4 wissenschaftstheoretisches Vorgehen

▼ 31 (fortgesetzt)

Die im Rahmen dieser Dissertation konzipierte Fortbildung für Lehrer verwendet die systemisch-konstruktivistische Sichtweise. Dieser Ansatz soll aus Gründen der logischen Konsistenz und der eigenen Glaubwürdigkeit auch für das wissenschaftstheoretische Vorgehen gewählt werden. Das hat weitreichende Implikationen für das wissenschaftliche Vorgehen, wie aufzuzeigen sein wird.

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Ein Vorteil des systemischen Ansatzes in seinem Bezug auf Funktionen und strukturellen Gesetzmäßigkeiten besteht u.a. in seiner Interdisziplinarität. Auch der Konstruktivismus stellt, wenngleich keine eigene Wissenschaftsdisziplin, so doch ein „transdisziplinäres Paradigma“ dar, eine Epistemologie, die sich v.a. von ontologischen und metaphysischen Wahrheitsansprüchen distanziert (Siebert 2005b, 11). Als epistemologisches Modell betrachtet der Konstruktivismus „ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens“ (Glasersfeld1994. 23).

Wissenschaften im Paradigma der Selbstorganisation und des Konstruktivismus haben mit Emergenz65 zu tun, d.h. mit der letztlichen Unkontrollierbarkeit und Unvorhersagbarkeit dynamischer Prozesse (Hubrig/ Herrmann 2005, 188). Willke (2004, 12) sieht in der Emergenz sogar den „Kern des Systemischen“. Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, beziehen sich Pädagogik und Beratung auf die Erlebensorganisation komplexer lebender Systeme, weshalb auch von einer „Epistemologie der Nicht-Trivialität“ (v.Foerster 1992. 66) gesprochen werden kann.

Systemisch-konstruktivistisch gesehen, sind Modelle und Theorien „praxeologische ‚Konstrukte’“ (Huschke-Rhein 1998ba, 17), die die heuristische Funktion besitzen, in einem komplexen und eher unübersichtlichen Suchraum Handlungsfähigkeit herzustellen (Dennett 2002). Pädagogisches Handeln bezieht sich auf innere Konstrukte, die wiederum Handeln prägen, d.h. Kognition und Handeln sind zirkulär auf das Engste miteinander verwoben. „Erfahrung im Praxisbereich ist das zirkuläre Resultat zwischen theoretischen Einsichten und praktischen Vollzügen im Praxisfeld“ (Huschke-Rhein 1998b,17). Beide können sich in zirkulären Prozessen verändern, was Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung ist.

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Theoretische Modelle und logische Gebäude im pädagogischen Bereich müssen aus Sicht der konstruktivistischen Systemik praktische Relevanz besitzen, eine gute Praxis muss auf einer guten Theorie beruhen und eine nützliche Theorie muss sich in der alltäglichen Praxis als nützlich erweisen (Palmowski 2003, 7). Die Heidelberger Schule knüpft den Wahrheitsbegriff an dieses zirkulär-konstruktivistische Verständnis des Theorie-Praxis-Zusammenhangs: „Ob eine wissenschaftliche Theorie der an sich unerkennbaren Wahrheit nahe kommt, lässt sich erst an den zukünftigen Auswirkungen ihrer praktischen Umsetzung erkennen. [...] Richtet man sich nach dem pragmatischen Grundsatz, die Wirklichkeit so zu konstruieren, dass diese Konstruktion am Ende nicht nur die erklärungsbedürftigen Phänomene erhellt, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu den bestmöglichen Auswirkungen führt, so kann man mit guter Legitimation davon ausgehen, dass sie auch der Wahrheit nahe kommt. Ob also etwas wahr oder falsch ist, wird nicht so sehr von der Vergangenheit bestimmt, sondern vielmehr von der Zukunft“ (Mücke 2002, 99f).

Der Konstruktivismus will „als Arbeitshypothese verstanden werden, die sich als mehr oder weniger nützlich erweisen mag“ (v.Glasersfeld 1997b, 203). Pädagogisches Alltagshandeln wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Pädagogik sind letztlich kreative Konstruktion pädagogischer Wirklichkeiten, deren wissenschaftliche Handhabung wichtigen Kriterien unterliegen muss, die diesen Ansatz erst zu einem wissenschaftlichen machen. Mit diesen Kriterien beschäftigt sich dieses Kapitel. Der systemisch-konstruktivistische Ansatz wird hier also nicht als grundsätzliche Wahrheit verstanden sondern als ergänzende wissenschaftliche Erzählung zu anderen existierenden wissenschaftlichen Narrationen, denn „die Verfügbarkeit mehrerer theoretischer Zugänge zu einem konkreten Problem erhöht die Möglichkeit sinnvoller und nützlicher Reaktionen“ (Palmowski 2003, 12). „Die prinzipielle Gleichwertigkeit von Theorien lässt sich nur im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für die Lösung konkreter Fragen und nicht im Hinblick auf ‚Richtigkeit’ in eine Rangordnung umwandeln“ (Kriz1990, 194).

In einem ersten Kapitel wird der qualitative Charakter der hiesigen Untersuchung erläutert (und damit die Entscheidung, ein eher qualitatives Vorgehen einem eher quantitativen vorzuziehen). In Kap.4.2 werden Fragen der Modellierung und Plausibilität behandelt, in Kap. 4.3 das Forschungsdesign erstellt. Systemisch-konstruktivistischen Begriffsklärungen (Kap.4.4) folgen grundsätzliche Ausführungen zu systemisch-konstruktivistischer Forschung (Kap.4.5), bevor der Forschungsgegenstand (Kap. 4.6) und die Fragestellung (Kap. 4.7) genauer bestimmt werden. Die Ausführungen zu den Generalisierungszielen (Kap.4.8) beinhalten v.a. Bewertungskriterien für qualitative systemisch-konstruktivistische Forschung, so dass in Kap. 4.9 der angestrebte Standardisierungsgrad näher bestimmt werden kann. Das methodische Vorgehen kann anschließend ausdifferenziert und ausführlich dargestellt werden (Kap.4.10). Kurze Schilderungen des Dokumentationszeitraums und der Gruppe (Kap.4.11) sowie der Konsequenzen des Einbezugs der größeren Forschungsgemeinde für den generellen Forschungsprozess (Kap.4.12) beschließen das Kapitel.

4.1 systemisch-konstruktivistische qualitative Untersuchung

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In der Evaluation der Fortbildung geht es um die Erfassung und Auswertung subjektiv-individueller Erlebensweisen, so dass ein Rückgriff auf qualitative Forschungsmethoden nahe liegt. Die eingeschränkte Standardisierbarkeit methodischer Vorgehensweisen qualitativer Forschung ist hier nicht als Hinderungsgrund zu sehen sondern als ein Ausdruck von Passung zwischen Methodologie und Forschungsgegenstand. Qualitative Forschungsmethoden besitzen gegenüber quantitativen Methoden den Vorteil, dass sie, erstens, einfacher auf einen Forschungsgegenstand zugeschnitten, und zweitens, während des Forschungsprozesses stets weiter angepasst werden können (Marquardt 2006, 305). Sie sind Standardmethode für explorative Untersuchungen, in denen interviewte Personen ausführlich und in die Tiefe gehend zu Wort kommen sollen (Diekmann 2005b, 444). Die Methoden qualitativer Forschung in der Schulpädagogik haben „einer gewandelten Form von Schule und Unterricht als Lebens- und Erfahrungsraum“ (Ackermann 2002, 34) ihren Tribut zu zollen. Lehr- und Lernsituationen erscheinen zunehmend kontingent, so dass subjektive Perspektiven zum Untersuchungsfeld unabdingbar notwendig sind.

Qualitative Forschung ist kein speziell systemisches Vorgehen sondern „liegt in einem breiten Spannungsfeld unterschiedlicher theoretischer Programme und einer breiten Palette konkreter methodischer Vorgehensweisen“ (Flick u.a. 2004, 251). Da es keine einheitliche Methodologie qualitativer Schulforschung gibt und die vorhandene Vielfalt sich obendrein überwiegend lediglich auf Fragen des Unterrichts bezieht (Ackermann 2002, 34f), muss vorab geklärt werden, welche qualitativen Vorgehensweisen mit einer systemisch-konstruktivistischen Forschungssicht vereinbar sind und welche Qualitätskriterien zu erfüllen sind, wenn systemisch-konstruktivistische Forschung nicht im Beliebigen enden soll, wie mitunter dem radikalen Konstruktivismus vorgeworfen wird. Qualitative empirische Sozialforschung erfordert aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ein „reflexives Methodenverständnis“ (Keupp 1993c, 18), d.h. ein hohes Maß an Bewusstheit über das eigene Vorgehen und die eigene Position im Vorgehen.

Aber auch dann wird die ‚Erzählung’ dieser Dissertation einer bestimmten Wissenschaftserzählung nahe und anderen ferner stehen. Konstruktivistisch gesehen, muss man sich dessen bewusst sein, es stellt jedoch kein wesentliches Hindernis da, denn, so Gergen, „inwieweit eine bestimmte Erklärung der Welt oder des Selbst über die Zeit aufrechterhalten wird, hängt nicht von der objektiven Validität der Erklärung, sondern von den Eventualitäten sozialer Prozesse ab“ (Gergen zitiert nach Flick 2004a,154, vgl. auch Kuhn 2002).

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Im Folgenden soll unter wissenschaftstheoretischen Aspekten das Vorgehen dieser Arbeit aufgezeigt werden. Dabei lassen sich mehrere Schritte unterscheiden.

4.2 Modellierung und Plausibilität

In einem ersten Schritt werden aus der Forschungsliteratur Modelle erstellt, die sich mit Themen insb. von ‚Erkenntnisgewinnung’, ‚Systemik’, ‚Postmoderne’, ‚Therapie/Beratung’, ‚Pädagogik’, ‚Erziehung’ und ‚Schule’ beschäftigen (Teil II, Kap.5-11). Daraus lassen sich idealtypische Thesen für Veränderungsprozesse im Zusammenhang mit einer systemisch-konstruktivistischen Fortbildung für Lehrer ableiten (Kap.14). Auf diesem Hintergrund wird dann eine Weiterbildung durchgeführt, die sich in Inhalt, Prozess und Beziehungsgestaltung an diesen Modellen orientiert. Vor und nach der Fortbildung werden Daten erhoben. Anhand von Stellungnahmen der Weiterbildungsteilnehmer wird nach Plausibilitäten für eine mögliche Bestätigung der Annahmen gesucht (Kap.17ff), wobei es auch zum Vorschlag der Veränderung oder Ergänzung der Thesen kommen kann (Stegmüller 1969ff). In einem Kreislaufmodell von Forschung ist es denkbar, dass Forschungsergebnisse der hier vorliegenden Arbeit über die Rezeption dieser Arbeit mittelfristig selber wieder Gegenstand weiterer Forschung werden können (gestrichelte Linie).

Abb. 4-1: wissenschaftstheoretisches Vorgehen: Modellierung und Plausibilität

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Konstruktivistisch gesehen, kann die hier vorliegende Arbeit – wie andere auch - nicht für sich beanspruchen, Gültigkeit von Wissen mit Sicherheit bestimmen zu können. „Man soll Forschung nicht als Versuch ansehen, die Wahrheit zu finden. Wir meinen [...], dass jedoch die Forschungsdaten immer nützlich sind für das Aufstellen von Hypothesen“ (Cecchin et al. 2005, 92). Allerdings lassen sich Annahmen nach Plausibilität, Glaubwürdigkeit und Nützlichkeit bewerten (Stegmüller 1969ff), so dass sie entsprechend angewendet oder verworfen werden können (Cecchin et al. 2005, 93). Eine solche Vorsicht gegenüber der Erhebung von Hypothesen zu Wahrheiten (statt sie im Status von Verallgemeinerungen zu belassen) wird auch von der hohen Komplexität des Forschungsgegenstands (lebende menschliche Systeme) nahe gelegt.

4.3 Forschungsdesign

Aufgabe des Forschungsdesigns ist es, die im Sinne einer systematischen Planung der Untersuchung relevanten Punkte aufzugliedern und auszuführen. Auch wenn die Literatur zum Thema „nicht sehr umfangreich“ ist (Flick 2004b, 253), so kann doch festgestellt werden, dass, folgt man Flick, das Forschungsdesign dieser Arbeit folgende Aspekte berücksichtigen muss: den theoretischen Rahmen, den Forschungsgegenstand, die Fragestellungen der Untersuchung, den Generalisierungsgrad der Ergebnisse, den Kontrollgrad sowie die methodischen Vorgehensweisen. Kurz gefasst, geht es hier um Fragen der Erhebung und Analyse von Daten in Zusammenhang mit der Fragestellung (Flick 2004b).

Zur einfacheren Übersicht sei das Forschungsdesign dieser Arbeit in einem Schaubild (in Anlehnung an Flick 2004b, 264) vorangestellt. Es wird in den nachfolgenden Kapiteln weiter erläutert.

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Abb. 4-2: Forschungsdesign

4.4 systemisch-konstruktivistischer Epistemologie - Begriffsklärungen

Diese Arbeit setzt die Kenntnis systemisch-konstruktivistischer Theorie und Begrifflichkeit voraus, da mittlerweile ausreichend Darstellungen in der Literatur zu finden sind66. An dieser Stelle werden dennoch kurz wichtige Aspekte genannt (Konstruktionen, Wissen, Beobachtung, Kommunikation und Verstehen, Lernen), insofern ihre Relevanz für das Kapitel über systemische Forschung kurz erläutert werden muss.67

Betont sei noch einmal, dass es sich bei der konstruktivistischen Sichtweise um einen epistemologischen und nicht ontologischen Ansatz handelt, d.h. erkenntnistheoretische Prämissen können nicht empirisch begründet werden (Moser 2004b, 14f). Damit sind Systemtheorien keine empirischen Theorien sondern Modelle (Moser 2004b, 17).68 Systemisch-konstruktivistische Modelle können zur Formulierung von empirischen Theorien über komplexe Gegenstände herangezogen werden - zumindest wenn es um die Erforschung von Plausibilitäten geht (Moser 2004b,17; Stegmüller 1969ff).

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Es stellen sich für systemisch-konstruktivistische Forschungsarbeit so zentrale Fragen wie: ‚Wie entsteht Wissen?’; ‚Welcher Wissensbegriff ist angemessen?’ (Kap. 4.5.4); ‚Welche Kriterien können für die Bewertung von Wissen herangezogen werden?’ (Kap. 4.8.2) (Flick 2004a, 152). Antworten im methodologischen Bereich konstruktivistischer Forschung unterliegen aufgrund der genannten epistemischen Denkvoraussetzungen einer „Endgültigkeit der Vorläufigkeit“ von Erkenntnis (S.J.Schmidt 2003, 26).

4.4.1 Konstruktionen

Im systemisch-konstruktivistischen Ansatz wird der Mensch, insb. sein Gehirn (bzw. sein psychisches System), als eine selbständige, organisatorisch geschlossene Einheit gesehen. Es gilt das biologisch-neurologische Prinzip der „undifferenzierten Codierung“, der Unbestimmtheit von Informationen: Die Erregungszustände einer Nervenzelle (z.B. bei Berührung) kodieren nur die Intensität, nicht aber die ‚Natur’ der Erregungsursache. Sinneswahrnehmungen sind stets subjektive Interpretationen von quantitativen Unterschieden, unabhängig davon, wie sie ‚qualitativ‚ dem Beobachter erscheinen mögen. Im Gehirn treffen nur Stimuli mit unterschiedlicher Intensität ein, nicht aber mit bestimmter Qualität. Menschen müssen notwendig interpretieren und konstruieren, um Welt und Selbst „be-greifen“ zu können. Wissen wird aktiv hergestellt, d.h. Welt und Selbst sind konstruierte Produkte.

Die im Gehirn ablaufenden kognitiven Prozesse zur Verarbeitung von Eindrücken können zunächst nur auf das zurückgreifen, was sie selber bisher hergestellt bzw. konstruiert haben. Wahrnehmung ist also eine rekursive Tätigkeit mit je eigenen Operationsbedingungen. Wirklichkeit entsteht jeweils als Konstrukt im Gehirn des einzelnen Individuums. Bedeutungsbildung wird damit zum grundlegenden Vorgang beim Menschen. Ein solcher Ansatz schließt die Existenz einer ontischen Realität nicht aus, es kann allerdings nichts Verlässliches über diese ausgesagt werden. Kriterium zur Überprüfung von ‚Wirklichkeit’ kann dann lediglich sein, ob die Bausteine der jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion (untereinander) passen. Solange sie als stimmig erfahren werden, kann ein solcher Realitätsentwurf als aufrechterhaltbar (viabel) gelten. Anderenfalls müssen Konstrukte angepasst werden. Der Organismus ist für sein Verhalten verantwortlich, nicht ein auslösender Reiz.

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Unter ‚Konstruktionen’ können spontane selbstorganisierte Ordnungsbildungen dynamischer Systeme verstanden werden, wobei diese Systeme „in Relation zu Umwelten ihre Wirkungspotenziale entfalten und Wirklichkeiten als Verhaltensspielräume hervorbringen. Konstruktionen entsprechen in diesem Sinn generativen Dynamiken, die Gegenstände beziehungsweise Systeme allererst konstituieren“ (Moser 2004b, 10). Für den Beobachter sind Konstruktionen nicht unmittelbar einsehbar. Sie sind für ihn beobachtbar über Handlungen, wobei der Handlungsbegriff Intentionalität, Sinnhaftigkeit und Zielorientierung beinhaltet.

Es lassen sich idealtypisch drei Arten von Konstrukten unterscheiden (Simon 2001b, 17-20), die allesamt handlungsrelevant sind:

  1. Beschreiben: meint die (möglichst) interpretations- und bewertungsfreie Bezeichnung von Phänomenen
  2. Erklären: bezieht sich auf die Logik der Verknüpfung zweier oder mehrerer beobachteter Phänomene.
  3. Bewerten: bedeutet Beurteilung gemäß sehr unterschiedlicher Kriterien. Werte leiten die Selektion von Wahrnehmung und Verhalten

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Alle drei Vorgehensweisen bezeichnet Watzlawick (1995, 54) – im Gegensatz zur ‚direkten Wahrnehmung’ - als ‚Wirklichkeit zweiter Ordnung’. Sie bleiben inhaltlich subjektiv, weil sie auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen, das als ‚Vor-Urteil’ verstanden werden kannim Sinne einer „vorgängigen Gerichtetheit all unseres Erfahren-Könnens. [...Vorurteile] sind Voreingenommenheiten unserer Weltoffenheit, die geradezu Bedingungen dafür sind, dass wir etwas erfahren“ (Gadamer 1967, 106, zit.n. Cecchin et al. 2005, 78).

Konstrukte lassen sich „nur untersuchen anhand der multiplen Beschreibungen [, Erklärungen] und Bewertungen unterschiedlicher Akteure über einen Sachverhalt“ (Schweitzer 1998. 27). Wissenschaftlich überprüfte Konstruktionen können dann als „effektive Handlungszusammenhänge“ (Moser 2004b, 11) gelten.Allerdings kann keine Theorie und kein „Lehrgebäude [...] seine eigene Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit [...] aus sich selbst heraus beweisen“ (Watzlawick 1994c, 199)69.

4.4.2 Wissen

Systemisch-konstruktivistisch betrachtet, sind Wahrnehmen und Erkennen aktive, selektierende und strukturierende, kreative Tätigkeiten: „Alle konkreten und begrifflichen Unterscheidungen, mit denen wir umgehen, sind von uns als Beobachter getroffen worden“ (Maturana 1982, 139). Es sind Tätigkeiten eines operational geschlossenen Gehirns. Spitzer (2000, 146) weist darauf hin, dass 99,9% aller Neuronen ihren Input von anderen Neuronen erhalten, Gehirntätigkeit also ganz überwiegend selbstbezüglich läuft.

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Wissen ist nicht ‚Kopie der Wirklichkeit’ sondern Ergebnis von Anpassungsleistungen. Glasersfeld verdeutlicht das mit der Metapher eines blinden Wanderers, der seinen Weg durch einen Wald zum dahinterliegenden Fluss findet (Glasersfeld 1992, 19): Der Wanderer stößt sich an Bäumen (als ‚Gegen-Stände’ (Glasersfeld 1992, 20) die vorher nicht Teil seiner Wahrnehmung oder zumindest seiner ‚inneren Landkarte’ waren), und dieser Gegen- bzw. Wider-Stand muss nun – wenn er nicht verdrängt wird – interpretiert werden. Merkmale oder Eigenschaften des Gegenstands werden zugeschrieben, konstruiert, sie „stammen ganz uns gar aus der Art und Weise, wie wir die Sinnessignale interpretieren“ (Glasersfeld 1992. S.21). Vor allem aber verfügt der Wanderer nicht über ein Bild des Waldes (wie es ein außenstehender Beobachter vielleicht hätte)70, sondern er kennt ein Netz von „gangbaren“ Wegen (Glasersfeld 1994, 23)71, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden.

(Erkennen von) Wirklichkeit ist relativ. Lernen führt zu relativem, nicht absolutem Erkennen. Wissen ist kein Bild und „keine Repräsentation der Realität, es ist eine Landkarte dessen, was die Realität uns zu tun erlaubt. Es ist das Repertoire an Begriffen, begrifflichen Beziehungen und Handlungen oder Operationen, die sich in der Verfolgung unserer Ziele als viabel erwiesen haben“ (v.Glasersfeld 1997b, 202). Deutlich wird hier auch, dass aus systemisch-konstruktivistischer Sicht das Finden eines befriedigenden Weges nicht ausschließt, dass weitere ebenfalls befriedigende Wege gefunden werden können (Glasersfeld 1992, 32.; Watzlawick 1995, 72). Da Wissen Ausdruck eines Selektionsprozesses ist, der Möglichkeiten einschränkt bzw. beseitigt, macht Wissen „immer [...] ein wenig beschränkt“ (Simon 2002, 157). Die Aufrechterhaltung von Wissen (im Sinne seiner Nicht-Veränderbarkeit) steht damit (vor allem akkomodativem) Lernen diametral entgegen.

Im Zusammenhang mit der individuellen und sozialen Notwendigkeit, Wissen zu konstruieren, weist Oser auf die bisher von Forschung und Erziehungswissenschaft unterschätzte Bedeutung „negativen Wissens“ als Wissen darüber, was etwas nicht ist und was nicht funktioniert (hat), hin. Sprache selber funktioniert mittels Gegensatz-Assoziationen:

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Abb. 4-3: Beobachtung erster Ordnung am Bsp. von Sprachverwendung (Balgo 2003, 91).

Negatives Wissen ist stets sozusagen als Schattenseite ständiger Begleiter des aktivierten positiven Wissens darüber, was bisher funktioniert hat. Negatives Wissen ist also ‚Schutzwissen’ (Oser 2005, 42) darüber, was nicht funktioniert hat.72 Vom Begriff des „negativen Wissens“ ist zu unterscheiden der Begriff eines „Nicht-Wissens“ in dem Sinn , dass steigendes Wissen auch das Bewusstsein verstärkt, dass in postmodernen Wissensgesellschaften „das Wissensproblem nicht quantitativ zu lösen ist“ (Siebert 2005b, 82) und dass wachsende Anschlussmöglichkeiten auch den Raum des Nichtwissens erweitern (Renoldner et al 2007, 74).

Wissen wird sowohl individuell (operationale Geschlossenheit des Gehirns) als auch sozial (energetische Offenheit des Organismus) konstruiert und ist von außen nicht einsehbar. Es ist daher auch nicht verlässlich messbar, wohl aber kann ein Beobachter aus Äußerungen und Handlungen anderer Rückschlüsse auf vermutlich vorhandenes Wissen ziehen. Solche Rückschlüsse sind dann Äußerungen zweiter (oder dritter) Ordnung (nicht-ontologischer Qualität).

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Wissen kann - systemisch-konstruktivistisch betrachtet - verstanden werden als die Ausdifferenzierung kognitiver Strukturen und Begriffssysteme bzw. von Sprache (Siebert 2005b, 64). Da aus dieser kognitiven Struktur letztlich Handeln entsteht, das zirkulär zurück wirkt, kann Kognition als „verkörpertes Handeln“ definiert werden (Varela u.a. 1992, 274). Insofern als Wissen in kommunikativen Austauschprozessen, basierend auf der Rolle von Sprache in sozialen Prozessen, hergestellt wird, hat es auch soziale Funktionen und ist von Sprach- bzw. Sprechergruppen mitgestaltet. Dementsprechend ließe sich die Metapher von v.Glasersfeld darin ergänzen, dass blinde Wanderer sich treffen und einander von den Wegen erzählen – immer noch, ohne ein Bild des Waldes zu haben. „Die von uns erkannte Welt [...ist dann] durch unsere Geschichte der strukturellen Kopplung inszeniert“ (Varela u.a. 1992, 274). Wissen wird also erzeugt auch im ständigen Prozess der Handlungskoordinierung zwischen Personen (Gergen 2003, 61).

Wissen kann und muss nicht als endgültig wahr erkannt werden, sondern kann lediglich viabel bzw. passend sein - also so in die Erfahrungswelt des Systems, z.B. des Lehrers, passen, dass sein (z.B. berufliches) Überleben gesichert bzw. gefördert wird. „Die Funktion der Kognition [...] zielt auf Passung [... und] dient der Organisation der Erfahrungswelt des Subjekts“ (v.Glasersfeld 1997a, 96). Aufgrund der Kontextrelevanz ist Wissen stets vergänglich, nur „Interimswissen“ (Siebert 1005, 83), und bezieht sich lediglich auf praktische Zusammenhänge lokaler (bzw. nicht-universeller) Faktoren (Gergen 2006, 41).

Da die Bausteine einer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion zunächst einmal die Grenzen dessen, was wahrgenommen wird, bestimmen (Glasersfeld 1994, 35), steuern sie Selektionsprozesse mit. In diesem Sinne können Konstruktivisten behaupten, dass Umgang mit Wissen grundsätzlich Sinnfragen aufwerfen kann und insofern eine ‚identitätsstiftende Kompetenz’ ist. Ein flexibler und reflexiver Umgang mit der eigenen Konstruktivität ist dann Ausdruck von postmoderner Kreativität (Siebert 2005b, 85).

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Wie auf S.50 gesehen, kann zugleich behauptet werden, dass Wissen (i.S. vorhandener Sinnstrukturen) dumm macht, insofern bzw. da es aufgrund seiner für den Alltag nützlichen Gewöhnungseffekt neue Konzeptionen von Wirklichkeit zunächst tendenziell eher verhindert (Siebert 2005b, 81-83). Eine solche Komplexitätsreduktion, wie sie eine funktionierende, viable Gewöhnung mit sich bringt, erleichtert freilich das Leben. Zumindest solange, bis es zu neuen Verstörungen von außen kommt, die neue kreative Leistungen erfordern. Wissen zeigt, so gesehen, „uns letztlich nur die Grenzen unserer Handlungsmöglichkeiten“ (Ruf 2005, 25) und steht zumindest teilweise in einem konträren Verhältnis zu ‚Lernen’, da letzteres bestehendes Wissen relativiert (G.Schmidt 2004a, 413).

4.4.3 Beobachtung

Geht man davon aus, dass Wissen aktiv konstruiert wird, ist es zwangsläufig beobachterabhängig und relativ. Das Subjekt ist in seine Erkenntnisprozesse einbezogen, ein beobachtender Organismus ist selbst Teil - „Teilhaber und –nehmer“ (Foerster 1992, 43) - seiner Beobachtungswelt. Jeder Beobachter macht eigene Beobachtungen, ohne zu erkennen, was er nicht erkennt (‚blinder Fleck’). Insofern als jede Wahrnehmung autonom konstruiert und vom Wahrnehmenden als Fokussierung von Aufmerksamkeit selektiv gestaltet wird, bedeutet wahrnehmen immer auch „für wahr nehmen“(Foerster 1992, 51) oder ‚wahr-geben’ (G.Schmidt 2004a, 181). Dies Feststellung, dass wir „uns unsere subjektiv wirksame jeweilige Wirklichkeit selbst durch die Art unserer Beobachtung“ erfinden (G.Schmidt 2004a, 182, Hvg.R.M.), beinhaltet, dass Beobachtungen kognitive Operationen darstellen, die sowohl determiniert als auch kontingent73 sind.

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Beobachtung ist ein kognitiver Konstruktionsprozess nicht nur der Unterscheidung sondern auch der Bezeichnung. Unterschieden wird bspw. das Gegensatzpaar ‚klein- groß’, bezeichnet wird zu einem gegebenen Zeitpunkt jeweils aber nur eine Seite (Balgo 2003, 90 in Anlehnung an Spencer-Brown1997). Sichtbar in einer Beobachtung oder einem kognitiven Prozess wird das Bezeichnende (z.B. ‚klein“). Zunächst nicht unmittelbar sichtbar wird aber erstens, der Unterschieds- bzw. Gegensatzbegriff (hier also ‚groß’), der aber assoziativ verknüpft ist und auch – zumindest unbewusst – mitgedacht werden muss, da Sprache ein Assoziationsnetz darstellt. Zunächst unsichtbar bleibt damit, zweitens, auch die Gesamtheit des Gegensatzpaares, die nur aus einer Beobachtung der Beobachtung, also einer Beobachtung zweiter Ordnung, sichtbar wird. Balgo verdeutlich dies in folgendem Schema.

Abb. 4-4: Beobachtung zweiter Ordnung am Beispiel von Sprachverwendung (Balgo 2003, 92, leicht verändert).

Die Differenz der Unterschiedenheit zweier gegensätzlicher, sich einander bedingender Bezeichnungen läuft auf den einen, gleichen Unterscheidungsprozess hinaus. Wissen als Differenzierung beinhaltet dann immer, wie gerade gesehen, „negatives Wissen“: „Man muss immer wissen, was eine Sache nicht ist, um zu wissen, was sie ist“ (Oser/ Spychiger 2005, 11). Erschwerend kommt hinzu, dass das Bezeichnete (‚der Gegenstand’) und das Bezeichnende (‚das Wort’) nicht identisch sind und v.a. bei der Verwendung von Abstrakta beim gleichen Wort von verschiedenen Menschen unterschiedliche Inhalte/ Ideen assoziiert werden (Saussure 2001). (Kognitive) Landkarten sind nicht die Landschaft selbst.

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Bezeichnungen (auch sog. Eigenschaften' oder ,Wesenheiten') sind dann - konstruktivistisch streng genommen - immer nur im Kontext von und im Zusammenhang mit Beziehung gebrauchbar und verständlich. Wissen ist mithin Ausdruck von Vollzügen von Unterscheidungen, die für den Beobachter Wirklichkeit darstellen (Balgo 2003, 92), Bedeutung stets kontextbezogen. Der Erlebende kann also nie sicher gehen, dass das, was er erlebt, mit einer von ihm unabhängigen sozialen oder „echt-echt wirklichen" (G Schmidt 2004b) Welt übereinstimmt. Er muss sich, zumal als Forscher, zwischen den Polen von Beobachtungssensibilität und Komplexitätsreduktion bewegen (Siebert 2005b, 75). Das gilt auch für den hiesigen Forschungsprozess.

Und die Bewertung, ob ein bestimmtes konstruiertes Wissen als hilfreich erlebt wird, muss aufgrund seiner operationalen Geschlossenheit das jeweilige System (hier z.B. die Weiterbildungsteilnehmer) selbst vornehmen und ist von außen (hier z.B. dem Hauptforscher' und Seminarleiter) nicht unmittelbar zugänglich. Welche Vergleichsgröße (tertium comparationis) bei einem Vergleich, welches Kriterium bei einer Bewertung Gültigkeit erlangen soll, entscheiden die urteilenden Subjekte. Gültigkeit kann also „keinen objektiven wahren Grund" haben (Balgo 2003,93).

4.4.4 Kommunikation und Verstehen

Das Verständnis von Kommunikation, wie es im autopoietisch-systemisch-konstruktivistischen Ansatz überwiegend aufzufinden ist, kann als vielgestaltig gelten. In der wissenschaftlichen Diskussion häufig anzutreffen sind v.a. die Ansätze von Watzlawick und Luhmann. Nach Simon/Clement/Stierlin (1999,166) liegt Kommunikation dann vor, „wenn eine Person oder ein System versteht, dass ihr oder ihm eine andere Person oder ein anderes System eine Information mitgeteilt hat“. Information wird hier im Sinne Batesons verstanden als ein ‚Unterschied, der einen Unterschied macht’, d.h. als „ein Ereignis, das bei einem beobachtenden System zu einer internen Veränderung führt“ (Simon/Clement/Stierlin 1999, 145). Information ist damit eine Maßgröße für die Wahrscheinlichkeit des (Nicht)Eintretens von Ereignissen. Die Bedeutung von Botschaften bestimmt dabei der Empfänger bzw. sein Gehirn und dessen Konstrukte. Kommunikation besteht in diesem Ansatz aus drei Schritten: Mitteilung, Information und Verstehen. Verstehen wiederum bedeutet nicht, dass Bewusstseinsinhalte dupliziert werden, sondern nur, „dass eine Anschlusskommunikation möglich wird“ (Ruf 2005, 23).

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Watzlawick hatte bereits Ende der sechziger Jahre mehrere Axiome für seine ‚pragmatische Kommunikationstheorie’ aufgestellt. Hierzu zählen u.a. die folgenden Aussagen (Watzlawick et al. 1974):

Diese Interpretationen unterliegen nach Cronen verschiedenen möglichen, je umfassenderen Kontexten, wobei die Beziehung nur einen unter mehreren Aspekten darstellt (Cronen et al. 1979). Die unvermeidbare Vielschichtigkeit von Kommunikation ergibt sich aus den mannigfaltigen Deutungsrahmen, die auf kommunikative Prozesse angewandt werden können. Kommunikationsbeteiligte und –beobachter entscheiden, auf welchen Ebenen sie interpretieren:

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Abb. 4-5: Deutungsrahmen von Kommunikation nach Cronen et al. 1979 (Abb. nach Simon et al. 1999,168)

Luhmann wiederum legt in seiner Kommunikationstheorie einen anderen Schwerpunkt. Er bezieht sich auf soziale Systeme, die seiner Theorie gemäß aus Kommunikation bestehen. Kommunikation selber wiederum setzt sich aus drei Selektionen zusammen: Selektion einer Information, Selektion der Mitteilung dieser Information und selektives Verstehen oder Missverstehen dieser Mitteilung und ihrer Information (Luhmann 1984, 1997). Kommunikation ist damit die Synthese der Selektionen von Mitteilung und Information sowie des Verstehens der Differenz zwischen Information und Mitteilung (Baraldi et al. 1997, 89). Zugleich ist Kommunikation immer auch „die gemeinsame Aktualisierung von Sinn“ (Kade 2004, 199), wie auch Gergen (2002) betont. Unter diesen Prämissen liegt Kommunikation nur dann vor, wenn ein Kommunikationsteilnehmer versteht, dass der andere ihm etwas mitteilen will. Außerdem kann eine Unterscheidung zwischen Kommunikation und Interaktion vorgenommen werden. Interaktion wird durch einen außenstehenden Beobachter daran festegestellt, dass die Beteiligten sich etwas mitteilen. Was sie sich aber mitteilen, hängt von ihrer Zuschreibung von Bedeutung an die wechselseitigen Interaktionen ab (Simon et al. 1999, 169).

4.4.5 Lernen

Das Konzept operationaler Geschlossenheit und kognitiver Rekursivität wirkt sich auf den Lernbegriff aus. Lernen ist die Ausdifferenzierung kognitiver Konzepte. Dabei gilt nach Maturana und Varela, dass jedes Tun Erkennen und jedes Erkennen Tun ist (Maturana/Varela 1987, 31f): Wissen und Handeln fallen in eins und repräsentieren Konstrukte sowie Identität. Lernen ist dann „Vorfreude auf sich selbst“ (Kahl 2004, dvd1, 0:13Min.). ‚Information’ an sich ist nicht übertragbar, uns erreichen nur Schallwellen und Impulse. Menschen als autonome, autopoietische Systeme regen sich in ‚orientierender Interaktion’ (Baecker u.a. 1992, 128) gegenseitig zur Konstruktion von Informationen an. Lernen ist dabei die jeweils vorläufige Organisation einer strukturellen Kopplung eines Menschen mit seiner Umwelt und ein Prozess, der letztlich aufgrund seiner autopietischen Struktur ausschließlich im Inneren von Individuen stattfindet und von außen lediglich mit Wahrscheinlichkeit angestoßen bzw. begleitet werden kann, da er gemäß bereits vorhandener innerer Strukturen, also strukturdeterminiert, verläuft. Damit ist Lernen sowohl selbstgesteuert als auch sozial angeregt (Siebert 2006, 155). Menschen sind im strengen konstruktivistischen Sinne „lernfähig, aber unbelehrbar“ (Arnold 2006, 184). Und Lernen muss sich aus einer Innenperspektive lohnen (Simon 2002, 145), um stattfinden zu können.

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Je besser das Realitätsmodell eines anderen bekannt ist, desto eher kann man ihn zur Konstruktion bestimmter ‚Informationen’ anregen76 (Siebert 2005b, 95). Unter konstruktivistischer Perspektive ist Lernen nicht Informationsverarbeitung sondern Wissensverarbeitung. Lehre und Lernen sind dann getrennte, lose miteinander gekoppelte Systeme: „Wer lehrt, verfügt über einen anderen Referenzrahmen als ein Lernender. Es ist die Ausnahme, dass jemand lernt, was gelehrt wird“ (Siebert 2006, 160). Damit verbleibt auch die Lernmotivation – systemisch-konstruktivistisch mit individueller Intentionalität nahezu gleichzusetzen – beim autonomen lernenden Subjekt, das Neugier auf Neues mit der Sicherung des Bewährten verbinden muss (Siebert 2005b, 89f). Lehre ist lediglich „ein Angebot“ (Siebert 2006, 160).

Da das Individuum durch (s)eine kognitive Struktur wahrnimmt, können modellhaft zwei unterschiedliche Lerntypen voneinander abgegrenzt werden. Bei ‚inhaltlichem Lernen’ – Piaget nannte es ‚assimilierendes Lernen’ - werden innerhalb kognitiver Strukturen lediglich die Inhalte ergänzt, die unter der weiterhin gleichen Struktur angesammelt werden. Clement (2007) übersetzt assimilatives Lernen als ‚Aneignung von Welt in die eigenen kognitiven Strukturen’. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Vermehrung oder Verringerung von Wissen anderen Mechanismen folgt als die materieller Güter: Erstens, Wissen ‚mit-zu-teilen’ verringert nicht das eigene Wissen (Simon 2002, 147). Zweitens, kann die Aneignung von mehr Wissen dazu führen, dass ab einem kritischen Punkt auch Strukturen der Erfahrungsorganisation einer Veränderung bedürfen (Piaget 1991).

Bei ‚strukturellem Lernen’ – Piaget nannte es ‚akkomodatives Lernen’77 - hingegen erweitern sich die Strukturen der Wahrnehmung bzw. internen Verarbeitung; d.h. das Realitätsmodell differenziert sich strukturell aus, was dann unter formalen, nicht inhaltlichen Aspekten zu beschreiben wäre. Clement (2007) spricht hier von ‚Anpassung der kognitiven Strukturen an Welt’. Akkomodation kann als Reaktion des Organismus auf Perturbationen verstanden werden, wobei neue, für ein System relevante, leitende Differenzunterscheidungen entstehen. Neue Konstruktionen müssen dabei auf alten aufbauen, transzendieren dabei aber die „traditionellen Relevanzsysteme und Leitdifferenzen“ (Siebert 2005b, 88, vgl.a. Glasersfeld 1994, 34,37).Der Mensch kann nur durch Widerlegung von vorher ‚Richtigem’ strukturell hinzulernen, was in der Regel als schmerzhaft erlebt wird (Oser/Spychiger 2005). Krisen, d.h. wiederholter Verlust von Welt- und Selbstbildern, sind in der postmodernen Persönlichkeitsentwicklung unvermeidbar.

▼ 50 

Wenn man mit Maturana (1982a, 1987) allein in der ständigen Veränderung die Möglichkeit für Stabilität lebender Systeme erblickt, dann ist Leben ein erkenntnisgewinnender Prozess. Dann sind ständige Lernprozesse der „entscheidende Wirkstoff für Lebendigkeit“ (G.Schmidt 2004a, 16). Und dann spiegelt akkomodatives Lernen die Idee postmoderner Kreativität wider, Verstörungen durch aktive Lernleistungen musterverändernder zweiter Ordnung zu überwinden und dadurch zu differenzierteren Konstruktionen zu gelangen. Ein solcher Prozess erfordert – individuell wie sozial – i.d.R. einen erhöhten Kommunikationsaufwand (S.J.Schmidt 1992b, 337).

Aussage des Konstruktivismus ist, dass Lernen sowohl Freude bereiten als insb. im akkomodativen Bereich auch als schmerzhaft erlebt werden kann (Oser/ Spychiger 2005). Menschen sind lernfähig und lernwillig, wenngleich nicht so und zu dem Zeitpunkt, wenn andere es wollen, sondern so, „wie sie es selbst für richtig halten“ (Siebert 2005b, 138). Außerdem kann Wissen – zumindest im Sinne seiner unveränderten Sicherung bzw. bewahrenden ‚Haltbarmachung’ – als Lernhemmung angesehen werden, da kognitive Strukturen sich bei unverändertem Wissen nicht ausdifferenzieren können: „Wissen macht dumm oder zumindest lernbehindert“ (Simon 2002, 156). Unter Nützlichkeitskriterien, wie sie für den systemisch-konstruktivistischen Ansatz typisch sind, ist Lernen also nicht per se sinnvoll, da Lernen potenziell immer auch die Entwertung bisheriger, teilweise mühsam erworbener Sichtweisen und Verarbeitungsstrukturen bedeutet (G.Schmidt 2004a, 415). Das Subjekt (schüler, Eltern, Lehrer) entscheidet selber über seine Lernprozesse.

‚Lernen’ ist ein Konstrukt und kann nur in Relation zu seinen Ergebnissen und zu den Beobachtern sinnvoll werden. Lernen ist „Ausdruck davon, dass Feedback wahrgenommen und verwertet wird, und zwar so, dass daraus Unterscheide gemacht werden, die als zieldienlich bewertet werden“ (G.Schmidt 2004a, 411). Lernfortschritt kann von außen nie verlässlich festgestellt werden. Konstruktivistisch betrachtet, muss ein Beobachter zwei unterschiedliche Verhaltensweisen eines Probanden (oder dessen Berichte über dessen Handeln) miteinander vergleichen und daraus Rückschlüsse, genauer: Kausalverknüpfungen, ziehen auf vermutete Gründe für diese Verhaltensveränderung. Solche Vermutungen sind z.B. Veränderungen in den kognitiven Strukturen oder der Entschluss, nunmehr sein Können (nicht) mehr zu zeigen. Beobachtbar ist dabei lediglich, „dass die beobachtete Person in zwei aufeinanderfolgenden Situationen unterschiedliche Verhaltensweisen realisiert. Entweder sie verhält sich auf eine Weise, die neu ist, oder sie macht etwas nicht mehr, was sie vorher gemacht hat“ (Simon 2002, 148). Lernen beschreibt keine wahrnehmbaren Phänomene, sondern ist ein „Erklärungsprinzip“, dessen Funktion darin besteht, den Beobachter zu beruhigen (Bateson 1983, 77ff).

▼ 51 

Wenn Lernende nicht danach gefragt würden, wie sie ihren Lernprozess selber sehen, dann würden lediglich die Konstrukte und Konzepte des Beobachters darüber entscheiden, ob Lernen stattgefunden hat oder nicht, und, wenn ja, welches (Simon 2002, 149). Für aus systemisch-konstruktivistischer Sicht angesemmesene Beschreibungen möglicher Lernprozesse ist „die Berücksichtigung dessen, der Lernen im Rahmen eines spezifischen Diskurses beobachtet und beschreibt , [...] ebenso wichtig wie die Berücksichtigung der spezifischen Veränderungsprozesse aufseiten des beobachteten Systems“ (S.J.Schmidt 2005a, 100). Systemisch-konstruktivistische Forschung muss sich dessen bewusst sein und daraus Konsequenzen für den Forschungsprozess ziehen.

4.5 systemisch-konstruktivistische Forschung

Die systemisch-konstruktivistische Sicht geht davon aus, dass „alltägliches Erkennen wie auch Wissenschaft [...] subjekt- und kontextabhängig“ (Berger 1983, 195) geschehen. Wissenschaft ist aus diesem Blickwinkel „eine Beobachtungsform, welche die Konstruktivität, Eigendynamik und Unterschiedlichkeit von Wirklichkeiten erkennt und in der zurückhaltenden und epistemologisch bescheidenen Art des eigenen Tastens berücksichtigt“ (Arnold 2006, 188).

Systemisch-konstruktivistisches Denken findet sich in verschiedenen Forschungsansätzen und wird "zunehmend differenzierter und unübersichtlicher“ (Siebert 2005b, 14). Im Folgenden soll zunächst eine Übersicht über verschiedene Stränge konstruktivistischer und systemischer Ansätze gegeben werden, insoweit sie für diese Arbeit relevant sind (Kap.4.5.1), anschließend werden Gemeinsamkeiten zwischen ihnen herausgearbeitet, die als Grundlage für diese Forschungsarbeit gelten sollen (Kap.4.5.2), sowie wichtige Unterschiede, die ggf. unterschiedliche, ergändzende Blickwinkel ermöglichen (Kap.4.5.3). Einige Bemerkungen zum Zusammenhang von sozialwissenschaftlichem Wissen und konstruktivistischer Forschung (Kap.4.5.4) und zum systemischen Vorgehen in der Fortbildung (4.5.5) ermöglichen es, Ziele systemisch-konstruktivistischer Forschung zu benennen (Kap.4.5.6). Einigen Besonderheiten systemisch-konstruktivistischer Forschung gelten die drei letzten Unterkapitel: der besonderen (Berücksichtigung der) Stellung des Beobachters (Kap.4.5.7), dem Blick auf die Seminarteilnehmer als Mitforscher (Kap.4.5.8) und den Haltungen und Methoden systemisch-konstruktivistischer Forschung (Kap.4.5.9).

4.5.1 Übersicht über systemisch-konstruktivistische Forschungszweige

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Das folgende Schaubild (angelehnt an Mücke 2003,22.; Hug 2004,127; Siebert 2005b,15; Knorr-Cetina 1989) gibt eine Übersicht über Zweige konstruktivistischer Forschung, auf die ich für diese Arbeit zurück gegriffen habe und denen, teilweise vielleicht eher modellhaft, sich bestimmte Autoren zurechnen lassen.

Abb. 4-6: Zweige konstruktivistischer Forschung

Angemerkt sei, dass nicht alle der genannten Autoren systemisch vorgehen. Der narrative Ansatz ist in die systemische Therapie erst durch White und Epston eingeführt worden. Und die genannten Entwicklungspsychologen benennen die Systemtheorie z.T. nicht explizit, gehen aber davon aus, dass kognitive und moralische Vorgänge sich in bestimmten Strukturen stabilisieren.

4.5.2 Gemeinsamkeiten der Ansätze

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Als modelltheoretische Grundlegung für die Dissertation sollen nun Gemeinsamkeiten der Ansätze herausgearbeitet werden. Diese Überschneidungen sollen als relevant für diese Forschungsarbeit und die Durchführung der Weiterbildung selbst gelten. Die Benennung erfolgt stichwortartig, da die Begrifflichkeiten vorausgesetzt werden. Etliche Aspekte dieser Grundlagen sind für das Kap.4.5.9> (‚Haltungen und Methoden systemisch-konstruktivistischer Forschung’) abermals relevant.

Hug benennt explizit zwei kleinste gemeinsame Nenner konstruktivistischer Modelle: erstens, die Annahme der unhintergehbaren Perspektivität jeder Erkenntnis und, zweitens, der Verzicht von Aussagen über die ‚Wirklichkeit an sich’ (vgl. Hug 2004, 129). Aus der Systemtheorie ergeben sich einige weitere Punkte. Ich möchte die Gemeinsamkeiten weiter fassen und mit wichtigen systemischen Ideen und Begrifflichkeiten verbinden (vgl. Simon/ Clement/ Stierlin 1999).

Zentrale Bausteine des hier verwendeten systemisch-konstruktivistischen Modells als Gemeinsamkeiten der oben genannten Modelle sind die folgenden Aspekte:

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Aus diesen Grundannahmen werden zu einem späteren Zeitpunkt Grundhaltungen und zentrale methodische Vorgehensweisen für systemisch-konstruktivistische Forschung abgeleitet (Kap. 4.5.9 und 4.10).

Die angeführten gemeinsamen Annahmen dieser Ansätze grenzen sie zugleich ab von anderen gängigen erkenntnistheoretischen Erzählungen. Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht unhaltbar sind die Ideen (Ruf 2005, 36):

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Gegenüber einer eher traditionellen Sichtweise bietet der systemisch-konstruktivistische Ansatz einige wichtige Unterschiede. Insoweit man ihn an ‚Wirklichkeit’ heranträgt, kann der systemisch-konstruktivistische Ansatz daher auch andere Aspekte betonen oder überhaupt erst ins Blickfeld rücken. Es lässt sich folgende kurze Gegenüberstellung zusammenstellen:

traditionelle Sicht

systemisch-konstruktivistische Sicht

Abbildung

Konstruktion

außenstehender Beobachetr

teilnehmender Beobachter

Uni-versum, die Wirklichkeit

Multi-versen, Wirklichkeiten

die Wahrheit , Objektivität

mehrere Wahrheiten, Kontextabhängigkeit, dialogische Intersubjektivität

lineare Kausalität

Wechselwirkungen und Zirkularität

unveränderliche Gesetze

Thesen, Kontextabhängigkeit

linearer Fortschritt

Entwicklung durch Krisen hindurch

Fremdsteuerung

Selbstorganisation

Anpassung i.S.v. Unterordnung

(An)Passung i.S.v. Viabilität; Nützlichkeit

Instruktion (Reiz, Input)

Perturbation (Verstörung, Anregung)

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Neben den Unterschieden zwischen den konstruktivistischen Erzählungen einerseits und nicht-konstruktivistisch-traditionellen Ansätzen andererseits können auch Unterschiede innerhalb der systemisch-konstruktivistischen Ansätzen selbst ausgemacht werden.

4.5.3 Unterschiede der Ansätze

Wissenschaftliche Ansätze sind „auch durch Historizität und Kontextabhängigkeit ihres Prozessierens in Geschichten und Diskursen bestimmt“ (S.J.Schmidt 2005b, 89) und unterscheiden sich dementsprechend auch. Der Leser dieser hier vorliegenden Arbeit muss daher berücksichtigen, dass, je nach Spielart, man es auch mit unterschiedlichen systemisch-konstruktivistischen Interpretationskontexten von Selbst und Welt zu tun hat. Die sozialkonstruktionistische Idee, dass Sprache und Begriffe je nach Forschergemeinschaft teilunterschiedlich verwendet werden, gilt auch für die konstruktivistischen Ansätze selber: Begriffe können verstanden werden als „soziale Artefakte, Produkte historisch und kulturell situierter Austauschprozesse zwischen Menschen“ (Gergen zit.n. Flick 2004a, 154). Wissenschaftliche Konstruktionen können als eine Spezialform gesellschaftlicher Kommunikation gelten (Luhmann 1994).

Die in Teilen abweichende Verwendung gleicher Begrifflichkeiten ist aus Sicht konstruktivistischer Forschung kein Manko sondern eine Stärke, da dadurch - auf der Grundlage gleicher oder zumindest ähnlicher zentraler systemisch-konstruktivistischer Ideen - mehr Erzählungen zur Orientierung zur Verfügung stehen als, wenn man sich auf einen systemisch-konstruktivistischen ‚Spezialstrang’ beschränkte. Die Optionenvielfalt wächst also tendenziell, ohne sich in den ganz zentralen systemisch-konstruktivistischen Grundannahmen in wesentliche Widersprüche zu verfangen. Grundsätzlich will ich auf zwei Stränge besonders hinweisen, die von besonderer Relevanz für die hier vorliegende Arbeit sind. Der Konstruktivismus geht sowohl von operationaler Geschlossenheit aus als auch von energetischer Offenheit. Je nach dem, wo man den Schwerpunkt legt, kann man – wie der rad i kale Konstruktivismus (von Foerster, von Glasersfeld) – eher die Geschlossenheit von Gehirn und Kognition betrachten oder – wie der soziale Konstrukti o nismus (Gergen) – eher die soziale Herstellung von Wirklichkeit durch Sprache betonen.79

4.5.4 sozialwissenschaftliches Wissen und konstruktivistische Forschung

▼ 57 

Neben dem Gebrauch bestimmter Termini muss systemisch-konstruktivistische Forschung generell das Verhältnis von Wissen und Forschung für sich reflektieren. Grundsätzlich gilt hierbei das bereits im Kap.4.4 (im Zusammenhang mit einigen basalen Begriffsklärungen) Gesagte. Darüber hinaus sollen hier noch einige Anmerkungen unter dem speziellen Aspekt wissenschaftlicher Forschung gemacht werden.

Sozialkonstruktionistisch betrachtet, gilt sozialwissenschaftliches Wissen als aus Alltagswissen entwickelt und sozial konstruiert. Intersubjektivierte Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Forschung sind als wissenschaftliche Analysen soziale Konstrukte, die sich auf soziale Konstrukte im Alltag beziehen. Sie sind damit Konstrukte zweiten Grades (Flick 2004a, 156). Die hier vorliegende Untersuchung behandelt die Veränderung kognitiver Strukturen, also Lernprozesse, im schulischen Alltagshandeln von Pädagogen.

Solche kognitiven Konstruktionen sind von außen nicht unmittelbar einsehbar; insofern lassen sich Lernprozesse, um die es in dieser Forschungsarbeit geht, von außen nie eindeutig feststellen. Da sich Konstruktionen aber in Sprache, Begrifflichkeiten und Handeln widerspiegeln, sind sie im Rahmen dieser Arbeit untersuchbar über die sprachlichen Mitteilungen der Mitforscher, die sich selbst in ihrem Alltagshandeln reflexiv beobachten. Von ihnen beobachtetes alternatives Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Handeln kann auf dahinterstehende veränderte Wissens- und Verarbeitungsstrukturen eines Organismus80 schließen lassen, im gemeinsamen Forschungsprozess vermittelt über den Umweg der sprachlichen Selbstmitteilung. Aussagen bzw. begründete Vermutungen über die Veränderung unsichtbarer kognitiver Strukturen sind über den Umweg ‚Sprache’ wissenschaftlich möglich. Insofern als die Auswertung kognitiver Veränderungen (im Zusammenhang mit der untersuchten Fortbildung) in gemeinsamen kommunikativen Prozessen (insb. Interviews) verläuft, werden also abermals soziale Konstrukte Ergebnis des Forschungsprozesses sein.

▼ 58 

Wissenschaftliche Begriffe und Erklärungen sind, konstruktivistisch betrachtet, „heuristische Fiktionen“, was sie nicht wertlos macht, da ihr Nutzen - im Sinne einer forschenden Adaptationsfähigkeit an unsichere Wirklichkeit – prinzipiell unbeschränkt ist (v. Glasersfeld 1998, 43). Die dabei entstehende Unschärfe bzw. kommunikative Ungewissheit ist, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, grundsätzlich nicht zu verhindern und daher im Forschungsprozess sich bewusst zu halten. ‚Verstehen’ bleibt beschränkt auf den Bau eines provisorischen Modells von dem, was andere Menschen gemeint haben könnten (v.Glasersfeld 1998. 40): „Über die Art und Weise, wie wir im Lernen zu einer bestimmten Veränderung gekommen sind, können wir [...] immer nur ex post, also in Form einer Rekonstruktion, Auskunft geben“ (S.J.Schmidt 2005a, 105).

Der systemisch-konstruktivistische Wissensbegriff bezieht sich also insbesondere auf die Art und Weise, wie Wissen entsteht, d.h. wie Menschen ihre Erfahrungswelt organisieren. Wissenschaftliches Wissen muss daher eine selbstreflexive Qualität besitzen, die für systemisch-konstruktivistisches Arbeiten und Forschen zentral ist und systemisches Forschen in dieser Form gegenüber vielen anderen Ansätzen auszeichnet.81

Wenn „äußere Realität“ nur über einen (sozialen,) aktiven, kognitiven Herstellungsprozess und nur abhängig von strukturdeterminierter Wahrnehmung und Verarbeitung konstruiert werden kann, kann es nicht Forschungsaufgabe sein, Konstrukte mit einer möglichen ontologischen Wahrheit zu vergleichen (deren Existenz Konstruktivisten durchaus nicht ausschließen, sie schließen nur deren verlässliche Feststellbarkeit aus). Vielmehr ist es dann Ziel, im Sinne des ethischen Imperativs von v.Foerster, nachdem die Anzahl von Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen sind, zu einer Vermehrung möglicher Erzählungen zu gelangen.

▼ 59 

Ein besonderes Ziel dieser hier vorliegenden Untersuchung ist es, kognitive Veränderungen zu untersuchen, also Unterschiede von Konstruktionen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten (letztlich über Textproduktion) zu beschreiben und zu erklären und bewerten. Es gilt also, Vorstellungen von Pädagogen zu einem Zeitpunkt vor und zu einem Zeitpunkt nach der Fortbildung zu differenzieren und auf handlungsrelevante Unterschiede hin zu befragen. Da dies zugleich bedeutet, unterschiedliche Vorstellungen miteinander zu vergleichen (Fllck 2004a, 153), müssen Bewertungs- und Vergleichskriterien benannt werden. Dies geschieht v.a. in den Kapiteln 4.8.2 und 18 bis 24.

Das zu erreichende sozialwissenschaftliche Wissen wird in dieser Dissertation in systemisch-konstruktivistischer Sichtweise und Sprache erfasst und dargestellt. Die gleiche Erzählungsform (nämlich: systemisch-konstruktivistisch) gilt aus Gründen der inneren Konsistenz und Glaubwürdigkeit nicht nur für die hier angewandte Forschung und den Fortbildungsinhalt sondern auch für die Fortbildungsform.

4.5.5 systemisches Vorgehen auch in der Fortbildung

enn das Verhältnis der drei Größen: Fortbildungsinhalt, Fortbildungsform und Forschung konsistent gehalten werden soll82, unterliegt die Durchführung der (hier untersuchten) Fortbildungsreihe selbst systemisch-konstruktivistischen Prämissen und Vorgehensweisen. In diesem Kapitel geht es um den systemisch-konstruktivistischen Charakter (bzw. Form) der Fortbildung und erste, sich daraus ergebende Implikationen und Sichtweisen für Forschung und Fortbildung.83

▼ 60 

Eine zentrale Folgerung und Forderung in diesem Zusammenhang ist, dass der Seminarleiter selber in der Fortbildung die Schritte der Ankopplung, der Verstörung und des Angebots für Neukonstruktionen unter Wahrung von Neutralität gehen muss.84 Er kann dabei bestimmte Veränderungen (der Seminarteilnehmer) nicht gezielt erreichen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass nur ein konkretes Probehandeln der Seminarteilnehmer in ihren beruflichen Alltagssituationen, das Aspekte der Fortbildung aufnimmt, zur Entstehung neuer bzw. ausdifferenzierterer Konstrukte bei den Teilnehmern führen kann. Damit wird das Probehandeln unter Alltagsbedingungen, sozusagen im professionellen Heimatsystem, wichtiger als die Kommunikation in den Seminaren selbst (Schmidt 2004a). Die Seminare können mit Retzer allerdings als wichtiges Übergangsritual gesehen werden.

Abb. 4-8: systemisch-konstruktivistische Fortbildung als Übergangsritual (Retzer 2004b, 54)85

Aus einem solchen Schema lassen sich folgende Fragestellungen ableiten und bestimmten Phasen von Lernprozessen in Fortbildung zuordnen (Clement 2007):

▼ 61 

  1. Analyse der Struktur 1: Welche Muster sind vorhanden? Welche davon sind eher weniger nützlich?
  2. Ablösung aus alten Mustern: Wovon könnte ich mich verabschieden?
  3. Übergang: Welche Suchbewegungen sind vermutlich nützlich?
  4. Anschluss an neue Muster: Welches neue Verhalten sollte vollzogen, welches alte beendet werden?
  5. Struktur 2: Wie sieht die Lösung, wie sehen die neuen Muster aus?

Die Zuordnung dieser Fragen zu den Phasen eines Fortbildungsprozesses kann noch einmal in einem Schaubild visualisiert werden:

Abb. 4-9: Fragestellungen zu den Fortbildungsphasen (Clement 2007a)

▼ 62 

Die hier beschriebenen Fortbildungsphasen sind individuell und thematisch unterschiedlich. Die Fragen können sich den Forschern zu jeder (und untereinander verglichen: unterschiedlichen) Zeit stellen und erörtert werden. Deutlich wird an diesem Schema auch, dass Lernen „als die Ordnung von Ordnungsveränderungen konzipiert“ (S.J.Schmidt 2005a, 101) und untersucht werden kann. Die Erstellung von Thesen (Kap.14) und die Auswertung der untersuchten Fortbildungsveranstaltung (ab Kap.18) beziehen sich generell auf alle diese fünf Fragen, finden ihren Schwerpunkt allerdings in der vierten und fünften Frage.

Von den Zielen der Fortbildung sind die Ziele der begleitenden systemisch-konstruktivistischen Forschung zu unterscheiden.

4.5.6 Ziele systemisch-konstruktivistischer Forschung

Als generelles Ziel systemisch-konstruktivistischer Forschung bereits genannt86 wurde die Ausdifferenzierung bzw. die Vermehrung von Erzählungen und Handlungsmöglichkeiten, da Wirklichkeit „über die (verschiedenen) Perspektiven auf Phänomene zugänglich“ wird (Flick 2005, 323, in Anlehnung an Hammersley 1992, 52). Bedeutsam ist hierbei allerdings nicht die bloße Vermehrung möglicher Erzählungen, sondern die Fähigkeit, diese sinnvoll einordnen und bezüglich ihrer Prämissen unterscheiden zu können. Die Multiplizierung von Perspektiven muss einhergehen „mit dem Bewusstsein kontextueller Systemrahmungen“ im Sinne einer „bewussten Verfügung über den Zusammenhang der Kontexte, in denen die [jeweiligen] Themen erscheinen“ (Huschke-Rhein 1997, 50).

▼ 63 

Ein Forschungsprozess muss mithin Forschungsgegenstände komplex beschreiben und kontextuell erklären (Moser 2004b, 19). Ziel systemisch-konstruktivistischer Forschung ist aufgrund ihrer epistemologischen Setzungen nicht mehr die Allgemeingültigkeit von Ergebnissen, vielmehr geht es um „vorsichtige und vorläufige Hypothesen zum Forschungsthema“. Solche Thesen und auch Theorien können, konstruktivistisch betrachtet, allenfalls Plausibilität beanspruchen (Huschke-Rhein 1998b, 18) und „haben nur insofern Bedeutung als sie fiktive Brücken zu praktischen Resultaten schlagen“ (Watzlawick 1992a, 135).

Um Lernerfolge und damit kognitive Unterschiede feststellen zu können, müssen für die hiesige Untersuchung Konstrukte zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten verglichen werden können, was ihre Beobachtung (oder zumindest kommunikative Vermittlung) voraussetzt. Dies stellt eine besondere Herausforderung für systemisch-konstruktivistisches Forschen dar, bietet aber auch die für den systemisch-konstruktivistischen Ansatz (späterer Ausformung) typische Chance dar, den Beobachter in die Beobachtung ‚mit hinein zu nehmen’.

4.5.7 Beobachtung und Kybernetik zweiter Ordnung

In sozial(wissenschaftlich)en Beobachtungs- und Kommunikationszusammenhängen kann Lernen nicht direkt beobachtet werden (Kap. 4.4.3 und 0) sondern immer nur „Etwas als Beobachtung“ (S.J.Schmidt 2005a, 103). Mit der Prämisse, dass ein beobachtender Organismus selbst Teil seiner Beobachtungswelt ist (v.Foerster 1992,43; Heisenberg 1986,26f), mit der ‚Einführung des Beobachters in die Beobachtung’ im Zusammenhang mit der Kybernetik zweiter Ordnung (v.Foerster 1985, Keeney 1983), wurde modellhaft anerkannt, dass der Beobachter das Forschungsgeschehen unvermeidbar mit beeinflusst. Konstruktivistisch betrachtet, ist das System der Beobachtung ein Kommunikationssystem, dessen Aktivitäten von jedem Teilnehmer interdependent beeinflusst werden. Sprache ist damit zentrales Instrument von Beobachtung (Balgo 2003, 90).

▼ 64 

Das beginnt bereits mit der Selektion von Wahrnehmung, mit dem Richten von Aufmerksamkeit (G.Schmidt 2004a,b), die von Gedächtnisstrukturen, Interessen und Bedarf bestimmt ist. Bedarf wird hier durch den Handlungszusammenhang bestimmt, in dem ein Beobachter sich gerade befindet mit dem Ziel, zu erfolgreichem Handeln befähigt zu bleiben oder zu werden (Glasersfeld 1992, 22). Beobachtung ist einerseits individuelle Handlung und zeichnet sich durch Singularität, Widersprüchlichkeit und Diskontinuität aus (Reich 1998b, Bd.1, 19). Andererseits hängt das, was man sehen kann, auch von der jeweiligen Position in einem System ab (Cecchin et al. 2005, 87).

Mit der Prämisse der individuellen Selektion von Wahrnehmung besitzt bereits Beobachtung Interventionscharakter: „Es gibt keine relevanten Forschungsstrategien im Bereich der Humanwissenschaften, die nicht den Charakter von Interventionen in soziale Systeme haben. In jeder sozialwissenschaftlichen Vorgehensweise bleibt der das Untersuchungsergebnis im Sinne der ‚Unschärferelation’ beeinträchtigende Einfluß des Beobachters spürbar“ (Simon 1999b, 286). 87

Zugespitzt formuliert, heißt das, dass ‚Manipulation’ – verstanden als ‚prinzipiell von einem außenstehenden Beobachter beobachtbare Einwirkung auf andere’ – nicht vermieden werden kann, da sie konstitutiver Teil von Kommunikation ist (Schumacher 2002). Der bewusste oder unbewusste Versuch, Wirkung auf andere oder bei anderen zu erzielen, ist auch schon im Vier-Ohren-Modell Schulz von Thuns in der Appell-Funktion automatisch Teil jeder Kommunikation (Schulz von Thun 1981, 29). Hiervon ließe sich ein Manipulationsbegriff abgrenzen, der als gezielter Versuch bewusster Fremdbestimmung unternommen wird. Hierbei ließe sich dann abermals unterscheiden zwischen einer Außen- (Rückschluss eines externen Beobachters) und Innenperspektive (Absicht des Handelnden).

▼ 65 

Systembeobachtung ermöglicht eine modellhafte Rekonstruktion von Konstrukten und ihren komplexen Zusammenhängen, wobei Beobachtungen zweiter Ordnung es erlauben, „Reflexivität in den Forschungszusammenhang rückzuvermitteln“ (Moser 2004b,17; Zitat S.23). Damit hat die moderne wissenschaftliche Forschung allmählich die Chance, wegzukommen von der Annahme einer statischen und beobachterunabhängigen Existenz beobachteter Phänomene („Logik der Identifikation“) und hinzugelangen zur Annahme, dass Phänomene nur beobachtet werden können, wenn sie von ihrem Beobachter unterschieden werden („Logik der Differenz“), so Pfeffer (2004, 72f), was übrigens wiederum eine Beobachtung auf einer höheren Ebene voraussetzt.88

Konstruktivistisch gesehen, schließen sich verschiedene Beobachtungsstrategien und perspektiven nicht aus, sie begründen auch nicht eine substanzielle Verschiedenheit von Forschungsgegenständen (Moser 2004b, 23). Vielmehr wird es bedeutsam, vielfältige Erzählungen erzielen, ggf. bewerten und nutzen zu können. Aufgrund der Selbstbezüglichkeit von Beobachtung „ist es wichtig, verschiedene Beziehungen zum beobachteten Phänomen und damit verschiedene Formen der Selbstbezüglichkeit unterscheiden zu können“ (Pfeffer 2004, 77). Das hat Implikationen für die Methodologie von Forschung (Kap.4.10). „Weiterbildungsforschung wird damit zur systematischen Beobachtung [...] pädagogischer Selbstbeschreibungen in unterschiedlichen Kontexten“ (Schäffter 1997, 35).

Der Forscher muss sich im übrigen bewusst sein, dass wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung nicht nur durch den Beobachter (mit)bestimmt wird, sondern darüber hinaus auch durch den Beobachtungskontext, den Beobachtungs-’Gegenstand’ sowie durch die verwendete Sprache. D.h. auch, dass eine sprach- und kategorienunabhängige Beobachtung von Wirklichkeit nicht möglich ist (Berger 1993, 201,204). All dies sowie daraus entstehende Ungewiss- und Unsicherheiten hat der Forscher im Sinne einer Beobachtung II. Ordnung mitzubedenken. In diesem Sinne schließt Beobachtung II. Ordnung „Urteilsvorsicht und Anerkennung anderer ein“ (Siebert 2005b, 77). Die Anerkennung anderer führt zum logischen Schluss, dass ich als Seminarleiter für einen erfolgreichen und gültigen Forschungsprozess auf die Kooperation mit den Seminarteilnehmern angewiesen bin, wie das folgende Kapitel aufzeigt.

4.5.8 gemeinsamer Forschungsprozess

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Eine konstruktivistische wie auch eine postmoderne Pädagogik muss reflexiv sein, eigene Ziele und Mittel immer wieder reflektieren, muss sich als eine auf Erweiterung des Möglichkeitsraums angelegte Reflexionstheorie pädagogischen Handelns erweisen. Pädagogik als fortlaufender, diskursiver, nie abgeschlossener, wissenschaftlicher Prozess benötigt aus systemisch-konstruktivistischer Sicht nicht nur außenstehende Fachleute sondern auch unmittelbar involvierte Akteure (Lindemann 2006, 21f).

Die Praxis der bisherigen Bildungsforschung geht überwiegend von einem hierarchischen Modell aus, in dem wissenschaftliche Forscher Wahrheiten entdecken, die über Verwalter und Bürokratien schließlich an die Lehrer (weiter)gereicht werden. Bedeutungsgebung läuft hier monologisch ab, wobei dem Empfänger des Monologs eine eigene Stimme versagt wird. Konstruktivistisch betrachtet, erfordert Forschung hingegen ein dialogisches, heterarchisches Vorgehen mit den betroffenen Mitkonstrukteuren von Wirklichkeit (Gergen 2003, 69,71f), die „als Subjekte anerkannt werden, deren Erfahrungen und Wissen relevant und nicht minderwertig ist“ (Scherr 2002, 40). Lehrerbildung muss als eine „Lernkultur in Anerkennungsverhältnissen“ entfaltet werden (Völkel/ Völkel 2005, 237).

Wie bereits angeführt, sind die Konstrukte der Seminarteilnehmer für den Forscher, der den Forschungsprozess organisiert, nicht direkt einzusehen, sie müssen (in diesem Fall von den Seminarteilnehmern) kommuniziert werden, wobei sie (z.B. als Schriftbild oder Schallwellen) vom Empfänger (hier mir als dem ‚Hauptforscher’) unvermeidlich obendrein interpretiert werden müssen. Es handelt sich dann bei Forschung um einen Prozess der „Ko-Kreation sozialer Wirklichkeiten“ (Deissler 1988, 345), bei dem alle Beteiligten sich aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit und der Begegnung mit neuen Ideen zunächst ihrer eigenen ‚Vor-Urteile’ bewusst werden können (Cecchin et al. 2005, 80), bevor diese ggf. transformiert werden.

▼ 67 

Konstrukte sind dabei immer nur indirekt beobachtbar

Das hat wichtige Folgen für die Position desjenigen, der den Forschungsprozess organisiert. Er besitzt keine wirklichkeitsinterpretatorische Vorrangstellung, da nicht festzustellen ist, ob seine Konstrukte und Interpretationen oder die der befragten (anderen) ‚Seminar-Teil-Nehmer’ näher an einer möglichen ‚wirklichen Wirklichkeit’ liegen. Als Seminarteilnehmer, die Verstörungs- und Anregungsmöglichkeiten erhalten, werden schulische Pädagogen zu Forschern, die im reflektierten (Eigen-)Experiment im schulischen alltäglichen Umgang mit Kollegen, Eltern und vor allem den Schülern Schule und Wissen neu erfinden (v.Foerster 1997, 14). Daher verwende ich für die Teilnehmer der Fortbildungsreihe auch die Begriffe ‚Mitforscher’ bzw. ‚Untersuchungspartner’ (Steinke 1999, 127) und die Begriffe ‚Hauptforscher’ oder ‚Forschungsleiter’ für mich selber als Seminarleiter. Dabei bezieht sich der Wortteil „haupt“ nicht auf eine etwaige Interpretationshoheit sondern, erstens, auf die Hauptlast der Organisation und Auswertung des Forschungsvorhabens und, zweitens, auf die Notwendigkeit einer Beobachtung 2. Ordnung. D.h. der Hauptforscher beobachtet, „wie die Beteiligten sich selbst, das Thema, die Umwelt beobachten“ und Sinn konstruieren (Siebert 2005b, 132; Hvg.i.Org.). Eingebunden in ihre jeweiligen sozialen Kontexte, bleiben die Seminarteilnehmer und Mitforscher Subjekte ihrer Reflexions- und Lernprozesse, Gestalter ihrer Beziehungen und Verantwortungsträger ihrer Entscheidungen (Voß 2000b, 33). Ein solches Vorgehen kann als subjektorientierte Bildungs- und Wissenschaftspartnerschaft (Völkel/ Völkel 2005, 241) bezeichnet werden.

▼ 68 

Steuerungsfunktionen des Hauptforschers können aus systemisch-konstruktivistischer Sicht immer nur indirekt über Eingriffe in den Systemkontext erfolgen, müssen die Selbststeuerungsmöglichkeiten der Mitforscher berücksichtigen und sich daher am „Prinzip der ‚geringfügigen Steuerimpulse’“ orientieren (Huschke-Rhein 1998b, 17). ‚Mehrzieligkeit’ im Forschungsteam ist nicht nur zulässig, sondern erwünscht. Beobachtungsgegenstand und Selbstbeschreibungen (von Haupt- und Mitforschern) bleiben dabei kontingent und kommunikativ vermittelt. Diese Sichtweise erlaubt es, explizit nach individuellen Beobachtungen zu fragen, und legt es zudem nahe, verschiedene Beobachter zum gleichen Thema zu befragen mit dem Ziel, Differenzen von Beobachterperspektiven als Informationsquelle zu nutzen (Pfeffer 2004, 70f).

Haben die Teilnehmer den Status von Mitforschern, impliziert das auch, dass sie während der Seminarreihe Schwerpunktsetzungen (mit-)bestimmen und Inhalts- und Verfahrensvorschläge machen können, die mit der Gruppe – ggf. unter Moderation des Seminarleiters - zu diskutieren sind. So können die Seminarteilnehmer die Forschungsrichtung mit festlegen und dadurch ihre Selbstbestimmtheit in hohem Maße wahren (Gergen 2002, 127). Dass der Hauptforscher damit als ein „relationales Ich“90 im Forschungsprozess angesehen werden muss, ist kein Widerspruch dazu, dass der Hauptforscher und Seminarleiter über Haltungen, Verfahrensvorschläge und Moderation den Kontext (mit)steuert (Pfeffer 2004, 87).

Dass Lehrer als „Subjekte der Forschung“ (Altrichter u.a. 2003, 646) in Entwicklungsprojekten aktiv beteiligt sind, ist als solches nichts Neues (Stenhouse 1975.; Schön 1983). Altrichter u.a. sehen schulbezogene Forschung, die von schulexternen Beamten und Wissenschaftlern getragen wird, demgegenüber als deutlich benachteiligt (Altrichter u.a. 2003, 640). Bei den von ihnen herangezogenen Studien handelt es sich zumeist um Projekte, die sich auf den Unterricht beschränken. Erst mit der Ausweitung des Beratungsbedarfs an Schulen in den angehenden postmodernen Gesellschaften erweitert sich nicht nur der Forscherkreis sondern auch der Forschungsbereich (Jäpelt 2004a). Dabei sollen vordefinierte Konzepte von den Mitforschern nicht einengend erlebt werden, erstere sind vielmehr „selbst im Prozess des Umsetzens ein Gegenstand der Forschung“ (Altrichter u.a. 2003, 641).

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Nach Altrichter besitzen Pädagogen, die selber an Schule tätig sind, nicht nur ein durch die akademische Disziplin und die Ausbildung erworbenes „spezielles Wissen“, wie dies typisch für Professionen (Kap.8.3) ist. Darüber hinaus besitzen sie ein durch reflektierte Erfahrungen erworbenes, konkretes „lokales“ Wissen. Prinzipiell können beide Wissensarten in einem gemeinsamen Forschungsprozess verändert und ausdifferenziert werden. Die Mitforscher professionalisieren sich also – gemäß dem postmodernen Postulat lebenslangen Lernens – weiter und werden durch „die Fähigkeit zur ‚Forschung im Kontext der Praxis’ “ erfolgreiche(re) Praktiker.91 Gerade die Praktiker können über die Praxisrelevanz von Theorie(anteile)n stimmiger urteilen als Im-Praxisfeld-nicht-Involvierte: „Die Entscheidung, was in einer Praxissituation an Modellen ‚passt’, kann [...] sinnvoll nur in der Praxis selbst gefällt werden“ (Lindemann 2001, 63). Pädagogische Praxis und Forschung greifen aus konstruktivistischer Sicht notwendig ineinander (Cecchin et al. 2005, 103).

Die Seminarteilnehmer können und sollen in konstruktivistischer Sicht und Terminologie daher ausdrücklich als ‚Mitforscher’ (Jäpelt 2004) betrachtet und bezeichnet werden. Angesichts der Notwendigkeit eines durch den Hauptforscher zu erstellenden Curriculums oder curricularen Rahmens sowie der Tatsache, dass die Hauptlast der Durchführung und Auswertung des Forschungsprozesses häufig von einem Hauptforscher zu tragen ist, lässt sich in der Literatur auch der Gedanke von aktiven Forschungssubjekten als Resonanzgruppe finden (Atrichter u.a. 2003, 646). Insofern ließe sich eine prinzipielle Gleichwertigkeit von Konstrukten unterscheiden von einer Ungleichheit in der Organisation des Forschungsprozesses und einer Nicht-Gleichbereichtigung bei der Erstellung auswertender Texte von auswertenden Texten im Sinne der Auswertung der Interviews mit den Mitforschern (ab Kap.18). Aufgrund der prinzipiellen konstruktivistischen Gleichwertigkeit kann aber behauptet werden, dass „die in der traditionellen Forschung getrennten Rollen von ForscherInnen und PraktikerInnen zusammengeführt werden“ (Atrichter u.a. 2003, 647). Eine Konfrontation unterschiedlicher Perspektiven wird ausdrücklich begrüßt, da Forschung als sozialer und kommunikativer Prozess - insb. bei der Datenerhebung im Interview (Lamnek 2002, 167) - derart gestaltet wird, dass Lernprozesse für alle Seiten möglich werden (Ackermann 2002, 48).

Die hier betriebene Forschung bezieht sich - in ihrem Ineinandergreifen mit dem Fortbildungsprozess – auf einen Lernprozess auf Ebene der Teilnehmer, definiert als Unterschied zwischen (textlich belegten Vermutungen über) Konstruktzustände(n) zu zwei Zeitpunkten. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Seminarteilnehmer als aktive Mitforscher ein Interesse mitbringen, mit den Schülern, den Eltern, den Kollegen, der Organisation usw. eine für die verschiedenen Beteiligten befriedigende Weiterentwicklung der Praxis zu erreichen. Ebenso vorausgesetzt wird die Bereitschaft, Kreislaufprozesse der Abgleichung von eigener Praxis, Verstörungen und Anregungen zu durchlaufen.

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Damit kann der Forschungsprozess weiter schematisch entfaltet werden:

Abb. 4-10: Forschungsprozess – (erweiterte) Darstellung 2

Die Retrospektive der Mitforschenden in den Interviews nach Beendigung der Fortbildungsreihe, Erinnerungsbereitschaft und –vermögen (Schachtner 1993, 292), sind hierbei konstruktivistische Erscheinungen.

4.5.9 Haltungen und Methoden systemisch-konstruktivistischer Forschung

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Aus dem Postulat, Seminarreihe und Forschungsarbeit unter dem systemisch-konstruktivistischen Blickwinkel durchzuführen, ergibt sich für den Hauptforscher die Notwendigkeit, typisch systemische Grundhaltungen und Methoden für die Seminarreihe und die Forschungsarbeit umzusetzen. Mit Pfeffer lässt sich ‚Haltung’ hierbei als derjenigen Teil der Vorannahmen, Werte und Überzeugungen des Seminarleiters und späteren Interviewers definieren, der aus seiner Sicht in den genannten kommunikativen Situationen nicht zur Disposition stehen soll (Pfeffer 2004, 87).

Folgende grundlegende systemische zentrale Haltungen und wesentliche Methoden erscheinen wichtig für systemisch-konstruktivistische Forschung:

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Systemisch-konstruktivistische Forschung dieser Art kann als eine Gesprächsform verstanden werden, die zu sozialen Konstruktionen einlädt und diversen „Versionen von Welt Gehör [...] verschaffen“ will (Leriche 2005, 74).

4.6 Forschungsgegenstand

Forschungsgegenstand dieser Dissertation sind Konstrukte von Pädagogen. Eine mögliche Veränderung von Konstrukten findet im Kopf statt, im psychischen System, das vom Körper (biologisches oder organisches System) und dem Verhalten (Teil eines sozialen Systems) abgegrenzt werden kann, sich über strukturelle Kopplungen dort aber auswirken kann (z.B. Simon 2001(b); Retzer 2002; für die Pädagogik: z.B. Huschke-Rhein 1998b,13,21). In Bezug auf den Forschungsgegenstand sind vor allem psychische und soziale Systeme interessant, die Retzer auch mit den Begriffen „erlebtes Leben“ (Psyche) und „erzähltes Leben“ (Verhalten) umschreibt.

Abb. 4-11: Systeme menschlichen Lebens (Ruf 2005, 19)

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Das erlebte Leben besteht modellhaft wiederum aus drei Bereichen bzw. konstruierenden Tätigkeiten: beschreiben, erklären, bewerten. Da diese nicht direkt beobachtbar sind, müssen sie im Forschungsprozess indirekt – über Verhalten bzw. kommunikative Mitteilung - als ‚erzähltes Leben’ ver- und ermittelt werden.93 Dies hat zentrale Implikationen für die anzuwenden Forschungsmethoden (Kap. 4.10). In einem Schaubild ließe sich diese konstruktivistische Problematik wie folgt darstellen:

Abb. 4-12: Vermittlung des Forschungsgegenstands („erlebtes Leben“) über Verhalten bzw. kommunikative Mitteilung („erzähltes Leben“) - (in Anlehnung an Retzer 2004a, 97)

Somit können wissenschaftliche Konstruktionen als „selbstorganisierte Dynamiken, die auf der Basis und dem Zusammenspiel biologischer94, kognitiver und sozialer Systeme wissenschaftliche Wirklichkeiten hervorbringen“ (Moser 2004b, 11), verstanden werden.

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Auf dem Hintergrund der Genauerung des Forschungsgegenstands kann nun die Fragestellung der Untersuchung klarer gefasst und formuliert werden.

4.7 Fragestellung

Die zentrale, zu untersuchende Fragestellung kann wie folgt bestimmt werden: Welche Veränderungen lassen sich in den pädagogischen und beraterischen Konstrukten der TeilnehmerInnen der Weiterbildung in systemischer Pädagogik und Beratung für Lehrer am Ende des Fortbildungsjahres feststellen?

Dies soll ein wenig erläutert werden. Erstens, nach radikal-konstruktivistischer Auffassung lassen sich Denken (Kognitionen, soz. das Steuerungszentrum) und Handeln nicht trennen, insofern können in dieser Arbeit Denken und Handeln untersucht werden, obwohl der Hauptforscher die Teilnehmer nicht in ihrem schulischen Kontext beobachtet. Vielmehr berichten die Seminarteilnehmer in Interviews (erzähltes Leben) über ihre Konstrukte und deren Veränderung, derer sie in Selbstbeobachtung des eigenen psychischen Systems – generell - sowie des eigenen zielorientiertes Handeln im schulischen Kontext (soziales System95) – im Besonderen - gewahr werden können. Die zu untersuchende Relevanz der (Auswirkungen von) Konstruktveränderungen bezieht sich auf den schulischen Alltag. Auf sie kann über die Methode der Durchführung von Interviews letztlich nur rückgeschlossen werden – und zwar jeweils als Rückschluss auferlebtes Leben, inneres Erleben, Kognitionsleistungen.

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Zweitens, beziehen sich mögliche Veränderungen auf diese spezifische Weiterbildung, daher heißt es in der Fragestellung „der“ Weiterbildung.

Drittens: Sollen Veränderungen festgestellt bzw. einzeln und/ oder gemeinsam konstruiert werden, ist es wichtig, Konstruktionsleistungen am Ende des Seminars in Vergleich zum Anfang der Fortbildung zu setzen. Dies geschieht in dieser Arbeit u.a. durch abschließende, evaluierende, systemische Interviews. Teil dieser Interviews, in denen die Teilnehmer über ihre Konstrukte und ihre möglichen Veränderungen sprechen, kann sein, dass die Mitforscher Thesen darüber anstellen, weshalb es zu diesen Veränderungen gekommen ist, und mithin Erklärungen konstruieren, oder auch diesen Wandel beurteilen, also Bewertungen anwenden. Insofern kann eine zweite, nachgeordnete Fragestellung formuliert werden: Wie erklären die Mitforscher sich diese Veränderungen und wie bewerten sie diese?

Im übrigen kann noch eine weitere Fragestellung formuliert werden. Im Vorfeld der Weiterbildung habe ich als Hauptforscher Hypothesen erstellt (Kap. 4.10.1 und 14), die überprüft werden sollen.96 Dabei kann gerade in qualitativer Forschung auch geschaut werden, welche Thesen (oder Aspekte von Thesen) sich neu ergeben. Dabei gilt, dass Fragestellungen im Laufe eines Forschungsvorhabens konkretisiert und verändert werden können und ggf. sogar sollten (Flick 2004b, 258). Nach Maxwell (2004) sind Fragestellungen weniger Ausgangspunkt als Ergebnis von Forschungsdesigns. Ebenso kann das Ergebnis einer Untersuchung die Veränderung alter oder die Bildung neuer Thesen sein. Konstruktivistisch gesehen, ist für Forschung sogar zu erhoffen, dass mit dem Austausch von Erzählungen neue Fragen und neue Thesen aufgeworfen werden können, so dass zusätzliche Erzählungen und Optionen entstehen. Neues zuzulassen und zu entdecken ist mindestens genauso legitimes Ziel von Forschung, wenn nicht mehr, als Hypothesen vorläufig zu bestätigen zu suchen (Flick 2004b, 259). Insofern kann eine dritte Fragestellung aufgeworfen werden: Welche Thesen lassen sich bestätigen, welche wie anpassen, welche neu aufstellen?97

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Nachdem nunmehr die Fragestellung(en) präzisiert worden sind, stellt sich die Frage nach den Güte- und Bewertungskriterien des Forschungsprozesses, die erfüllt sein müssen, damit die Fragestellung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten als angemessen beantwortet gelten kann.

4.8 Generalisierungsziele

Bei der Diskussion der Generalisierungsziele geht es um die Frage der generellen Aussagekraft qualitativer Forschung (Kap.4.8.1) und um die Benennung und Reflexion von Bewertungskriterien für sie (Kap.4.8.2), wie sie auch für die hier vorliegende Arbeit gelten.

4.8.1 Geltungsbegründung qualitativer Forschung

Die Frage der Geltungsbegründung qualitativer Forschung ist auch bei einer systemisch-konstruktivistischen Arbeit von Bedeutung. Insbesondere aus Sicht des radikalen Konstruktivismus kann sie sogar negativ beschieden werden, da alles Wahrnehmen und Analysieren Konstruktionen sind, deren ontologischer Wahrheitsgehalt nicht geprüft werden kann. Da für diese Arbeit der radikale Konstruktivismus nur einen neben anderen systemischen Ansätzen darstellt und Anschlussfähigkeit an die Forschergemeinschaft erhalten werden soll, soll hier auf folgendes hingewiesen werden: Konstruktivistisches Forschen muss Bewertungskriterien für die eigene Arbeit klar benennen, die nachvollziehbar bleiben sollen und Intersubjektivität herstellen können in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschungsdiskussion (Kap 4.8.2).

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Flick merkt zur Frage nach der theoretischen Generalisierbarkeit von Ergebnissen an, dass hierfür weniger die Anzahl der interviewten Personen entscheidend sei als deren Unterschiedlichkeit und damit die Reichweite der Fallinterpretationen. Studien mit einem sinnvoll begrenzten Anspruch auf Generalisierung seien aussagekräftiger, häufig auch angesichts der realen Forschungsressourcen, angemessener (Flick 2004b, 260). Das gilt auch für diese Dissertation

4.8.2 Bewertungskriterien für qualitative Forschung

Die oben (S.48) bereits erwähnte Notwendigkeit von Bewertungskriterien betonen auch Steinke (2004, 319-321) und Marquardt (2006, 304). Zum einen würde allerdings eine unreflektiert-automatische Übertragung von Kriterien quantitativer Forschung auf qualitative Untersuchungsvorhaben zu kurz greifen, da es sich hier um unterschiedliche Vorgehensweisen handelt. Qualitative Forschung zeichnet sich durch eine geringere Formalisier- und Standardisierbarkeit aus. Die bloße Übernahme von Begriffen wie ‚Objektivität’, ‚Reliabilität’ oder ‚Validität’, wie sie typisch und notwendig für quantitative Forschung sind, lehnt Steinke ausdrücklich ab (Steinke 2004, 323). Das schließt aber Anregungen aus dem Bereich quantitativer Forschung für die Formulierung qualitativer Maßstäbe nicht aus.

Zum anderen greift auch eine grundsätzliche Ablehnung von Qualitätskriterien sozialwissenschaftlicher Forschung, wie sie teilweise in der Postmoderne-Diskussion zu finden und radikal-konstruktivistisch vielleicht auch zu begründen wären, zu kurz. Aus der Zugrundelegung konstruktivistischer Annahmen allein ist noch kein Verzicht auf Kriterien zwingend schlusszufolgern (Steinke 2004, 322). Sie legen allerdings nahe, dass nach eigenständigen Kriterien für qualitative Forschung – hier auf konstruktivistischer Grundlage - gesucht werden muss. Kriterienlosigkeit würde es außenstehenden Beobachtern verunmöglichen, im Anschluss an eine Forschungsarbeit deren Angemessenheit überhaupt zu bewerten oder angemessen zu diskutieren. Vorwürfen der Willkürlichkeit qualitativer Forschung könnte nicht begegnet werden; Forschen würde damit nutzlos.

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Zum gegenwärtigen Stand der Forschung existiert aber – unabhängig von der Frage der Zugrundelegung konstruktivistischer oder anderer Annahmen – kein in der scientific community etablierter einheitlicher Kriterienkatalog, anhand dessen sich qualitative Untersuchungsmethoden messen lassen könnten, obwohl qualitative Forschung im Kontext der Postmoderne-Diskussion als aktuell gelten kann (Marquardt 2006, 304). Mit ihr rücken zunehmend soziale Phänomene wie subjektive Erlebensweisen und Handlungsmuster, die obendrein häufig als Einzelfälle betrachtet werden müssen, in den Blickpunkt; Phänomene, die mit rein statistischen Methoden nicht erfasst werden können.

Die wissenschaftstheoretischen Sonder- bzw. Eigenstellung qualitativer Forschung verlangt gemäß Steinke (2004, 319) nach eigenständigen Kriterien. Dabei sieht sie konstruktivistische Ansätze als „eine geeignete Plattform für die Formulierung eines konsistenten erkenntnistheoretischen und methodologischen Rahmens für die Entwicklung von Qualitätskriterien qualitativer Forschung [...]. Die Ergebnisse qualitativer Arbeiten werden als Produkte verschiedener Entscheidungs- und Konstruktionsleistungen innerhalb des Forschungsprozesses aufgefasst“ (Steinke 2004, 322).

Im Folgenden sollen in der Literatur (insb. Steinke 2004, Marquardt 2006, Flick 2004a,b) angeführte und für diese Arbeit relevante Kriterien konstruktivistisch-qualitativer Forschung aufgestellt und erläutert werden. Sie müssen Wege der Operationalisierung bereitstellen, die eine konkrete Anwendung von Kriterien auf diese Arbeit ermöglichen. Vorab aber noch einige Anmerkungen zum Forschungsdiskurs unter sozialkonstruktionistischen Aspekten.

4.8.2.1 sozialkonstruktionistische Aspekte des Forschungsdiskurses

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Konstruktivistische qualitative Forschung hat mit Konstrukten zu tun und ihre Darstellung samt Ergebnis stellen selbst sprachlich vermittelte Konstrukte dar – und zwar in sozialen Umfeldern. Die geforderten Qualitätskriterien müssen deshalb insb. die Rekursivität von Sprache, Denken und Wahrnehmung sowie Selbstreflexion berücksichtigen. Darüber hinaus verfolgt der Sozialkonstruktionismus grundsätzlich als „Zielperspektive die Entmystifizierung und Entontologisierung der psychosozialen Realität“ (Berger 1993, 195).

Zu den sozialen Umfeldern soll unter sozialkonstruktionistischem Aspekt auf zweierlei hingewiesen werden. Erstens, heißt (Veränderungen in) Konstrukte(n) und Diskusformen von Pädagogen zu bewerten, immer auch „Muster kulturellen Lebens zu bewerten“; wobei solche Bewertungen „anderen kulturellen Enklaven Gehör“ schaffen können (Gergen zitiert nach Flick 2004a, 154). Im hiesigen Fall kann also die systemisch-konstruktivistische Erzählung als eine neben anderen verstanden werden, die hier in den Rückmeldungen der Weiterbildungsteilnehmer ‚Gehör finden’ oder auch nicht finden kann (ebenso wie andere Erzählungen auch. Ich sehe momentan die systemisch-konstruktivistische Narration nicht als die dominante im Schul- oder sozialwissenschaftlichen Forschungsalltag.98)

Zweitens, wird auch die Beachtung, die eine bestimmte Narration in einer Wissenschaftsgemeinde99 oder in der Schulpraxis findet, sozial vermittelt, verhandelt, konstruiert. Insofern wird einerseits in den Interviews mit den Weiterbildungsteilnehmern nach Abschluss der Seminarreihe auch zu fragen sein, inwieweit Veränderungen in ihrem Denken und Handeln sich vielleicht in ihrem jeweiligen Schulumfeld auswirken. Dabei kann es sich um für das Gesamtsystem zunächst eher unscheinbare Momente handeln, die eben nicht (sofort) das Gesamtsystem revolutionär umkrempeln, die aber dennoch für die Handelnden einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht, für sie also relevant ist und dabei (vielleicht auch nur kleinere, aber immerhin) Auswirkungen auf das System zeitigt. Andererseits kann man die Frage aufwerfen, ob bzw. inwieweit vielleicht in Forschung und/oder Schule ein grundlegender Paradigmenwechsel der Erzählungen beginnt. Zwar kann dies nicht von dieser Arbeit beantwortet werden. Die Vermutung des Paradigmenwechsels hin zu systemisch-konstruktivistischem Denken ist aber insofern nicht abwegig, als ich im Kapitel über gesellschaftliche Veränderungen in idealtypischer Weise versuchen werde aufzuzeigen, wie in postmodernen, westlichen Gesellschaften sich ein anderes Denken zu entwickeln beginnt. Bereits Kuhn (2002) hatte aufgezeigt, dass Paradigmenwechsel - wie Umschwünge in Systemen - eher punktuell passieren. Der Leser sollte mithin beim Lesen dieser Arbeit beachten, dass, „inwieweit eine bestimmte Erklärung der Welt oder des Selbst über die Zeit aufrechterhalten wird, [...] nicht von der objektiven Validität der Erklärung, sondern von den Eventualitäten sozialer Prozesse ab[hängt]“ (Gergen zitiert nach Flick 2004a, 154).

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Es folgt nun die Erläuterung der für diese Arbeit relevanten Kriterien konstruktivistisch-qualitativer Forschung: intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Angemessenheit des Forschungsprozesses, empirische Verankerung, Limitation, Kohärenz, Relevanz und Viabilität, reflektierte Subjektivität und schließlich die Erweiterung von Deutungsrahmen.

4.8.2.2 intersubjektive Nachvollziehbarkeit

Dieser Aspekt bezieht sich auf die transparente Dokumentation des Forschungsprozesses, die externen Beobachtern die Möglichkeit geben muss, die Schritte der Untersuchung so nachzuvollziehen, dass sie die aus dem Prozess hervorgehenden Ergebnisse selber bewerten können. Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Ergebnisse werden nach Marquardt dadurch nachgewiesen, dass der Leser Einsicht in den vollständigen Forschungsprozess erhält und ihn auf Fehler hin überprüfen kann (Marquardt 2006, 304). Steinke betont, dass es sich dabei lediglich um intersubjektive Nachvollziehbarkeit und nicht um intersubjektive Überprüfbarkeit in dem Sinne handelt, dass, wie für quantitative Verfahren geltend, eine identische Replikation einer durchstandardisierten Untersuchung möglich wäre (Steinke 2004,324; König 2003, 93).

Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit gehört auch die Bennennung und Erläuterung des Vorverstän d nisses des Forschers. Dies ist aus sozialkonstruktionistischer Sicht nötig, da mit den Praxistraditionen verschiedener Forschungsrichtungen bzw. –gemeinschaften auch unterschiedliche implizite Prämissen, Werte, Ideale und Handlungslogiken vorliegen (Gergen 2006, 27f), die explizit gemacht werden müssen. Dazu gehört nicht nur der Hinweis auf den in dieser Arbeit verwendeten systemisch-konstruktivistischen Ansatz als theoretischem Verständnisrahmen für die Konzeption der Weiterbildung sowie des Forschungsprozesses. Sondern dazu gehört auch, dass die Ideen für das Curriculum der Weiterbildung sowie die Thesen für die mögliche Veränderung von Konstrukten der Teilnehmer in dieser Dissertation selber idealtypisch entwickelt werden (Kap.5-13). Dabei spielen u.a. Strukturen und Bildungsanforderungen postmoderner Gesellschaften genauso eine Rolle wie Organisationsstrukturen von Schule in der BRD, neue und alte pädagogische Erzählungen und Anregungen aus dem systemisch-konstruktivistischen Beratungsbereich.

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Insbesondere die Kapitel 4 bis 8 explizieren das (Vor-)Verständnis des Hauptforschers. Dieses Vorgehen ist insofern sinnvoll und notwendig, als die Annahmen des Hauptforschers seine Wahrnehmungen und Entscheidungen beeinflussen und daher bekannt gemacht werden müssen. Die Mitteilung des Vorverständnisses erleichtert den Lesern den Nachvollzug und ermöglicht ihnen eine Bewertung darüber zu treffen, ob die Studie Neues zutage fördert und ob der Hauptforscher bereit dazu war und neugierig danach gesucht hat, seine Vorannahmen und sein Vorwissen aufzudecken und irritieren zu lassen (Steinke 2004, 324f).

In den Bereich der Transparentmachung des Forschungsprozesses gehört auch die Dokumentation von Erhebungsmethoden und Erhebungskontext (hierbei geht es insb. um die Glaubwürdigkeit der Interviewäußerungen) sowie um die Dokumentation der Auswertungsmethoden, die eine Bewertung der Interpretation des Hauptforschers ermöglichen (Mayring 2004, 585). Diesen Fragen ist Kap. 4.10 gewidmet, in dem auch entsprechende methodische Entscheidungen aufgezeigt und begründet werden.

Geertz spricht in diesem Zusammenhang des Postulates der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit von der „Bürde der Autorschaft“. Damit meint er, dass der Wissenschaftler der moralischen Verpflichtung zur Sorgfalt unterliegt, „die eigene Autorschaft im Text sichtbar werden zu lassen, die eigenen Vorstellungen, Perspektiven und Kompetenzen offen zu legen“ (Geertz zitiert nach Mayring 2004, 585f). Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit gehört es auch, die Kriterien, denen die Arbeit genügen soll, anzuführen. Dem gilt das gesamte Kapitel 4.8.2 ‚Bewertungskriterien’.

4.8.2.3 Angemessenheit des Forschungsprozesses

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Die Angemessenheit des Forschungsprozesses100 bezieht sich auf mehrere Aspekte. Für diese Arbeit legt die Fragestellung, wie gesehen, einen qualitativen Zugang nahe, da es um die Erfassung und Auswertung subjektiver Erlebensweisen geht. Dass die angewandten Methoden gegenstandsangemessen sind, dass der Hauptforscher insb. mit der Methode systemischen Interviewens umgehen kann, dass den Äußerungen der Untersuchten genügend Spielraum gegeben wird, dass die verwendeten Verfahren das Vorwissen des Hauptforschers irritieren können und dass die Methoden der Erhebung und Auswertung zusammenpassen, wird das Kap. 4.10 aufzeigen.

Explizit muss an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass mir als Hauptforscher die Lebenswelt der Untersuchten vertraut ist, da ich selber seit Jahren als Lehrer an unterschiedlichen Schulen arbeite. Außerdem habe ich am Hessischen Landesinstitut für Pädagogik, im Amt für Lehrerbildung und am Staatlichen Schulamt in den verschiedensten Funktionen gearbeitet und vielfältige Schulen besucht. Darüber hinaus habe ich in der privaten Fortbildungs-, Beratungs- und Coachingarbeit viel mit Lehrern außerschulisch gearbeitet.

4.8.2.4 empirische Verankerung

Da ich einige Hypothesen vor Durchführung der Seminarreihe aufstelle, muss diese Arbeit sicherstellen, dass die Bildung dieser Hypothesen nicht willkürlich verläuft und dass die Überprüfung dieser Hypothesen in den erhobenen Daten verankert ist. Insofern geht es in dieser Arbeit auch um die Frage der empirischen Verifikation von aus theoretischen Annahmen entwickelten Thesen in einem qualitativen Forschungsrahmen.

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Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Sinnhaftigkeit der verwendeten datenerhebenden Methoden verdeutlicht werden kann sowie dass hinreichende Textbelege (hier Kap.18-24) die Aussagen und Interpretationen des Hauptforschers stützen können. Marquardt betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Authentizität der erhobenen Daten. Damit meint er, dass die Daten sich auf das subjektive Erleben der befragten Mitforscher beziehen müssen, also auf den konkreten Alltag (Marquardt 2006, 305). Schon Schütz (1971f) hatte darauf hingewiesen, dass die Konstruktionen des Forschers in den Konstruktionen der Untersuchten bzw. Interviewten begründet sein müssen und dass diese Begründetheit nachvollziehbar wird.

Eine kommunikative Validierung kann sowohl parallel durch die Mitforscher in den Interviews stattfinden als auch anschließend im Diskurs über diese Untersuchung in der größeren Forschungsgemeinde.

4.8.2.5 Limitation

Der Begriff der Limitation bezeichnet die Frage nach den Grenzen des Geltungsbereichs, also der Verallgemeinerbarkeit, einer Studie. Dabei gilt, dass, wenn alle und sehr spezifische Bedingungen der Untersuchung für eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Kontexte erfüllt sein müssen, Ergebnisse kaum verallgemeinerbar sind.

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Im Fall der vorliegenden Arbeit geht es um eine Pädagogengruppe aus verschiedenen Schultypen, unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechts, die nicht speziell ausgewählt wurden, sondern sich von sich aus zu Thema und Weiterbildung angemeldet haben. Insofern die Teilnehmer keine Repräsentanzkriterien im Sinne einer prozentualen Spiegelung der deutschen Lehrerschaft und Schullandschaft erfüllen können, muss unter dem Aspekt der Repräsentanz eine Limitation anerkannt werden, wie sie aber typisch für qualitative Studien ist.

Auf der anderen Seite decken die Fortbildungsteilnehmer in der Gesamtheit der Einzelfälle ein breites Spektrum insb. auch an Schultypen ab. Das ist insofern interessant, als systemische Weiterbildungen häufig gerade im förderpädagogischen Sektor stattfinden (z.B. Jäpelt 2004). Insofern kann vermutet werden, dass die mit dieser Doktorarbeit vorliegende Untersuchung Rückschlüsse für systemisches Arbeiten in diversen Schultypkontexten ermöglicht. Unter diesem Aspekt kann mithin eine breitere Aussagekraft, keine enge Limitation, für diese Arbeit beansprucht werden. Hierin liegt auch eine wesentliche Besonderheit dieser Untersuchung im Vergleich zu anderen systemisch-konstruktivistischen Studien im Bereich von pädagogischer Tätigkeit in Schule. Da diese Fortbildung schon allein durch ihre Dauer und die Tatsache, dass die Teilnehmer selber zahlen müssen, ein hohes Maß an Eigenmotivation voraussetzt, besteht allerdings die Gefahr, dass weniger innovative Kollegen dadurch unterrepräsentiert sein könnten (dazu Altrichter u.a. 2003, 656).

4.8.2.6 Kohärenz

Das Kriterium der Kohärenz (Steinke 2004, 330), d.h. der wechselseitigen Bezogenheit und des logischen Zusammenhangs wissenschaftlicher Aussagen, bezieht sich, erstens, auf verwendete ebenso wie auf generierte Theorie. Ich habe bereits angeführt, dass systemisch-konstruktivistische Theorien in Teilen Unterschiede aufweisen. In einem konstruktivistischen Sinne erweitert die Heranziehung diverser Spielarten systemisch-konstruktivistischer Modelle die Optionenvielfalt. Darüber darf nicht übersehen werden, dass es Teilaspekte zwischen ihnen gibt, die nicht unmittelbar kompatibel sind, sondern letztlich unterschiedliche Aspekte von ‚Wirklichkeit’ betonen. An anderer Stelle habe ich bereits Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen systemisch-konstruktivistischen Ansätze aufgeführt (Kap. 4.5.1f).

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Zweitens, verweist das Kohärenzkriterium darauf, dass mit in der Arbeit auftauchenden Widersprüchen umgegangen werden muss und dass ungelöste Widersprüche und offene Fragen, wenn nicht geöst, so doch zumindest deutlich benannt werden müssen.

4.8.2.7 Relevanz und Viabilität

Der Maßstab der Relevanz bezieht sich auf die Frage des pragmatischen Nutzens einer Untersuchung. Erkenntnisgewinn im Sinne verknüpfter Kategorien oder ganzer Theorien manifestiert sich in konkreten „Problemlösungsstrategien im Kontext soziokultureller Umwelten“ (Moser 2004b, 21)101. Es geht um die Frage, inwieweit in der Auswertung der Weiterbildungsreihe manifest wird, dass die Fragestellung der Untersuchung sowie die neu gemachten Erfahrungen für die Mitforscher relevant sind.102 Systemisch-konstruktivistisch kann insofern auch und sollte m.E. eher von ‚Viabilität’ gesprochen werden, da die in den Fortbildungstagen bei-gesteuerten’ Anregungen nur dann von den teilnehmenden Mitforschern übernommen werden, wenn sie in (vom Hauptforscher als Anregungen gemeinten) Schallwellen, Bildern und Schriftzeichen auch ‚wirk-lich’ Nützlichkeit für den eigenen schulischen Alltag erkennen meinen.

Zur Relevanz gehören damit auch Fragen wie z.B. die nach der Fähigkeit der Untersuchung oder Theorie, nützliche Erklärungen für interessierende Phänomene anbieten oder hilfreiche Problemlösungen anzuregen zu können (Steinke 2004, 330). Diese Frage muss ihre Antwort in der Auswertung der Untersuchung bzw. Befragung der Seminarteilnehmer finden. Da die Teilnehmer der Weiterbildung wahrscheinlich bei den abschließenden Interviews neben Beschreibungen von erlebten Veränderungen auch Erklärungen für diesen Wandel abgeben werden, die sich auf die Inhalte und Form der Weiterbildung selbst beziehen können, werden in Kap.13 und 16 Inhalte und Ablauf der Seminarreihe entwickelt und dargestellt.

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Für systemisch-konstruktivistische Forschung gilt wegen der von ihr postulierten generellen Kontextabhängigkeit von Bedeutung grundsätzlich, dass ihre Forschungsergebnisse soziale Konstruktionen darstellen, deren Angemessenheit nur von begrenzter Dauer ist und nur in bestimmten Kontexten behauptet werden kann (Leriche 2005, 74).

4.8.2.8 reflektierte Subjektivität

Unter systemischen Gesichtspunkten eine ganz zentrale Messgröße ist das Kriterium des Bewusstseins der Reflexivität der eigenen Forschung. Dabei handelt es sich um die Fragestellung, inwiefern die die Wirklichkeit der Forschungsarbeit (mit)konstituierende Rolle des Hauptforschers als Subjekt und als Teil der sozialen Welt, die er erforscht, von ihm methodisch sowie in Theorieanwendung und –bildung reflektiert wird (Steinke 2004, 330f). Ist eine Eigenbeteiligung am Objekt durch den beobachtenden Forscher nicht zu vermeiden, muss mit ihr bewusst umgegangen werden, muss versucht werden, sie auf einer Metaebene kontrollierend im Blick zu halten (Pfeffer 2004, 69). Konstruktivistische Methodologie zeichnet sich dann „durch die Reflexivierung operativer Momente des Erkenntnisprozesses bei der Entwicklung theoretischer und methodischer Verfahren aus“ (Moser 2004b, 12).

Der Forschungsprozess muss dementsprechend von Selbstbeobachtung begleitet und letztere dokumentiert werden. Hierzu gehört das Aufzeigen des Rahmens (Prämissen, theoretischer Rahmen usw.), aber auch z.B. Reflexionen während des Einstiegs in die Fortbildung und während der Durchführung der Seminarreihe. Diese Dissertation dokumentiert dementsprechende Selbstbeobachtungen, die ich im Zusammenhang mit der Darstellung der Seminarreihe schildere, in Kap.16. Achtsam muss der Hauptforscher hierbei für sich selber die Ebenen von erlebtem und erzähltem Leben – jeweils der Mitforscher und bei sich selbst - trennen (vgl.Abb. 4-11, S. 76).

▼ 87 

Zum Bereich der reflektierten Subjektivität gehört es schließlich auch, einige Ausführungen über die persönlichen Voraussetzungen für die Erforschung des Gegenstands auszuführen (Steinke 2004, 331). So bin ich selber seit gut zehn Jahren als Referendar und Lehrer an verschiedenen Schulen tätig, ganz überwiegend in den westlichen Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz, habe aber auch vier Monate in Thüringen gearbeitet. Mit gymnasialer Ausbildung war ich überwiegend an Tagesgymnasien eingesetzt, arbeite nunmehr seit drei Jahren an einer Abendschule, dort auch im Real- und Hauptschulbereich. Meine Sichtweisen sind beeinflusst durch diverse jeweils mehrjährige Fortbildungen u.a. in systemischer Therapie und Beratung, in Gesprächs- und Focusingberatung, in Schulmediation, in Schulberatung, in Schulleitungscoaching und im Spiel- und Improvisationssystem ACT&be (Theatermethode). Daraus resultierten meine Tätigkeiten beim Hessischen Landesinstitut für Pädagogik, beim Amt für Lehrerbildung (Hessen) und beim Staatlichen Schulamt (Gießen-Vogelsberg/ Hessen). In diesen Institutionen habe ich in diversen Programmen gearbeitet, insb. zur Gewaltprävention/ Mediation, zur Schulorganisationsentwicklung, zur Elternarbeit und im Coachingbereich. Dazu kommen eigene Fortbildungen diverser Art und Themen für Pädagogen, darunter Langzeitfortbildungen wie die hier untersuchte. Tätigkeiten als Beratungslehrer und die ehrenamtliche regelmäßige Arbeit in einer Beratungsstelle haben intensiven Kontakt mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Pädagogen (auch in Leitungsfunktion) gebracht, die regelmäßig supervidiert werden.

All diese Erfahrungen fließen in die hier vorgestellte Arbeit ein, auch schon bei der Konzeption der Seminarreihe. Teil meiner subjektiven Erfahrung als Lehrer war und ist, dass mit Haltungen und Methoden allein aus der humanistischen Psychologie für den Pädagogen ein Selbstcoaching bzw. ein angemessenes Handeln im schulischen Bereich nicht ausreichend zu erzielen ist. Das schließt nicht aus, dass mitforschende Teilnehmer dies anders für sich erfahren können.

Fortbildungssituationen mit Pädagogen und offene Situationen wie ein systemisches Interview sind mir vertraut. Die Herstellung von vertrauensvoller Atmosphäre zwischen Forscher und mitforschenden Interviewten erscheint mir daher möglich, muss aber u.U. an gegebenen Stellen in den Bereichen der Selbstbeobachtung und der teilnehmenden Beobachtung reflektiert werden. Vertrauen heißt auch, von Anfang an darüber zu informieren, dass über diese Fortbildungsreihe eine Doktorarbeit vom Hauptforscher geschrieben wird, um welche Forschungsfrage es dabei geht und dass am Ende reflektierend-auswertende Interviews vorgesehen sind. Auch über den Status der Seminarteilnehmer als Mitforscher muss aufgeklärt werden (Pfeffer 2004, 85f). Zusätzlich wird versucht, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, indem die auswertenden Abschlussinterviews freiwillig sind. Die hohe Bedeutsamkeit von Vertrauen zwischen Haupt- und Mitforscher gilt auch für die zu führenden systemischen Forschungsinterviews (Kap.4.10.4).

4.8.2.9 Erweiterung von Deutungsrahmen

▼ 88 

Nach Mayring unterliegt qualitative Forschung noch einem weiteren Aspekt, den auch Gergen betont. Mayring übersetzt die Frage nach Validität als Frage, inwieweit ein Forschungsbeitrag die Erweiterung von Diskussions- und Deutungsrahmen sozialer Wirklichkeiten im Sinne einer Vermehrung von Wirklichkeitsoptionen bzw. Erzählungen ermöglicht (Mayring 2004, 586). Wirklichkeit wird, konstruktivistisch gesehen, zugänglich über Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Perspektiven (Flick 2005, 323), was auch innerhalb einer wissenschaftlichen Forschungsrichtung gilt (Gergen 2006, 31). Diversität spiegelt Ressourcen. Gerade im Bereich der pädagogischen und psychologischen Kindheitsforschung kommt man mit einem Ansatz nicht aus: „Kindheit ist ein Phänomen, dass viele Beobachter und unterschiedliche Perspektiven benötigt“ (Reich 1998c, 19). Schon v.Foerster hatte darauf mit seinem ethischen Imperativ hingewiesen, indem er verlangte, man solle stets so handeln, dass die Anzahl an Möglichkeiten wachse (Foerster 1993, 49).

4.9 angestrebter Standardisierungsgrad

Mit dem Kriterium des Grads an Standardisierbarkeit und Kontrolle fragt Flick (2004b, 261) nach dem Eingrenzungsgrad der Fragestellung und nach der Intensität der Festlegung der Vorgehensweisen. Hierbei unterscheidet er straffe Forschungsdesigns mit eng begrenzten Fragestellungen, engen Verfahren und begrenzter Feldoffenheit von lockeren Designs mit wenig festgelegten methodischen Vorgehensweisen auf neuen Feldern mit relativ unentwickelten Begrifflichkeiten. Diese Arbeit befindet sich auf diesem Kontinuum eher im Mittelfeld und bleibt damit sowohl handhabbar wie aussagekräftig.

Nachdem nun eine Vielzahl wichtiger Aspekte systemisch-konstruktivistischer, qualitativer Forschung entfaltet worden sind, kann das methodische Vorgehen auf diesem Hintergrund umfassend dargestellt werden.

4.10 methodisches Vorgehen

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Ziel dieser Arbeit ist die Untersuchung von Veränderungen kognitiver Konstrukte. Es ist mithin zwischen den Konstrukten vor und nach der Seminarreihe zu unterscheiden. Insofern lassen sich zwei Zeitpunkte unterscheiden, die methodisch berücksichtigt werden müssen, um einen Vergleich zu ermöglichen. Den Auswertungsschwerpunkt bilden freiwillige Einzelgespräche mit den mitforschenden Seminarteilnehmern, in denen u.a. auf eine schriftliche Befragung eingegangen werden soll, die zu Beginn der Fortbildung stattfindet, um es den Teilnehmern leichter zu machen, Unterschiede benennen (und ggf. erklären und bewerten) zu können.

Außerdem erstelle ich im Vorfeld der Untersuchung einige Thesen über systemisch-konstruktivistische Pädagogik und Beratung in der heutigen Schule (Kap.14), die ich aus den Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes sowie aus der gegenwärtigen, korrespondierenden Forschungsliteratur ableite. Diese Thesen sollen auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Da die Forschung zum systemisch-konstruktivistischen Ansatz in Schule (und nicht nur Sonderschule) eher jüngeren Datums ist, suche ich anhand von Interviews mit den Mitforschern zugleich auch nach weiteren Kategorien zur Unterschiedsbeschreibung von Veränderungen und nach einer Erweiterung oder Ausdifferenzierung der Thesen (Kap.17 ff). Eine Prozessreflexion findet u.a. anhand von teilnehmender Beobachtung durch mich als Hauptforscher statt (Kap.16).

Der zu untersuchende Unterschied in der Konstruktorganisation der befragten Mitforscher wird selbst als ein konstruierter betrachtet, wobei die Teilnehmer (epistemologisch notwendig) selbst entscheiden, ob es sich um für sie relevante „Unterschiede, die Unterschiede machen“ (Simon 1999b), handelt. Die Selbstständigkeit ihrer Entscheidung macht sie zu Mitforschern. Da auf den kognitiven Konstruktwandel nicht direkt zugegriffen werden kann, erscheint der Umweg über Kommunikation und Interpretation nötig. Dabei folge ich Flick, der vorschlägt, „dass kognitive Prozesse am ehesten über die Analyse von Diskursen [...] zu untersuchen sind“ (Flick 2004a, 157).

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Sozialwissenschaftliche Analysen, qualitative allzumal, benutzen in diesem Zusammenhang häufig das Medium des Textes: „Texte werden als Texte (z.B. in der Form von Interviews) erhoben, als solche bearbeitet und interpretiert. Schließlich werden auch die Erkenntnisse in Form von Texten dargestellt. Teilweise wird bereits im Gegenstandsverständnis der Text als Metapher oder als Begriff angewendet“ (Flick 2004a, 156), wie z.B. in den konstruktivistisch-narrativen Ansätze in Philosophie und Therapie (Abb. 4-6:, S.60). So setzt z.B. Gergen Personen und Identitäten mit Texten gleich. Texte können auch mit Realitäten gleichgesetzt werden (Flick 2005, 255f).

Es ist also für den Zweck der hier vorliegenden Arbeit wichtig zu fragen, „welche Prozesse der Konstruktion [...] bei der Transformation von Handlungs- und Erfahrungsweisen in Texte [...] ablaufen“ (Flick 2004a, 157). Streng genommen lassen sich hier drei Ebenen unterscheiden (Flick 2004a, 158):

  1. Umsetzen von Erfahrungen der Weiterbildungsteilnehmer in Texte wie z.B. Interviews,
  2. Konstruktion eines auswertenden Textes durch den „Hauptforscher“,
  3. Interpretation dieser Konstruktion durch andere (‚größere Forschergemeinde’) und Rückfluss von deren Interpretation in die Forschungsgemeinde in Form neuer Texte.

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Die ersten beiden Ebenen sind für die Erstellung dieser Arbeit von hoher Relevanz, die dritte bei Rezeption dieser Arbeit: Jeweils sind wichtige Bewertungskriterien wissenschaftlichen Arbeitens (Kap.4.8.2) zu berücksichtigen. Aufgrund des konstruktivistischen Charakters der Texte ist dabei die Frage, inwieweit das Leben und die Erfahrungen in der berichteten Form (Punkt 1) ‚tatsächlich’ stattgefunden haben, allerdings nicht nachprüfbar (Flick 2004a, 162). Bei allen drei Ebenen lässt sich im übrigen zwischen den Aspekten von Inhalt und Form von Erzählungen unterscheiden (Retzer 2002,90 und 2004a,118).

Für folgende Aspekte sind mithin Textproduktionen nötig:

  1. Herleitung und Benennung von Thesen,
  2. Eingangsbefragung der Seminarteilnehmer und Mitforscher,
  3. teilnehmende Beobachtung während der Durchführung der Seminare,
  4. Abschlussinterviews im Anschluss an die Seminarreihe,
  5. Auswertung durch den Hauptforscher.

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Vor allem die Punkte 2 und 4 stellen sicher, dass Äußerungen und Konstrukten der Mitforscher ausreichend Spielraum gegeben wird, so dass die subjektiven Sichtweisen aller Forscher zum Ausdruck kommen können. Die Konstrukte werden dabei insb. untersucht in Bezug auf den alltäglichen beruflichen Kontext der Informanten (Steinke 2004, 327).

Im folgenden soll die Gegenstandangemessenheit der Methoden aufgezeigt werden und die Passung der Methoden der Erhebung und der Auswertung.

4.10.1 Thesenbildung

Wie bereits beschrieben, sollen im zweiten Teil der Dissertation theoretische Denkvoraussetzungen und ihre Implikationen für pädagogisch-beraterische Arbeit an Schulen heute dargestellt und entfaltet werden, aus denen ich in Kap.14 Thesen zur Fragestellung der Dissertation entwickele, die im weiteren Verlauf überprüft werden. Im Zusammenhang mit der Auswertung der Interviews kann nach möglicher Plausibilität und nach Ausdifferenzierungen der Thesen gesucht werden. Beides zu verbinden, ist kein Widerspruch, und wird dadurch ermöglicht, dass die Interviews relativ offen gehalten und anschließend mithilfe einer Inhaltsanalyse reduziert werden (Moser 2004b, 23).

4.10.2 schriftliche Befragung

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Eine kurze schriftliche Befragung anhand einiger weniger Fragen bzw. Anregungen zu Beginn der Fortbildungsreihe soll zwei Ziele ermöglichen. Erstens, soll sie den Mitforschern gestatten, zu einem späteren Zeitpunkt unter Rückblick auf den anfänglich produzierten schriftlichen Niederschlag eigener Kognitionen relevante Unterschiede benennen zu können. Zweitens, wird damit es auch dem Hauptforscher ermöglicht, in der Auswertung der benannten Unterschiede durch die Mitforscher die vorab erstellten Thesen auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen. D.h. die Differenz zwischen (in schriftlicher Form festgehaltener) Ausgangslage und (in mündlicher Textproduktion festgehaltener) Situation bei Seminarende ermöglicht Konstrukte über Richtung und Ausmaß möglicher Lernprozesse.

4.10.3 teilnehmende Beobachtung

Die Methode der teilnehmenden Beobachtung – u.a. als Gegenteil zur Idee einer nicht-teilnehmenden Beobachtung (Flick 2005, 200) – dient dem Hauptforscher dazu, den Nachweis reflektierter Subjektivität während der Durchführung der Fortbildung als Bewertungskriterium qualitativer Forschung zu erbringen (Kap. 4.8.2.8). Während der Realisierung des Seminars sollten vom Hauptforscher Innen- und Außenperspektive zugleich eingenommen und die Position des Systembeobachters mit der persönlich teilnehmenden Beobachtung gekoppelt werden. Es geht bei der teilnehmenden Beobachtung also um eine Reflexion des Prozesses der Seminardurchführung aus einer „produktiven Metaposition“ (Huschke-Rhein 1998b, 36). Zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit müssen die Schritte der Fortbildungsveranstaltung ebenfalls zumindest grobe dokumentiert werden.

Teil der reflexiven Betrachtung durch den Hauptforscher können z.B. Selbstbeobachtung, Reaktionen der Gruppe oder vermutete Auswirkungen des Verlaufs auf die Überprüfung der Thesen sein. Die teilnehmende Beobachtung kann auch wichtige Hinweise auf Probleme im Seminarprozess, die sich aus Sicht des Hauptforschers bei der Umsetzung des Curriculums ergeben, enthalten und diese reflektieren. Sie kann insofern wichtige Implikationen für den Forschungsprozess bereit stellen. Die teilnehmende Beobachtung wird im Zusammenhang mit der Kurzdarstellung des Curriculums ausgeführt (Kap.16).

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Wesentliches Kennzeichen teilnehmender Beobachtung ist der Einfluss des Hauptforschers auf das Beobachtete durch seine Teilnahme (Flick 2005, 206f) – im hier präsentierten Zusammenhang: durch seine Teilnahme am Seminar und an der Reflexion kognitiver Veränderungen. Außerdem bezieht sich Forschung teilnehmender Beobachtung letztlich auf Alltagshandeln (Steinke 1999, 122), hier das berufliche Alltagshandeln in der Schule, in dem sich die Konstrukte der Untersuchungspartner bewähren müssen. Die Verbindung von Außen- und Innenperspektive, Flick spricht von „Distanz trotz Teilnahme“, und die Strukturierung des Gegenstandes unter Einbeziehung anderer wichtiger Personen werden in umgrenzten Feldern durch teilnehmende Beobachtung ermöglicht (Flick 2005, 236).

Der Feldzugang des Forschers in die jeweiligen Schulen der Teilnehmer wäre zwar ebenso wie eine zusätzliche Befragung der betroffenen Schüler wünschenswert gewesen, ließ sich aber angesichts der zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht leisten. Beides hätte allerdings an der Tatsache nichts geändert, dass auch dann die zu untersuchenden Konstrukte im Kopf der Seminarteilnehmer nicht unmittelbar zu beobachten gewesen wären. Dass „nicht alle Phänomene in Situationen beobachtbar sind“, gehört zu den anerkannten Grenzen auch der teilnehmenden Beobachtung (Flick 2005, 214).

4.10.4 systemische Interviews

Die Einzelinterviews und ihre Auswertung bilden den Schwerpunkt der Untersuchung von Konstruktveränderungen. Sie müssen daher eingehend reflektiert werden. Ziel der Interviews ist die Überprüfung auf Plausibilität von (von mir als Hauptforscher) vorab erstellter Thesen im Sinne von deren möglicher Widerlegung, Ausdifferenzierung, Ergänzung oder Veränderung. Um diese Ziele erreichen zu können, müssen die Interviews einen hohen Öffnungsgrad haben, unterliegen aber der Notwendigkeit, dass der Hauptforscher über Fragen ggf. führen können muss. Suggestion ist dabei - angesichts der Forderung nach reflektierter Subjektivität - im Großen und Ganzen zu vermeiden. Diekmann weist allerdings darauf hin, dass eine suggestive Relativierung gesellschaftlicher und lebensweltlicher Vorstellungen im Kopf des Interviewten, die offene Äußerungen verhindern, hilfreich für den Forschungsprozess ist (Diekmann 2005, 384f). Friebertshäuser ergänzt, dass Suggestivfragen erzählfördernd und unterstützend wirken oder Richtigstellungen herausfordern können (Friebertshäuser 2003aa, 389). Suggestivfragen können modellhaft abgegrenzt werden von Manipulation i.S.v. gezielter und bewusster Fremdbestimmung.103 Grundsätzlich ist mit systemischen Fragen sehr bewusst und mit möglichen Suggestivfragen sehr vorsichtig umzugehen.

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Da qualitative Forschung weniger standardisierbar als quantitative Forschung ist, erhöht die Verwendung von Aspekten kodifizierter Verfahren die Glaubwürdigkeit einer Untersuchung i.S. intersubjektiver Nachvollziehbarkeit (Steinke 2004, 326). Im folgenden werde ich Vor- und Nachteile einiger in der qualitativen Forschung mittlerweile kodifizierter Interview-Verfahren darstellen (Kap.4.10.4.1), um anschließend Notwendigkeit, Legitimität und zu vermeidende Fallen systemischer Interviewführung104 für diese Arbeit darzulegen (Kap.4.10.4.2). Dabei wird deutlich werden, dass das systemische Interview eine Vielzahl wichtiger Aspekte kodifizierter Interviewarten qualitativer Sozialforschung beinhaltet.

4.10.4.1 Parallelen bereits kodifizierter Verfahren mit systemischen Interviews

Zunächst sollen wichtige Aspekte der bereits kodifizierten narrativen und episodischen Interviews als „erzählgenerierende Interviews“ ohne Leitfaden (Friebertshäuser 2003a, 386) dargestellt werden, dann werde ich kurz auf das zurzeit noch weniger etablierte Konstrukt-Interview eingehen. Dabei soll deutlich werden, dass es eine Vielzahl von Parallelen mit dem systemischen Einzel-Interview gibt, mit dem in dieser Dissertation gearbeitet werden soll.

Gemeinsam ist allen Interviewformen, in denen Erzählungen den Zugang zum Forschungsgegenstand bilden, dass die Befragten in starkem Maß „als Experten und Theoretiker ihrer selbst angesprochen und auf [...] Selbstinterpretationen befragt“ (Hopf 2004, 357) werden. Das bedeutet auch, dass ein möglicherweise dominierender Kommunikationsstil oder fehlende Geduld durch den Hauptforscher wenig hilfreich wären (Hopf 2004, 359). Flick (2005, 191f) stellt sechs Kriterien zur Beschreibung verschiedener qualitativer Verfahren auf und kontrastiert narratives105 und episodisches Interview wie folgt tabellarisch:

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Abb. 4-13: tabellarischer Vergleich der Erhebung verbaler Daten bei der methodischen Wahl von Erzählungen als Zugang qualitativer Erhebungen (Auszug aus: Flick 2005, 190f)

Etliche Aspekte der unter den sechs Kriterien genannten Punkte sind in dieser oder anderer Form relevant für die in der hier vorliegenden Arbeit verwendeten systemischen Interviews:

1) Die Einbeziehung subjektiver Sichtweisen der Mitforscher im Fall des hiesigen Forschungsvorhabens beinhaltet die Erzählung von Erfahrungen, die Unterschiede konstruieren. Dabei folgt der Hauptforscher nicht einem standardisierten Fragebogen, er verzichtet aber auch nicht darauf (wie beim narrativen Interview), Fragen zu stellen. „Erzählgenerierendes Nachfragen“ (Hopf 2004, 356) kann also ständig stattfinden und nicht erst nach einer autonom gestalteten, ununterbrochenen Erzählung wie beim narrativen Interview. Der Interviewte muss dabei selber entscheiden, was aus seiner Sicht bedeutsam ist. Dafür braucht er Zeit und ggf. kommunikative Unterstützung

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2) Die Strukturierung des Gesprächsverlaufs und -gegenstands finden in den in der Tabelle genannten Beispielen nur zögerlich statt. Für das hier vorgestellte Forschungsvorhaben der Thesen- und Kategorienüberprüfung und –generierung erscheint es mir aber hilfreich, ggf. stärkere kommunikative Unterstützung geben zu können. Das macht auf einem systemisch-konstruktivistischen Hintergrund auch durchaus Sinn, wie weiter unten zu zeigen sein wird (Kap. 4.10.4.2). Eine Erhebung von Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen in den Erzählungen, wie beim episodischen Interview bereits ansatzweise vorhanden, erscheint wünschenswert.

3) Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen als Teil von Argumentationssträngen müssen allerdings in der Auswertung dann getrennt werden (bei Unklarheiten auch ggf. im Interview über Nachfragen). Gezielte Gesprächsaufforderungen sowie dem Forschungsprojekt einen chronologischen Rahmen gebende Texterhebungen zu Beginn und am Ende der Seminarreihe sind auch für die hier dargestellte Arbeit nützlich.

4) Der Anwendungsbereich dieser Arbeit bezieht sich letztlich auf den schulischen Alltag, nicht auf biographische Verläufe, für deren Untersuchung das narrative Interview entstand.

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5) Eine extrem einseitige Interviewsituation ist für dieses Forschungsvorhaben nicht hilfreich, da Haupt- und Mitforschern aufgerufen sind, gemeinsam zu forschen. Eine Erzählsituation wie im narrativen Interview, in der für lange Zeit der Befragte spricht, ist nicht ausgeschlossen,106 wird aber nicht ausdrücklich benötigt. Gezielte geschlossene Fragen können z.B. für die Überprüfung von Thesen des Hauptforschers hilfreich sein, solange sie nicht zu suggestiver Fremdbestimmung führen.

6) Ähnlich wie von Flick für das narrative Interview angeführt, gilt auch für die hiesige Arbeit die Unmöglichkeit zu überprüfen, ob Erfahrung und Erzählung identisch sind.

Neben narrativem und episodischem Interview soll auch das Konstrukt-Interview107 kurz auf Hinweise untersucht werden, die es für das Vorgehen dieser Dissertation geben kann. Im Konstrukt-Interview geht es, wie für diese Arbeit auch, darum „die subjektiven Konstruktionen der Wirklichkeit eines Gesprächspartners zu einem bestimmten Thema zu erfassen“ (Friebertshäuser 2003a, 385) anhand verschiedener Gestaltungselemente: Leitfragen, freies Assoziieren, Bezugnahme auf andere Personen108, Vergleichsverfahren109, narratives Interview, lautes Denken110, Strukturlegetechniken. Hier finden sich bereits zentrale Aspekte systemischer qualitativer Interviews wie zirkuläres Fragen, Vergleiche111, Interview als subjektive Narration.

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Insgesamt bieten alle drei Interviewarten Aspekte der für die Durchführung dieser Arbeit notwendigen Vorgehensweise, ohne aber dass eine problemlos übernommen werden könnte. Für den Nachweis der Wissenschaftlichkeit dieser Dissertation festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass es immerhin einige Gemeinsamkeiten zwischen narrativen und episodischem Interview mit dem hier nötigen Vorgehen und mit dem systemischen Einzelinterview gibt, das im folgenden näher dargestellt werden soll.

4.10.4.2 systemische Forschungs-Einzelinterviews

Bereits weiter oben (Kap.4.4.3) wurde deutlich, dass Beobachtung bereits Intervention bedeutet. Das gilt für das Führen von Interviews erst recht. Diese Arbeit geht davon aus, dass alle Akte und Unterlassungen im Interview „Aktivitäten innerhalb des Kommunikationssystems [sind]. Alles, was eine Interviewerin in einem Interview beobachten kann, sind deshalb Phänomene, an deren Erzeugung sie beteiligt ist. Die Phänomene, die sie beobachtet, existieren also weder unabhängig von ihr, noch sind sie allein erzeugt“ (Pfeffer 2004, 83). Unter erkenntnistheoretischen Denkvoraussetzungen lässt sich feststellen, dass Forschung nicht anders als Therapie unvermeidbar „durch zielgerichtete Kommunikation Einfluss [...nimmt] auf psychische und/oder soziale Systeme“ (Pfeffer 2004, 84).

Diese Untersuchung will systemisch-konstruktivistisch arbeiten, begegnet aber aktuell noch einem „Defizit an konstruktivistischen Forschungsmethoden“ (Pfeffer 2004, 67) in der Forschungsgemeinschaft. Pfeffer weist allerdings darauf hin, dass das bereits existierende und über Jahre entwickelte Repertoire systemischer Fragen112 ein Interviewverfahren ermöglichen, das speziell auf der Basis konstruktivistischer Konzepte entwickelt worden ist. Wenngleich seine Ausführungen sich in wesentlichen Beispielen auf die Organisationsberatung beziehen (Pfeffer 2004)113, sind sie doch für den hier vorgestellten Forschungszweck verallgemeinerbar bzw. übertragbar. Auch sie sind, wie schon bei den vorherigen Möglichkeiten deutlich wurde, nicht per se nützlich oder unproblematisch. Wichtig ist, ihre Reichweite und ihre möglichen Fallen zu kennen, um ihre Vorteile nutzen und in den Forschungsprozess einbringen zu können.

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Zielsetzungen systemischer Forschungsinterviews ist es, Konstrukte im Kopf des fragenden Hauptforschers – und nicht etwa der Interviewten - angemessen überprüfen und v.a. zu verändern helfen.

Vorteile systemischer Interviewtechniken

Die große Stärke systemisch-konstruktivistischer Interviewtechnik ist, dass sie berücksichtigt,

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  1. dass psychische Systeme nicht unmittelbar einsehbar sind,
  2. dass keine Sichtweise per se eindeutig bestimmbar näher an der Wirklichkeit wäre114 und
  3. dass der Beobachter das Forschungsgeschehen unvermeidbar mit beeinflusst.

Geht man von diesen konstruktivistisch-postmodernen, Wirklichkeit relativierenden Prämissen aus, dann liegt mit dem systemischen Fragerepertoire eine Möglichkeit vor, mit ebendiesen Prämissen im Forschungsprozess bewusst umzugehen.

  1. Aus der Begrenztheit menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit folgt nicht die Unmöglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis (Schnell u.a. 2005, 113). Die Trennung psychischer von sozialen Systemen, die Unterscheidung zwischen erlebtem und erzähltem Leben, ermöglicht es, mit dem Problem umzugehen, dass psychische Systeme nicht unmittelbar einsehbar sind.
  2. Systemisches Fragen, insb. zirkuläres Fragen im engeren Sinn, bietet gute Möglichkeiten mit Polyperspektivität von Beobachterdifferenzen (auch zwischen Haupt- und Mitforschern) umzugehen (Moser 2004b, 15).
  3. Die Gleichsetzung von Beobachtung mit Intervention bedeutet eine „Umstellung auf eine operative Logik der Beobachtung, denn als Operation verweist die Beobachtung sowohl auf den bezeichneten Gegenstand als auch auf den Beobachter, der die notwendige Unterscheidung vornimmt“ (Pfeffer 2004, 69). Das Konzept der (Selbst)Reflexivität ermöglicht hier die Einführung einer Metaebene als ‚selbst-bewusste’ Beobachtung zweiten Grades. Dies differenziert den Forschungsprozess aus und macht ihn genauer.

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Ist eine Eigenbeteiligung am Objekt nicht zu vermeiden, wird es notwendig, sie möglichst bewusst und aktiv zu steuern und einer laufenden Ergebniskontrolle zu unterziehen (Pfeffer 2004, 69f). Königswieser definiert dementsprechend ‚Intervention’ als „zielgerichtete Kommunikation [...] zwischen psychischen und/oder sozialen Systemen, in der die Autonomie des intervenierten Systems respektiert wird. Systemische Intervention könnte eine zielgerichtete Kommunikation genannt werden, in der man sich der prekären Ausgangslage des Versuchs der wirkungsvollen Beeinflussung eines autonomen [...] Systems bewußt ist“ (Königswieser/Exner. 2001, 17). Beobachtung kann dann durchaus auch per Interview stattfinden, in dem Beobachter und Beobachteter nicht anders können, als sich wechselseitig zu beeinflussen.115 Luhmann beschrieb dies als ‚doppelte Kontingenz’, die in der Kommunikation ständig generiert wird.116 Systemische Fragen können sich dabei beziehen auf das beobachtete System als auch auf das System der Beobachtung (Pfeffer 2004, 70,82,90). Dabei befinden sich beide Seiten in einem zirkulären Prozess, in dem Begriffe und Unterscheidungen vorausgesetzt und verändert bzw. ausdifferenziert werden (Luhmann 1994, 99). Systemisch-konstruktivistische Interviews sind ‚erfinderische Interviews’ (Deissler 1988).

Mit Diekmann (2005, 445) kann man systemische Interviews von ihrem Strukturierungsgrad her als „halbstrukturierte Interviews“ bezeichnen, in denen am Alltagsgespräch anknüpfend eine vertraute Gesprächsatmosphäre geschaffen wird, so dass tiefere Kenntnisse erreichbar sind als mit rein standardisierten Methoden.117

allgemeine Charakteristika systemischer Interviewtechniken

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Diese Sichtweise erlaubt es im Interview, nicht nur nach inneren Prozessen der Interviewten zu fragen, sondern auch und gerade, Phänomene in den Kontext von Beziehungen zu stellen und als Produkt von Kommunikationsleistungen zu sehen. Daher macht es Sinn, explizit nach individuellen Beobachtungen zu fragen - unter möglicher Differenzierung von Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen sowie von inneren Prozessen, Beziehungsgestaltungen und Sichtweisen mit Außenperspektive. Ebenso kann nach entsprechenden Schlüsselwörtern (z.B. ‚Verantwortung’) in den Erzählungen gesucht werden, wobei diese Kategorien im Interview ggf. in (Verhalten in) Beziehungskontexte(n) übersetzt werden können (z.B. ‚Wenn Sie sagen, Sie meinen an sich zu beobachten, dass Sie weniger Verantwortung übernehmen: in welchen Situationen mit wem, wann ist das denn am ehesten der Fall?’ (vgl.Pfeffer 2004, 76f) ). Kognitions-, Handlungs- und Kommunikationssysteme können auf diese Weise indirekt rekonstruiert und beschrieben werden, und zwar auf der Ebene von Individuen (z.B. der einzelne Lehrer) wie von Gruppen (z.B. eine Klasse, das Kollegium) oder Organisationen (z.B. das Schulhaus).

Der systemisch-konstruktivistische Ansatz legt es zudem nahe, verschiedene Beobachter zum gleichen Thema zu befragen mit dem Ziel, Differenzen von Beobachterperspektiven als Informationsquelle zu nutzen, bis hin zur Aufforderung, sich in die Position eines anderen Beobachters zu begeben (‚Was glauben Sie, wie ihre Schüler das sehen würden?’). Dabei können nicht nur kausale Erklärungen verwendet werden sondern v.a. auch Beschreibungen zirkulärer Zusammenhänge. Hier sind die ‚zirkulären Fragen’ im engeren Sinne hilfreich, die inzwischen auch in Einzelinterviewsituationen angewandt werden (Boscolo/Bertrando 1994).

Pfeffer geht soweit, auch hypothetische Fragen für Forschungsinterviews anzuerkennen, um „die Handlungsspielräume der Kommunikationspartner und die alternativen Wirklichkeiten der Kommunikationssysteme zu untersuchen“ (Pfeffer 2004, 81). Damit wäre auch eine Rekonstruktion (im Interview) von konstruierten Möglichkeitsräumen (der Teilnehmer) gangbar, die auf Zukunftseinschätzungen verweisen (Krämer 2003, 460) - wobei die Möglichkeitsräume, um relevante Ergebnisse für die hiesige Untersuchung zu bringen, von den Mitforschern der Veränderung im Zusammenhang mit der Seminarreihe zugerechnet werden müssten.

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Sinnvoll kann der Einsatz von hypothetischen, Skalierungs-, Bewertungs- und anderen Fragen sein, um die Mitforscher dabei zu unterstützen, für sich mehr Klarheit über (die Veränderung) eigene(r) Konstrukte zu erlangen. Hypothetische Fragen vermögen auch, auf das letztlich immer auch Spekulative von Wirklichkeitskonstrukten einzugehen und so Kontingenz zu berücksichtigen. Sie dürfen allerdings vom Hauptforscher nicht missbraucht werden, eigene Hypothesen doch noch über einen suggestiven Gebrauch von hypothetischen Fragen bestätigt zu bekommen, wenn der Interviewte das bis dahin nicht getan hat. Systemische Fragen beinhalten auch ansatzweise quantitative Elemente, wie z.B. Skalierungen. Diese können sehr einfach, wirksam und schnell Unterschiede verdeutlichen, wobei sie, konstruktivistisch konsequent, zunächst inhaltsfrei verwendet werden können (Pfeffer 2004, 77; G.Schmidt 2004b). Auch Strukturlegeverfahren oder Visualisierungen können verwendet werden, wenn sie der Verdeutlichung helfen.

Systemisches Fragen zeigt „Möglichkeiten, wie die Auslegung von Kommunikation angereichert und unterstützt werden kann: durch Kommunikation über Kommunikation“ (Pfeffer 2004, 80). Die Einführung einer solchen Metaebene kann zwar Missverständnisse nicht ausschließen, aber verringern. Außerdem ermöglicht sie die - für das Vorgehen dieser Forschungsarbeit nötige - Kommunikation über individuelle Wirklichkeitskonstruktionen. Da es letztlich um die Eruierung und den Abgleich individueller Konstruktionen geht, muss der Interviewer und Hauptforscher nicht die ‚richtige’ oder einzig gültige Erklärung finden, sondern untersuchen, „welche Erklärung für wen wirksam ist“ (Pfeffer 2004, 80, Hvg. im Orig.).

Systemisches Fragen „ermöglicht die Beobachtung von sich selbst beschreibenden Systemen, indem es deren Selbstbeschreibungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. [...] Gleichzeitig verlangt es nach einer Differenzierung der Perspektiven und eröffnet damit die Möglichkeit eigener, selbstdisziplinierender Beobachtungsperspektiven“ (Pfeffer 2004, 89). Ein solches Vorgehen verändert bzw. erweitert den klassischen Wissenschaftsbegriff der Moderne (Moser 1996)118, wobei Schwerpunkte auf der „prozessualen und relationalen Auffassung wissenschaftlicher Tätigkeit“ (Moser 2004b, 13, Hvg. i.Org.) liegen.

▼ 105 

Haltungen und Methoden systemischen Interviewens

Auf folgende systemische Haltungen und Methoden muss der Hauptforscher beim Führen der Interviews besonders achten (vgl. auch Kap.4.5.9):119

▼ 106 

Da systemische Fragetechniken gezielt, eingegrenzt und bewusst eingesetzt werden müssen, ist es eine Voraussetzung für ihre Anwendung, dass der Hauptforscher z.B. über entsprechende Ausbildungen dazu befähigt ist, was bei mir der Fall ist (systemischer Therapeut und Berater (SG) ).

Für den gegenwärtigen Forschungsstand gilt sicherlich, dass systemische Interviewtechniken trotz ihrer hohen Reflektiertheit noch nicht fest etabliert sind. Für die Durchführung solcher Interviews mit den Mitforschern sehe ich aber insofern nicht das Problem, dass diese Art der Interviewführung zu ungewöhnlich wäre, da sie konstruktivistische Prämissen und systemische Fragen aus der Fortbildung kennen. Obendrein besteht auch die Möglichkeit, sie ggf. auf Metaebene zu erläutern.

Zielsetzung systemischer Interviews

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Zielsetzung systemischer Fragetechniken im Bereich der Forschung für das beobachtete System ist es, über bewusste, eingegrenzte und akzeptable Fragen (Königswieser/ Exner 2001, 17) Mitforscher dabei zu unterstützen, für sich mehr Klarheit über eigene Konstrukte – im Fall dieser Arbeit: über deren Veränderung - zu erlangen.

Zielsetzung systemischer Fragetechniken im Bereich der Forschung für das beobachtende System ist es, über Kommunikation Bestätigungen aber insb. auch Veränderungen beim Hauptforscher zu ermöglichen, so dass Thesen mit vorläufiger Plausibilität versehen oder neu konstruiert werden können. Der Ziel-Schwerpunkt systemischen Fragens liegt bei der Veränderungsmöglichkeit von Konstrukten des beobachtenden Hauptforschers (Pfeffer 2004, 80,84). Zielsetzungen systemischer Forschungsinterviews ist es also, Konstrukte im Kopf des fragenden Hauptforschers angemessen und reflektiert zu verändern helfen. Das kann sich auf seine Handlungen auswirken, indem er z.B. während des Interviews bestimmte Fragen stellt oder anschließend, z.B. auch aufgrund der Textanalyse, Thesen oder gar Grundideen überarbeitet.

Damit können systemische Interviews, die der Entfaltung des Forschungsgegenstands auf indirektem Wege dienen, grafisch121 folgendermaßen dargestellt werden:

▼ 108 

Abb. 4-14: Beziehungsgestaltung und Gegenstandsentfaltung im systemischen Interview

4.10.5 qualitative Inhaltsanalyse

Wie schon im Schaubild ersichtlich, müssen die im Interview gewonnenen bzw. konstruierten Daten ausgewertet werden, um zum Forschungsziel gelangen zu können. Diese Aufgabe erfüllt die qualitative Inhaltsanalyse. Das Verfahren der Inhaltsanalyse zur systematischen Auswertung qualitativer Interviews und subjektiver Sichtweisen ist als „eine der klassischen Vorgehensweisen zur Analyse von Textmaterial“ (Flick 2005, 279) bekannt und gut dokumentiert. Es gilt als „durchsichtig, nachvollziehbar, leicht erlernbar und gut [...] übertragbar“( Mayring 2004, 474).122 Die Methode eignet sich „vor allem für die reduktive und an der Klassifikation von Inhalten orientierte Auswertung von großen Textmengen“ (Flick 2005, 282). Es muss also zu einer Systematisierung des Datenmaterials kommen: die umfangreichen Texte müssen auf Inhalte und Kategorien reduziert werden, die im und für den Forschungsprozess relevant sind. Dabei ist das zu analysierende Material im Kommunikationszusammenhang zu sehen und zu interpretieren (Flick 2004, 287).

Hierfür ist es hilfreich, sowohl die vorab modellartig aufgestellten thesenartigen Vermutungen als auch im Anschluss an die Interviews neu zu gewinnende Kategorien zu benutzen. Diese Kategorien bilden das „Kernstück jeder Inhaltsanalyse“ (Diekmann 2005, 489) und müssen sich auf die Fragestellung(en) beziehen. Sie können während der Analyse in Rückkopplungsschleifen über- und herausgearbeitet und unter Überkategorien subsumiert werden. Während Mayring klare Phasentrennungen für qualitative Inhaltsanalysen entwirft, hält Diekmann eine parallele Bearbeitung verschiedener Aufgaben für nützlich und ebenso zulässig (Mayring 2004, 472f.; Diekmann 2005, 512).123

▼ 109 

Qualitative Inhaltsanalyse, die Inhalte untersuchen und Kategorien entwickeln und ordnend anwenden will, lässt sich ergänzen durch Sequenzanalyse (Flick 2005, 287), die stärker auf den Aspekt der Form bzw. Gestalt des Textes (z.B. eine bestimmte Art der Sprachverwendung) achtet. Flick betont explizit, dass diese Methode „Kognition als soziale und vor allem diskursive Phänomene“ zu analysieren vermag (Flick 2005, 293).124

Letztlich müssen die Daten im strukturellen Zusammenhang ihren Platz haben und als Teile des Gesamtbildes verstehbar sein. Auf diese Weise kann die Forderung nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit (Kap. 4.8.2.2) erfüllt werden.

Der Verständnis des Forschungsprozess differenziert sich zunehmend aus:

▼ 110 

Abb. 4-15: Forschungsprozess – (erweiterte) Darstellung 3

4.11 Dokumentationszeitraum und Gruppe

Die in dieser Arbeit dargestellte und untersuchte Weiterbildung zur systemischen Pädagogik und Beratung in Schule fand statt vom 28. Oktober 2005 bis zum 15. Oktober 2006, also im Zeitraum eines Jahres. Die Veranstaltung lief unter dem Titel: „LehrerIn-Sein ist mehr als unterrichten. Systemische Pädagogik und Beratung in der Schule“ und wurde an insgesamt 15 Tagen mit 90 Zeitstunden (= 120 Beratungseinheiten) an zwei Orten (Religionspädagogisches Amt Gießen (= RPA) und Tagungshaus Schönberg) ausschließlich an unterrichtsfreien Tagen durchgeführt. Die Tagungsdauer war jeweils ein oder zwei Tage. Das RPA in Gießen übernahm die Organisation.

Die ursprüngliche Obergrenze von 12 Personen wurde auf 16 erweitert, als schon unmittelbar vor Beginn der vorgeschalteten Info-Veranstaltung am 7.6.05 die Gruppe ausgebucht war. „Allein das Interesse für systemisches Denken und Handeln“ wurde – in Anlehnung an Mücke (2003, 479) - neben der Kenntnis schulpädagogischer Praxis als „ausreichend“ für die Teilnahme angesehen.

▼ 111 

Die Teilnehmer waren Pädagogen der verschiedenen Schulformen, darunter eine Lehrerin in ‚Mit-Schulleitungs-Funktion’, eine schulische Sozialpädagogin und eine Lehrerin, die zugleich auch Referendare ausbildet. Es waren in der Gruppe die verschiedenen Altersgruppen durchgängig vertreten bei einem deutlichen ‚Frauenüberschuss’. Zwei Teilnehmerinnen stiegen während der ersten Hälfte aus persönlichen Gründen aus, eine dritte erschien (ohne offiziellen Austritt) während der zweiten Phase nicht mehr aufgrund der Begleitung ihres kranken Mannes und der anschließenden Trauerphase nach dessen Todesfall. Von den verbleibenden 13 Teilnehmern waren in den ca. drei Wochen nach Abschluss der Seminarreihe 11 bereit zu evaluierenden Gesprächen.125

Die Zusammensetzung der Gruppe - so der Wunsch des und die Vereinbarung mit dem RPA - war nicht reglementiert, um so eine breite Vielfalt schulischer Wirklichkeiten in der Teilnehmergruppe repräsentiert finden zu können. Vielfalt wurde hier von vornherein als Bereicherung und Chance gesehen. Die Organisation wurde durch das RPA übernommen. Die grundsätzliche Offenheit der Teilnahme (nach Eingang der Anmeldung) führte dazu, dass sich zu Beginn der Gruppe die Situation so darstellte, dass aus einer Schule fünf Teilnehmer kamen (ergänzt durch einen Förderpädagogen, der an eben diese Schule im Verlauf des Jahres ebenfalls wechselte), während alle anderen Teilnehmer die jeweils einzigen Vertreter ihrer Schule waren.126

In vorheriger, nach Kompromissen und voraussichtlicher Durchführbarkeit127 suchender Absprache mit dem Auftraggeber, wurde neben dem Zeitumfang und Kosten auch vereinbart, dass die Interessierten an der Veranstaltung würden teilnehmen können, ohne nebenher Literatur lesen und diese in Arbeitsgruppen bearbeiten zu müssen. Selbstständige Lektüre wurde zwar als wünschenswert angesehen, entsprechende Literatur ins Seminar ein- und mitgebracht, aber angesichts der massiven Veränderungen in der Schule in Hessen mit der gestiegenen hohen Arbeitsbelastung wurde es zum gegebenen Zeitpunkt für unrealistisch gehalten, dass stets alle Teilnehmer bestimmte Themen gelesen oder gar bearbeitet haben würden. Ziel der Fortbildung war ja letztlich auch, zu einer Entlastung der Teilnehmer beizutragen. In einer vorherigen Fortbildungsveranstaltung hatte sich dieses Konzept gemäß den Rückmeldungen der Teilnehmer ausdrücklich bewährt. Eine solche Konzeptionierung der Reihe zielt einerseits auf die Unterstützung der konkreten alltäglichen Praxis, und erhält andererseits die Möglichkeit, theoretische Aspekte in die Veranstaltung einzubringen und dort auch zu vertiefen.

4.12 Forschungsgemeinde

▼ 112 

Mit der Verteidigung sowie später der Veröffentlichung dieser Arbeit werden der gemeinsame Forschungsprozess und seine Auswertung durch den Hauptforscher Teil eines weiterführenden Forschungsprozesses der größeren Forschungsgemeinde. Damit lässt sich ein zweifach gerahmtes, schematisches Gesamtbild des Forschungsprozesses wie folgt erstellen:

Abb. 4-16: Forschungsprozess – Gesamtdarstellung

Teil II – systemisch-konstruktivistische Schulpädagogik

Nachdem in einem ersten Teil Chancen und Herausforderungen der aktuellen schul(polit)ischen Situation in Deutschland dargestellt wurden und das wissenschaftstheoretisches Vorgehen erläutert und begründet wurde, zielt der zweite Teil der Arbeit auf die Entwicklung wesentlicher Aspekte systemisch-konstruktivistischer Pädagogik und Beratung in der heutigen Schule, die als Fortbildungsinhalte umgesetzt werden können (oder zumindest als Rahmen zu beachten sind). Aus den Prämissen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes wie auch aus der entsprechenden wissenschaftlichen Literatur können wichtige Überlegungen für den heutigen pädagogischen Schulalltag abgeleitet bzw. angestellt werden.

▼ 113 

Zunächst werden moderne und postmoderne Gesellschaftssysteme modelltheoretisch aus ontogenetischen Entwicklungsstufen konstruiert, idealtypisch getrennt und formal beschrieben. Sie stellen unterschiedliche Rahmen (bzw. Bedeutungsgeber) für die Sicht auf Pädagogik, Beratung und Schule dar (Kap.5>). Zentrale Idee ist hier, dass die heutige Schule noch aus der Moderne kommt, wohingegen die Gesellschaft sich längst auf den Weg in die Postmoderne gemacht hat. Dementsprechend lassen sich in Kap.6 für die letzten Jahrzehnte auch unterschiedliche Ansichten auf (bzw. Bedeutungsgebungen für) Schule idealtypisch unterscheiden. Die Unterschiede in diesen Erzählungen zu kennen, ist ein Ausdruck systemisch-konstruktivistischer pädagogischer Professionalität. Teil der Narrationsvielfalt kann es gerade aus systemischer Sicht sein, einen Außenblick auf Schule zu werfen, mittels dessen die grundsätzlichen, häufig widersprüchlichen, institutionellen Rahmenbedingungen heutiger Schule auf ihre Mechanismen und Konsequenzen hin befragt werden – und zwar aus Perspektive verschiedener Beteiligter.

In Kap.7 werden – unter der Voraussetzung, dass die Gesellschaft zunehmend postmodern wird - wesentliche Folgerungen systemisch-konstruktivistischer Prämissen für schulische Pädagogik heute gezogen. Dies betrifft vielfältige Aspekte wie z.B. Wissen und Wahrheit, Lernen und Lehren, Kommunikation und Interaktion, Erziehung und Verantwortung. Anschließend (Kap. 8) wird Schule als Organisation eingehend beleuchtet - und zwar sowohl auf der Ebene des Schulhauses wie auch als staatlich organisiertes (Bildungs-Teil-)System. Schule als Organisation bildet für schulische Pädagogen das Umfeld, in dem systemisch-konstruktivistische Ideen zur schulischen Pädagogik umzusetzen sind und das nicht vernachlässigt werden darf, sollen solche Umsetzungen erfolgreich sein. Anders als noch in Kap.6.2 stehen hier weniger die institutionellen Rahmenbedingungen im Vordergrund als vielmehr das Thema der Passung von Mitarbeiter und Organisation bzw. des Umgangs mit den organisationalen Rahmenbedingungen von Schulsystem und Schulhaus durch den Mitarbeiter. Es geht v.a. um Fragen der Organisationskultur (insb. auch problematischer Schulhauskulturen und ihrer Auswirkungen) und des Unterschieds zwischen Profession und Organisation.128

Damit sind die Grundlagen gelegt für die vielleicht wesentlichsten Kapitel des zweiten Abschnittes, die zentrale Chancen systemisch-konstruktivistischer Pädagogik und Beratung in der heutigen Schule noch konkreter behandeln. Im 9.Kapitel werden zunächst wichtige Positionen, Methoden und Instrumente systemisch-konstruktivistischer Pädagogik entwickelt, wie es sie entweder inhaltlich oder in dieser umfassenden Zusammenstellung bisher in der Forschungsliteratur so noch nicht gibt. Dabei geht es u.a. um ein hohes Kontext- und Funktionsbewusstsein, um Beziehungsgestaltung unter besonderer Berücksichtigung von Aspekten der Präsenz, der Ressourcenhaltung (sich selbst wie Schülern gegenüber) und des Zwangsrahmens von Schule bzw. schulischer Pädagogik. Im 10. Kapitel wird dann der schulpädagogische ‚Beratungs-‚Begriff näher unter die Lupe genommen. Dies ist nötig, da der Begriff ‚Beratung’ in Schule eher diffus verwendet wird. Unter der Vermutung, dass der Beratungsbedarf in Schule weiter steigen wird, werden verschiedene beraterische Haltungen, Positionen und Instrumente speziell für den schulischen Rahmen ausgeführt oder in dieser Form auch neu entwickelt. Der Hinweis, dass auch Lehrer Beratung (bzw. Inter/Supervision) benötigen, leitet über zum 11.Kapitel, in dem Schulorganisationsentwicklungsprozesse unter besonderer Berücksichtigung von Kooperationsprozessen in ihrer Bedeutung für den einzelnen Lehrer untersucht werden. Damit schließt sich ein systemisch-konstruktivistisch logischer Kreis: nach der Betrachtung, wie der schulische Rahmen Denken und Handeln prägen kann, welche Mittel und Wege dem einzelnen Lehrer (und auch mehreren Pädagogen an einer Schule) zur Verfügung stehen, kann deren Wirkung auf den Rahmen (und dessen mögliche Umgestaltung) ins Auge genommen werden.


Fußnoten und Endnoten

65  Emergenz meint in dieser Dissertation das nicht (genau) vorhersagbare „ ‚Erscheinen’ von Phänomenen auf der Makroebene eines Systems, die erst durch das Zusammenwirken der Subsysteme (die Systemelemente auf der Mikroebene) zustande kommen“ (wikipedia).

66  Zum Gebrauch systemisch-beraterischen Vokabulars vgl.: Simon u.a. 1999a,b; grundlegende Einführungen sind z.B.: Ludewig 2005; Schlippe u.a. 2002, Mücke 2003, König u.a. 2004, Bartelmeß 2005. Vgl. des Weiteren Mücke 2004, Hargens 2004a,2005; Bamberger 2005, Radatz 2006, Ludewig 2002.

67  Insoweit sie eher für die Ausführungen zur systemischen Pädagogik wichtig sind, stehen weitere Erläuterungen in den entsprechenden (späteren) Kapiteln.

68  Es kann daher auch von Thesen statt von Hypothesen gesprochen werden (Stegmüller 1969ff).

69  unter Bezug auf Kurt Gödels Unvollständigkeitssatz

70  In diesem Sinne kann die Aussage Forresters interpretiert werden, dass der menschliche Verstand nicht geeignet sei, menschliche Sozialsysteme zu verstehen (Forrester, nach Riedl 1994, 89). Hinzu kommt die hohe Komplexität des Menschen und zwischenmenschlicher Interaktionen (Popper 1963).

71  Wahrheit bedeutet im Altgriechischen „das, was nicht verborgen ist“ (= Aletheia)

72  „Das Wesen des Fehlermachens im Lernprozess ist die Bewusstwerdung des Falschen, das Behalten des Falschen und die Möglichkeit, es immer wieder dem Zufriedenstellenden entgegenzuhalten“ (Oser/ Spychiger 2005, 44).

73  Der Begriff der Kontingenz wird in dieser Arbeit im gesellschaftswissenschaftlichen Sinne verwendet als ‚prinzipielle Offenheit menschlicher Lebenserfahrungen’.

74  Dies ist inzwischen anhand von Beispielen aus schizophrenem Verhalten eingeschränkt worden. Schizophrenes Verhalten kann die Bedeutung annehmen, keine Bedeutung zu haben (Retzer 2004b).

75  Dies gilt für pädagogische und beraterische Situationen noch verstärkt: Selbst wenn man als Pädagoge oder Berater nichts sagt, wirkt dies in diesen Kontexten als eine gewichtige implizite Bedeutungsgebung (G.Schmidt 2004a, 165).

76  Mit absoluter Sicherheit geht das aber nie, eben weil Lernprozesse intern ablaufen. Auch wenn letztere voll bekannt wären, wären sie immer noch so komplex, dass gezielte und determinierte Manipulation unmöglich wäre.

77  Bateson (1983) verwendet andere Lernbegriffe. Sein Begriff „Lernen III“ kommt Piagets „akkomodativen Lernen“ allerdings relativ nahe, da Lernen III bes. Gewicht auf systemisches und kontextuelles, selbstgesteuertes, durch Gewohnheiten hervorgerufene Blockaden überwindendes Lernen legt und eine Möglichkeit darstellt, „mit der wachsenden Systemkomplexität umzugehen“ (Huschke-Rhein 1997,48f, Zitat:49).

78  Zum letzten Punkt vgl. Moser 20004, 23f.

79  Zur Diskussion, dass beide Ansätze die Prämissen des jeweils anderen teilen, vgl. Glasersfeld 2003, 30.

80  „Lernen und Leben, erkennen und Handeln, Wahrnehmen und Interpretieren sind untrennbar miteinander verbunden“ (Siebert 2005b, 33).

81  Siebert (2005, 125) geht sogar soweit zu behaupten, dass „die Art und Weise, wie Bildungswirklichkeit beobachtet [wird...] , interessanter [ist] als die angeblichen Resultate“.

82  Wie in Abb. 3-1 auf Seite 40 zu sehen, sollen Konstrukte vor und nach einer systemisch-konstruktivistisch ausgerichteten Weiterbildung (auf Veränderungen hin) untersucht werden. Eine Folgerung, die aus der systemisch-konstruktivistischen Ausrichtung der Inhalte der Weiterbildung zu ziehen ist, ist es dann, den Forschungsprozess selbst unter eben diesem systemisch-konstruktivistischen Blickwinkel zu vollziehen und damit stringent zu bleiben. Dasselbe gilt für die Gestaltung der Fortbildung selber. Wie weiter unten (Kap.13.2) ausführlich dargestellt, betrifft dies neben inhaltlichen auch formale Aspekte der Fortbildung, insb. die Beziehungsgestaltung zwischen Fortbildungsleiter und Teilnehmern.

83  Das Thema wird in Kap.13.2 wieder aufgenommen und, auf formale Aspekte des Curriculums bezogen, fortgeführt.

84  Vgl. Simon u.a. 1999, 236f.; Retzer (2004a, 102-112) unterscheidet inzwischen sogar 5 Arten von Neutralität.

85  Retzer bezieht dieses Schaubild auf Therapie. Es ist meiner Meinung nach für Fortbildungsprozesse ebenso verwendbar. Und ebenso wie Therapie kann auch Fortbildung als (gemeinsames) Ritual verstanden werden. (Der Begriff der Liminalität wurde von dem Ethnologen Victor Turner geprägt und beschreibt den Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben, vgl. wikipedia.)

86  Zur Zielsetzung systemisch-konstruktivistischer Forschung wurde bereits einiges in der Einführung ins vierte Kapitel gesagt und der Zielsetzung der hiesigen Untersuchung wurde bereits das 3.Kapitel gewidmet. Deshalb halte ich mich hier kurz.

87  Watzlawick (1995, 49) weist darauf hin, dass nicht nur der Beobachter auf das Beobachtete einwirkt, sondern auch umgekehrt das Beobachtete auf den Beobachter. Das ermöglicht z.B. im hiesigen Fall dem Seminarleiter, selber hinzuzulernen.

88  Der Prozess des Beobachtens teilt sich in diesem Modell ein in Beschreibungen, Erklärungen und Bewertungen.

89  Vgl. Abb. 4-11

90  „An I writing or telling research must always be understood as a participant in a conversation, and hence is a relational I” (Steier 1991, 17)

91  Vgl. Altrichter u.a. 2003, 642. Schon 1975 (S.144) schrieb Stenhouse: „The outstanding characteristics of the extended professional is a capacity for autonomous professional self-deleopment through systematic self-study, through the study of work of other teachers and through the testing of ideas by classroom research procedures.” Dieses Zitat ist aus meiner Sicht dahingehend zu ergänzen, dass die aktive Mit-Forschung als Erprobung neuer Anregungen zwischen den Seminareinheiten im schulischen Kontext – gerade unter Aspekten von Beratungs- und Organisationsentwicklungsprozessen - sich keineswegs mehr auf den Klassenraum beschränkt.

92  Das als Gemeinsamkeit der verschiedenen Ansätze zu postulieren, greift aber wahrscheinlich zu kurz. In der Forschung in Deutschland – anders als im angelsächsischen Bereich – scheint teilweise immer noch zu gelten, dass, je unverständlicher der Forscher sich ausdrückt, er desto kompetenter erscheinen will (z.B. Luhmann oder S.J.Schmidt 2005b). Aus meiner Sicht schließt das tendenziell Mitforscher vom Diskurs aus, ist also Abschottung einer Forschergemeinschaft. Dies entspricht dem systemischen Modell insofern, als Systeme ihre eigene Sprache entwickeln und es zu „operationalen Schließungen wissenschaftlicher Konstruktionen“ (Moser 2004b. S.19) kommen kann. Dies widerspricht dem systemisch-konstruktivistischen Modell aber insofern, als es über die Kopplung mit anderen Systemen die Möglichkeit, Optionenvielfalt zu erlangen, betont und realisieren will.

93  auch hier: beschreibend, erklärend, bewertend – allerdings in ‚zweiter Ordnung’.

94  Das ‚gelebte Leben’ des biologischen Systems spielt für psychosomatische Aspekte des Lehrerdaseins eine zentrale Rolle.

95  Luhmann definierte bereits 1970 das soziale System als einen „Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen [...], die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nicht dazugehörender Handlungen unterscheiden lassen“ (Luhmann1970, 115). Auch hier gilt, dass die Systemgrenze von einem Beobachter gezogen wird.

96  Eine Verifikation von Erklärungen im Test der Praxis unter der Fragestellung ihrer Passung ist nicht möglich, ihr Wahrheitsgehalt nicht zu beweisen, nur zu widerlegen (Popper 1963). Sie können allerdings auf Plausibilität hin geprüft werden, eine solche Prüfung verbleibt im ‚Zwischenraum’ zwischen Analytik und Empirie (Stegmüller 1969ff). Wenn in dieser Dissertation von der möglichen Bestätigung der Thesen gesprochen wird, so ist damit lediglich die nicht-dauerhafte Bestätigung ihrer Plausibilität gemeint.

97  Eine grundlegende These zur Durchführung dieser Arbeit war ursprünglich die Idee, dass über die Erweiterung des pädagogischen und beraterischen Bildes von Welt und Selbst die Teilnehmer der Weiterbildung dahin kommen könnten, dass ihnen ihr Beruf mehr Freude bereitet und sie sich gesundheitlich deutlich wohler fühlen. Aber aufgrund eigener Erfahrung – im Zusammenhang mit meiner eigenen systemischen Ausbildung ging es mir bis zu meinem später erfolgenden Schulwechsel zunehmend schlechter, weil ich zunehmend ‚begriff’, was alles wo genau wie schief lief in meinem schulhäuslichen und schulpolitischen Kontext – habe ich diese These so direkt nicht aufgenommen. In einem solchen Fall schlechter werdender Gesundheit aufgrund differenzierenteren Sehens von Mängeln im schulhäuslichen Kontext könnte man, von außen beobachtet, systemische Weiterbildung für sowohl erfolgreich als auch nicht erfolgreich interpretieren. In dieser Arbeit wird eine solche Bewertung den Mitforschern überlassen. Die angesprochene These habe ich in einer abgewandelten Form aufgenommen (vgl. These 6 in Kap.14).

98  Tatsächlich wird sich in der Auswertung später zeigen, dass eine Teilnehmerin die psychoanalytische Beschreibung für passender hält.

99  Wissenschaft kann unter sozialkonstruktionistischen Aspekten als aus kleinen Gemeinschaften oder Kulturen mit je eigenen Paradigmen und daraus resultierenden Handlungslogiken bestehend betrachtet werden (Gergen 2006, 28f).

100  Steinke (2004, 326) spricht hier auch von „Indikation des Forschungsprozesses“.

101  Steinke (2004, 330) spricht in diesem Zusammenhang von Effektivität. Theorien können als “spezialisierte Handlungspraktiken, die es ermöglichen, die Effizienz von Beschreibungsformen zu testen”, beschrieben werden.

102  Diesen Aspekt der Nützlichkeit betont auch Flick, der den weiter oben angeführten Aspekt der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit auch als „Validität“ (Flick 2004a, 154) bezeichnet, wobei für ihn Validität auch die offene Frage beinhaltet, inwieweit das Bild oder Modell dem Subjekt ermöglicht, sich in der Welt zurechtzufinden und in ihr zu handeln“ (Flick 2004a, 154).

103  Konstruktivistisch gesehen, kann Manipulation in der Kommunikation nicht vermieden werden, da Manipulation – im Sinne des Versuchs, Wirkung auf den anderen zu haben – konstitutiver Teil von Kommunikation ist.

104  zu systemischer Interviewführung vgl. Pfeffer 2004.

105  Zum narrativen Interview vgl. auch: Schütze 1973; Diekmann 2005, 449f.

106  Vgl. z.B. den Beginn des Interviews mit Frau J im Anhang (J 0002).

107  Vgl. die Zusammenfassung des Ansatzes von Eckard König (unveröffentlichtes Arbeitspapier) unter: Friebertshäuser 2003a, 384ff.

108  Damit sind im Prinzip zirkuläre Fragen im Einzelsetting gemeint (Beispiel Friebertshäuser 2003a, 385: „Was sehen andere als mögliche Schwachstellen?“).

109  Z.B. zwei unterschiedliche Einschätzungen von Arbeitskollegen oder Chefs.

110  Der Gesprächspartner kommentiert ein (anhaltbares) Video, auf dem sein eigenes Verhalten festgehalten ist.

111  Beim systemischen Interview können Skalierungen benutzt werden.

112  Pfeffer spricht unter Anlehnung an Simon (1999b, 273) von ‚zirkulären Fragen’. Mittlerweile sind verschiedene Termini gebräuchlich (Bamberger 2005, 92), wobei bis heute in systemisch-therapeutischen Kreisen der Wortgebrauch nicht eindeutig geklärt ist. Ich verstehe an dieser Stelle ‚systemisches Fragen’ als umfangreicher als das ‚zirkuläre Fragen’ nach (vermuteten) Perspektivveränderungen, das in diesem engeren Sinne von der Mailänder Schule entworfen wurde. Vgl. auch Simon/Clement/Stierlin 1999, 349f.

113  Pfeffer arbeitet im Bereich der Hochschulorganisation und –politik.

114  Genau genommen, muss dann der Begriff des „Einzelinterviews“ genauer betrachtet werden, da es zwei prinzipiell gleichwertige Kommunikationspartner sind. Den Begriff des „Einzelinterviews“ verwende ich in dem Sinne, dass der interviewte Mitforscher im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und der Hauptforscher Verantwortung für den formalen Teil des Gesprächs hat.

115  Streng genommen, kann von außen erst mal nicht entschieden werden, wer Beobachter und wer Beobachteter ist, da es sich um zirkuläre Prozesse handelt. Besonders deutlich wird das z.B. im Kinofilm ‚Kitchen Stories’ von Bent Hamer (dvd 2004).

116  Sie ist einerseits ein nicht zu vermeidendes Problem, andererseits aber die Grundlage der Autonomie sozialer Systeme (Vanderstraeten 2004, 64).

117  Gegenüber narrativen Interviews haben halbstrukturierte den weiteren Vorteil, dass sie auch bei Interviewten mit wenig kommunikativer Kompetenz oder Bereitschaft gangbare Methoden bleiben (Diekmann 2005, 450).

118  Ganz so neu ist das nicht. Schon Giambattista Vico hatte 1710 „Wissenschaft (scientia) [als] Kenntnis (coginitio) der Entstehung der Art und Weise, wie Dinge hergestellt werden“, bezeichnet (zitiert nach Glasersfeld 1994, 26.).

119  Etliche dieser Aspekte finden sich bei Pfeffer (2004, 87ff) , einige bei Lamnek (2002, 166f). Anders als bei Pfeffer (S.89) wird in der beraterischen, systemischen Literatur Neutralität eher als Methode denn als Haltung gesehen (z.B. bei Retzer oder Simon/Clement/Stierlin). Für Forschungsinterviews macht es aber Sinn, Neutralität als Haltung zu postulieren.

120  In Analogie zu Selvini Palazzoli u.a. 1981. Letztlich bleibt auch für den Leser dieser Untersuchung und der Interviews trotz oder aufgrund seiner Außenposition nicht eindeutig feststellbar, ob bzw. wo Suggestion vorliegen könnte.

121  in Anlehnung an Steinke (1999, 127).

122  Vgl. Zur Inhaltsanalyse auch Diekmann 2005, 481ff.

123  Diese Arbeit folgt Diekmann, vgl. Teil III dieser Dissertation.

124  Außerdem gibt es noch die Diskursanalyse, die aus dem Ansatz des sozialen Konstruktivismus entstanden ist, aber bis jetzt, so Flick, bleiben die konkreten methodischen Vorschläge zur Umsetzung der Methode „eher unpräzise und implizit“ (Flick 2005, 295).

125  Da ein Interview aus technischen Gründen nur in schlechter Qualität gelang, seine Nachbearbeitung im professionellen Tonstudio keine ausreichende Qualität (wieder)herstellen konnte, blieben zehn Interviews für die Evaluation der Reihe.

126  Dies brachte eine nicht einfache Situation mit sich (vgl. dazu Kap.16)

127  Dazu gehörte u.a. die Frage, bei welchem zeitlichen Fortbildungsumfang und welchen Gesamtkosten genügend angemessene Teilnehmer zu finden wären.

128  Die institutionellen Rahmenbedingungen (Kap.6.2) müssen deshalb frühzeitig behandelt werden, da sie wichtige Voraussetzung für Teile der Beschreibung verschiedener Ansichten auf Schule (Kap.6.3) sind.



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09.06.2008