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Die Frage nach den Ansprüchen, die an ein Curriculum einer längeren Fortbildung zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik für Pädagogen in der schulischen Praxis zu stellen sind, sucht Antworten darauf, mit welchen Inhalten und in welcher Form Lehrer (im Fall der hier vorliegenden Fortbildung: einjährig) so begleitet werden könnten bzw. müssten, dass sie ihren schulischen Alltag auf der Ebene der Beziehungen zu sich selber, den Schülern, Eltern, Kollegen und Schulleitung so gestalten, dass sie sich ressourcenvoll(er) erleben (Hubrig/ Herrmann 2005,11; dies. 1997,162). Konstruktivistisch betrachtet, sind für eine solche Zielsetzung Impulse wichtiger als Kontrolle, und Anregungen wichtiger als Ratschläge (Völkel/ Völkel 2005, 241). Außerdem muss eine solche Fortbildung sich bewusst sein, dass sie sich in einem Spannungsfeld bewegt zwischen einerseits wissenschaftlich orientiertem Wissen (auch hinsichtlich Regelhaftigkeit im Sinne von Mustern) und andererseits praxisorientiertem Erfahrungs-, Anwendungs- und Verantwortungswissen (Völkel/ Völkel 2005, 242).
Zunächst sollen mögliche inhaltliche Anforderungen für ein systemisch-konstruktivistisches Weiterbildungsvorhaben weiter konkretisiert werden (Kap. 13.1), danach werden eher formale Erfordernisse diskutiert (Kap. 13.2) – beide Bereiche bedingen, ergänzen und überlappen sich.518
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Aufbau und Auswahl der Inhalte müssen zentrale Gedanken systemisch-konstruktivistischer Pädagogik vermitteln können. Das für systemische Fortbildungen häufig angewendete und durchaus sinnvolle Vorgehen, zuerst einen Überblick über theoretische Hintergründe und Grundlagen zu geben, greifen Cecchin et al. (2005, 76) auf, um es für legitim zu erklären und gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass eine frühzeitige Verbindung mit praxisbezogener Fallarbeit und konkretem Ausprobieren nicht nur dem Grundsatz der systemischen Respektlosigkeit entspricht sondern auch einem Bedürfnis zumindest einiger Lerngruppen. Für Lehrer, die als Mitglieder von Ordnungssystemen häufig nach schnell handhabbaren Instrumenten suchen, ist eher eine Ungeduld, sich in Praxisfelder zu begeben und nicht zu theoretisch vorzugehen, anzunehmen. Auf der anderen Seite muss eine solide systemisch-konstruktivistische Fortbildung auch ihre theoretischen Grundlagen vermitteln, um ihren eigenen Anspruch wissenschaftlicher Fundierung gerecht werden zu können. Außerdem ist es auch für die Teilnehmer nicht damit getan, bestimmte Techniken möglichst schnell umzusetzen, sondern wichtig, mit den dahinter stehenden Grundhaltungen in Kontakt zu kommen. Mit diesem Spannungsfeld zwischen Theorieorientierung und Praxisrelevanz muss jede zeitinvestierende systemische Fortbildung umgehen – und zwar letztlich in Bezug zum konkreten Gruppenbedürfnis und eigenen Fortbildungsanspruch des Leiters.
Auch dann, wenn Pädagogen weder therapieren noch fahnden (Kreter 2005, 61) sollen519, sondern einfach nur relativ störungsfrei ihrer Tätigkeit nachgehen können wollen, sind heutzutage andere Fähigkeiten vonnöten als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Weiter oben wurden bereits fünf Gruppen von Ressourcen bzw. Kompetenzen benannt520, zu deren Stärkung oder Erlangung eine Fortbildung zur systemisch-postmodernen Pädagogik in der Schule beitragen kann bzw. sollte. Diesen können mögliche inhaltliche Unterpunkte bzw. Ausdifferenzierungen zugeordnet werden.
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Einige der gerade genannten inhaltlichen Anforderungen, die sich aus der systemisch-konstruktivistischen Theorie ergeben, müssen ihre spiegelbildliche Entsprechung auf der formalen Ebene finden, d.h. in einer angesichts der Inhalte glaubwürdigen Art und Weise der Durchführung der Seminarreihe selber.
Betrachtet man die obigen Erörterungen zum Inhalt aus einer Metaperspektive, ist der wesentliche Inhalt die Form der Lehre: „Die Form der Lehre ist stets der eigentliche Lehrstoff.“ (Simon 2002, 153f). Mücke (2003, 478) folgert, dass „Form und Praxis systemischer Weiterbildungen [...] ihren Inhalten entsprechen“ sollten. Diese zutiefst systemisch-konstruktivistische Auffassung hat wichtige Auswirkungen auf die Frage danach, wie eine systemische Fortbildungsveranstaltung organisiert und durchgeführt werden muss, um glaubhaft und auch wissenschaftlich haltbar zu sein.
Sie hat zunächst die Selbstorganisation der Teilnehmer zu berücksichtigen. Das erfordert u.a. die Beteiligung der Seminarteilnehmer an der Auswahl der Themen und Schwerpunktsetzungen, an der je aktuellen Seminarsteuerung (z.B. Zwischenevaluationen) und bei Ziel- und Auftragsklärungen im durch die Seminarausschreibung vorgegebenen Rahmen. Systemisch-konstruktivistische Lehrerbildung muss ein offener Prozess sein, den die Beteiligten als Experten ihrer Welt immer wieder aushandeln (können), der an den bei ihnen vorhandenen Ressourcen ansetzt und die Kontexteingebundenheit der Teilnehmer berücksichtigt (Mücke 2003, 279). Die Gesprächsführung muss respektvoll mit Personen und sanft mit ‚Widerständen’ umgehen. Im gemeinsamen Prozess von Seminarleiter und –teilnehmern sollte eine Lernkultur in Anerkennungsverhältnissen als Ermöglichungsdidaktik entstehen (Völkel/ Völkel 2005, 237).
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Für erfolgreiche Lernprozesse ist, wie gerade festgehalten, die Einbeziehung der Teilnehmer hilfreich. Zu deren Aktivierung kann kompetenzorientierte Methoden- und Interaktionsvielfalt ebenso beitragen wie die Förderung eines kooperativen Vorgehens nicht nur zwischen Hauptforscher und Mitforschenden sondern gerade auch unter den Teilnehmern selber. Letzteres ist auch wichtig, um zu einer Vervielfältigung von Erzählungen zu gelangen. Ankopplung, Teilnehmeraktivierung und Narrationsvielfalt werden insb. über die gemeinsame inter- bzw. supervisorische Arbeit an Fällen möglich.
Kollegiale Fallarbeit als eine Supervisionsform, die die Teilnehmer als ‚Mit-Supervisoren’ einbindet (Mücke 2003, 478), stellt zusammen mit Übungssequenzen, Reflexionsphasen und Rückbezüge zur eigenen schulischen (Alltags)Praxis außerdem die nötige Verbindung von Theorie und Praxis her. „Wissenschaft und Praxis stellen sich als zwei unterschiedliche Beobachterperspektiven auf die gleiche Sache dar, die nur in einem gleichberechtigten Miteinander Synergieeffekte ausbilden können, die sich auf ihr gemeinsames Bezugsfeld, hier die Schule, auswirken können“ (Völkel/ Völkel 2005, 236). Reflexivität gestaltet sich dabei als ein wechselseitiger Prozess: „Einerseits ist das Subjekt durch einen Prozess der Selbsterkenntnis in der Lage, Aspekte seiner Subjektivität im Allgemeinen wieder zu erkennen und aus dieser Erkenntnis heraus seine Geschichte und Gegenwart [und Zukunft, R.M.] neu zu befragen. Auf der anderen Seite findet ein Prozess der Theoriebildung und Theorieaneignung statt, innerhalb dessen die Dignität der eigenen Erfahrungen und ihrer Deutung bei aller Vorläufigkeit nicht verloren geht“ (Völkel/ Völkel 2005, 240). Unter Aspekten der Narrationsvielfalt fordert Mücke (2003, 478) für systemisch-konstruktivistische Weiterbildungen außerdem, dass auch Erkenntnisse, Denkweisen und Methoden nicht-systemischer Ansätze berücksichtigt werden können, wenn sie pragmatisch sinnvoll mit systemischen Perspektiven verbunden werden können.
Neben Übungssequenzen im Seminar selber ist es auch der größere zeitliche Umfang der Seminarreihe, der es den Teilnehmern ermöglicht, die Zeit zwischen den Einzelseminaren als Erprobungsphasen zu nutzen, deren Ergebnisse auf den Treffen direkt besprochen und bspw. über Fallarbeit eingebracht werden können. Möglichkeiten der Praxiserprobung sind gerade dann sinnvoll, wenn es um die Vermittlung von Haltungen geht, die eingeübt und reflektiert werden müssen, aber auch, wenn es um Methoden geht, die – teilweise aus Beratung und Therapie kommend – professionell gehandhabt werden sollten. Erzieher können letzen Endes nur Dinge weitergeben, die in ihrem Inneren einen angemessenen Platz einnehmen: „Niemand kann lehren, was ihn nicht selbst angeht. [...] Niemand sollte zu therapeutischen Hilfsmitteln greifen ohne sachlich kompetent zu sein“ (Piechota 2000, 101).
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Ein guter Kontakt des Hauptforschers zu sich selber und seinen Ressourcen ermöglicht der Gruppe, an einem Vorbild zu lernen. Hierzu gehören neben einer klaren und zugleich zu Kooperation einladenden Führung wohlwollende, klare Rückmeldungen an die Gruppe mit der Bitte um Stellungnahme und prinzipielle Offenheit für Feedback. Möglich muss des Weiteren die gemeinsame Metareflexion über in der Fortbildungsgruppe stattfindende Prozesse sein, dazu gehört auch immer wieder das Aufsuchen der Bedürfnisse der „Teilnehmer/innen als eigentliche Auftraggeber“ (Mücke 2003, 478) in Kurzfeedbacks und Zwischenevaluationen. Die für alle Beteiligten anzustrebende Stärkung von Selbstwahrnehmung, Metakommunikation sowie Feedback dient dem Ziel, der Grenzen des je eigenen Wahrnehmungshorizonts gewahren zu werden, diese Grenzen aktiv zu schützen sowie ‚blinde Flecken’ für Haupt- und Mitforscher sichtbar und überwindbar zu machen.
Schließlich muss die Aufgaben- und Verantwortungsverteilung klar sein. Der Seminarleiter ist für die Rahmen- und Prozessgestaltung zuständig. Dazu gehört die Kenntnis und der Überblick über die Seminarinhalte und die Sicherstellung, dass zentrale angekündigte und vereinbarte inhaltliche Bestandteile der Fortbildung auch tatsächlich und in einer für die Gesamtgruppe angemessenen Form durchgeführt werden. Insofern trägt der mitforschende Seminarleiter auch inhaltliche Verantwortung. Die Verantwortung für die Entscheidungen aber, was die Teilnehmer für sich jeweils übernehmen bzw. umsetzen wollen, verbleibt bei diesen.
Grundsätzlich hat der Seminarleiter katalytische Funktion für die Selbstorganisationsprozesse der Teilnehmer. Cecchin beschreibt in diesem Zusammenhang dessen Aufgabe als die eines „gatekeepers“, der die Gruppenmitglieder ermutigt, möglichst viele unterschiedliche Ideen und Positionen zu artikulieren. Er bestätigt die verschiedenen Sichtweisen und Standpunkte als Möglichkeiten, bringt dann die verschiedenen Hypothesen und Ideen in eine Gesamtschau und synthetisiert diese so, dass das Besondere eines Gegenstandes oder eines Falles herausgearbeitet wird, wobei – insbesondere bei Fallbesprechungen - ausdrücklich verschiedene Alternativen zur Auswahl stehen (Cecchin et al. 2005, 77). Der Fortbildner wird damit ebenso wie ein Berater zu einem „’Realitätenkellner’, welcher diverse ‚Realitätenmenüs’ anbietet, dabei achtungsvoll und ethnologisch neugierig die einzigartige Kultur der Gäste bestaunt und dann respektvoll auf die Wahl der Gäste wartet“ (G.Schmidt 2004a, 65). Im Verlauf einer Aus- bzw. Weiterbildungsgruppe sollte (auch) der (systemisch-respektlose) Weiterbilder allerdings zunächst, so Cecchin et al. (2005, 78), eine eher traditionelle Lehrenden-Rolle einnehmen, tendenziell durchaus direktiv eingreifen und bestimmte Aspekte der sich entwickelnden Diskussion oder (Fall)Geschichte hervorheben. Mit zunehmender Vertrautheit der Gruppe mit den neuen Ideen und der sich eröffnenden Ideenvielfalt sollte der Ausbilder dann mehr und mehr in die oben beschriebene Gatekeeper-Funktion eines ‚Informationsregulators’ oder ‚Schrankenwärters’ gehen, der die Zusammenarbeit und den pluralen Ideenreichtum der Gesamtgruppe als Ressourcen betont.
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Soweit die Ausführungen über inhaltliche und formale Aspekte, die eine Fortbildung zur systemisch-konstruktivistischen Pädagogik in Schule heute berücksichtigen sollte. Die inhaltlichen Bausteine, wie sie letztlich - nach Befragung der Teilnehmer über Schwerpunktsetzungen und angesichts der Zwischenevaluationen während der Durchführung der Seminarreihe – tatsächlich umgesetzt wurden, werden in Kap.16 dokumentiert und genauer beschrieben (und dort dann auch aus der Sicht des Hauptforschers als teilnehmender Beobachter kommentiert). Zuvor aber sollen auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen einige zentrale Hypothesen über Veränderungen bei den mitforschenden Weiterbildungsteilnehmern erstellt werden, die nach Durchführung der Seminarreihe auf ihre Plausibilität hin überprüft werden sollen.
518 Die Programmpunkte der tatsächlich durchgeführten Fortbildungsveranstaltung werden dann später (Kap. 16.1) im Überblick dargestellt.
519 Dies wären Extrempunkte der beiden pädagogischen Kontexte (Angebot und Durchsetzung), die den Rahmen der Pädagogik sprengen und auf andere Berufsgruppen (bzw. Settings) verweisen, nämlich Therapeuten und Polizei.
520 Die unten stehenden Ausführungen folgen sowohl Martin/ Schuster (2005, S.24, 42ff, 51, 111) als auch den bisherigen Überlegungen in dieser Dissertation (insb. Kap. 6-11).
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DiML DTD Version 3.0 | TARGET Textarchiv Gotha/Erfurt | HTML-Version erstellt am: 09.06.2008 |