚Einladungen’ verhindert, dass man sich als Pädagoge später in kraftraubenden Situationen mit wenig Handlungsspielraum wiederfindet. Insofern ist sie gesundheitsförderlich. In der Einschätzung von ‚Einladungen’ und verdeckten Aufträgen geht es auch um die Frage der eigenen Positionierung als Pädagoge oder Berater in den jeweiligen Situationen.

10.5 Positionierung

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Bewusstheit über die eigene Positionierung in schulischen Konflikten und Gesprächssituationen ist angesichts der hohen Komplexität schulischer Kontexte und der Funktionsvielfalt des Lehrerberufs wichtig und im übrigen i.d.R. herausfordernder und schwieriger als für einen Berater in eigener Praxis oder einer Beratungsstelle. „In der Schule können Gespräche schwierig werden, weil Lehrer in unterschiedlichen Rollen [...] verschiedene kommunikative Situationen gestalten. Der Kontext gibt [...] unterschiedliche Bedeutung [...]. Zu jeder Situation gehört ein Regelsystem, was zu tun ist, wie Verhaltensweisen und Aussagen zu interpretieren und zu bewerten sind“ (Hubrig/ Herrmann 2000, 153).

Ist der Pädagoge sich über seine Position unklar oder schätzen die Gesprächspartner die Situation unterschiedlich ein, dann klaffen Gesprächsfunktion und Gesprächsverhalten auseinander und es kommt in der Regel zu Missverständnissen, die eine u.U. bereits konfliktreiche Situation eher verschärfen als entlasten (Storath 1998, 67). Außerdem bestimmt „die Frage, wer der Beteiligten ein Problem [...] sieht, [...] sehr stark, in welcher Motivationshaltung die Gesprächspartner ins Gespräch gehen, welche Erwartungen bestehen, in welche Rolle ich als Lehrer gedrängt werden kann bzw. welche Rolle ich übernehmen möchte und welche nicht“ (Hennig/Ehinger 2003, 85). Pleyer (2006, 108) fordert daher, dass Arbeitsbeziehungen im psychosozialen Bereich, und damit auch in Schule, sowohl mit Kindern als auch mit Eltern weniger „durch institutionelle Regularien, sondern vor allem durch klare persönliche Positionierungen definiert“ werden sollten.

Insofern sollte der Pädagoge vor oder spätestens in schwierigen Gesprächen für sich und/oder gemeinsam klären,

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Die Festlegung der eigenen Position als Pädagoge bezieht sich damit insb. auf die pädagogischen Kontexte (Kap.9.1), die für Schule relevanten Machtarten (Kap. 9.1.7) und die Frage der primären Verantwortlichkeit des Pädagogen für Inhalte oder Form von Gespräch(sverläuf)en.439 Positionierung beinhaltet eine erste grundlegende Klarheit über die ‚Richtung’ der Beziehungsgestaltung und über die Form des zu führenden Gesprächs. Hier zeigen sich die systemischen Vorstellungen vom Vorrang der Beziehungsebene vor der Inhaltsebene und auch die große Bedeutung von Mustererkennung (Hennig/ Knödler 2000, 121).

Positionierung wird hier verstanden als weniger grundsätzlich aber mehr richtungsgebend als eine Grundhaltung (vgl. Kap. 10.2) und auch als stärker Orientierung gebend als eine bloße Methode oder Technik (Grell 1995). Positionierungsklarheit bietet für Lehrer, die (wie in der hier untersuchten Fortbildung) keine vollständige Beratungsausbildung durchlaufen, eine Möglichkeit, innerhalb des hochkomplexen Rahmens von Schule Orientierung in (außer)unterrichtlichen Gesprächen zu finden, ohne sich unbedingt umfangreich detaillierte Beratungsmethoden aneignen zu müssen. Außerdem bietet Positionsklarheit eine zusätzlich Möglichkeit, nicht nur Orientierung zu finden, sondern sich Grundhaltungen anzunähern, die ansonsten für Fortbildungsteilnehmer i.d.R. am ehesten und vielleicht nur über die Einübung von Methoden zu erlernen sind. Positionierung liegt damit als eine Art Bindeglied zwischen abstrakten Grundhaltungen einerseits und konkreten Instrumenten andererseits. Damit bilden sie für Umwelten berücksichtigende, systemisch-konstruktivistisch arbeitende Pädagogen in einem Umfeld wie Schule mit seinen hohen und vielfältigen Anforderungen an Funktionsdifferenzierung eine eigenständige und wertvolle Orientierungshilfe.

▼ 417 

In Kap. 10.5.1 werden zunächst neun Positionierungen für außerunterrichtliche Gespräche unterschieden und beschrieben. In Kap. 10.5.2 werden sie zwischen den Polen von Selbst- und Fremdbestimmung440 eingeordnet. Abschließend werden kurz grundlegende Interaktionsangebote von Ratsuchenden differenziert (Kap. 10.5.3) und der beraterische Umgang mit ihnen thematisiert.

10.5.1 außerunterrichtliche Gesprächssysteme

Im folgenden sollen neun Positionierungen von Pädagogen im schulischen Kontext unterschieden und in Form von ‚Gesprächssystemen’ beschrieben werden. Die Unterscheidung verschiedener ‚Gesprächsformen’ (Hubrig/ Herrmann 2005, 117), oder ‚Gesprächssituationen’ (Hubrig/ Herrmann 2005, 120) für den schulischen Kontext findet sich in der Beratungsliteratur zu Schule (auch bei B.Rademacher 2004, 45). In der hier vorliegenden Arbeit wird sie allerdings grundlegender und weitergehend ausdifferenziert als in der bisher vorliegenden Literatur.

Der Begriff des ‚Gesprächssystems’ meint, dass aus Positionierungen psychischer Systeme bestimmte Formen von Verhalten bzw. Kommunikation entstehen, die Form-Merkmale aufweisen, mittels derer diese Kommunikationsformen als Gesprächssysteme beschrieben werden können. Bestandteile dieser Systeme sind also bestimmte Formen der Kommunikation (Luhmann/ Baecker 2006), die bestimmte Positionen und Zielvorstellungen der Beteiligten widerspiegeln..

▼ 418 

Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über neun Positionierungen bzw. Gesprächssysteme, die für außerunterrichtliche Gespräche (und damit für den ‚Beratungs’-Bereich im weiteren Sinne) in Schule typisch sind. In der ersten Zeile werden die beiden pädagogischen Kontexte (Kap.9.1) unterschieden und um Situationen ergänzt, in denen durch den Stärkeren auf die Aktualisierung von Macht verzichtet wird oder Macht in etwa gleich verteilt ist. In der ersten Spalte wird danach unterschieden, ob der Pädagoge in einer Situation primär Verantwortung auf der Inhaltsebene trägt - also dafür, dass bestimmte Dinge mitgeteilt werden - oder auf der Ebene der Form - also dafür, dass ein kommunikativer Prozess in einer bestimmten Form gesichert bleibt, zunächst unabhängig vom inhaltlichen Ergebnis (Schumacher 2002; Hennig/ Knödler 2000, 120). Daraus ergibt sich ein Sechsfelderschema, in das unterschiedliche Gesprächssysteme, wie sie in Schule anzutreffen sind, eingeordnet werden können.

Abb. 10-6: außerunterrichtliche Gespräche mit Schülern und Eltern

Dieses Schema kann auf mindestens vier unterschiedliche Weisen genutzt und verstanden werden. Zunächst (a) kann der Pädagoge sich anhand der Tabelle auf ein Gespräch vorbereiten, indem er für sich klärt, wo er ‚unterwegs’ ist. Er kann des Weiteren (b) innerhalb eines Gesprächs sich immer wieder darüber Rechenschaft ablegen, wo man gerade aus seiner Sicht unterwegs ist bzw. sein sollte und (c) entsprechende Diskrepanzen (d) ggf. direkt ansprechen.

▼ 419 

Innerhalb eines Gespräches können die Gesprächspartner in verschiedenen Gesprächssystemen unterwegs sein. Modernere Formen der (Beg)Leitung sind Mischformen bzw. bieten Spielräume in der Wahl der Positionierungen bzw. Gesprächssysteme. Gespräche zwischen Lehrer und Schüler zur gemeinsamen Erstellung eines Förderplans, das Jahresgespräch eines Schulleiters mit einem Mitarbeiter oder Konfliktgespräche bspw. können ganz unterschiedliche Felder durchlaufen.

In der Regel wird die Frage, wo die Gesprächspartner sich im Gespräch befinden, kommunikativ indirekt und ggf. strategisch verhandelt, selten wird sie direkt geklärt (was auch nicht immer nötig ist). Angesichts der Komplexität schulischer Situationen kann aber die Klärung der Frage, welche Gesprächsform man gerade betreibt, wichtig sein, um die Wahrscheinlichkeit für Missverständnisse zu verringern. Eine solche direkte Klärung findet in angemessener Form nur auf der Meta-Ebene statt.

Im Folgenden werden die neun Gesprächssysteme in der Reihenfolge der Nummerierung in der obigen Tabelle (Abb. 10-6) beschrieben.

10.5.1.1 amtliche Mitteilung machen

▼ 420 

Hier teilt der Lehrer, formal und knapp, Informationen aus dem Kontroll- und Auswahlkontext qua Amt mit oder er gibt Anweisungen – ebenfalls qua Amt. Man könnte in diesem Feld auch von Anordnung, Ansage oder Verkündigung sprechen. Das können (Be)Urteil(ungen), Maß- und Stellungnahmen sein, die Konsequenzen besitzen (können), wie z.B. Notenstand oder Regelverstoß. Der Pädagoge gibt die Information weiter und besitzt hier politische Macht und inhaltlichen Führungsanspruch. Er kann um Mitteilungen gebeten werden (er besitzt dann auch psychologische Macht), sie selbst geben wollen oder sie mitteilen müssen. Insb. im letzteren Fall (aber letztlich grundsätzlich) kann er darauf hinweisen, dass er selbst bestimmten Schulregeln und Zwängen, u.U. auch Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber oder seinem Gewissen unterworfen ist. Durch eine solche Dreieckskonstruktion (Triangulation) kann er, wenn er dies will, sich als mit dem Schüler oder den Eltern in einem Boot sitzend präsentieren und zur gemeinsamen Lösungssuche einladen. Er ist dann eher passiver Erleider des übergeordneten Aspekts, also z.B. von bindenden Gesetzen oder dem bindenden eigenen Gewissen.

Abb. 10-7: Triangulationssituation (nach: Hubrig/ Herrmann 2005, 127)

Prinzipiell gibt es in Machtpositionen qua Amt vier idealtypische Möglichkeiten des Umgangs mit abermals übergeordneter Macht, die alle ihre Vor- und Nachteile haben. Sie sollten gemäß der Situation und der eigenen Persönlichkeit reflektiert und abwechselnd einsetzbar sein: Diese vier Formen des Umgangs mit Triangulation in führender Position nach Looss (2006) wurden bereits in Abb. 9-10 auf Seite 343 dargestellt.

10.5.1.2 Ratschlag geben

▼ 421 

Auch hier werden Informationen weitergegeben, allerdings immer auf Anfrage des anderen, und sie beziehen sich auf den Unterstützungsbereich (z.B. „Wie kann ich mich/ könnte mein Sohn sich in Deutsch verbessern?“). Der Pädagoge bezieht hier inhaltlich Position und gibt Expertenwissen, z.B. zu Lernfragen, in der Form von (erbetenen) Ratschlägen weiter. Der Fluss der relevanten Information ist tendenziell einseitig (Hubrig/ Herrmann 2005, 118). Der (ernsthaft) Anfragende gibt dem Lehrer psychologische Macht.

Es lassen sich zwei Arten der beraterischen Ratschlags-Interaktion mit unterschiedlicher Verantwortungsübernahme durch den Begleiter unterscheiden (Radatz 2006, 88ff). In der ‚Expertenhaltung’ (Klient: ‚Nehmen Sie mir mein Problem ab und lösen Sie es’) entsteht ein asymmetrisches Verhältnis, das dem Berater Macht und Autorität einbringen kann, aber der Klient besitzt auch die Möglichkeit, über sein Handeln den Erfolg (auch des Ratschlags und Beraters) zu verhindern. In der ‚Arzt-Patienten-Haltung (Klient: ‚Sagen Sie mir, was mein Problem ist, nehmen Sie es mir ab und lösen Sie es’) bekommt der Berater zusätzlich Macht und Verantwortung für die Problemdiagnose zuerkannt bzw. zugeschoben. Das Verantwortungs- und Expertisefeld vergrößert sich dann noch weiter.

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht wichtig zu betonen ist, dass der Ratsuchende (genauer: der konkrete Vorschläge oder gar Handlungsanweisungen Ersuchende) allerdings in der „Würde der Selbstorganisation“ (Huschke-Rhein, 1998, 27) unangetastet bleibt 441, d.h. er muss die Ratschläge nicht befolgen. Folgt der Ratsuchende den Vorschlägen, stellt sich die Frage, inwieweit der Ratschläge erteilende Pädagoge Mitverantwortung für Inhalte bzw. Handeln des Anfragenden übernommen hat. G.Schmidt (2004a) schlägt deshalb vor, die Prüfung von Vorschlägen durch den Ratsuchenden und seine Selbstverantwortung für deren Übernahme explizit anzusprechen und bei diesem zu belassen. Trotzdem bleibt der Beratende merkbar inhaltlich positioniert. Erziehungsberatung bspw. gehört in diese Kategorie. Ratschläge können auch indirekt gegeben werden, z.B. in Geschichten verpackt. „Reichen ein pädagogischer Rat[schlag, R.M.] und eine deutliche Konfrontation [Mitteilung, R.M.] aus, um etwas zu verändern, braucht man keine systemischen Beratungsgespräche“ im engeren Sinne (Hubrig/ Herrmann 2005, 119).

10.5.1.3 in den Austausch (1. Ordnung) gehen

▼ 422 

Der gemeinsame Austausch zeichnet sich – im Gegensatz zur Verhandlung - durch seine Unverbindlichkeit aus. Keiner will (zunächst) offiziell etwas vom andern (als den Austausch unter gleichmächtiger Interdependenz). Auch politische Macht wird nicht aktualisiert. Der Austausch von Sichtweisen oder wechselseitig vereinbartes Feedback (Bastian et al 2003) gehören z.B. in diese Kategorie. Das gleiche gilt für Bilanzierungen in Mitarbeitergesprächen oder für Konfliktgespräche, solange diese (vorerst/ nur) das Ziel der Feststellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten verfolgen.442

10.5.1.4 Verhandlung führen

Verhandlungen laufen anders als der Austausch auf eine verbindliche Abmachung hinaus, die beide Gesprächspartner erreichen wollen und gemeinsam aushandeln, z.B. einen Erziehungsvertrag oder Zielvereinbarungen in Mitarbeitergesprächen (Heyde/Linde 2007). Im Verhandlungsergebnis können sich Machtkonstellationen widerspiegeln.

10.5.1.5 Moderation leiten

Moderation soll Gruppen dabei unterstützen, ein Thema oder eine Aufgabe inhaltlich zielgerichtet, effizient, eigenverantwortlich, möglichst störungsfrei sowie an der alltäglichen Praxis orientiert zu bearbeiten (Hartmann et al. 2000, 13). Der Moderator besitzt psychologische Macht, wenn die Bitte um Moderation von allen Beteiligten tatsächlich getragen wird. Er ist inhaltlich neutral und darf im moderierten Themenbezug nicht als Vertreter der politischen Macht auftreten, da sich sonst das Gespräch nicht frei entfalten kann. Moderiert der formal bzw. politisch Mächtige dennoch, muss er klar und deutlich sagen, was in welchem Rahmen inhaltlich verhandelt werden kann. Die Moderation begleitet Kontrahenten insb. in den Gesprächssystemen 3 und 4 der Tabelle (S.397). Angesichts zunehmender Aushandlungsprozesse in Schule dürften Moderationsanlässe zunehmen (Jäpelt 2004a, 228). Bei der Übernahme einer außerunterrichtlichen Moderationsfunktion443 ist ggf. insb. auf die Unterscheidung zwischen Leitung und Moderation zu achten (vgl. Abb. 9-12 auf S.347).

10.5.1.6 Mediation leiten

▼ 423 

Die Mediation ist eine geregelte Form der neutralen Streitschlichtung mittels festgelegter Schritte und klarer Regeln (Besemer 2001). Sie findet i.d.R. freiwillig statt und legt gerade im schulischen Rahmen Wert auf transformative Aspekte des Prozesses sowie auf „empowerment and recognition“ (Bush/ Folger 2004). Insb. an Schulen mit Programmen zur Veränderung der Konfliktbearbeitungskultur sind Mediationen üblich (Faller 1998, Rademacher 2006), die zunehmend von den Schülern selber übernommen werden sollen.

10.5.1.7 Beratung geben

Beratungsgespräche im engeren Sinne liegen dann vor, wenn ein Klient vom Berater Prozessunterstützung will für ein Problem, zu dessen Lösung der Klient beitragen will. Inhaltlich neutral, trägt der Berater Verantwortung für Form und Prozess des Gesprächs, während der Klient als ‚kund-iger’ Gesprächspartner Kooperationspartner und Selbststeuerungsexperte ist und bleibt (G.Schmidt 2004a, 79). Der Berater lässt die Verantwortung des Klienten für dessen Entscheidungen beim Klienten. Der Schüler trägt die Verantwortung für sein Leben und damit auch für die mögliche, befristete Übertragung von Prozessbegleitungsverantwortung an Berater (Palmowski 1997a, 46). Beratung ist stets eine Hilfe, die als Angebot deklariert und in ihrer Form vor und auch weiterhin während des eigentlichen Beratungsprozesses ausgehandelt wird. Hilfreich ist, mögliche Aufträge zu klären – wobei eine solche Auftragsklärung444 bereits zumindest teilweise in den Bereich der Metakommunikation (Kap.10.5.1.9) fällt. Der Berater benutzt die ihm vom Klienten verliehene Macht dazu, sich überflüssig werden zu lassen.

Bei der hier erläuterten Gesprächsform geht es um Beratung im engeren Sinne, die, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, kooperativ und zieldienlich (G.Schmidt 2004a,b) und in diesem Sinne nicht-hierarchisch sondern gleichberechtigt (Palmowski 1998a, 69,29) vonstatten gehen soll (daher ist sie auch beidseitig aufkündbar). Kooperation soll, wo möglich, nicht nur für sondern mit dem Kind bzw. den Eltern passieren. Palmowski (1998a, 29) stellt daher die beiden Forderungen auf: „Vom Operieren zum Kooperieren! Vom Behandeln zum Verhandeln!“ Berater „haben also als Erstes die zentrale Aufgabe, den Kontext mit den Klienten zusammen so zu gestalten, dass diese für sich jederzeit überprüfbar sicherstellen können, dass ihre Autonomie und ihre persönliche Würde respektiert werden, dass sie uneingeschränkt die Autorität zugesprochen bekommen, über die Entwicklungsschritte in ihrem Leben zu bestimmen, und dass die [...Berater] sie zu keinem Schritt schubsen werden, sondern ihnen nur mit Respekt für ihre eigene Entscheidung als reflektierende Reisebegleiter ohne Kontrollversuche zur Seite zu stehen“ (G.Schmidt 2004a, 347).445

▼ 424 

Die Erfahrung, als Schüler in Schule mit seinen eigenen Problemen kooperativ aufgenommen zu werden, kann, da dies dem institutionellen Rahmen und vermutlich den generellen Erfahrungen eher widerspricht, selbst schon eine massive Intervention darstellen, die eine „hinreichende Variable für Verhaltensänderungen“ darstellen kann (Palmowski 1998a, 39).446

10.5.1.8 Beratung/ Mediation im Zwangskontext geben

Ein partnerschaftliches kooperatives Beratungssystem kann nicht zustande kommen, wenn der Begleitete subjektiv den Begleiter im formalen Kontroll- oder Beurteilungskontext erlebt (Palmowski 1998a, 21). Dennoch kann unter Zwangsbedingungen beraten werden, allerdings unter Bedingungen von Triangulation, die dann auch offen benannt werden müssen: Es gibt einen machtvollen Dritten, der die Verhaltensweisen des Klienten derart als ein Problem definieren kann, dass dieser, ohne dass er diese Interpretation akzeptiert, Bereitschaft zeigt, sich zu einem Beratungsgespräch im Zwangskontext zu begeben. Das Ausüben sozialer Kontrolle wird durch andere Personen (z.B. dem Schulleiter) wahrgenommen, so dass der Berater empathisch mit dem Schüler schauen kann, wie dieser sich verhalten muss, um den Anderen (hier den Schulleiter) in dessen kontrollierender Funktion wieder los zu werden (Conen 1996, 178). Für Schule mit ihren Zwangskontexten stellen Beratung und Mediation im Zwangskontext eigene Chancen und Ressourcen dar, wenn sie bewusst, transparent und angemessen gehandhabt werden (Kap. 9.12.2).

Abb. 10-8: triangulatorische Utilisation schulischer Zwangskontexte für eine Beratung im Zwangskontext

▼ 425 

Eine klare Markierung von Grenzen, ein klar abgesteckter und auf der Metaebene erläuterter Rahmen kann in einer solchen triadischen Beziehung die notwendige Voraussetzung für eine nützliche Beratung bilden (Pleyer 1996, 190). Der Berater beansprucht hier keinen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, berücksichtigt aber explizit die Kontexte. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Definitionen von Problemen und Lösungen stellen dann einen zentralen Punkt in der Arbeit mit unfreiwilligen Klienten dar (M.Weber 2006b, 218).

Der Berater im Zwangskontext sollte kommunikative Verbindlichkeit zeigen in

▼ 426 

Loschky (2003, 17f) empfiehlt für eine Beratung in Zwangskontexten des Weiteren,

Dann können begrenzte Spielräume eröffnet werden nach dem Motto: ‚Du bist hier unter Zwang, wie könnte ich dir helfen, mich wieder los zu werden/ dass die anderen dich wieder in Ruhe lassen?’ (Schumacher 2002). Beratungen im Zwangskontext erhöhen die Notwendigkeit von innerschulischer Kooperation und stellen die Frage nach dem Umfang von Vertraulichkeit (vgl.S. 470).447

10.5.1.9 auf die Meta-Ebene gehen

▼ 427 

Der kommunikative ‚Gang’ bzw. Wechsel auf die Meta-Ebene kann als ein ‚Austausch zweiter Ordnung’ im Sinne einer gemeinsamen Selbst- oder Meta-Reflexion verstanden werden. Bei dieser Art des Austauschs verbleiben die Gesprächspartner nicht auf der inhaltlichen Ebene („Was denkst du?“), sondern schauen, wie sie miteinander kommunizieren („Was tun wir hier eigentlich gerade?“) oder wie der Klient mit sich selber umgeht. Besonders günstig ist es, eine explizit wohlwollende Außenperspektive zum (gemeinsamen oder Eigen-)Handeln herzustellen (zu helfen). Auch Teile der Auftragsklärung gehören in diese Kategorie, insofern als Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf der Meta-Ebene verhandelt werden (Palmowski 1997a, 46). Vor allem Unterstützungsangebote mit Prozessverantwortung (Beratung, Mediation, Moderation) sollten immer wieder auf die Meta-Ebene gehen, weil hier ihr kommunikativer Rahmen abgeklärt wird. Aber auch im Mitteilungskontext kann der Einbezug der Metaebene ein Signal der Einladung zur Kooperation sein.

Eine weitere Stärke der obigen Unterschiedsbildung idealtypisch modellierter Gesprächssysteme liegt darin, dass diese die Verteilung von Selbst- und Fremdbestimmung unterschiedlich definieren. Angesichts der Vielfalt pädagogischer Funktionen steht damit ein sowohl komplexitätsreduzierendes als auch ausreichend bewegliches Modell zur Verfügung, um sich als Lehrer im Kontinuum von pädagogischer Selbst- und Fremdbestimmung aktiv und flexibel positionieren zu können. Das steigert die eigene Klarheit, Handlungs- und Gestaltungsfreiheit.

10.5.2 Gesprächssysteme zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

Die verschiedenen genannten Gesprächssysteme, die in der momentanen Praxis der undifferenzierten schulischen Alltagssprache alle unter dem Begriff ‚Beratung’ firmieren können, befinden sich alle innerhalb des mit Schule verbundenen generellen Zwangsrahmen und begleiten Schüler in unterschiedlicher Weise auf deren Weg zu mehr Selbstständigkeit. Die Entscheidungen für bestimmte Gesprächsformen und Positionierungen gestalten – zumal in Konfliktfällen – wesentlich Beziehung gegenüber Schülern mit und sind grundsätzlich Ausdruck der pädagogischen „Gratwanderung zwischen Selbst- und Fremdbestimmung“ (Storath 1998, 65) im generalisierten schulischen Zwangsrahmen. Professionelle pädagogische und beraterische Interaktion und Gesprächsführung zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Balance halten „zwischen der Selbstverständlichkeit solidarischer Partizipation und der gleichzeitigen Notwendigkeit, so viel Distanz zum Erleben des [...Gegenübers, R.M.] zu bewahren, dass man nicht selbst in Entsetzen versinkt“ (Schlippe et al 2004, 92).

▼ 428 

In Rückgriff auf die Ausführungen zu schulischen Zwangskontexten (Kap.9.12) lassen sich die verschiedenen Gesprächsformen in idealtypischer Weise Abstufungen zwischen Hetero- und Autonomie zuordnen (vgl. Abb. 10-9).

Abb. 10-9: außerunterrichtliche Gesprächsformen zwischen Hetero- und Autonomie

▼ 429 

Für den Bereich der expliziten Umsetzung von Zwangskontexten beschreibt Alberstötter (2006a, 46ff) vier wesentliche Formen der Grenzsetzung. Diesen können bestimmte Felder aus dem obigen Schaubild und damit Gesprächsformen modellhaft zugeordnet werden:

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass ein beratender Pädagoge Gefahr laufen kann, um sich selbst als Helfer und ‚Gut-Mensch’ zu sehen, den Klienten länger in teilentmündigenden ‚Beratungssettings’ bzw. Gesprächsformen festzuhalten, als dies eigentlich situationsangemessen wäre (Hargens 2003, Schmidbauer 2001). Möglich ist auch, dass Lehrer und/oder Schulhaus zu spät, dann aber zu radikal zu Vorgehensweisen greifen, die im Schaubild eher links anzusiedeln sind. In beiden Fällen können ggf. Formen der Beratung für Lehrer hilfreich sein (Kap.10.9).

10.5.3 Beziehungsmuster in Beratung

▼ 430 

Neben den genannten idealtypischen neun Gesprächssystemen (Kap.10.5.1) gibt es weitere modellhafte Beschreibungsmöglichkeiten im Bereich der Positionierung und beraterischen Beziehungsgestaltung für Pädagogen. Während es sich oben eher um Gesprächsformen handelt, geht es in diesem Unterkapitel eher um Interaktionsformen. Die Modelle legen den Schwerpunkt auf unterschiedliche Aspekte und sind in der Praxis nebeneinander bzw. sich ergänzend verwendbar.

In diesem Kapitel sollen (in Anlehnung insb. an de Shazer) ‚Interaktionsangebote’ bzw. ‚Motivationstypen’ angeführt werden, wie sie in Beratungsprozessen auftauchen und unterscheidbar sind (Kap.10.5.3.1). Außerdem werden im Rückgriff auf bisherige Ausführungen zur Beziehungsgestaltung Fragen von Nähe und Distanz in Beratungsprozessen erörtert (Kap.10.5.3.2), die im schulischen Umfeld eine heiklere Frage darstellen als in einer Beratungsstelle oder Praxis.

10.5.3.1 Interaktionsangebote

Angesichts der gerade in Schule häufig eher unklar definierten ‚Beratungs’ Situationen ist es für Pädagogen sehr hilfreich, verschiedene „Auftragsarten“ (Mücke 2001, 219) modellhaft unterscheiden zu können. G.Schmidt (2004a, 120) spricht auch von „Interaktionsangeboten“, Sparrer von „Interaktionsprädikaten", Hubrig/ Herrmann (2005, 151) verwenden den Begriff der „Motivationstypen“. Diese können auch als wechselnde „Stadien eines Entwicklungsprozesses“ (Bamberger 2005, 55) gesehen werden, d.h. derselbe Gesprächspartner bzw. zum Gespräch erscheinende ‚Klient’ kann zu unterschiedlichen Momenten verschiedene Interaktionsangebote machen. Diese Differenzierung beraterischer Beziehungsgestaltungsmuster stammt im Wesentlichen von de Shazer (2003).449 Da diese Promotionsarbeit zentrale Aspekte systemisch-konstruktivistischen Arbeitens als bekannt voraussetzt, sollen diese Interaktionsangebote hier nur ganz knapp behandelt werden.

▼ 431 

Der in der Beratung im Allgemeinen und auch in außerunterrichtlichen Gesprächen in der Schule häufigste Auftragstyp ist das ‚Klagende’-Muster (Hubrig/ Herrmann 2005,151; Mücke 2003,226).451 Gerde in den häufig wenig definierten schulischen ‚Beratungs’Situationen ist es von zentraler Bedeutung, „die Kunden im Problemsystem zu ermitteln“ und zunächst vorwiegend mit diesen zu arbeiten (Hubrig/ Herrmann 2005, 131). Das macht aus systemischer Sicht deshalb Sinn, weil die Interaktionen der am Problemsystem Beteiligten untereinander (in teilweise destruktiv wirkenden) Mustern vernetzt sind und daher die Verhaltensänderung eines Beteiligten zu Veränderungen bei den anderen Beteiligten sowie des Gesamtinteraktionsmusters führen kann. Der nicht leichte Umgang mit den oben beschriebenen Interaktionsmustern ‚Besucher’, ‚Klagender’ und ‚Ko-Therapeut’ wird weiter unten in Kap. 10.7 beschrieben.

Außerdem kann der Lehrer von sich aus ein Beratungsangebot machen. Dann geht die Initiative zwar vom Pädagogen aus, aber letztlich entscheidet auch hier der Schüler, welcher ‚Motivationstyp’ sich in Gesprächen zeigt. Insbesondere dann, wenn der Lehrer von sich aus auf den Schüler zugeht, lohnt es sich für den Lehrer, auf einer Metaebene sich selbst zu erklären, die eigene Position zu erläutern sowie mögliche Ziele zu verhandeln, da der Schüler aufgrund der institutionellen Einbettung dem Lehrer gegenüber i.d.R. einen Kontrollvorbehalt haben dürfte. Auch Eltern gegenüber, die zur Kooperation eingeladen werden sollen, sind eigene Positionen und Funktionen, mögliche Ziele und Aufgabenverteilung zu erörtern und ggf. zu verhandeln.

▼ 432 

Unter Verweis auf Kap. 9.8 soll abschließend darauf hingewiesen werden, dass der Berater sich nicht nur gegenüber den Ideen seiner Gesprächspartner respektlos verhält sondern auch gegenüber seinen eigenen Hypothesen und gegenüber den Regeln und Überzeugungen der Institution (Hubrig/ Herrmann 2005,115).

Je nach Auftragsart bestimmt der Klient auch über Nähe und Distanz mit. Deren Regulierung gehört zu den Grundlagen von Beziehungsgestaltung. Für die Schule hat dieser Aspekt von Beziehung eine weitergehende Relevanz bzw. Bedeutsamkeit als für die Beratungsarbeit in anderen Kontexten. Daher wird dieser Thematik ein eigenes Unterkapitel gewidmet.

10.5.3.2 Nähe und Distanz

Bereits in Kap. 9.2.2 wurden drei idealtypische Formen von Beziehungsgestaltung zu den Schülern vorgestellt: ‚Funktion - Partnerschaft – Mentorenliebe’. Diese lassen sich i.d.R. auch auf Beratungssituationen im engeren Sinne übertragen, da auch Beratung im engeren Sinne grundsätzlich es den Schülern (und Eltern) freistellt, ob sie ein Beratungsangebot wahrnehmen (wollen) oder nicht. In diesem Kapitel wird auf mögliche Fallen im Zusammenhang mit der Regulierung von Nähe und Distanz hingewiesen. Diese Fallen bzw. Gefahren gelten für alle Prozesse der Beziehungs- und Interaktionsgestaltung zu bzw. gegenüber den Schülern.

▼ 433 

Eine rein funktionale beraterische Begleitung ohne spürbare und tragende Beziehung als einbettendem Rahmen ist aus systemisch-konstruktivistischer Sicht kaum als nützlich vorstellbar. In der schulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen scheint die Beachtung einer emotionalen ‚holding function’ des Beraters bei relativ instabilen Klientensystemen besonders wichtig (vgl. Welter-Enderlin et al. 2004). Dennoch kann ein (selbst)supervidierendes Abwägen des Beraters ggf. dazu führen, in einer Beratungssituation eher zeitweise sich innerlich etwas zurückzunehmen und mehr Distanz zu gewinnen. Dies kann u.U. vom Klienten als eher funktionale Beziehungsgestaltung erlebt werden, beinhaltet aber Achtsamkeit auf der Metaebene und unterscheidet sich insofern substanziell von der eher aus der Moderne stammenden ‚funktionalen Beziehungsgestaltung’, wie sie auf Seite 285 beschrieben wurde.

Das Modell partnerschaftlich-kooperativer Beratung kann den Pädagogen dazu verführen, aus dem Blick zu verlieren, dass er in anderen Momenten mit dem selben Schüler im selben Schulhaus im Durchsetzungskontext zu tun hat. Eine Vermischung der pädagogischen Kontexte oder der Verzicht auf eine Seite ist – zumindest dauerhaft - nicht nützlich.

Ein mentorhaft-liebendes Verhältnis vermag vielleicht einfacher, beide Seiten der Pädagogik in wohlwollender Weise in die Beziehungsgestaltung, auch in die beraterische Beziehung mit ‚holding function’, einzubringen, läuft aber u.U. Gefahr, in eine zu große Nähe und Intimität mit dem Schüler oder der Schülerin zu geraten. Der Pädagoge/ die Pädagogin missbraucht452 dann u.U. den ihm/ ihr anvertrauten Schützling emotional oder auch sexuell. Gerade in einer vom Lehrer/ von der Lehrerin wie vom/ von der Schüler/in als mentorhaft verstandenen Beratungsbeziehung entsteht eine Dichte, die über den Unterricht hinausgeht, da beide sich wiederholt im intensiven Zweiersetting sehen. Entstehen beim/ bei der beratend begleitenden Pädagogen/ Pädagogin Unsicherheiten über Nähe und Distanz zum anvertrauten Gegenüber, sollte er/ sie sich selber supervidierende Begleitung holen (Schmidbauer 1999).

▼ 434 

Sehr deutlich sei gesagt, dass dies für die schulische Arbeit wesentlich stärker gilt als für die Arbeit in Beratungsstellen oder eigener Praxis. Denn in Schule gibt es, erstens, einen zeitlich umfangreicheren Kontakt, und dieser findet, zweitens, häufig gerade auch in Situationen statt, die weniger klar (bis fast gar nicht453) definiert sind als in der Praxis oder Beratungsstelle. Dies bietet allerdings – und auch dies soll ausdrücklich gesagt sein - auch Chancen für begleitend-beraterische Arbeit, die weder Jugendamt noch Therapeuten zur Verfügung stehen. Daher sollte gerade eine systemisch-konstruktivistische Weiterbildung, erst recht wenn sie Teilnehmer aus dem schulischen Beratungsbereich im engeren Sinne hat (z.B. Beratungslehrer), das Thema der (beraterischen) Beziehungsgestaltung zu einem Schwerpunkt machen.

Insofern als gerade Emotionen ein ganz wichtiges Regulatorium für Beziehungen darstellen, ist eine professionelle Eigenwahrnehmung und emotionale Intelligenz im Allgemeinen hilfreich für Pädagogen (Ciompi 1997, Goleman 1997). Diese Ausführungen verdeutlichen, weshalb es für eine umfangreichere systemische Fortbildung für Lehrer, die in der Postmoderne immer auch in Beratungssituationen hinein gelangen bzw. gedrängt werden können, nicht ausreicht, nur die Unterscheidung de Shazers (2003) zwischen Kunde, Klagender und Besucher anzuführen. Generelle Überlegungen zum und eine ausreichende Sensibilisierung für das Nähe-Distanz-Thema sind mindestens ebenso wichtig.

Die Überlegungen der Kap.10.2 bis 10.5 bilden die Grundlage für die Anwendung systemisch-konstruktivistischer Methoden und Instrumente der Beratung in Schule.

10.6 Methoden und Foki für außerunterrichtliche Gesprächsführung in der Schule

▼ 435 

Ist der Pädagoge sich in etwa über seine Positionierung(en) und Beziehungsangebot(e) in einer schulischen ‚Beratungs’Situation bewusst, bietet der systemisch-konstruktivistische Ansatz zahlreiche Methoden, Instrumente und Aufmerksamkeitsfoki an, deren Anwendung bzw. Berücksichtigung hilfreich für die jeweilige konkrete Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung sein können.

An dieser Stelle könnte ausführlich vielfältiges systemisch-konstruktivistisches Handwerkszeug angeführt werden, das ich aber ebenfalls angesichts der mittlerweile vielfältigen Literatur als zumindest im Groben bekannt voraussetze. Zielsetzung ist hier zwar durchaus, einen Überblick über mögliche zentrale Methoden zu geben, aber dies soll unter besonderer Berücksichtigung des Kontextes Schule geschehen. D.h. typische systemische, beraterische Instrumente müssen auf ihre Nützlichkeit im schulischen Kontext454 hin reflektiert werden. Außerdem bietet sich eine inhaltliche Beschränkung auch insofern an, als das Ziel der hier vorgestellten Weiterbildung lediglich die Vermittlung grundlegender Methoden und Techniken ist. Es geht im zu entwerfenden Curriculum ja gerade nicht um eine Limitierung bzw. Spezialisierung auf Beratungslehrer und schulische Beratungskontexte im engeren Sinn. Es geht um basale Methoden, die der Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung von Pädagogen in Schule im Allgemeinen dienen sollen, wobei Schule nicht als Therapieraum gesehen wird. Dennoch können die Grenzen zwischen Unterstützung, Beratung, Coaching und Therapie als fließend und nicht eindeutig klar benennbar bezeichnet werden (Schumacher 2002).

Im Folgenden sollen Hilfsmittel dargestellt werden, die die Analyse einer Situation unterstützen (Kap. 10.6.1), Grenzsetzungen und Konflikte als Kooperationsangebot nutzen (10.6.2) und Aufträge klären (10.6.3). Kurz reflektiert wird der Umgang mit Diagnosen (10.6.4), systemischen Fragen (10.6.5), ‚Widerstand’ (10.6.6), inneren Resonanzen (10.6.7), Neutralitätsfragen (10.6.8), Aufmerksamkeitsfoki (10.6.9), Umdeutungen (10.6.10), Gesprächsablauf-Modellen (10.6.11) und Chronifizierung in schulischer Beratung (10.6.12). Einige weitere Aspekte werden abschließend ergänzend aufgeführt (10.6.13).

10.6.1 Situationsanalyse

▼ 436 

Gerade in unübersichtlich wirkenden Situationen kann ein erster wichtiger Schritt für einen systemisch-konstruktivistisch arbeitenden Pädagogen darin bestehen, die gegebene Situation unter Berücksichtigung von Umwelten und Funktionen sowie von Konstrukten und Ressourcen diverser Beteiligter zu analysieren. Visualisierungen und Fragenkataloge sind hier häufig besonders hilfreich, weil sie vom einzelnen Pädagogen allein bearbeitet werden können.455 Die Gefahr für Schule bzw. Lehrer, von Eltern oder Schüler als Schuldzuweiser wahrgenommen zu werden, sollte man sich bewusst halten. Insbesondere wenn Lehrer von sich aus auf Schüler oder Eltern zugehen, liegt für jene die Vermutung auf der Hand, sich bereits als machtschwächeres Gegenüber in einem eher unkooperativen Durchsetzungskontext zu befinden.

Systematisierungshilfen zur Gesprächsvorbereitung für schulische ‚Beratungs’ oder Konfliktgespräche456 können im Problemkontext bspw. danach fragen, wie sich die Situation aus Sicht des Pädagogen darstellt, in welchem pädagogischen Kontext er sich befindet, wie die formale und die psychologische Macht verteilt sind, welche Positionierung günstig wäre, welcher Auftrag ihm vielleicht zukommt, welche Rahmenbedingungen wirken, welche ‚Einladungen’ bzw. Fallen es geben könnte und um welche Gesprächsformen es geht. Im Bereich der Anliegen und Ziele des Pädagogen kann es z.B. hilfreich sein, danach zu fragen, was eigene wichtige Interessen und Kriterien sind, wie die Lösungshierarchie und eigene Resonanzen bzw. Gefühle sich darstellen, wo eigene Ressourcen liegen, was das Gegenüber sieht und braucht sowie was (insb. auf der Metaebene) wichtig anzusprechen ist. Im Lösungskontext kann für schulische Kontexte danach geschaut werden, welche Ressourcen auch beim Gegenüber vorhanden sind und wie diese eingeladen werden können, wo Chancen liegen, wie möglichen Gefahren schon möglichst frühzeitig oder bei deren Eintreten begegnet werden kann, welche erfolgreichen und welche erfolglosen Lösungsversuche es bereits gab, wer und was Teil der Lösung sein könnte, welche Rahmenbedingungen wie zu gestalten wären, welche Information wann an wen raus muss (mit wie viel Transparenz und Partizipation), wo, wann, mit wem und welchen Regeln das Gespräch sinnvoll stattfinden könnte, wie sich die diversen Ziele der Beteiligten am ehesten in Einklang bringen ließen.

Solche Leitfragen (z.B. Storath 1998, 77f) dienen

▼ 437 

10.6.2 geWIEFte Selbsterläuterung

Sollte sich bei einer solchen Analyse ergeben, dass der Pädagoge sich eher im Durchsetzungskontext gegenüber Schülern befindet oder in einer gleichrangigen Konflikt- oder Feedbacksituation mit Schülern, Eltern oder Kollegen, dann ist er aufgerufen, eigene Positionen auf eine solche Art und Weise dem anderen (zurück-)zumelden bzw. mitzuteilen, dass für diesen sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, ebenfalls angemessen und nicht-verletzend reagieren zu können.457 Hierbei kann ein Modell helfen, das vier Schritte von der Wahrnehmung bis zum Verhalten bzw. zur Forderung in chronologischer Reihenfolge (Abb. 10-10, S.414) unterscheidet.

Person A

Person B

Wahrnehmung der Situation

Was beobachte ich?

Verhalten

Wie reagiere ich?

Interpretation

Was denke ich darüber?

Emotion

Was fühle ich?

Emotion

Was fühle ich?

Interpretation

Was denke ich darüber?

Verhalten

Wie reagiere ich?

Wahrnehmung der Situation

Was beobachte ich?

▼ 438 

= unsichtbar

Zwei dieser Schritte (Interpretation und Emotion) sind nach außen hin nicht sichtbar und laden daher in Kommunikationsprozessen zu Missverständnissen ein. Ihre Explizierung verhindert das Entstehen und erleichtert die Bearbeitung von Missverständnissen. Eine ‘geWIEFte Kommunikation’458 sollte dann diese Reihenfolge beibehalten, in Ich-Form sprechen und schauen, welche Anerkennung dem anderen schon jetzt zuzubilligen ist, um zu Kooperation einzuladen.

  • Wahrnehmung:

  • Was ist aus meiner Sicht passiert?

  • Interpretation

  • Wie hab ich das verstanden?

  • Emotion

  • Welches Gefühl hatte ich daraufhin?

  • Forderung

  • Welche Forderung habe ich an den anderen?

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Inwieweit die Selbsterklärung auch Emotionen beinhaltet, muss jeweils situationsabhängig entscheiden werden. In der Gesprächsform der ‚amtlichen Mitteilung’ (Kap. 10.5.1.1) kann dies in harten Auseinandersetzungen zu einer Abschwächung der eigenen Position führen (insb. Eltern und Schülern gegenüber, die das Benennen von ‚weichen’ Gefühlen als Schwäche interpretieren), ggf. aber auch zu einer Stärkung (eher im Sinne eines Vorbildcharakters für Schüler).

10.6.3 Auftragsklärung

Angesichts der unübersichtlichen Komplexität von Schule, der Funktionsvielfalt von Pädagogen im schulischen Arbeitsfeld und der „unterschiedlichen Vorstellungen über die ‚Förderung’ von Schülern“ (Palmowski 1998a, 22) kommt der Auftragsklärung in schulisch-beraterischen Kontexten eine besondere Bedeutung zu (Hubrig/ Herrmann 2005, 121). Auftragsklärung ist dann möglich und sinnvoll, wenn jemand wie auch immer ‚Beratungs’ oder Klärungsbedarf beim Pädagogen anmeldet oder anzumelden scheint. Um klar positioniert Machbarkeiten und Burn-Out-Fallen erkennen zu können, müssen die eigene Funktion und Ziele der Beteiligten bzw. zu Begleitenden gerade im schulischen Beratungskontext genau abgeklärt werden. Aufträge und die Frage, welche institutionellen Rahmenbedingungen vorliegen und wer wie viel Verantwortung wofür übernimmt, müssen also geklärt und d.h. auch verhandelt werden (Storath 1998, 78). Gerade in Schule ist hierfür neben beraterischem ‚Handwerkszeug’ mitunter Geduld erforderlich (Graf 2006, 86). Auftragsklärung muss ggf. wiederholt erfolgen, also gerade auch im laufenden ‚Beratungs’Prozess erneut vorgenommen werden.

Außerdem versuchen häufig verschiedene Seiten (meist unbewusst), den Pädagogen zur Übernahme unrealistischer oder für den Beratungsprozess hinderlicher Aufgaben oder zum Koalieren zu bewegen bzw. ‚einzuladen’ (Kap.10.4). Im Falle der Annahme solcher Einladungen wird der Pädagoge in seinen Handlungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt, Beratung wird für ihn anstrengend und kann teilweise verunmöglicht werden. Daher ist neben der Auftragsklärung im Beratungsbereich im engeren Sinne ggf. auch Neutralität wichtig, um einen machbaren Kooperationsvertrag aushandeln zu können.

▼ 440 

Die wichtigsten Grundfragen der Auftragsklärung in Schule lauten459:

 

Will der, der vor mir sitzt, überhaupt etwas? Um welches Interaktionsangebot geht es? Wer will nichts?

Was?

Was will er? (Bei abweichendem Auftraggeber: Wer ist mein tatsächlicher Auftraggeber? Was müssten ich und der, der vor mir sitzt, tun, um den Auftraggeber zufrieden zu stellen?)

Von wem?

Bin ich es überhaupt, der hier angefragt ist?

Wozu?

Was genau soll hier zu welchem Endzweck gemacht werden? An welchem Verhalten von wem ist das Erreichen des Ziels erkennbar? Wie würde sich das Erreichen des Zieles im Beziehungsnetz auswirken?

Mit wem?/ Gegen wen?

Wie einig oder uneinig sind verschiedene Kunden untereinander bezüglich der gewünschten Dienstleistung?

Wie gesehen, ist die Vielfalt von Aufträgen in der Schule aufgrund häufig unklarer Rahmen größer als in Beratungsstellen. Hilfreich kann es sein zu unterscheiden, welches Interaktionsangebot ein Auftrag enthält, woher er kommt und welche formalen Kriterien er erfüllt (Hubrig/ Herrmann 2005, 150f,155f; Schwing/ Fryszer 2006, 112f). Die verschiedenen Arten von Interaktionsangeboten wurde weiter oben bereits behandelt (vgl. Kap. 10.5.3.1). Bei der Herkunft von Aufträgen sind zu unterscheiden: erteilte Aufträge (Schüler oder Eltern wollen eine Beratung); delegierte Aufträge (der Lehrer wird von Schulleitung oder Klassenkonferenz mit explizit oder implizit vorgegebenem Ziel beauftragt) und selbst geholte Aufträge (der Lehrer lädt Schüler/ Eltern von sich zur Beratung ein). Unter formalen Kriterien gilt es zu differenzieren zwischen: klaren bzw. offenen Aufträgen (Problem- und Zieldefinition sind deutlich und konkret), verdeckten bzw. heimlichen Aufträgen (Problem- und Zieldefinition sind undeutlich bzw. nicht die offiziell genannten); unerfüllbare Aufträge (sie können realistischerweise vom Berater und/oder Klienten nicht erfüllt werden); ambivalente Aufträge (widersprüchliche Ziele werden genannt); ‚vergiftete’ Aufträge (sind delegierte ‚Beratungs’-Aufgaben mit vorgegebenen Zielen).

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Sich die unterschiedlichen offenen und verdeckten Erwartungen klar zu machen, ist (insb.) für (Beratungs)Lehrer wichtig, da sie leicht „zwischen die Fronten“ geraten können, insb. wenn verschiedene Subsystem sie zu Koalitionen einladen. Auf diesem Hintergrund ist es für Beratungslehrer notwendig, die eigenen Aufgaben im Schulhaus abzuklären und öffentlich zu machen (Huschke-Rhein 1998b, 164).

Für Lehrer in beratender Funktion ist im Zusammenhang mit Auftragsklärung wichtig,

10.6.4 Umgang mit Diagnosen

▼ 442 

Bei als schwieriger erlebten ‚Beratungs’Fällen in Schule haben Schüler manchmal bereits eine längere Geschichte des Kontaktes mit Helfersystemen hinter sich, die mitunter in Gutachten und Akten bekundet sind. Auch schulintern kann es bereits längere Kommunikations- oder Vermutungsprozesse über mögliche Diagnosen geben. Diese liefern mitunter wertvolle Informationen, sind allerdings (nur) sozial verhandelte Konstrukte (vgl. Kap.7.9.4.2), die die Aufmerksamkeit von Beobachtern lenken. Sie können dann der systemischen Prämisse der Kundigkeit von (freiwilligen) ‚Beratungsklienten’ (Hargens 2004b) entgegenstehen. Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist außerdem der medizinische verwurzelte, einfach-kausale Leitsatz ‚erst Diagnose, dann Therapie’ nicht nur erkenntnistheoretisch unerfüllbar, er wirkt auch „pragmatisch übermäßig einengend“ (Ludewig 2002, 79). Konstruktivistisch betrachtet, verändern diagnostische Prozesse das, was man diagnostizieren will. Diagnosen beschreiben Prozesse des Beobachters (G.Schmidt 2004a, 32,34), sie sind „Beschreibungen, die das Beschreiben mit erzeugen und verändern“ können (Schweitzer/Schlippe 2006, 26). An die Stelle der klassischen Bedeutung von Diagnosen (als ontologische Aussagen über Sein) treten stets konstruierte und vorläufige Arbeitshypothesen über Symptome (Huschke-Rhein 1998b, 92).

Hypothesen bilden nicht die Wahrheit ab, sie sind heuristische Instrumente. In den jeweiligen kommunikativen Akten von Beratung fallen Diagnose und nächster Interventionsschritt daher notwendig zusammen (Hubrig/ Herrmann 2005, 79). Thesen können erprobt und bei Nicht-Passung beiseite gelegt werden (Molnar/Linquist 2002, 48); sie können dem Gegenüber mit eigener Zurückhaltung zur Prüfung angeboten werden (G.Schmidt 2004a)461. Clement (2004, 96) beschreibt diesen Einzelfallbezug aus narrativer Sicht: „Die Unternehmung, ‚Daten zu erheben’, ist der Versuch, vom Erzähler zu abstrahieren [...]. Die Gefahr ist, dass der Sinn der Geschichte verloren geht.“

Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, können Pädagogen und Berater dem Schüler helfen, „’Expertenbeschreibungen’ als nur eine von vielen alternativen Ansichten zu erleben (d.h. das Beschriebene neu zu beschreiben). [...] Es ist nur eine Methode, um die solchen Kontexten inhärenten widersprüchlichen Mitteilungen zu überleben“ (Cecchin et al. 2005, 67). Und Berater können den Wirklichkeitskonstruktionen der Schüler und Eltern neutral begegnen „im Wissen, dass auch andere Konstruktionen möglich sind“ (Ruf 2005, 28).

▼ 443 

Die ausführliche Suche „nach möglichen Lösungsszenarien und bislang noch ungenutzten Ressourcen“ ist einer systemisch-konstruktivistischen Diagnostik „mindestens ebenso wichtig wie die Beschreibung des Problems und die Erklärung seiner Entwicklungsgeschichte“ (Schweitzer/ Schlippe 2006, 27). Symptome können ressourcenorientiert und respektvoll auch als „provokative sensible Teilleistungsfähigkeiten“ (Reinhard 2002, 53) angesehen werden. Diagnostikbögen können dementsprechend ressourcenorientiert gestaltet und verwendet werden (Burr 2000). Ludewig (2002, 83f) spricht angesichts einer nach Stärken und Resilienzfaktoren suchenden Diagnostik von „Überlebensdiagnostik“. Hier wird deutlich, dass Diagnostik in einem selektierenden Schulsystem zwar in bestimmten Fällen oder Bereichen unerlässlich sein mag, aber achtungsvoll gestaltet werden kann.462

Pathologisierende Defizit- und Krankheitskonzepte sind sicherlich (heute noch) eher die Regel in schulischen Kontexten. Sie sind, wie weiter oben beschrieben (Kap.7.9.4.2), in Kommunikationsprozessen entstehende bzw. entstandene soziale Konstruktionen.463 Wenngleich solche Zuschreibungen im Sinne selbsterfüllender Prophezeiungen Entwicklungschancen drastisch einschränken können, können sie doch auch Vorteile bieten. Sie können bspw. als Anspruchsgrundlage für die Finanzierung qualifizierter professioneller Hilfe dienen oder vor dauerhaftem Erleben von Überforderung schützen (Schweitzer/ Schlippe 2006,18; G.Schmidt 2004b).

Trotz der anfänglichen Bedenken im systemisch-konstruktivistischen Ansatz gegenüber dem festschreibenden und chronifizierenden Charakter von Diagnosen gibt es mittlerweile eine umfangreiche Literatur zu speziellen in Therapie und Schule auftauchenden Problemen (Rotthaus/Trappmann 2004, Trappmann/Rotthaus 2004, Schweitzer/Schlippe 2006, Mücke 2003, Hubrig/ Herrmann 2005, 194ff). Die systemisch-konstruktivistische Forschung geht nicht (mehr) davon aus, dass eine „spezifische Zuordnung von sozialen Beziehungsmustern zu spezifischen Symptomen“ möglich wäre (Schweitzer/Schlippe 2006, 20). Vielmehr vermag systemische Beratung mit ihrer konstruktivistischen Grundhaltung, Betroffenen, Angehörigen und Begleitern zu helfen, „für sich selbst jene Diagnosen zu präferieren, die ihnen die besten Handlungsmöglichkeiten eröffnen“ (Schweitzer/ Schlippe 2006, 20).

▼ 444 

D.h. auch, dass der Einzelfallbezug unerlässlich ist, sei es in Therapie, schulischer Beratung oder Pädagogik. „Mein Konzept ist, zu versuchen, herauszufinden, wer das Kind ist, nicht zu erklären, warum es sich so verhält. Das ist der einzige Weg, zum Kind eine Beziehung herzustellen, die trägt“ (Juul 1998, 47). Auf diesem Weg können intelligente Fragen hilfreich sein.

10.6.5 Systemische Fragen

Das breite Repertoire systemischer Frage(techniken) gilt als ein Kenn- wenn nicht als das Markenzeichen des systemisch-konstruktivistischen Therapie- und Beratungsansatzes. Wenngleich hier ein Schwerpunkt des Ansatzes liegt, so soll an dieser Stelle doch ebenfalls nur kurz auf diesen Bereich eingegangen werden, da er vielfach veröffentlicht und in verschiedenen Formen übersichtlich zusammengestellt wurde.

In eher allgemeingültiger aber grundlegender Weise soll betont werden, dass jede Frage Informationsgehalt vermittelt, bereits eine Intervention darstellen kann und damit letztlich kontextgestaltend ist (G.Schmidt 2004a, 165). Der Einsatz von systemischen Fragen, die es im Vergleich zum humanistischen Ansatz erlauben, stärker lenkend und intervenierend einzugreifen, erfordert auch höhere Bewusstheit für mögliche Wirkmechanismen solcher Interventionen. Mit steigenden Gestaltungsmöglichkeiten erhöht sich auch die Verantwortung für das beraterische Tun (und Nicht-Tun). Außerdem kann auch die Verfügung über vielfältigste Fragen aus dem systemischen ‚Werkzeugkasten’ weder mangelnde Grundhaltungen ersetzen noch fehlende Bewusstheit über die eigene Positionierung. Fragen sind nicht nur kontextgestaltend, sondern sie müssen auch zu vorhandenen Kontexten passen, sie können nur dann verstören, wenn sie sich an das zu beratende System ankoppeln können. In der Schule ist insb. darauf zu achten, in welchen pädagogischen Kontexten, unter welchen Machtaspekten mit welchen Positionierungen welche Beziehungsangebote zwischen wem in welchen Rahmen bereits gelten oder hergestellt werden können, wenn systemische Fragen verwendet werden.

▼ 445 

Fragetechniken müssen eingeübt und gemeinsam immer wieder reflektiert werden. Das erfordert Zeit, die eine Weiterbildung entsprechend zur Verfügung stellen muss. Dies ist zugleich wohl auch der beste wenn nicht einzige Weg, als Teilnehmer sich die Grundhaltungen anzueignen, die hinter dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz stehen.

Hingewiesen werden kann auf einige umfangreiche und gut gegliederte Zusammenstellungen systemischer Fragen im Beratungskontext im engeren Sinne

▼ 446 

Auch unter schulischen Aspekten gibt es mittlerweile umfangreiche, allerdings eher über das ganze Buch verteilte Zusammenstellungen hilfreicher Fragen

Die meisten Fragetechniken gehören zunächst deutlich eher in den Angebots- als den Durchsetzungskontext. Eine wesentliche Stärke systemischer Fragen bzw. systemischen Fragens (gegenüber dem mittlerweile in Schule weit verbreiteten humanistischen Vorgehen) besteht aber in den Möglichkeiten, (v.a. bei tragender Beziehung) konfrontativ vorzugehen, auch in expliziten Zwangskontexten zur Kooperation einzuladen und außerdem wichtige neue Informationen in ein Problemsystem einzuführen. Damit bietet der systemisch-konstruktivistische Ansatz besondere Möglichkeiten, Schüler in selbstbestimmtere Räume und dort zu vermehrter Verantwortungsübernahme einzuladen.466 Systemische Fragetechniken stellen also ein relativ machtvolles Interventionsinstrumentarium zur Verfügung, ermöglichen es dem Berater nicht nur zu ‚pacen’ sondern auch zu ‚leaden’ und riskieren damit aber auch, ‚Widerstände’ hervorzurufen.

10.6.6 Umgang mit ‚Widerstand’

▼ 447 

Der Begriff des ‚Widerstands’ kommt nicht aus der systemisch-konstruktivistischen Beratung sondern der analytischen Therapie. Im Systemischen wird der Begriff, wenn überhaupt, in Anführungsstrichen benutzt. Er bezeichnet dann Situationen, in denen ein Beratungsklient sich anders verhält, als es der Berater sich wünscht.

Für schulische Bereiche, in denen der Beratungsbegriff häufig unpräzise benutzt wird, muss stets näher geschaut werden, ob die entsprechende Situation bzw. der entsprechende Konflikt sich eher schon im Durchsetzungs- oder eher noch im Angebotskontext befindet. Denn kommt es in Durchsetzungskontexten trotz Deeskalationsmaßnahmen zu Eskalationen, muss der Pädagoge davon ausgehen können, dass Schule und Schulamt notfalls hinter ihm stehen, um gegen den ‚Widerstand’ gehen zu können.

In diesem Kapitel soll es allerdings um Strategien gehen, einem Verhalten, das aus Sicht des Pädagogen als ‚Widerstand’ erlebt wird, möglichst frühzeitig so zu begegnen, dass es in seiner Intensität abnehmen kann oder auch gar nicht mehr gezeigt werden muss. Ziel ist es, die Eintretenswahrscheinlichkeit von rigiden schulischen Zwangsmaßnahmen im Vorfeld zu verringern. Kenntnisse im Zusammenhang mit ‚Widerstand’ können Pädagogen sowohl für die Unterrichtsgestaltung als auch für Einzelgespräche helfen, rechtzeitig angemessene Verständigungs- und Kooperationssignale zu senden. So kann der Lehrer dazu beitragen, Beziehungen im Fluss zu halten und seinen eigenen Energiehaushalt zu sichern.

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Ausgangspunkt der systemisch-konstruktivistischen Sichtweise zum ‚Widerstand’ ist abermals eine ressourcenorientierte und wertschätzende Haltung. Verhält ein Schüler467 sich in einer vom Lehrer als unkooperativ oder verständnislos erlebten Weise, so ist davon auszugehen, dass der Schüler ein früher oder bisher in seinem Heimatsystem (und/oder ggf. auch im Schulsystem) sinnvolles Verhalten zeigt. ‚Widerstands’Phänomene werden als Ausdruck eines (biographisch) sinnvollen Verhalten gesehen. Außerdem sind sie kompetente Versuche einer zumindest in einem Kontext funktionierenden Regulierung von Beziehungen, indem sie dort Grenzen definieren und Aufmerksamkeit lenken. ‚Widerstand’ kann auch als „berechtigte Reaktionen auf ein unbefriedigendes Kooperationsangebot“ des Beraters (Schweitzer/ Schlippe 2006, 32) oder auf die Nicht-Berücksichtigung des individuellen Veränderungstempos von Individuen, Klassen, Familien oder Organisationen (Hennig/ Knödler 2000, 104) entstehen. Auch Schulklassen senden Signale von ‘Widerstand’ aus, die geprüft und ggf. ernst genommen werden sollten. Ebenso sollte respektiert werden, dass Individuation immer auch „gegen“ und nicht nur „mit“ verläuft (Stierlin 1994).

In jedem Fall ist ‚Widerstand’ als Ausdruck der Autonomie eines Menschen wertzuschätzen. In Beratungskontexten bedeutet dieser Ansatz, die Verantwortung des Klienten für sein Leben bei ihm zu lassen. Auch in Durchsetzungskontexten ist eine solche Sichtweise möglich und für den Pädagogen entlastend, allerdings ist der Lehrer dazu aufgerufen, klare Grenzen zu setzen und angemessene Maßnahmen zu ergreifen, da der Schüler in seinem – bewussten oder unbewussten – Verhalten sich so zeigt, dass von außen nicht anzunehmen ist, dass er in ausreichender Weise Verantwortung für sich übernimmt.468

Die Schule betreffend, lassen sich noch zwei Besonderheiten zum Umgang mit ‚Widerstand’ festhalten. Erstens konstatiert Storath (1998, 76) eine mit anderen Berufsgruppen vergleichsweise hohe Neigung bei Lehrern zu Frustration im Umgang mit ‚Widerständen’ und erklärt sie mit „ihrer beruflichen Sozialisation und der traditionellen Aufgabe [...], unterrichtliche Zielstellungen für andere festzusetzen und dafür zu sorgen, dass diese auch erreicht werden.“ Ein Nicht-Erreichen der Ziele des Schülers wird häufig als vom Lehrer selbst zu verantwortender Misserfolg verbucht. Zweitens ist aufgrund des schulischen Gesprächskontextes auch in Beratungssituationen im engeren Sinne weniger damit zu rechnen, dass ‚Widerstand’ direkt geäußert wird, da das Kind oder die Eltern um die Abhängigkeit des Kindes vom Lehrer wissen (Storath 1998, 63). Umso wichtiger wird es für Pädagogen, Mittel an die Hand zu bekommen, um mit ‚Widerstand’ – also mit Momenten, in denen Schüler und Eltern nicht so wollen, wie die Pädagogen es gern hätten – angemessen umzugehen.

▼ 449 

Die folgende Grafik stellt einige wichtige Möglichkeiten des Umgangs mit ‚Widerständen’ dar, wie sie dem Pädagogen in Schule zur Verfügung stehen – und zwar nicht erst in Beratungssettings im engeren Sinne, sondern auch bereits im Unterricht.

‚Widerstand’ vorwegnehmen:

- Vorbeugen: die anderen miteinbeziehen

- ‚Widerstand’ frühzeitig erkennen

den ‚Widerstand’ annehmen

- akzeptieren, wie XY jetzt reagiert

- nach eigenen Anteilen suchen (indirekte Supervision durch Schüler)

♢ Die Frage, was an ihm liegen könnte, gibt dem Lehrer Veränderungsmöglichkeiten

♢ Distanz gewinnen

‚Widerstand’ nutzen

→ ‚Widerstand’ verstärken –
Besetzung der ‚Widerstandsseite’ durch Therapeuten

→ Trotz nutzen

- Ebenfalls skeptisch sein; die Nicht-Veränderung betonen

- Wohlwollendes Karikieren des vermeintlichen ‘Widerstands’.

- z.B. Wetten (‚das schaffst du nicht, oder?’)

♢ Trotz ist immer auf den anderen (z.B. Lehrer) bezogen und keine Autonomie.

meta-kommunikativ mit dem ‚Widerstand’ umgehen

- Beziehungsklima schaffen, in dem die Schüler/ Klienten sich äußern können.

- mit dem ‚Widerstand’ gehen und mögliche Auswirkungen einer Aufgabe von ‚Widerstand’ erfragen

verhandeln

- Inhalte oder Spielregeln neu verhandeln

♢ Klarheit der Kommunikation herstellen (nur dann kann man auch verhandeln)

Trotz vielfältiger Möglichkeiten bleibt Pädagogen manchmal nichts anders übrig, als sich auf Mitteilungen eigener Sichtweisen und möglicher schulischer Konsequenzen zu beschränken. Sie können auch immer die vermutete Sichtweise des Kindes miteinbeziehen und Unterstützungs- und Beratungsangebote machen. Dies kann auch dann dem Pädagogen größere innere Freiheit bringen, wenn die Gegenseite diese Angebote ausschlägt. Letztlich bedürfen Unterstützungs- und Beratungsangebote immer auch einer Nachfrage, eines geäußerten Bedarfs, um relevant zustande zu kommen (Storath 1998, 77). In manchen Fällen kann auch gerade das Äußern eines Unterstützungsangebots durch den Lehrer vom betroffenen Schüler selber als ‚über Gebühr entmündigend’ oder ‚unverhältnismäßig misstrauend’ interpretiert werden und den ‚Widerstand’ verstärken, den es eigentlich auffangen will.

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Grundsätzlich gilt allerdings, dass mit der Bereitschaft des Pädagogen bzw. Beraters Konstrukte, Modelle, Theorien und Identitäten zu verhandeln auch dieWahrscheinlichkeit für die Entstehung von kooperativen Gesprächssystemen und von Veränderungsprozessen wächst (Storath 1998, 71).

Um ‚Widerstände’ (frühzeitig) erspüren zu können, ist der Umgang mit inneren Resonanzen und eigenen Empfindungen wichtig. Diese Fähigkeit wird in der Fachliteratur auch häufig als das - neben der ‚Persönlichkeit’ des Pädagogen bzw. Beraters - wichtigste Instrument genannt (z.B. Hennig/ Knödler 2000, 90).

10.6.7 Umgang mit inneren Resonanzen

Der Umgang mit inneren Resonanzen wurde schon in Kap.9.7.1 in Bezug auf die Pädagogik im Allgemeinen angesprochen. Er ist für zwei Aspekte des beratenden Lehrerdaseins wichtig:

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Selbsterfahrung und Theatermethoden, die auf die Arbeit mit eigenen Persönlichkeitsanteilen abstellen (z.B. V.Mosell 2003), können hier hilfreich sein, um Körper und eigenes Resonanzsystem stärker in die Wahrnehmung und auch ggf. in den Ausdruck zu bringen. ‚Körperreferenz’ bzw. Intuition bieten Chancen, auf Weisheiten des eigenen Organismus’ zurückzugreifen. Hier geht es häufig eher um einen Gesamt statt Detailblick.

Zusätzlich bietet auch die Beobachtung von Körperreaktionen des Gegenübers Möglichkeiten für Vermutungen darüber, was bei ihm passiert und wie eigene Interventionen ankommen. Reaktionen des beratenen Gegenübers können supervisorischen Charakter besitzen (Schumacher 2002). Unruhe bzw. ‚Widerstand’ beim Gegenüber kann z.B. ein Signal sein, dass der Berater (bei Beratung im engeren Sinne) sich nicht ausreichend neutral verhält.

10.6.8 Neutralitätsfragen

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Während systemisch-konstruktivistische Therapie die neutrale Position des Beraters für ein ganz zentrales Instrument in der Begleitung von Klienten hält, muss der beraterisch tätige Pädagoge in Schule immer mitbedenken, dass Schule multiple Kontexte besitzt, auch solche, in denen Neutralität nicht angebracht ist. „Akzeptieren wir die Aufforderung, soziale Kontrolle auszuüben, kommen wir in eine Lage, in der es schwierig wird neutral zu bleiben“ (Cecchin 1988, 196). Der Umgang mit Neutralität oder Allparteilichkeit muss also in schulischen Umfeldern mit noch mehr Sensibilität und Aufmerksamkeit passieren als in therapeutischen.

Im beraterischen Bereich im engeren Sinne ist Neutralität hilfreich, damit der Berater seine kommunikativen Freiräume behalten und nutzen kann (Simon/Weber 2004, 32ff). Sie dient der inneren und äußeren Distanzierung des Beraters, der sich nicht in Konflikte zwischen verschiedenen Personen oder inneren Anteilen einer Person hineinziehen lässt. Neutrale Positionen liegen außerhalb der Konfliktorganisation bzw. des „Morast[s] des Entweder-Oder“ (Watzlawick 1991, 45).

Abb. 10-14: Tetralemma: Konfliktorganisation und neutrale Positionen (in Anlehnung an: Simon et al 1999, 178)

▼ 453 

Neutralität ist keine grundsätzliche Haltung des Beraters sondern eine zieldienliche Methode. Die Kunst der Neutralitätswahrung besteht darin, bei vorhandenen Ambivalenzen des bzw. der Klienten im beraterischen Dialog mit diesen Ambivalenzen so umzugehen, dass sich für die Klienten neue Bewertungs- und/oder Handlungsmöglichkeiten ergeben (Clement 2004, 157). Beraterische Neutralität bezieht sich daher nur auf die Aspekte, die (von unterschiedlichen Klienten oder differierenden innern Anteilen eines Klienten) unterschiedlich gesehen werden. Sie bezieht sich nicht auf Dinge, die für die oder den zu Beratenden eindeutig geklärt und ggf. auch im Sinne von Zielen eindeutig anzusteuern sind. Der Berater bleibt „Realitätenkellner“ (G.Schmidt 2004a, 65), der seinem Gegenüber die (Verantwortung der) Wahl seiner ‚Realität’ überlässt.

Es werden in der systemisch-therapeutischen Literatur mehrere Arten von Neutralität unterschieden. Diese gehen in konkreten Beratungssituationen ggf. ineinander über:

Neutralitäts-form

Beschreibung

Konsequenz

Beziehungs-neutralität

im Hinblick auf die Beziehungen des Therapeuten zu anderen betroffenen Personen (Familienmitglieder, Kollegen, Schülern).

Die Klienten entscheiden, ob sie den Berater als neutral empfinden oder, ob sie das Gefühl haben, er stehe auf einer Seite.

Veränderungs-neutralität

Der Berater geht nicht auf angebotene Einladungen zur positiven oder negativen Bewertung von Verhaltensweisen ein.

Die Frage „Ist das ein (schweres) Problem oder nicht? Und wenn ja, welches?“ entscheidet nicht der Berater.

Konstrukt-neutralität

Enthaltsamkeit gegenüber Erklärungen und Lösungsideen, die geäußert werden.

Mehrere Interpretationen sind möglich, der Berater legt sich nicht auf eine fest.469

Methoden-neutralität

Kritische Distanz und Selbst-Reflexion zu den verwendeten eigenen Methoden

Mehrere Behandlungsmethoden können sinnvoll sein; der Klient entscheidet, was für ihn hilfreich ist.

Beratungs-neutralität

Kritische Distanz und Infragestellung, ob Beratung überhaupt notwendig bzw. nützlich ist.

Der Klient entscheidet, ob Beratung stattfinden soll oder nicht.

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Schule besitzt allerdings vielfache Kontexte, in denen ein Pädagoge sich nicht neutral verhalten kann bzw. darf. In Schule ist - neben und unabhängig von dem subjektiv mobilisierten Engagement des Pädagogen - immer auch der Rahmen sozialer Kontrolle und die Abhängigkeit des Schülers vom bewertenden Lehrer wirksam. In außerunterrichtlichen Gesprächen, in denen der Lehrer einen aus seiner Sicht bestehenden Veränderungsbedarf anspricht oder in denen der Gesprächspartner ebendies auch nur vermutet, ist prinzipiell die Neutralität des Lehrers in Frage gestellt (Storath 1998, 68). Dies kann unter Rückgriff auf Abb. 10-6 von S.397 verdeutlicht werden.

Abb. 10-16: außerunterrichtliche Gesprächssysteme, in denen nicht alle Formen der Neutralität möglich sind

Bei den Gesprächssystemen 1-4 ist der Pädagoge inhaltlich festgelegt. Bei Beratung und Mediation im Zwangskontext ist er zwar über die Triangulation bezogen auf das Problem zunächst neutral positioniert – genau darin liegt ja der Vorteil eines solchen Vorgehens – , als Vertreter der Organisation muss er aber Regeln (und damit Inhalte) mittragen, gegen die der Schüler verstoßen hat. Der Pädagoge kann also die Verantwortung für die Nichtbefolgung dieser Regeln durch den Schüler bei diesem lassen, muss aber als Berater/ Mediator im Zwangskontext professionell auf den Rahmen hinweisen - und als Vertreter der Organisation diesen Rahmen bejahen.470 Mit dem letzten Punkt wird seine Konstruktneutralität eingeschränkt. Dies stellt sozusagen den Preis dafür dar, dass die Schule bzw. der Pädagoge den Zwangskontext als Ressource nutzen kann (vgl. Kap. 9.12.2).

▼ 455 

Außerdem kann der (Beratungs-)Lehrer keine neutrale Position einnehmen, wenn er für Kollegen oder Schulleitung (also quasi als Delegierter der Schule) Schülern oder Eltern gegenüber tritt, weil er dann „Kontrolle im Sinne der Institution“ über das Schülerverhalten zu gewinnen versuchen muss (Hubrig/ Herrmann 2005, 116) – und damit inhaltlich positioniert ist. In wieder anderen Situationen kann der Lehrer gezwungen sein, als ‚Anwalt des Kindes’ gegenüber den Eltern aufzutreten.

Neutralität als Methode ist hingegen wichtig bei den Gesprächsformen 6 bis 9, wobei im unten stehenden Schaubild abermals – aus obigen Gründen – die Beratung bzw. Mediation im Zwangskontext eine Sonderstellung einnimmt.471

Abb. 10-17: außerunterrichtliche Gesprächssysteme, in denen Neutralität möglich und hilfreich ist

▼ 456 

Neutralität ist also eine Methode, die gezielt und bewusst eingesetzt werden muss und für Beratungen im engeren Sinne für den Pädagogen sehr hilfreich ist, wenn der Schüler bzw. die Eltern ihm diese Positionierung abnehmen.

Neben Achtsamkeit für die mögliche Nützlichkeit eigener neutraler Positionierung ist auch die aktive Beachtung von Foki und zentralen Unterscheidungen in der Narration des Beratenen für die Orientierung des Beraters hilfreich.

10.6.9 Aufmerksamkeitsfoki und Leitunterscheidungen

Im Umgang mit den schulischen Erzählungen von Schülern und Eltern (ggf. auch von Kollegen, Schulleitung, Ministerium und auch von einem selber) kann es für Pädagogen und Berater hilfreich sein, auf Struktur und Form dieser Erzählung zu achten – und zwar stärker als auf den Inhalt der Erzählung. Worauf eine Person ihre Aufmerksamkeit richtet, welche zentralen und ordnenden Unterscheidungen sie trifft, gibt wichtige Informationen über ihre Wirklichkeitskonstrukte. Konstruktivistisch betrachtet, schaffen Aufmerksamkeitsfokussierungen Wirklichkeit (G.Schmidt 2004a).

▼ 457 

In Beratung und Unterricht können solche Weltbilder bzw. Sprachspiele bewusst gemacht und in einer den Klienten unterstützenden Weise auf ihre Nützlichkeit hin überprüft und ggf. verändert werden. Wenn Bewusstwerdungsprozesse im Zusammenhang mit dem Rahmenschulischen Arbeitens begleitet werden, kann es - besonders für Beratungen und Mediationen im Zwangskontext - auch hilfreich sein, auf systemtypische Aufmerksamkeitsfoki und Leitunterscheidungen472 hinzuweisen. Im Durchsetzungskontext kann es nützlich sein, den Schüler oder auch Eltern klar zu konfrontieren. Ankopplung und Verstörung müssen sich auch in diesem Kontext auf die Konstrukte des anderen beziehen. Abweichende eigene Konstrukte und für den Pädagogen oder die Schule wichtige Leitunterscheidungen sollten hierbei klar genannt und ggf. kurz erläutert werden.473

Folgende Leitunterscheidungen und Aufmerksamkeitsfoki sind typisch für Schule und/oder können für Pädagogen im schulischen Kontext besonders hilfreich sein für den Umgang mit Erzählungen in Angebots- und Durchsetzungskontexten:

Abb. 10-18: Typische pädagogische und beraterische Leitunterscheidungen in schulischen Erzählungen (in Anlehnung an Schumacher 2002)

▼ 458 

Abb. 10-19: hilfreiche Aufmerksamkeitsfoki für Pädagogen und Berater bei schulischen Erzählungen (in Anlehnung an Retzer 2004a, 115ff)

Sind Aufmerksamkeitsfoki und Leitunterscheidungen deutlich, kann der Berater sie u.U. ‚verstören’ oder ihnen im Gespräch eine andere Bedeutung verleihen.

10.6.10 positive Konnotationen und Umdeutungen

Der Blick auf bzw. für Aufmerksamkeitsfoki und Leitunterscheidungen erleichtert es Pädagogen, als problematisch erlebtes Verhalten von Schülern in ressourcevoller Haltung ‚positiv zu konnotieren’ bzw. ‚umzudeuten’.474 Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass der institutionelle Rahmen von Schule Lehrer u.U. leichter als andere Berufsgruppen zu einem Defizitblick verführt. Diesem setzt die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und Beratung mit der positiven Konnotierung und dem Reframing mehr als eine Technik entgegen. In ihnen spiegelt sich eine „Haltung der ‚systemischen Beschreibung von Welt’ wider“, der konsequente Blick auf Ressourcen und Möglichkeiten (Schlippe et al 2004, 112).

▼ 459 

Umformulierungen vermögen zirkuläre chronifizierende Prozesse wertschätzend aufzudecken und bewerten symptomatisches Verhalten ebenso positiv wie ggf. symptomunterstützendes Verhalten der anderen Beteiligten (Hennig/ Knödler 2000, 134f). Generell zum Ankoppeln, zum Verstören und zum Vermeiden von ‚Widerstand’ sowie speziell zur Stützung eines „Symptomträgers“ und seines Umfeldes ist es für Pädagogen hilfreich, auch schwierigen Verhaltensweisen positive Seiten abzugewinnen und jene dem Verhaltensträger zurückzuspiegeln (vgl. Kap.9.6.1). So kann es für Eltern einen Unterschied machen, plötzlich wahrzunehmen, dass das problematische Verhalten des Kindes (z.B. nicht mehr in die Schule zu gehen), eine Fähigkeit darstellen kann (z.B. ein Stoppsignal zu setzen). Dann wird über veränderte Sichtweisen u.U. anderes Verhalten möglich und neue Bewegung kann im System entstehen. Der systemisch-konstruktivistische Pädagoge sucht nach akzeptablen alternativen Erklärungen der zum Problem gewordenen Interaktion, so dass mit der neuen Sichtweise auch neue Handlungsmöglichkeiten entstehen: „Das einzige, worauf wir unmittelbaren Einfluss haben, ist unsere Einstellung zum Geschehenen und nicht dieses selbst“ (Binder 2000, 209).

Umdeutungen verändern nicht (nur) den Schüler, sondern (auch) den Umgang des Pädagogen mit ihm, wozu auch die eigene entspanntere emotionale Wahrnehmung gehört (Hubrig/ Herrmann 2005, 104,132). Auch die Kommunikation im eigenen ‚inneren Team’ des Pädagogen verändert sich, wird wertschätzender. Letztlich sind Beschreibungen, Erklärungen, Schlussfolgerungen, Bewertungen usw. immer wirksame Bestandteile von Beziehungsgestaltung. „Ändert man sie, ändert man damit auch seine Beziehungen“ (G.Schmidt 2004a, 108).

Positive Konnotationen in der Schule erfolgen im Unterrichtsbereich durchaus sinnvoll auch öffentlich, da sie zur Schaffung einer günstigen Lernatmosphäre beitragen können. Umdeutungen werden eher in der schulischen Beratung im engeren Sinne stattfinden. Im Angebotsbereich von Schule sind sie gut mit Öffentlichkeit (z.B. entsprechende Bemerkung vor der Klasse) verbindbar. Im Durchsetzungskontext hingegen steht eher eine angemessene Konfrontation im öffentlichen Vordergrund. Hier sollte der Pädagoge aber zu seinem eigenen Schutz innerlich den Ressourcenblick aufrechterhalten.

▼ 460 

Das Einbringen eines ressourcevollen Blicks muss angekoppelt und im richtigen Moment erfolgen, da eine zu frühe Umdeutung den Klienten in seinem Problemerleben nicht ausreichend würdigen würde. Auch muss der Berater sorgfältig mit dem Gesprächspartner prüfen, was solche Umdeutungen auslösen können in den Systemen, in denen der Gesprächspartner lebt (G.Schmidt 2004a, 108). Der Berater entscheidet sich nicht für eine Deutung, sondern spielt mit verschiedenen Deutungen bzw. bietet diese an. Die Wahl trifft der Klient in Eigenregie.

Die unten angeführte Auswahl von Umdeutungen stellt für schulische Kontexte hilfreiche bzw. typische kraftvolle Interventionen dar.

Das Symptom wird umgedeutet als:

▼ 461 

1. Lösungssuche Problemverhalten stellt eine neugierige, (er)forschende Suche in unklarem Umfeld dar
ADS, LRS als Versuche mit inneren Dilemmata (z.B. müssen vs. wollen) umzugehen

2. Entwicklungspause bzw. Individuationskompromiss bzw. AblösungskompromissDer Schüler nimmt sich Zeit in seiner Entwicklung
z.B. weil viel auf ihn eingestürzt ist in letzter Zeit (z.B. Scheidung der Eltern) oder weil er noch eine Zeitlang seine Eltern zu brauchen scheint

3. Training für eine ungewisse ZukunftProfessionalisierung im Umgang mit Konfliktsituation
ADHS als Selbstbehauptungstraining: Wer weiß, ob der Schüler die überlebensnotwendige Aufmerksamkeit (in der Zukunft) bekommen wird.

▼ 462 

4. logischer Irrtumirrtümlicher Glaube, dass Eltern etwas Bestimmtes wollen, was aber nicht hinterfragt wurde
z.B. dass eine andere Berufswahl oder ein schwächerer Abschluss möglich wäre, ohne die Liebe der Eltern zu verlieren

5. Sanktionspufferverhält sich jemand (wie) verrückt, kann er nicht bestraft werden
entpathologisiert Schüler mit abweichendem Verhalten

6. Streik Streiken tut ein potenzieller Verhandlungspartner, kein Opfer.
z.B. Hausaufgabenverweigerung, weil das Kind etwas von den Eltern erreichen will

▼ 463 

7. vitale natürliche Veranlagung‚natürliche Dominanzorientierung des Kindes’ (H.Omer), ‚Kind mit besonderen Bedürfnissen, das seine Eltern herausfordert’ (M.Aarts)
entpathologisiert Schüler mit abweichendem Verhalten

8. GesprächsstofflieferungKinder liefern Gesprächsstoff für Eltern durch abweichendes Verhalten
Worüber würde geredet werden, wenn nicht mehr über dieses Thema geredet würde?

9. Ausdruck inniger Liebe (bei Konflikten)Man streitet sich nur mit Personen, die einem wichtig sind.
Sonderfall: Umdeutung: problematisches Verhalten des Schüllers als Liebestest

▼ 464 

10. entschuldigte Rückzugsmöglichkeit insb. bei psychosomatischen Beschwerden
z.B. Schüler verlässt wegen körperlicher Beschwerden oft und früh den Unterricht, um nach Hause zu gehen

11. Nähe-Distanz-Regulator (bei Konflikte n und Gewalt)Streit ist maximale Nähe bei maximaler Distanz.
Konfliktverhalten als Ausleben innerer Ambivalenzen entpathologisiert Schüler mit abweichendem Verhalten

Auch die Suche des zu Beratenden nach Unterstützung und das Wahrnehmen eines Beratungsangebots können interpretiert werden sowohl als die Fähigkeit, sich in schwierigen Situationen selbstständig Unterstützung organisieren zu können, als auch als ein Zeichen dafür, dass die Talsohle der Krise bereits durchschritten ist (Prior 2006).

▼ 465 

Hilfreich kann es auch sein, sich die Wirkmechanismen von Umdeutungen strukturell klar zu machen. Bamberger (2005, 109) unterscheidet drei Arten von Umdeutungen auf dem Hintergrund von Ist-Soll-Diskrepanzen: Veränderung des Zieles, Veränderung der Mittel/ des Verhaltens (bei gleichem Ziel), Veränderung von Beschreibung, Interpretation, Bewertung (insb. Status Quo als Ressource - vom Problemopfer zum Problemnutzer).

Zum Schluss dieses Kapitels sei noch darauf hingewiesen, dass mechanisch eingesetzte positive Konnotation auch zur Stabilisierung eines ‚dysfunktionalen Systems’ führen kann – dann nämlich, wenn positive Konnotationen bereits Teil eben dieses ‚dysfunktionalen Musters’ sind. Dann können negative Konnotationen und konfrontierende Stellungnahmen mit höherer Wahrscheinlichkeit einen Unterschied machen und Veränderung anregen (G.Schmidt 2004a, 177). Interessant ist dies im schulischen Bereich insb. im Umgang mit Familien, in denen die Erziehenden kaum Grenzen setzen und vom Pädagogen als problematisch eingestuftes Verhalten des Kindes dauerhaft und mit Nachdruck positiv konnotieren bzw. werten.

Um zu wissen, wann und wo Umdeutungen (nicht) angebracht sind, können Ablaufschemata außerunterrichtlicher Gespräche helfen.

10.6.11 Ablaufschemata außerunterrichtlicher Gespräche

▼ 466 

Lehrer in der staatlichen Schule arbeiten in einem Ordnungssystem (vgl. Kap.8.4.2), das technokratisch-bürokratisch geprägt ist (vgl. Kap. 8.2). Auf diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sie ein Interesse an standardisierten Modellen für Gesprächsabläufe im komplexen schulischen Kontext haben. Auch wenn man diese nicht ‚eins zu eins’ umsetzen kann, bieten sie Orientierung (insb. in der Vorbereitungsphase vor Gesprächen und in Trainingssituationen). Ihr Nachteil liegt darin, dass sie die Aufmerksamkeit des Gesprächsführenden vom unmittelbaren Prozessgeschehen und der intuitiven Eigenwahrnehmung abziehen können.

Für den Beratungsbereich im engeren Sinne bieten z.B. Simon/ Rech-Simon (2000, 265ff) ein umfangreiches Ablaufschema, das auch sehr gut in Mehrpersonensettings einzusetzen ist. Für - in manchen Schulen besonders stark vertretene - interkulturelle Aspekte im Beratungssetting bieten Schlippe et al (2004, 102ff) eine ausführliche Anleitung.475 Wywiol/Winkler (2002, 44) bieten einen allgemeinen ‚Fahrplan für lösungsorientierte Beratungs, Ziel und Entwicklungsvereinbarungen in der Schule’ an. Hennig/Ehinger (2003) führen detaillierte Schritte, Aspekte und Fragen für kooperative und konflikthafte Elterngespräche (dort S.95, 123) auf.476 Die unterschiedlichen Bedingungen im Angebots- und Durchsetzungskontext werden von diesen Vorschlägen aber nur zum Teil eingefangen. Daher soll an dieser Stelle folgendes, stark vereinfachendes Modell für die Durchführung außerunterrichtlicher Gespräche vorgeschlagen werden, das die Unterschiede in der Gesprächsführung zwischen den beiden Kontexten des Pädagogischen deutlich kontrastiert:

Ablaufschema für außerunterrichtliche Gespräche

Durchsetzungskontext
(Pädagoge als formaler Machtinhaber)

Angebotskontext
(Pädagoge als psychologischer Machtinhaber.)

Vorbereitung (Selbstklärung):

Systemisches Porträt (Visualisierung)

Situationsanalyse und Positionierung
päd. Kontext, Machtart, Gesprächsform, eigene Ziele

Gesprächsbeginn

- Begrüßung, „Anwärmen“

- Meta-Ebene: „Unsere Gesprächssituation und mein Vorgehen sehen so aus...“

Einladung zur Kooperation

Informierender definiert dabei u.a.:

Kontext

Gesprächsform

zur Verfügung stehende Zeit

(im Vorhinein schon Zeitpunkt & Ort)

- Begrüßung, „Anwärmen“

- Meta-Ebene: Auftragsklärung

Wer will was von wem wozu?

(für sich) Ist Kunde, Klagender oder Besucher anwesend?

(für sich) Welche „Einladung“ wird vielleicht ausgesprochen?

(für sich) Um welche Machtart und Gesprächsform geht es wirklich?

Fortführung des Gesprächs

- Information mitteilen (u.U. mit Zeugen)

- unter Verwendung der WI(E)F-Schritte

- dem zu Informierenden Verantwortung unterstellen

- ggf. (Vorschlag oder Tun:) gesellschaftliche Kontrollinstanzen hinzuziehen
(insb. wenn der Pädagoge an der Übernahme von Verantwortung durch den Betroffenen/ sein Gegenüber zweifelt)

- Zuhören, „ankoppeln“, Sprache des Gegenübers sprechen

- Fragen zum Problemkontext

- Fragen zum Lösungskontext

- mit dem ‚Widerstand’ gehen

- ggf. erneute Auftragsklärung

- weitere Instrumente aus der systemischen Beratung

- ggf. Hinzuziehen von weiteren Beratungsinstitutionen

Beendigung des Gesprächs

- Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen

- „Was mir noch wichtig ist zu sagen....“ / „Was Sie noch wissen müssen...“

- u.U. Protokollerstellung bzw. Unterschrift einholen

- „Was war für Sie das Neue/ Wichtige (heute)?“

- „Wie viel Prozent vom Gewünschten, was heute (aus dem Bauch raus) machbar erschien, haben wir erreicht? Was fehlt bis 80%?“

- Vereinbarungen

U.U. ‚Hausaufgaben’

u.U. nächster Termin

▼ 467 

Zum Abschluss des Kapitels 10.6. erfolgen noch ein paar Hinweise zur Chronifizierung von Beratungsprozessen und zu weiteren systemischen Beratungsinstrumenten.

10.6.12 Chronifizierung

Die Dauerhaftigkeit eines Problems muss aus systemischer Sichtweise aktiv hergestellt werden, da Leben dauernde Veränderung bzw. das einzig Beständige der Wandel ist. Die systemisch-konstruktivistische Beratung stellt daher „weniger die Frage nach der Verursachung als die nach der (Selbst-)Chronifizierung von Störungen. [...] Chronifizierung wird als das Ergebnis einer aktiven, wenngleich meist nicht bewussten Gemeinschaftsleistung angesehen“ (Schweitzer/ Schlippe 2006, 30). An eben dieser sollte der Pädagoge nicht selber teil haben.

Im Folgenden werden (in Anlehnung an Mücke 2003, 462ff) einige Chronifizierungsstrategien aufgeführt, die für schulische Beratungskontexte typisch sind.

▼ 468 

10.6.13 weitere Beratungsinstrumente

Der systemisch-konstruktivistische Ansatz mit seinen verschiedenen Vertretern bietet noch eine Vielzahl weiterer Instrumente und beachtenswerter Aspekte, die nicht alle in einer Fortbildung zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik und Beratung in Schule behandelt und eingeübt werden können bzw. für den schulischen Kontext eher sekundär interessant sind. Am interessantesten ist sicherlich noch die Arbeit mit Metaphern und Anekdoten (G.Schmidt 2004a, 160), da hier auf einer vor-kognitiven Ebene gearbeitet werden kann, und mit Rückfallprophylaxe, die sich auf eher spezielle Anliegen bezieht. Genogrammarbeit kann mit einzelnen Schülern oder auch mit (v.a. Patchwork)Familien betrieben werden, klingt aber schon sehr nach Therapie. Das gilt auch für die Arbeit mit der ‚Inneren-Teamkonferenz’ im Einzelsetting bei Entscheidungsfragen mit Schülern (z.B. Schul- und Karriereplanung); für manche Interventionen zur gezielten Herstellung von Außenperspektive (z.B. Externalisierung). Verkopplungen sowie andere hypno-systemische Interventionen (G.Schmidt 2004a,b) benötigen ggf. eine eigene Ausbildung.

‚Hausaufgaben’ (Beobachtungsaufgaben, Symptomverschreibungen, So-tun-als-ob-Aufgaben) können starke Interventionen sein, wobei die Kultur, Hausaufgaben zu geben, in Schule bekannt ist. Das mag diese Interventionsmethode erleichtern – gerade bei Schülern, die in Schule auffallen -, allerdings besitzen Hausaufgaben auch eher eine negative Konnotation in Schülerköpfen. Obendrein müssen Berater, um die Wirkmechanismen paradoxer Interventionen abschätzen und gezielt einsetzen zu können, nicht nur eine Ausbildung sondern auch Erfahrung haben.

▼ 469 

Für systemische Aufstellungsarbeit ist nicht nur eine Ausbildung erforderlich, man muss auch genügend Beteiligungswillige versammeln.479 Das Instrument des Therapeuten-Splittings ist angesichts der Personalknappheit in Schule unrealistisch. Das Ambivalenzmanagement des Beraters (sowohl-als-auch) wurde im Zusammenhang mit Fragen der Neutralität angesprochen.

Die in diesem Kapitel (10.6) zusammen getragenen Methoden und Foki für außerunterrichtliche Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung in der Schule zielen letztlich immer auch darauf, Schüler und Eltern (und Kollegen) zur Kooperation zu motivieren.

10.7 das Gegenüber zur Kooperation gewinnen

Aufgrund der schulpädagogisch-typischen Vermischung von Kontrolle/Bewertung einerseits und Entwicklungsanregungsversuchen andererseits befinden sich viele, vermutlich die meisten Situationen außerunterrichtlicher Gespräche in Schule nicht in einem reinen Beratungskontext im engeren Sinne. Die Gewinnung des Gegenübers für den Motivationstyp bzw. das Interaktionsangebot ‚Kunde’ in Gesprächs- und Unterrichtssituationen im generellen Zwangsrahmen Schule ist daher eine der Hauptaufgaben des Pädagogen. Hier werden zusammenfassend mehrere für Schule wichtige Methoden der Kundengewinnung für die zwei Kontexte der Pädagogik unterschieden.

10.7.1 Kooperationsangebote im Angebotskontext

▼ 470 

Im Bereich von Unterricht und Beratung gibt es etliche bedeutsame Formen von Kooperationsangeboten im schulisch-pädagogischen Sektor.

Für Situationen, in denen der Pädagoge speziell in Beratungsfunktion angefragt wird, ist es insb. hilfreich zu wissen, wie man Klagende, Ko-Therapeuten und Besucher zur Kooperation einladen kann und die Zusammenarbeit ausbauen kann.

▼ 471 

Die genannten Möglichkeiten stehen auch dann zur Verfügung, wenn der Pädagoge von sich aus das Gespräch sucht und das Gegenüber sich auf ein Gespräch einlässt, in dem es ihn in beratender Funktion akzeptiert.

10.7.2 Kooperationsangebote im Durchsetzungskontext

Im Zusammenhang mit eher konfrontativen Gesprächen, die in der Regel in den Durchsetzungskontext fallen, kann durchaus auch Zusammenarbeit angeboten werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich in den Formulierungen eher auf Einzelgesprächssituationen, sie können aber auch auf Unterricht bezogen sein.

▼ 472 

Omer/Schlippe (2002, 88) empfehlen unabhängig von den hier genannten Bereichen, die Wahrscheinlichkeit dafür, Eltern wie Kindern zu einer möglichst fruchtbaren Kooperation zu gewinnen, dadurch zu steigern, dass der Berater bzw. Pädagoge mit einem stark empathischen Ausdruck von Respekt beginnt und mit einer kraftvollen Herausforderung endet: „Beide Teile dieser Botschaft verstärken sich gegenseitig: Die Herausforderung ist annehmbar wegen der vorhergehenden Unterstützung, und die Unterstützung ist glaubwürdiger wegen der nachfolgenden Herausforderung.“

Die auch im systemisch-konstruktivistischen Ansatz wiederzufindende kooperativ-einladende Haltung wurde bereits vom humanistischen Ansatz in Schule eingebracht. Auf dem Hintergrund von Kooperationsangeboten und pädagogischer Handlungsfähigkeit werden im nächsten Kapitel kurz Vor- und Nachteile der beiden Ansätze für die schulische Arbeit diskutiert.

10.8 Chancen und Gefahren systemischer und humanistischer Beratung

▼ 473 

Auch die der in Schule mittlerweile doch recht weit verbreiteten humanistischen Psychologie beruht auf einer grundlegenden Kooperationsbereitschaft. Anders als in dem hier vorgeschlagenen Ansatz systemisch-konstruktivistischer Pädagogik aber besteht beim humanistischen Ansatz teilweise eine Notwendigkeit, dass Schüler und Eltern mit den Lehrern kooperieren, damit das humanistische Vorgehen gelingen kann. Letzteres ist daher insb. im Durchsetzungskontext teilweise mit deutlich weniger Handlungsalternativen ausgestattet als systemisch-konstruktivistisches Handeln. Das hängt damit zusammen, dass etliche Charakteristika der systemischen Beratung sich aus problematischen Erfahrungen mit den bis dahin gängigen Beratungsmethoden (darunter die humanistische485) ergeben haben, so dass eine andersartige oder differenziertere Sichtweise Chancen auf erweiterte Handlungsspielräume zuließ und -lässt. Umgekehrt kann aber die systemisch-konstruktivistische Beratung ihrerseits in Interaktionsprozessen wiederum jene Aspekte übersehen, die in anderen Ansätzen stark betont werden und denen gegenüber sie sich tendenziell abgrenzt, um ihr eigenes Profil zu gewinnen bzw. zu zeigen.

Verschiedene Beratungsansätze besitzen voneinander differierende Blickwinkel, die unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit betonen und auch unterschiedliche Vorteile und Fallen mit sich bringen. Palmowski (2003) hat konsequenterweise die unterschiedlichen Ansatzpunkte diverser Beratungsrichtungen einander gegenüber gestellt und auf den schulischen Kontext bezogen. Aus konstruktivistischer Sicht ergeben vielfältige und voneinander differierende Erzählungen einen großen Reichtum an praktischen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Wirklichkeit.

Für das Vorhaben dieser Dissertation sollen - da die humanistische Sichtweise sich in weiten Teilen der Schule und Erziehung mittlerweile etabliert hat, während zurzeit die systemische an Bedeutung gewinnt - Stärken und mögliche Fallen humanistischer und systemischer Beziehungsgestaltung bzw. Beratung in einem kurzen tabellarischen Profil einander schwerpunktbildend gegenüber gestellt werden. Diese Kontrastierung respektiert, dass beide Ansätze von unterschiedlichen Prämissen ausgehen und will für die tägliche pädagogische Praxis auf Aspekte hinweisen, bei denen sich beide Ansätze im Sinne (des systemischen Arguments) ihrer Nützlichkeit ergänzen. Für beide Ansätze soll gelten, dass der Berater nicht weiß, was für den Klienten gut bzw. richtig ist.486 Insofern, als die humanistische Begleitungsweise sich bewusst im Wesentlichen auf Spiegelungs- und Genauerungstechniken beschränkt, kann auch beiden Vorgehensweisen eine Ressourcenorientierung zuerkannt werden.

▼ 474 

Im unten stehenden Schaubild sind einige zentrale Unterschiede in den beiden genannten Sichtweisen von Beratung zusammengestellt. Die Tabelle kann von links nach rechts gelesen werden, aber auch von rechts nach links unter Umkehrung der Aussagen.

Abb. 10-22: Stärken und Schwächen humanistischer und systemischer Beratung

Der zunehmende Beratungsbedarf in Schule lässt es sinnvoll erscheinen, im praktischen Tun durchaus auf die Stärken unterschiedlicher Ansätze zurückzugreifen. Um diese adäquat einsetzen zu können, kann es sinnvoll sein, zumindest einige Grundlagen der verschiedenen Ansätze zu kennen. Zumindest für Beratungs- und Förderlehrer erscheint es auch als sinnvoll, ein ‚Standbein’ zu haben, d.h. einem Ansatz zu folgen, in dem man die theoretische Grundlage so gut kennt, dass man sie mit der Praxis und umgekehrt verbinden kann, um professionell handeln und sich selbst anregen und weiterentwickeln zu können. Stecken Pädagogen in Beratungs- oder Konfliktsituationen zwischen verschiedenen Ansätzen fest, bietet es sich an, sich selber super- oder intervisorische Beratung zu holen.

10.9 Beratung und Supervision für Lehrer

▼ 475 

Dafür, dass Pädagogen sich selber unterstützende Beratung gönnen, gibt es mittlerweile etliche gute Gründe. Die für das komplexe System Schule typische Unklarheit eigener Positionierungen in der Vielfalt pädagogischer Funktionen ist Alltag für Lehrer. Obendrein sind „Lehrer [...] isoliert. Die Lehrerin steht allein vor der Klasse und man erwartet von ihr, dass sie mit den Problemen allein fertig wird“ (Omer/Schlippe 2004, 165). Gegenseitige Unterstützung entsteht meist spontan und ist nicht dauerhaft implementiert. Zusätzlich leiden sie unter gängigen Mythen (Kap. 9.4) wie z.B., dass ein guter Pädagoge mit allen Schülern umgehen könne, oder, dass „man wohl ein persönliches Problem haben müsse, wenn man sich durch eine Sache aus der Fassung bringen lasse“ (Cecchin et al. 2005, 82). Wer Probleme mit seiner Klasse oder seinen Schülern hat, gilt schnell als unprofessionell. Uneinigkeit unter Lehrern sabotiert aber deren Autorität (Omer/ Schlippe 2004, 166). Auch zeichnen sich etliche Lehrerkollegien mitunter durch gemeinsames Klagen aus, das die Probleme nicht verändert aber leichter aushaltbar (zu) machen (scheint): „In der Alltagskommunikation unserer Kultur lassen sich sehr viele Kontexte finden, in denen Beziehungen meist dadurch gepflegt werden, dass wechselseitig geklagt wird und man so Bindung herstellt und viele kommunikative Lücken erfolgreich füllen kann“ (G.Schmidt 2004a, 95). Man erhält damit aber auch eine Problemtrance aufrecht.

Schließlich erfordert die Postmoderne „die Notwendigkeit ständiger Vergewisserung in der individuellen und sozialen Konstruktion. Erzeugte Verlässlichkeiten [...] werden immer wieder den Berg hinunterrollen“ (Lindemann 2006, 17). Neben dem häufigen Thema ‚schwierige Schüler’ tritt (zunehmend?) die Behandlung von Problemen mit Kollegen und Schulleitung (Palmowski 1998a, 23,25; Bauer 2007b). Diverse Formen der Super- bzw. Intervision sind auf solchen Hintergründen für Pädagogen sinnvoll. Für Kollegen unterschiedlicher Schulen ist Super/Intervision meist einfacher, weil der Blick von außen neutraler bzw. nicht-wissender ist und private Anteile der Teilnehmer besser geschützt sind (Hubrig/ Herrmann 2000, 155).

Supervision für Lehrer definieren Ehinger/Hennig (1994, 13)487 als einen „Lehr- und Arbeitsprozeß, der eine systemische (ganzheitliche) Begleitung und Reflexion beruflichen Handelns ermöglicht“. Schwierige berufliche Probleme unter Kollegen und/oder mit Experten zu besprechen, wird in einer postmodernen, system- und interdependenzbewussten, konstruktivistischen Pädagogik als „ein Zeichen fortschreitender Professionalisierung“ (Kirschner-Liss et al 2001, 32) gewertet.

▼ 476 

Ein Gespür für eigenes Unbehagen zu entwickeln, zu besitzen und zu entfalten, wenn Unterricht oder eine Beratung keine Fortschritte machen, die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und kritischen Selbstbetrachtung sowie zur Suche nach Präsenz (Hargens 2006, 82) können als „eine der wichtigsten Voraussetzungen für erfolgreiches erzieherisches Handeln“ (Rotthaus 1999a, 96) angesehen werden. Kollegiale Fallberatung und Supervision sind also nicht Eingeständnis persönlichen oder beruflichen Scheiterns sondern vielmehr wichtige, „kompetente Bausteine bei der Konstruktion des selbstorganisierten Bildungsprozesses: Dieser Schritt ist freiwillig, selbstorganisiert und präventiv. Er kommt zugute der eigenen Persönlichkeit, der Supervisionsgruppe als ganzer, und vor allem den ‚Kids’“ (Huschke-Rhein 1998b, 49).

Der Komplexität des Lehrberufs entsprechend, sehen Ehinger/Hennig eher große Felder als Gegenstand von Supervision bzw. professioneller pädagogischer Reflexion:

Abb. 10-23: Aufgabenfelder systemischer Lehrersupervision mit angrenzenden Bereichen (Ehinger/Hennig 1994, 13)

▼ 477 

Es gibt eine Vielzahl von in pädagogischen Handlungsfeldern (und auch in der Schule) bewährter Modelle, um sich regelmäßig, strukturiert und nach einer klaren Methode mit Kollegen über schulische Probleme auszutauschen und bei der Lösungssuche zu begleiten, z.B. Ehinger/Hennig 1994; Mutzeck/Schlee 1996, Mutzeck 2005; Binder 2000. Supervision kann im pädagogischen Kontext auch als Intervision und geleitete Gruppenkonsultation verstanden werden. Wie ein einzelner Lehrer kann eine ohne Supervisor arbeitende Gruppe auch anhand vorliegender, teilweise elaborierter Fragebögen Selbstreflexionen anstellen (z.B. Voß/ Schemmann 2006488; Lindemann 2007; Rademacher/Philipp 2002, 47ff).

Bei aller Verschiedenheit der Begrifflichkeiten und Varianten, geht es letztlich um „eine moderne Form der Konsultation für berufsbedingte Belastungen oder Probleme, [...] eine Unterstützung bei systembedingten Problemen oder Konflikten in pädagogischen Institutionen“ (Huschke-Rhein 1998b, 47). In Abgrenzung zur Intervision kann Supervision verstanden werden als „Metaperspektive eines externen Beraters [...] mit dem Ziel, dem Betroffenen Anregungen oder Hilfen für eine neue Sichtweise seiner Situation zu bieten [...] als Hilfe zur Selbsthilfe, eben zu neuer Selbstorganisation“ (Huschke-Rhein 1998b,47, Hvg. R.M.) und zu neuen Handlungsmöglichkeiten. Vielfältige Möglichkeiten wie geleitete Reflexion, Rollenspiele, Aufstellungsarbeit (Varga von Kibéd/ Sparrer 2000, G.Weber 2002)489, Inneres Team usw. sind möglich. Grundgedanke ist, dass Berufs-, Lern- und Lebenserfahrungen des einen Lehrers von anderen Kollegen – ggf. unter Moderation und Ergänzungen durch einen Supervisor - als hilfreich für die Bewältigung von eigenen Konfliktsituationen erlebt werden können. Das müsste schon in der Lehrer-Ausbildung berücksichtigt werden und muss ein wesentlicher Punkt für die Weiterbildung von Pädagogen sein.

Für Pädagogen im schulischen Umfeld besonders wichtige Themen sind häufig Autorität und Macht (Looss 2006, 2007). Franke-Gricksch (2000, 177) weist darauf hin, dass aus ihrer Erfahrung es Lehrern schwer fällt, sich autoritatives Verhalten zu ‚nehmen’, wenn sie Autorität sehr kritisch gegenüber stehen. Dann wird es aber auch schwer, souverän und angemessen mit dem Wechselspiel zwischen den beiden Kontexten der Pädagogik, insb. mit dem Durchsetzungskontext, umzugehen. Pädagoge und/oder Berater, die Supervisionsprozesse suchen, haben sich meist in inhaltliche Aspekte ‚verrannt’ und dabei Fragen des Prozesses und der Form aus dem Blick verloren. Dann sollte der Pädagoge eigenen Positionen sowie Positionen der Institution, in der er arbeitet, gegenüber respektlos werden und diese hinterfragen (Cecchin et al. 2005, 85f)

▼ 478 

In Schule lassen sich gemäß Cecchin et al. (2005, 86) v.a. zwei häufige unproduktive Muster erkennen: Erstens, führt der Versuch, Kontrolle zu gewinnen, zu einer Gegenregulation, der Schüler eher (weiter) außer Kontrolle bringt. Zweitens, kann auch der Wunsch des Pädagogen, dass ein Schüler viel lernt oder sich stark verändert, zu ‚Widerstand’ einladen. Die Wirksamkeitslogik der Gegenregulation ist häufig der Versuch des Schülers oder Begleiteten, seine Eigenständigkeit im beschriebenen Beziehungskontext zu wahren (Willi 2002, 24).

Für Lehrer kann dann die Wiedererlangung bzw. Betonung von Möglichkeitsraum und Spielmodus günstig sein. Hargens schlägt vor, weniger darauf achten, was genau der Schüler tut, sondern eher darauf, wie er versucht, den Lehrer ‚auf die Palme zu bringen’, und dann diesen Prozess nicht als Ernst sondern als ein Spiel zu sehen, bei dem man als Pädagoge versuchen kann, sich nicht wieder ‚kriegen’ zu lassen. Dann kann der Pädagoge im problematischen Schülerverhalten mitunter sogar die soziale Fähigkeit erkennen, das Verhalten eines anderen (nämlich des Pädagogen) in seinem eigenen Sinne zu beeinflussen. „Genau diese Definition – Spiel statt Ernst – hat mich gelassener gemacht“ (Hargens 2002, 35). Egal, ob ein solches Spiel öffentlich angekündigt wird oder nicht, eine solche Herangehensweise verändert zwar (zunächst) nicht das störende Verhalten, aber die eigene Form, sich dazu als Pädagoge in Beziehung zu setzen (Hargens 2002, 35ff). Genau das ermöglicht neues Handeln für die Beteiligten bzw. Betroffenen.

Ein guter Supervisor oder Intervisionsleiter in schulpädagogischen Kontexten ist vor allem ein guter Moderator unter ansonsten gleichgestellten Fachleuten (Huschke-Rhein 1998b, 185), Primus inter pares (Voß 1997b, 227). Besitzt er weitergehende therapeutisch-beraterische Ausbildungen und Erfahrungen als die anderen, kann er aus seinem Fundus Vorschläge für alternative Sichtweisen unterbreiten. Auch muss er Rahmenbedingungen für einen förderlichen und effektiven Ablauf herstellen und auf ein wertschätzendes, ggf. ressourcenorientiertes Gruppenklima achten und so der von Orths (2003, 25) als lehrerzimmertypisch bezeichneten Jammer-Haltung in Kollegien ggf. eine alternative, lösungs- und handlungsfokussierende Haltung gegenüberstellen. Auch sollte er auf die Machbarkeit der Zielsetzungen achten (Lindemann 2006, 16). Voß (1997b, 277ff) nennt einige Aspekte, die aus systemischer Perspektive besonders zu trainieren sind, insb.: Erhöhung der Wahrnehmungssensibilität, Empathie und Perspektivenwechsel, systemische Fragetechniken, Denken in Systemen und Kreisläufen, Umdeuten, Wahrnehmung und Nutzung von Ressourcen. Außerdem sollte der Supervisor auf eine Rückbindung an theoretische Grundlagen achten490: „Professionalität im Lehrerhandeln kann nur da entstehen (oder erhalten bleiben), wo die prinzipielle Möglichkeit der (lösungsorientierten) fachlichen Refle[x]ion des eigenen Handelns gegeben ist [...- und zwar, R.M.] in dem Maße, in dem der Praktiker in der Lage ist, sein Handeln in der Theorie zu verorten“ (Palmowski 2002a, 26). Letztlich hat der Supervisor genau wie ein Therapeut (und ein Pädagoge oder Lehrer) die paradoxe Aufgabe, sich überflüssig zu machen.

▼ 479 

Die letzte Aussage gilt nicht für zwei abschließende Bemerkungen. Erstens kann auch die Fähigkeit, eigene innere Resonanzen wahrnehmen und für eigene Entscheidungsprozesse nutzbar machen zu können (vgl. Kap. 9.6.2), als Ressource des Pädagogen und eine Art ‚permanenter Selbstsupervision’ (Schumacher 2002) angesehen werden. Zweitens lässt sich auch der ganz ‚normale’ Unterricht - insofern als Beziehung zirkulär organisiert wird - in dem Sinne als ein kontinuierlich supervidierter Prozess verstehen, als im Interaktionssystem Unterricht Schüler Lehrern ständig Rückkopplungen bzw. Feedback anbieten. Schüler leisten sozusagen ständig gratis Supervision (Schumacher 2002). Dies geschieht meist nicht in expliziter und verbal elaborierter direkter Form, aber Schülerverhalten, z.B. ‚Nebenbeschäftigung’, ist immer auch Rückmeldung zum gehaltenen Unterricht (Voß/ Haug 2000, 168).

Neben den weiter oben genannten Supervisionsthemen schwierige Schüler, Eltern, Kollegen und Schulleitung sind Prozesse der Entwicklung von Schule als Organisation ein weiteres wichtiges Thema für Einzellehrer und Lehrergruppen. Diesem Thema ist das folgende Kapitel gewidmet.


Fußnoten und Endnoten

421  Der Begriff ‚Fall’ ist nicht abwertend gemeint. Er ist insofern ‚entpersonalisierend’, als er den Blick öffnen kann für Systemfragen, der Schüler hat ja diverse Umfelder (z.B. seine Eltern, die zu berücksichtigen in Beratungsprozessen wichtig sein kann). Der Begriff ‚Fall’ vermag, Außenperspektive herzustellen.

422  Dies führt z.B. dazu, dass in therapeutischer Literatur das Geben von Ratschlägen als ‚pädagogisches Handeln’ (Mücke 2003, 226) bezeichnet wird. Das verkennt die Komplexität schulischer Realität, die deutlich umfangreicher ist als die einer therapeutischen Praxis oder auch einer Beratungsstelle.

423  Der Begriff der Beratung wird nicht nur in Schule häufig sehr ungenau benutzt. Auch systemisch arbeitende Autoren bezeichnen Situationen, die nichts mit Beratung im engeren Sinne zu tun haben, als ‚Beratungssituationen’. So z.B. Christian (1998, 94), der sich auf Situationen bezieht, für eher die eine bloße Mitteilung qua Amt oder – innerhalb von Unterricht – ein gemeinsamer Entwicklungsprozess der Klasse angemessen sind. Ich komme darauf in Kap. 10.5 zurück.

424  ‚schulische Beratung im weiteren Sinne’ meint den in Schule benutzten, allgemeinen Begriff von ‚Beratung’, der meist sehr undifferenziert für sämtliche Formen außerunterrichtlicher Gespräche verwendet wird.

425  Möglich wäre eine Unterscheidung zwischen ‚Beratungsbedürftigkeit’ (als von außen wahrgenommene steigende Notwendigkeit für schulische Beratung) und ‚Beratungsbedarf’ (als aus der Innenperspektive tatsächlich geäußerter Wunsch nach Beratung durch Schüler, Eltern und Lehrer).

426  Dabei gilt, dass, je höher die Konfliktstufe ist (vgl. Abb. 9-17 in Kap.9.13.2), desto mehr ‚Helfer’ beteiligt sind (Alberstötter 2006b, 180ff).

427  Auftragsklärung (Kap. 10.6.3) ist hier ein unverzichtbares Mittel.

428  Vgl. Kap.10.5.3.1.

429  Diese stellt ein Instrument und nicht eine Grundhaltung dar (Schumacher 2002).

430  Das Unbewusste kann eher gefährlich (Psychoanalyse) oder bereichernd (Tiefenpsychologie, Humanismus) konnotiert sein.

431  Eine Zusammenstellung von Theorie-Eckpfeilern systemisch-konstruktivistischer Beratung (im Sinne konstruktivistischer und systemischer Theoriegrundlagen) bietet auch Radatz (2006, 78ff).

432  Das liegt daran, dass der Erziehungsauftrag von der Gesellschaft bzw. dem Staat verliehen wird, der Beratungsauftrag aber wird vom Klienten im Einzelbezug freiwillig erteilt.

433  Hargens bezieht sich hier auf die Eltern. Bei einer rein funktionalen, bloß wissensvermittelnden Funktion des Lehrers, wäre die Nicht-Annahme von Erziehungsaufträgen durchaus möglich. Dies geht auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund aber nicht, weil der Schwerpunkt von Pädagogik in der Beziehungsgestaltung liegt und, da nicht nicht kommuniziert werden kann, auch nicht nicht erzogen werden kann.

434  Sie tun dies für den klinischen Bereich, die Beschreibungen bzw. Definitionen (nicht unbedingt die Begriffe, v.a. nicht der Begriff der Therapie) sind aber auf Schule übertragbar.

435  Der Begriff der Beratung wird in dieser Arbeit anders verwendet als von Ludewig, vgl. Kap. 10.2.

436  in Erweiterung von Ludewig (1992, 123).

437  Huschke-Rhein schlägt vor, dass Beratungslehrer mit einem reduzierten Psychologiestudium erfolgreich Einzelfallberatungen übernehmen können (Huschke-Rhein 1998b, 153). Meiner Auffassung und persönlichen Erfahrung nach ist hierfür eine therapeutische (Grund)Ausbildung hilfreicher als ein universitäres Kurz- oder Teilstudium der Psychologie, da Therapie- und Beratungsausbildungen wesentlich praxisorientierter sind.

438  Freilich gibt es auch Einladungen von Lehrern an Schüler (z.B. ‚Sag mir und den anderen, dass ich toll bin, dann kriegst du eine gute Note’), an Eltern (z.B. ‚Arbeite in der Schule mit, aber nach meinen Ideen’) und an Schulleitung (z.B. ‚Unterhalte uns bei Kaffee und Kuchen, aber nicht zu lange’).

439  Dieser dritte Punkt wird in Kap. 10.5.1 näher erläutert.

440  vgl. Abb. 9-18 in Kap.9.13.3.

441  Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, ist das ohnehin (aufgrund operationeller Geschlossenheit) nicht anders möglich.

442  Abweichend vom Eintrag in die obige Tabelle (Abb. 10-6) kann Austausch auch primär auf der formalen Ebene liegen bei letztlich inhaltlich unerheblichem Small-Talk, der auf einer formalen Ebene Kooperationsbereitschaft signalisieren kann (z.B. Gespräche über das Wetter, den Anfahrtsweg).

443  Auch Reich (1999, 83) weist ausdrücklich darauf hin, dass die Moderatorenfunktion für Lehrende zunehmend wichtiger wird, gemeint ist hier allerdings eher der unmittelbare Unterrichtsbezug.

444  Eine scharfe Trennung von ‚Auftragsklärung’ und ‚eigentlicher Beratung’ ist – zumal in den lösungsorientierten Ansätzen – nicht möglich (Prior 2006).

445  Diskutierbar bleibt, ob ein Elterncoaching im Sinne von Omer/Schlippe (2002, 2004) und Tsirigotis et al (2006), falls ein Pädagoge dies durchführen wollte und hierfür einen Auftrag erhielte, sich noch im Bereich der Beratung befände oder bereits der Kategorie Ratschlag zugeordnet werden sollte. Ich sehe hier den Beratungsaspekt stärker, solange die Eltern primär gemeinsam das Ziel der erhöhten eigenen Präsenz und Handlungsfähigkeit erreichen wollen und Tipps oder Ratschläge des Beraters lediglich als zieldienliche Angebote in einem wesentlich umfassenderen Rahmen von Transformation vorgestellt werden, deren Annahme oder Ablehnung in der Verantwortung der beratenen Eltern verbleibt. Direkte Vorschläge sind dann „nur jeweils Dienstleistungen, welche die Autoritäten im Kooperationsprozess [...] jeweils [...] auf ihre Stimmigkeit hin prüfen“ (G.Schmidt 2004a, 73). Wird hingegen bestimmt und direkt angeleitet, was legitim, wirksam und von den Eltern gewünscht sein kann, befindet sich der Begleitende im Bereich des ‚Ratschlags’ (oben Gesprächsform Nr.2).

446  Andererseits darf nicht vergessen werden, dass eine unangemessene Kooperation im Durchsetzungskontext durchaus Probleme schaffen kann, die ansonsten nicht da wären. Kooperation ist in Schule nicht per se besser als Konfrontation. Im übrigen kann auch Beratung konfrontativ-provokativ vorgehen (Farrelly 1986).

447  Düring (2006, 160) weist darauf hin, dass in Erziehungsberatungsstellen mittlerweile häufig eine „Mischberatung“ stattfände, „in der ‚traditionelle’ systemisch orientierte Beziehungsarbeit, mediative Elemente und die Ideen der elterlichen Präsenz Bedeutung erlangen.“ Dies bietet für Schule auch eine Chance, v.a. in Zusammenarbeit mit solchen Beratungsstellen.

448  Wird darauf nicht geachtet, ist die Berater-Ratsuchende-Beziehung inhaltlich und formal asymmetrisch, dann eher vergleichbar einem einseitigen Pfeil vom Lehrer zum Schüler wie im Zusammenhang mit dem positiven Anreiz Abb. 9-19 auf S.370 erläutert.

449 

Die Unterscheidungen in diesem Unterkapitel befinden sich im Bereich beraterischer Angebote. Hennig/Ehinger (2003, 82) unterscheiden für Elterngespräche im Allgemeinen vier Beziehungsgestaltungsmuster (die auf außer-unterrichtliche Gesprächsführung mit Schülern übertragen werden können): Vorgeladene, Besucher, (An)Klagende, Kooperationspartner. Die Autoren unterscheiden allerdings nicht zwischen Angebots- und Durchsetzungskontext. Führte man diese Unterscheidung ein, könnte man weitere wichtige Aspekte ergänzen. So entscheidet über das Muster ‚Vorgeladener’ – anders als bei de Shazers Modell - zunächst der Lehrer und nicht der Gesprächspartner. Das Beziehungsmuster ‚Anklagender’ kann dann interpretiert werden als selbstverteidigend-reaktives Interaktionsangebot eines Gegenübers, das sich im Vorgeladenenmuster wiederfindet oder dieses innerlich antizipiert.

450  In Schule ist diese Auftragsart nicht selten, daher wird sie hier gesondert aufgeführt. Mücke (2003, 219ff) unterscheidet noch einige weitere Auftragsarten.

451  Eine mitunter in Lehrerkollegien bzw. -zimmern anzutreffende Klage-Haltung (Orths 2003) ist noch keine Auftragsart, da hier i.d.R. kein Auftrag vorliegt.

452  Da für das Thema dieses Absatzes die Geschlechtlichkeit eine wichtige Rolle spielen kann, verwende ich hier explizit beide grammatikalischen Formen.

453  z.B. der Pausenhof

454  Noch einmal sei betont: der ‚Beratungs’-Begriff in Schule ist schillernd. Die in diesem Kapitel vorgestellten Methoden müssen jeweils auch daraufhin spezifiziert werden, wo sie ggf. nur für den Beratungsbereich im engeren Sinne und wo sie grundlegender, also z.B. auch für Konfliktklärungen, verwendet werden können.

455  Kollegiale Intervision erfordert weitere Kollegen und ein eigenes Setting, Aufstellungsarbeit benötigt obendrein einen kompetenten Anleiter. Bei Supervision oder Coaching ist ebenfalls ein kompetenter, ausgebildeter Begleiter nötig.

456  In verkürzter Form können solche Konfliktanalysen auch mit Klassen eingeübt werden (z.B. Spinnweb-Analyse in Faller 1996,47).

457  Das im Folgenden dargestellte Modell bietet sich grundsätzlich auch für Rückmeldungen in Beratungssituationen an. Da Feedback im Beratungsbereich nie als ungefragtes Feedback gegeben werden sollte, wäre ein solches Vorgehen – innerhalb der Logik der neun Gesprächssysteme – ein Wechsel in die Rubrik Austausch (vgl. Abb. 10-6 in Kap.10.5.1).

458  Kaletsch (2003, 122) spricht in einem ähnlichen Modell von ‚nicht-verletzender Ärgermitteilung’. Auch die Mediation (Besemer, 2001) bedient sich in etwa dieser Schritte.

459  Kommen mehrere Anwesende zum von ihnen nachgefragten Gespräch, kann Auftragsklärung über zirkuläres Fragen geschehen.

460  Hilfreiche Hinweise zu telefonischen beraterischen (Erstkontakten) geben Prior (2006, vgl. auch Hennig/ Knödler (2000, 108)) und B:Rademacher (2004,50).

461  Der Berater kann auch versuchen, sie gar nicht erst in sich aufkommen zu lassen (de Shazer 2003).

462  Wie hilfreich eine solche eher wertschätzende Diagnostik, die das ressourcenorientierte Gespräch mit Schülern und Eltern sucht, dann tatsächlich ist, hängt aber auch von politisch diskutierbaren Fragen der finanziellen Ausstattung der inneren Gestaltung des Schulsystems ab.

463 

Schweitzer/Schlippe (2006, 17,21) sehen neben einem solchen kommunikativ ausgerichteten Modell pathologisierender Beschreibungen allerdings auch explizit andere Erklärungsmuster: individuell biologische (neuronal, hormonal usw.), psychische (Intelligenz, Selbstwertgefühl usw.), soziale (Stellung in Geschwisterreihe usw.), gesellschaftliche (Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit usw.) und Beziehungsmuster (Schule, Peergruppe usw.). Eichhorn (2003, 199) ergänzt, dass es eine Vielzahl von Studien gibt, die darauf hinweisen, dass auch genetische Anlagen Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und Lernen beeinflussen. Sozial-konstruktionistisch gesehen, sind all diese Erklärungsprinzipien aber, streng genommen, (auch) sozial verhandelt.

464  hier werden auch Problemtäter-/-opferschaft und Lösungstäter-/-opferschaft bedeutsam.

465  Zum Begriff des zirkulären Fragens vgl. auch Penn 1983.

466  In Kap. 10.8 werden Vor- und Nachteile humanistischer und systemischer Psychologie in und für Schule diskutiert.

467  Diese Sichtweise lässt genauso auf Eltern übertragen.

468  Eine solche Feststellung ist ein sozial ausgehandeltes Konstrukt, was aber nicht ein solches Vorgehen per se disqualifizieren würde.

469  „Neutralität des Therapeuten ermöglicht nach Bedarf auch eine ethische Metakommunikation mit dem Patienten über moralische Fragen, das heißt über die Unterscheidung gut/böse, deren Zuordnung der Patient oder das Patientensystem autonom vollziehen kann“ (Ruf 2005, 83).

470  Das gilt für einen externen Berater (z.B. für einen Berater in einer Beratungsstelle, der einen Schüler begleitet, nicht.

471  Für Moderationen gilt: Markiert der moderierende Leiter einen Rahmen als nicht verhandelbar, ist er in Leitungsposition (Gesprächssystem Nr. 1).

472  Leitunterscheidungen sind zentrale, für Weltbilder entscheidende Differenzen (Siebert 2005b, 65,71).

473  Die Bewusstmachung von Aufmerksamkeitsfoki und Leitunterscheidungen des Pädagogen können auch in Super- oder Intervision wichtige Erkenntnisse und neue Schritte ermöglichen.

474  In der Beratungsliteratur werden diese Begriffe teilweise identisch, teilweise unterschiedlich verwendet. Hier soll unter ‚Umdeutung’ in Anlehnung an das engl. Wort (‚reframing’) eine Unterschiedseinführung verstanden werden, die dazu führt, dass ein ganzer Erklärungs- oder Bewertungs-Rahmen andersartig wahrgenommen wird. Wenngleich beide in diesem Kapitel betrachteten Vorgehensweisen ‚Unterschiede, die Unterschiede machen,’ in die Konstruktionen eines Beratenen einführen (sollen), so wirkt sich die ‚Umdeutung’ umfangreicher auf das Selbst- oder Weltkonzept des Begleiteten aus als eine ‚positive Konnotation’. Hennig/Knödler (2000, 133f) treffen eine ähnliche Unterscheidung: ‚Reframing’ (= neuer Bezugsrahmen) vs ‚positives Umformulieren’. Da auch ‚Umdeutungen’ damit arbeiten, dass sie negative Beschreibungen in positiver Weise bewerten, könnte man ebenfalls sagen, dass Umdeutungen deutlich Rahmen verändernde positive Konnotationen sind. Wo der Unterschied zwischen einer positiven Konnotation und einem Reframing liegt, bestimmt (wie bei der Festlegung von Systemgrenzen) der Beobachter, in Beratung also der Beratene.

475  Da es in ihrem Buch auch um interkulturelle Arbeit in Beratungsstellen geht, in die Familien teilweise mit Auflagen zu Zwangsberatungen kommen, lassen sich vielfältige Aspekte des Buches auf Schule übertragen.

476  Ein Ablaufschema für Mediationen befindet sich z.B. in Besemer (2001).

477  Für die Schulaufsicht sind vor allem funktionierende Kontrolle und Selektion wichtig und gut überprüfbar.

478  Da ein sofortiges Eingehen auf abweichende Erfolgserlebnisse von Schülern bei der hohen Schüleranzahl und den Standardisierungstendenzen von Schule als bürokratischem System schwierig ist, kann ein unerwarteter Erfolg auch zunächst als Zufall (weg)erklärt werden.

479  Außerdem ist durch (die Diskussion um) Hellinger diese Methode bei Eltern und Lehrern ‚anrüchig’ geworden, wenngleich die Arbeit von Varga von Kibéd/ Sparrer sich in Beraterkreisen höherer Akzeptanz erfreuen.

480  Palmowski (1999a) spricht von der „prospektiven Perspektive“ (im Gegensatz zur retrospektiven Perspektive).

481  Der Berater sollte ein solches Angebot nur machen, falls es für ihn stimmig ist.

482  Die folgenden Ausführungen richten sich nach: Schumacher 2002, G.Schmidt 2004a, Mücke 2003, 223ff.

483  diverse weitere Möglichkeiten finden sich bei Mücke 2003, 226ff, der sich an G.Schmidt anlehnt.

484  Sie können aber u.U. auch vom Beratenen als mögliches Schuldeingeständnis mit potenziellem Gesichtsverlust verbunden sein und legitimer Weise abgelehnt werden.

485  „I don’t want any nondirective crap. I need a person to talk to”, zitiert Thomas schon 1976 (S.171, Hvg.i.Org.) einen Klienten.

486  Die Verwendung der Formulierung ‚soll gelten’ bezieht sich darauf, dass es auch Vertreter der humanistischen bzw. der tiefenpsychologisch-humanistischen Richtung gibt, die zumindest Interpretationshoheit für diverse Bereiche (z.B. Träume) beanspruchen. In meinem Verständnis humanistisch-beraterischer Begleitung besitzt der Klient Interpretationshoheit, der Berater kann Interpretationsangebote machen.

487  in Anlehnung an Brandau 1991, 29.

488  Sie benennen als zentrale Themen: Reflexion des Selbstbilds als Lehrer, von Unterricht, Beratungstätigkeit, Elternarbeit, Schulleben, Leitungskultur, Kooperation/Vernetzung, Metareflexion über die Reflexion mithilfe des Fragebogens.

489  Für Aspekte des Familienstellens in Schulberatung und Supervision vgl.: Schneider 2000b, Franke-Gricksch 2000, Brena 2004, Balgo 2004..

490  Das sind bereits erste Hinweise auf wichtige Inhalte eines systemisch-konstruktivistischen Weiterbildungscurriculums (vgl. Kap.13).



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09.06.2008