8 Organisationskultur von Schule

▼ 234 

Aus systemischer Sicht sind Kenntnis und angemessene Beachtung von Kontextbedingungen, wie sie von Schule und Schulhaus jeweils strukturiert bzw. vorgegeben sind, notwendige Voraussetzung, um systemisch-konstruktivistische pädagogische Haltungen und Methoden, Anstöße und Vorhaben erfolgreich im Schullalltag (auf den jede nützliche Lehrerfortbildung abheben muss) verwirklichen zu können. Daher sollen in diesem Kapitel Organisationsstrukturen und -kulturen von Schule und Schulhäusern eingehender untersucht werden.

Nach ersten Implikationen systemisch-konstruktivistischer Pädagogik für Schule im letzten Kapitel, werden nun also Rahmenbedingungen für ihre Umsetzung betrachtet, so dass in den folgenden Kapiteln nach konkreten unterstützenden Ansichten, Methoden, Aufmerksamkeitsfoki und Hilfestellungen systemisch-konstruktivistischen Denkens für die heutige schulische Praxis von Pädagogik (Kap.9), Beratung (Kap. 10) und Schulentwicklung (Kap.11) gesucht werden kann.

In einem ersten Unterkapitel (8.1) werden nun zunächst grundlagentheoretische systemisch-konstruktivistische Ideen zur Organisationskultur eingebracht, dargestellt und in Bezug zum einzelnen Lehrer gesetzt.270 Ausführungen zur Schule in ihrer Form staatlicher Organisiertheit zeigen anschließend, dass der Kontext von Schule eine klassische Verwaltungsbürokratie (Palzkill 1998, 117) ist (Kap.8.2), deren Funktionslogik sich deutlich von der inneren Logik pädagogischen Begleitens (zumindest in der Postmoderne) unterscheidet, ja teilweise ihr diametral entgegengesetzt ist (Kap.8.3). Dieser Widerspruch kann – ebenso wie andere Faktoren – zu problematischen schulischen Organisationskulturen führen (Kap.8.4), deren Kenntnis dem einzelnen Lehrer wie Kollegien es ermöglicht, rechtzeitig fürsorglich mit sich selbst umzugehen und ggf. auch Veränderungen zu initiieren.271

8.1 Organisation und Kultur

▼ 235 

Die in den letzten Jahren deutlich zunehmende Übertragung von Begrifflichkeiten insb. aus den Gebieten von Wirtschaft und Management272 auf Schule ermöglichen - auch auf systemisch-konstruktivistischem Hintergrund (Doppler/Lauterburg; Königswieser) – einen detaillierteren Blick auf das Schulsystem und auf Schulhäuser als bisher. Ein zentraler Begriff für die Analyse und Entwicklung dieser Systeme ist jener der ‚Organisationskultur’. Seine Bedeutung wird im folgenden erläutert (Kap.8.1.1) – und zwar unter besonderer Betrachtung der systemischen Aspekte von Konstanz und Wandel (Kap. 8.1.2) und des Verhältnisses von Organisationsmitglied und Organisationskultur (Kap. 8.1.3), also von Lehrer und Schulorganisationskultur.

Im weiteren Verlauf des achten Kapitels wird aufgezeigt werden (insb. Kap.8.4.2), dass eine Übertragung von Begrifflichkeiten aus der Organisationsentwicklung auf Schule zwar möglich ist, wirtschaftliche Systeme wie Unternehmen aber einer anderen Logik folgen als die klassische Verwaltungsbürokratie, der Schule noch immer unterliegt. In dieser Problematik liegen ganz eigene Fallen, die systemisch-konstruktivistische Pädagogen kennen sollten, wenn sie – wie zurzeit in wohl allen Bundesländern – von Organisationsentwicklungsprozessen betroffen sind, zumindest aber, wenn sie aktiv an ihnen beteiligt sind (Kap.11).

8.1.1 Organisationskultur

Neuere insb. narrative Ansätze zur Organisationsentwicklung (Leriche 2005, 69-72) versuchen deutlich zu machen, dass Schule nicht (mehr) als ein rational steuerbares, technokratisch verwaltbares System zu sehen ist sondern vielmehr als ein „gewachsener und sich entwickelnder Sinnzusammenhang“ (v.Lüde 1997, 294). Dem gemäß stellen die in einer Organisation gängigen Erzählungen „die Gruppe pragmatischer Regeln [dar], die das soziale Band ausmachen“ (Lyotard 1999, 71). Erzählungen betreffen zwei Ebenen: auf einer Bewusstseinsebene rekurrieren sie auf organisationsintern vorhandene Denkmuster und bestätigen diese im Erzählen und Handeln zugleich auf einer Verha l tensebene.

▼ 236 

Organisation wird in systemisch-konstruktivistischen Ansätzen als lebendiges, sich ständig in Auseinadersetzung mit seinen Elementen und seiner Umwelt befindliches System gesehen. Unterschiedlich gehandhabt wird die Frage, ob bzw. inwieweit die im sozialen System vorkommenden Menschen als Systemelemente verstanden werden können (z.B. Bateson) oder nur ihre Kommunikation (z.B. Luhmann). Beide Untersuchungsblickwinkel sind in der Forschungsliteratur jeweils zahlreich vertreten, bereichern die Forschung in ihrer Unterschiedlichkeit und erscheinen insofern beide als legitim. Wichtig festzuhalten erscheint mir allerdings, dass auch dann, wenn man die am sozialen System teilnehmenden Individuen explizit als Systemelemente versteht (Ruesch / Bateson 1995, 305) soziale Systeme sich durch ihre Art der Kommunikation auszeichnen (König 2006, 220).

Eine kurze Erläuterung des hier verwendeten Begriffspaars ‚Organisations-Kultur’ von seinen Bestandteilen her kann dies verdeutlichen. Der Begriff der ‚Kultur’ kann verstanden werden als „die tieferliegenden Grundanschauungen und Überzeugungen“, die eine (im sozialkonstruktionistischem Sinn) tendenziell gemeinsame Wahrnehmung steuern (v.Lüde 1997, 291) – er liegt damit auf Bewusstseinsebene. Dahingegen bezieht sich der Bebgriff der ‚Organisation’ auf beobachtbare Kommunikation und Verhalten – er liegt damit auf Verhaltensebene (Schumacher 2002).273 Beide Ebenen beeinflussen sich in zirkulären Prozessen. Das lässt sich auch bildlich darstellen:

Abb. 8-1: Organisationskultur (nach Schumacher 2002)

▼ 237 

Durch die Verwendung expliziter und impliziter Regeln und Ressourcen reproduzieren die Handelnden (oder die Kommunikation) dann die bereits vorhandenen Strukturen (v.Lüde 2005, 177). Gerade Kommunikationsregeln und ‚Rollen’- bzw. Funktionsfestschreibungen wiederholen sich oft innerhalb von Organisationen auf verschiedenen Ebenen im Sinne einer Isomorphie (Hubrig/ Herrmann 2005, 64,252). Bspw. kann die Art und Weise, wie Schulleitung mit den Mitarbeitern umgeht, sich im Verhalten der Lehrer gegenüber den Schülern spiegeln. Systemisch heißt das nun nicht, dass Einzelne an einer Situation schuld wären (wenngleich ein Schulleiter sicherlich mehr Einfluss besitzt als ein ‚normaler’ Lehrer), sondern vielmehr, dass Kommunikationsmuster für die Aufrechterhaltung von Strukturen und ggf. Konflikten verantwortlich sind (Hubrig/ Herrmann 2005, 253).

Insofern lässt sich dieses Schema etwas weiter differenzieren:

Abb. 8-2: Kommunikation in und Organisationskultur von Schule (in Anlehnung an Hubrig/ Herrmann 2000, 149; und Schiepek/Strunk 1997)

▼ 238 

Mit diesen Modellen werden auch Möglichkeiten von Veränderung deutlich. Zwar gibt es keinen unmittelbaren Zugang zur „Kultur“ (Bedeutungen, Werte usw.), Kultur kann nicht direkt verändert werden. Aber auf der Ebene des Verhaltens („Organisation“) sind über Selbstorganisationsmaßnahmen Verhaltensänderungen möglich, die sich auf die Bewusstseinsebene auswirken können. Veränderung geschieht letztlich durch die Veränderung der Spielregeln in einem System. Kultur schränkt dabei ein, gibt aber auch Sicherheit. ‚Verhaltensverstöße’ können neue Kulturen hervorbringen, müssen dafür aber die vorhandene Kultur kennen und sich dort ankoppeln können.

Abläufe und Strukturen in Institutionen wie Schule besitzen neben der Dualität von Bewusstseins- und Verhaltensebene noch eine weitere Dualität aufgrund ihres Prozesscharakters: sie sind sowohl Medium als auch Ergebnis rekursiver Prozesse (v.Lüde 2005, 178).

8.1.2 bewahren und verändern

Organisationen als lebende (soziale) Systeme müssen, um bestehen bzw. überleben zu können, Widersprüche organisieren. Sie bewahren ihre Identität, indem sie sich verändern, erhalten ihre Stabilität durch Bewegung. Sie müssen also gleichzeitig bewahren und verändern, diese beiden Aspekte in eine Balance bringen (G.Schmidt 2004a, 415).

▼ 239 

Abb. 8-3: Konstanz und Wandel in Organisationen (Simon 2001a, 135)

Insofern als der Versuch, Wissen unverändert beizubehalten, Lernen verhindert (Kap.4.4.5), müssen Organisationen eine Balance finden zwischen ‚wissender’ und ‚lernender’ Organisation (‚sowoahl-als-auch in Abb. 8-3). In Zeiten verstärkter Veränderung erlangt allerdings das Hinzugewinnen neuen Wissens vermehrt Bedeutung und Gewicht (Doppler/Lauterburg 2000), da Veränderungen in Krisenzeiten unabdingbar werden. Organisationskrisen werden in der Regel auch durch und in den Befindlichkeiten der Organisationsmitglieder deutlich (Martin/ Schuster 2005, 33)

8.1.3 Mitarbeiter und Organisationskultur

Will sich ein Individuum innerhalb seines Schulhauses und dessen Organisationsentwicklungsprozesses verorten, wie dies z.B. in Supervisions- und insb. Coachingprozessen üblich aber auch für eigene Überlegungen und Standortbestimmungen möglich und sinnvoll ist, kann ein weiteres Schema (Looss 2006) hilfreich sein. Dessen Heranziehung dient (außer im Bereich der Personalentwicklung, z.B. bei Jahresmitarbeitergesprächen) nicht der Organisationsentwicklung.274 Es wird hier trotzdem angeführt, weil es Individuen in Systemen - im Zusammenhang mit der in dieser Arbeit entwickelten und evaluierten Fortbildung: Lehrern in Schulhäusern – es ermöglicht, differenziert den eigenen Ort im System unter verschiedenen Aspekten zu beleuchten. Besonders wichtig ist dies für Beratungslehrer und Förderpädagogen, die stärker als andere Pädagogen in eine Funktion gedrängt werden können, in der sie die Widersprüche zwischen Individualförderung und Schulsystem kompensieren sollen (Bachmair et al 1998, 120).

▼ 240 

Die Bereiche von Kultur und Organisation können um weitere Aspekte erweitert werden.

Abb. 8-4: Person und Funktion (‚Rolle’) in Organisationsentwicklungsprozessen (Looss 2006)

Die Kultur liegt quer zu und betrifft alle folgenden Felder:

▼ 241 

Für die Arbeit in einem institutionellen Rahmen wie Schule ist es für den Pädagogen hilfreich, neben Organisationsformen und Kommunikationsregeln auch die Vielfalt der unterschiedlichen Interessen im Auge zu behalten (Hargens 2004a, 82) sowie die Auswirkungen auf die eigene Funktion und Person.

Organisationsformen und Kommunikationsregeln, die heutige institutionelle Form der Schule sind historisch geprägt, und zwar wesentlich durch den Staat, der damit entsprechenden Bereichen der Pädagogik einen Rahmen vorgegeben hat.

8.2 Schule als staatliche Organisation

▼ 242 

Organisationskulturen geben einen Rahmen und ermöglichen kommunikative Austauschprozesse, sie engen aber – genau dadurch – auch ein. Konstruktivistisch gesehen, führt Erziehung - auch im individuellen Begleitungsprozess – zwar ohnehin unvermeidbar zu einer ‚Trivialisierung’ des Kindes, weil aus der Vielzahl seiner potenziellen Möglichkeiten nur einige realisiert werden (können). Diese Trivialisierungstendenz wird durch den Rahmen, den der Staat der schulischen Pädagogik vorgibt – d.h. durch die gegenwärtige Organisationsform von Schule – allerdings noch verstärkt. Angesichts der gegenwärtigen organisatorischen Verhältnisse (wie bspw. das zahlenmäßige Lehrer-Schüler-Verhältnis) überwiegt das fachliche Unterrichten gegenüber dem Erziehen und der Blick auf einen möglichst reibungslosen Ablauf gegenüber der Aufmerksamkeit für Individuen oder Gruppendynamik. Schüler (und Lehrer) empfinden diese Trivialisierung mitunter als Verlust. Selbst dann, wenn sie die Ziele von Schule akzeptieren, kann es ein Ausdruck ihrer Autonomie sein, eigene Wege dorthin gehen zu wollen, können und dürfen (Rotthaus 1999a, 110).

Die heutige Organisationsform von Schule mit ihren pädagogischen Fachkräften ist in wesentlichen Teilen Ausdruck (relativer) historischer Entwicklung in den Industriestaaten des späten 18. Jahrhunderts. Zum einen kam es zu diesem Zeitpunkt im Zusammenhang mit dem staatlichen Wunsch, möglichst viele Kinder zu beschulen zu einer Ausdifferenzierung und Professionalisierung des Lehrens. Der Lehrerberuf wurde zu einem Lebensberuf, der der Kontrolle staatlicher Schulaufsicht durch Angehörige derselben Profession unterlag. Ausdruck der Professionalisierung des Lehrens war auch die Betonung des Bezugs auf den einzelnen Schüler und einer weitgehend autonomen Berufspraxis, in der der Lehrer an eigenen Erfahrungen reifen konnte. Anders als in Industrie und Verwaltung ist der zentrale Arbeitsprozess der Schule - Lehren und Lernen - vollständig eingebettet in zwischenmenschliche Beziehungsabläufe (Bauer 2004a, 2). Lehrersein erforderte nunmehr eine universitäre Ausbildung, die wiederum als ausreichend in dem Sinne angesehen wurde, dass eine Evaluation oder Weiterbildung für nicht nötig gehalten wurde. Die Professionalisierung des Lehrberufs brachte auch eine hohe Reputation und attraktive Besoldung mit sich als Belohnung für die Erfüllung zentraler gesellschaftlicher Werte, hier: für den Erziehungserfolg (Luhmann 2002, 150f; Stock 2006).

Zum anderen wurde parallel zum Prozess der Professionalisierung des Lehrberufs Schule staatlich organisiert. Es kam zu Arbeitsteilung, Leistungsorientierung, zweckrationaler Ausrichtung des Verwaltungshandelns, zur Produktion von Zensuren und Zertifikaten und zu deren Verteilung in bürokratischer Manier auf Schüler und Lehrer (Luhmann 2002, 154f). Ziel dieser Umstrukturierung von Lernprozessen durch den Staat war die „organisierte Verlässlichkeit und kontrollierte Planbarkeit der Bildung in der Verantwortung von Staat“ (Huschke-Rhein 1997,36). Schüler wurden hier verstanden als Objekt zentral geplanter Lehrbemühungen.275

▼ 243 

Lehrerdasein findet mithin in einem Spannungsverhältnis zwischen Person und Organisation statt:

Mensch

Organisation

Selbstbestimmung

Fremdbestimmung

ganzheitliches Tun

Arbeitsteilung

Freiheit

(Unter)Ordnung

Orientierung an

persönlichem Interesse

Orientierung an

Organisationszielen

individuelle Prägung

Standardisierung

Heterogenität

Homogenität

Dialog

Monolog

Es kommt hier zu zentralen Widersprüchlichkeiten, weshalb Schule auch als ‚Double-Bind-Institution’ bezeichnet worden ist (Cecchin et al. 2005, 52f): Schule als Organisation ist auf Homogenisierungsversuche angewiesen, die Trivialisierungsprozesse hervorrufen und reproduzieren. Heterogenität und Individualität müssen von staatlichen Bürokratien, um funktionstüchtig zu sein, minimalisiert werden. Gleichzeitig geraten Lernprozesse aus pädagogischer Sicht aber durch die Trivialisierung von Lehr- und Lernvorgängen in die Gefahr, behindert und suboptimal gestaltet zu werden (Werning 2003, 125).

▼ 244 

Aus systemisch-konstruktivistischer Sicht ist der vom Schulsystem und der Schulbürokratie als Lernleistung erwartete System-Output infrage gestellt, wenn – wie die Kultusbürokratie dies tut - die dabei mitlaufenden psychischen und interaktionellen Beziehungs-Prozesse außer acht gelassen werden (Huschke-Rhein 1998b, 139). Die innere Systemsicht der Kultusbürokratie ist genau entgegen gesetzt: Der erwartete System-Output wäre infrage gestellt, wenn die Bürokratie eine Einzelfallsicht entwickelte, da sie dann ihre Handlungsfähigkeit einbüßte. Der ‚Eigen-Sinn’ von Kindern als lebenden Systemen stellt systemlogisch einen Angriff auf die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Kultusbürokratie dar (Kahl 2004, dvd1, 1:53 Min).

Schule als bürokratisch-technische Organisation verlangt von Lehrern, verschiedene Funktionen wahrzunehmen, darunter Schüler zu kontrollieren und zu bewerten. In diesen beiden genannten Funktionen unterliegen Lehrer höherem Rechtfertigungsdruck und damit verstärkter Verantwortlichkeit gegenüber der Schulaufsicht als bei anderen Funktionen. Dies führt in der Schule zu einer kontextuellen Lenkung von Lehreraufmerksamkeit hin zu einer Bewertungs- statt Beschreibungs- und zu einer Defizit- statt Ressourcenorientierung: „Die Notwendigkeit, ständig und unter Zeitdruck Leistungen zu bewerten und wissen zu müssen, wie es richtig ist, fördert auch die Tendenz, alles, was einem begegnet, zu bewerten, nicht nur Wissen, sondern auch Verhalten und Einstellungen von Schülern, Kollegen, Schulleitung und Eltern. Dabei drängt sich in der Wahrnehmung eher Negatives als Positives in den Vordergrund“ (Hubrig/ Herrmann 2005, 134). Die ausgeprägte Verregelung von Pädagogik, wie sie für das deutsche Schulsystem typisch ist, führt so letztlich zu einer Misstrauenskultur: „Eine Vorschrift ist nur auf der Sachebene eine Vorschrift, auf der Beziehungsebene kommt sie möglicherweise einem Misstrauensvotum gleich. [...] Der Handlungsspielraum des einzelnen wird eingeengt von der Möglichkeit des Gestaltens, des Verhandelns und der Erfahrung von Selbstwirksamkeit auf die des Verwaltens und des Umsetzens von Vorgegebenem“ (Palmowski 2004c, 109). So kann - aus Sicht der konstruktivistischen Pädagogik - die Existenz eines Lehrplans auch als Misstrauen gegenüber dem Lehrer, Schulpflicht und Anwesenheit des Lehrers als Misstrauen gegen die Schüler interpretiert werden.

Der Defizit- statt Potenzialblick betrifft häufig auch den Umgang mit sich selber als Pädagoge. Da Lehrer im Regelfall allein vor der Klasse stehen, kann neben dem Defizitfokus auch das Einzelkämpfertum als aus der Organisationsstruktur bedingt angesehen werden (Hubrig/ Herrmann 2005, 147). Da aber Selbstwertgefühl und Arbeitszufriedenheit ganz wesentlich von der Qualität der Beziehungen abhängen und damit von wechselseitigem Ver- und Zutrauen, beschränkt Schule als Organisation pädagogische Arbeit (während sie sie durch Bereitstellung von Räumlichkeiten, Gehältern usw. freilich erst ermöglicht).

▼ 245 

Schule als bürokratisch-technische Organisation fordert außerdem eingespielte berufliche Routinen. Letztere stellen mitunter lediglich ein „Anwenden von standardisierten Handlungsmustern“ dar, „die nur sehr unzureichend auf das entwickelbare Repertoire der Fähigkeiten der Schüler zugeschnitten sind“ (Voß/ Haug 2000, 167). Solche Routinen werden allerdings den Anforderungen, die das staatliche Schulsystem Lehrern gegenüber stellt, gerecht (wie im kommenden Kapitel aufgezeigt werden soll). Und Routinen können im Sinne von Komplexitätsreduktion auch tatsächlich allen Beteiligten Vorteile bringen. Für ‚Schulen als Lebensort’, so Kahl (2004, dvd1, 0:47 Min), seien Ritualen, Regeln, Reviere und Rhythmen unverzichtbar. Routinen gefährden aber auch den pädagogischen Einzelfallbezug und damit die für Lernprozesse nötige, individuelle Lehr-Lern-Beziehung.

Schule ist außerdem von heterogenen Interessen und „höchst gegensätzlichen Strukturen“ durchsetzt, wodurch sich „im Extremfall ein zersplittertes Bild über das organisatorische und pädagogische Profil“ der Schule ergeben kann (v.Lüde 1997, 285).

Die von Bauer (2004a, S.4) nachgewiesene „überwiegend hohe berufliche Verausgabungsbereitschaft, aber auch eine hohe Burnout-Rate unter Lehrern“ mag teilweise mit der Nichtbeachtung dieser, systemisch-konstruktivistisch betrachtet, wesentlichen Kontexte pädagogischer Arbeit im staatlich-schulischen Bereich von Pädagogik zu tun haben.

▼ 246 

Der „Widerspruch von bürokratischer Organisation und pädagogischen Freiräumen“ (v.Lüde 1998, 180) soll im folgenden Kapitel genauer betrachtet werden. Ein Bewusstsein dieser unterschiedlichen Systemlogiken in Schule kann gesundheitsprophylaktisch wirken.

8.3 Profession und Organisation

Die Soziologie276 unterscheidet „Profession“ als eine auf Einzelpersonen bezogene, autonome Tätigkeit mit hoher Ausbildung (z.B. Ärzte, Juristen) von Organisationstätigkeit i.S. der Organisation standardisierbarer (v.a. industrieller) Arbeit. Lehrer und Sozialarbeiter gelten als im Prozess der ‚Professionalisierung’ befindlich: als sog. „Semi-Professionelle“ leisten sie Professionsarbeit in einer bürokratischen Organisation, sie arbeiten also in einem speziellen Zwischenbereich mit eigenen Regelhaftigkeiten. Diese Unterscheidung hilft, sich die besondere Organisation von Schule konkreter und in ihren widerstrebenden Logiken vor Augen zu halten. Insofern ist sie auch heute noch nützlich, wenngleich Organisationen in den letzten Jahren selber lernen und „Wissensmanagement“ betreiben (müssen/ sollen).

Das kommunikative Handeln in Schule wird zunehmend von der Organisationsforschung untersucht. Schulen können dabei als lebendige soziale Systeme verstanden werden, die „organisationale Regeln, Ressourcen und Restriktionen für Machtspiele zur Verfügung stellen [...] Die Formulierung ‚offizieller’ Ziele dient häufig nur der rituellen Selbstdarstellung der Organisation nach außen oder gegenüber dem weniger mächtigen Organisationspersonal. Sie haben dann Mythencharakter“ (Rolff 2001, 36).

▼ 247 

Schulhäuser sind also sowohl ein bürokratisches System als zugleich auch ein pädagogisches System; sie unterliegen damit unterschiedlichen Spielregeln, die parallel präsent sind und sich teilweise in ihrer Logik zuwider laufen. Damit wird „Organisation [...] unabhängig von den Selbstdeutungsmöglichkeiten, die der Pädagogik zur Verfügung stehen, und den Erfordernissen der pädagogischen Interaktion zu einer strukturellen Realität im Erziehungssystem“ (Kuper 2004, 133). Das „Modell technischer Rationalität“, das durch universitäre Forschung produziertes Wissen und feststehende Ziele und Arbeitsbedingungen voraussetzt, mag für eher einfache und routinemäßige Aufgaben in Schule funktionieren. „Die Mehrzahl der Situationen professioneller Praxis, und gerade die wichtigen und jene, für die Lehrer eigentlich bezahlt werden, sind im Gegenteil komplex, ungewiß, mehrdeutig sowie von Wert- und Interessenkonflikten geprägt“ (Altrichter u.a. 2003, 641). Organisation zwingt der Pädagogik bzw. Profession eine Modifikation ihres Problemverständnisses auf (Luhmann/ Schorr 1988, 173).

Während das bürokratische Moment zu Standardisierung neigt, verfügen Lehrer in ihrer „zentralen Unterrichts- und Erziehungsaufgabe über weitgehende Freiheitsgrade in der Ausgestaltung“, ebenso alle an Schule Beteiligten im Bereich der Ausgestaltung der inneren Organisation von Schule (v.Lüde 1997, 285; vgl.a Graf 2006, 100f). Während Individualität (nicht nur von Schülern, auch von Lehrern und Eltern) für die Organisation schnell Störfaktor ist, stellt sie für pädagogisch begleitete Entwicklungsprozesse „nutzbringendes Potential“ (Lindemann 2001, 64) dar. Professionelles oder Professions-Handeln liegt dementsprechend dann vor, „wenn ein Berufstätiger jenseits einer technisch-rationalen Anwendung von Wissen solche Entscheidungen treffen muss, die für die Lebenspraxis bestimmter Anderer bedeutsam sind“(Rolff 2001, 39).

Im folgenden werden Profession als klientenbezogene Tätigkeit und Schule als bürokratisch-mechanische Organisation einander gegenüber gestellt. In enger Anlehnung an Rolff (2001, 34ff) werden dabei sechs Merkmale pädagogischer Arbeit von Schule ausgeführt, die einem Verständnis von Schule als ökonomisch-technischer Produktionseinheit entgegen stehen. So wird ein Spannungsbogen zwischen pädagogischer Profession und Schulorganisation skizziert, innerhalb dessen Lehrtätigkeit an und in staatlicher Schule zurzeit stattfindet, unter dem Pädagogen sich bewegen müssen und den sie sich bewusst halten sollten, wenn sie professionell mit sich und den Schülern umgehen wollen.

▼ 248 

Grundsätzlich gelten unterschiedliche Blickwinkel: Profession sieht Schule als Bildungs- und Erziehungseinrichtung, während der Organisationsblick das Schulhaus als Unterrichtsanstalt mit hierarchischem Stellenkegel betrachtet.

  1. Persönlichkeitsentwicklung vs. Informationsverarbeitung:

Profession unterliegt dem Auftrag, Bildung, Erziehung und Persönlichkeitsentwicklung zu erfüllen durch konkreten Unterricht (Vermittlung von Wissen, Vorstellungen, Ideen, Idealen) mit nicht-berechenbaren lebenden Systemen. Wissen kann hier nicht routineförmig und in einem technischen Sinne angewendet werden, sondern immer nur im Rahmen der Deutung eines Falles (Stock, 2006, 4). Die Idee der ‚Informations’-Aneignung und –Verarbeitung gilt hier eher im Sinn von aktivem, strukturerweiterndem (akkomodativem) Lernen und entsprechender Persönlichkeitsbildung.

▼ 249 

Organisation sieht die Idee der Informationsverarbeitung bzw. -weitergabe eher im Sinne strukturimmanenten (assimilativen) oder sogar mechanistischen Lernens. Nicht alle Inhalte haben aus schulbürokratischer Sicht Bildungsgehalt, weshalb die Ministerialbürokratie über bildungstheoretisch zu legitimierende Lehrpläne, Differenzierung von Schulklassen, Verteilung von Fächern und Zeitaufwand zu steuern versucht. (Luhmann 2002, 155).

  1. Beziehung vs. Technologisierbarkeit

Lehren erfordert aus Professionssicht pädagogischen Bezug. Kinder und Jugendliche als Mitglieder des Schulesystems haben als Heranwachsende einen besonderen Status: Sie sind keine Vollmitglieder (sondern temporäre Mitglieder mit eingeschränkten Rechten), obwohl Schule ihr eigenes Existenzrecht erst durch die Schüler bekommt. Erziehung beruht hier auf persönlicher Begegnung und beinhaltet eigenaktive Bewusstseinprozesse des Schülers. Lehrer können dabei hilfreich (bei-steuernd) sein, aber nicht prozessbeherrschend oder –determinierend. Schule lässt sich aufgrund der Eigenarten von Schülern und Fällen nur begrenzt zweckrational organisieren277 und technologisieren. „Das ‚Wissen’ der Profession besteht nicht so sehr in der Kenntnis von Prinzipien und Regeln [i.S. technologischer Standardisierung, R.M.] als vielmehr in der Verfügung über eine ausreichend große Zahl komplexer Routinen, die in unklar definierten Situationen eingesetzt werden können“ (Luhmann 2002, 149). Die personale Beziehung278 bleibt nicht ersetzbar (Huschke-Rhein 1998b, 33).

▼ 250 

Für die Organisation verfügt der Lehrer als Fachmann über Routinen, die standardisiert in sich wiederholenden, klar definierten Situationeneingesetzt werden können. Beziehungsunabhängige, rein sachliche, standardisierte Wissensvermittlung ist möglich. Pädagogischer Bezug, falls er dennoch erforderlich sein sollte, ließe sich eh nicht staatlich verordnen.

  1. Einzelfallverstehen vs. Standardisierung

Es ist der Einzelschüler, der im Mittelpunkt professioneller pädagogischer Bemühungen steht, so der unangefochtene schulpädagogische Anspruch. Lehrer begleiten und betreuen nach dem Einzelfall-Prinzip, das allgemeinrichtige Erziehungsmaßnahmen ausschließt (Rotthaus 2006, 37). Gerade im Konfliktbereich ist eine „Rezeptologie für alle Fälle“ (Palmowski 2003, 26) nicht praktikabel. „Standardisierte Konzepte definieren einen beträchtlichen Teil von [...Schülern, R.M.], die auf diese Art eines ritualisierten Kontextes nicht antworten, als unfähig. Oder sie suggerieren, dass jeweils ritualisiertes Standardvorgehen zum Auslösen der hilfreichen Prozesse nötig wäre“ (G.Schmidt 2004a, 154). Schüler fordern – insb. im Bereich von Konfliktfällen (Luhmann 2002)279 - als lebende Systeme individuelles Vorgehen ein, was auch einer postmodernen Wertesicht entspricht. Lehrer sind nicht nur „Wissensvermittler“, sondern begleitende Verstörer, Erzieher, Anwälte der Kinder, Konfliktvermittler, positiv oder negativ besetzte Symbolfiguren.

▼ 251 

Für die Organisation gilt, wie unter Punkt 2, dass Kategorisierung und Standardisierung - z.B. nach Klassen, Schulformen und Themen - angestrebt wird.

  1. Selbst- vs. Fremdkontrolle

Für die Organisation sind Lehrer Beamte und als solche zur Einhaltung übergeordneter Ziele der staatlichen Schuladministration (z.B. Chancengleichheit, verbindliches Curriculum, vergleichbare Standards) verpflichtet. Der Beamtenstatus verlangt nach administrativer Kontrolle und externer Evaluation von Lehrern und Schulhäusern.

▼ 252 

Administrative Kontrolle durch die Bürokratie ist aus pädagogischer Sicht unangebracht und nur begrenzt realisierbar, weil die Begleitung von Schülern Einzelfallbetrachtung benötigt. Lernfortschritte sind nicht objektiv und valide messbar: „Alle Evaluationsinstrumente konstruieren letztlich [lediglich, R.M.] eine Wirklichkeit eigener Art“ (Siebert 2005b, 122). Aufgrund von Einzelfallbetrachtung im pädagogischen und Unterrichtsprozess besteht die Notwendigkeit beruflicher Autonomie. „Die Grenzen der Kontrollierbarkeit verschaffen den [...] Lehrern den Vorzug einer strukturellen Autonomie. [...] Die eigentliche Arbeit des Unterrichtens, Erziehens, Beurteilens, Beratens und Innovierens vollziehen Lehrer im Klassenzimmer, und sie sind dort weder vollständig reglementierbar noch annähernd standardisierbar. So ist die sog. Aufsichtsspanne in der Schule auch größer als in anderen Organisationen, wo Vorgesetzte in der Regel nicht mehr als zehn Untergebene beaufsichtigen“ (Rolff 2001, 39; vgl. a. Siebert 2005b, 64): Die Emergenz von Kognition und Lernen (Kap. 7.9) lässt sich nicht nach einem Input-Output-Schema evaluieren.

Erfolge von Lehrkräften oder Schule sind kaum adäquat zu messen bzw. fassen: „In der Regel zeigt es sich erst im Erwachsenenalter, ob die Schulzeit erfolgreich war. Und auch dann lässt sich nicht eindeutig feststellen, ob es Erfolge der Schule oder anderer Instanzen von Kindheit und Jugend waren“ (Rolff 2001, 39). Der Preis für die Autonomie ist allerdings permanente Erfolgs- und Handlungsunsicherheit, welche nur durch kollegiale Kommunikation und Kooperation zu mildern ist

  1. teamartige vs. gefügeartige Kooperation

▼ 253 

Profession verlangt nach kollegialer Zusammenarbeit, wobei günstigenfalls örtliche und zeitliche Beweglichkeit freie Verfügung über Arbeitsverteilung und Aufenthaltsort gestatten würde. Eine solche Zusammenarbeit kann als ‚teamartige’ oder horizontale Kooperation von einer durch die Schulorganisation vermittelte, ‚gefügeartigen’, vertikalen Kooperation unterschieden werden.

Die bürokratische Schule mit ihrem Lehr- und Stundenplan bestimmt die vertikale Kooperation (Schulleitung – Lehrer) und die Trennung von Leitungs- und Lehrtätigkeit. Die ‚gefügeartige’ Kooperation wird durch die Schulorganisation vermittelt und vorgegeben: es gibt örtlich und zeitlich feste Arbeitsplätze; feststehende Lehrstoffe werden aufgeteilt nach Fächern, inhaltlicher Reihenfolge, Stundendeputat und Fachlehrern. Lehrer sind damit v.a. Einzelarbeiter hinter der geschlossenen Klassentür ohne (voll) ausgebildetes Organisationsbewusstsein. Die Perspektive ‚ich und meine Klasse’ wird so gegenüber der Einstellung ‚wir und unsere Schule’ gefördert, was zu einer zellularen Grundstruktur von Schule führt (Rolff 2001, 40). Teamartige Kooperation ist wohl eher die Ausnahme in Schule, aber nur sie kann verhindern, dass aus Schülersicht der Erziehungsprozess in isolierte Veranstaltungen zerfällt.

  1. reflexive vs. operative Ziele

▼ 254 

Die zentralen pädagogischen Ziele sind paradox und reflexiv (Erziehung zur Selbstständigkeit280), widersprüchlich (Förderung und Auslese müssen ständig ausbalanciert werden), tendenziell unbegrenzbar (die Vielzahl von Zielen macht ständig Prioritätsentscheidungen nötig, die schnell zu politisch-ideologischen Auseinandersetzungen führen können) und nicht operationalisierbar/ messbar (Ziele sind weitaus offener als z.B. bei marktorientierten Unternehmen).

Schule als Organisation verfolgt (meist eher kurzfristige) nicht-reflexive Planungsmaßnahmen zur Erreichung von Organisationszielen, wobei die Schulverwaltung zunehmend messbare Überprüfungen von Zielen verlangt und einfordert. Kaum lösbare politisch-ideologische Auseinandersetzungen sind strukturell vorprogrammiert.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass Organisation und Profession „einander äußerlich und aufeinander angewiesen“ bleiben (Kuper 2004, 135, Hvg.i.Org.). In der Unterscheidung zwischen Profession und Organisation stehen pädagogische Idealvorstellungen organisatorisch gegebenen Alltagserfordernissen gegenüber. Lehrer müssen in diesem Spannungsfeld einen speziellen Erfahrungsschatz aufbauen, der ihnen hilft, die berufsspezifischen Probleme je situationsbezogen, jenseits standardisierter Routine, kompetent zu lösen (Altrichter 2003, 642). Sie können zugleich von der Unmöglichkeit ausgehen, auf dem Hintergrund dieser Widersprüchlichkeiten des Schulsystems all den vielfältigen, von verschiedenen Seiten an sie herangetragenen Erwartungen gerecht werden zu können (Palmowski 1998a, 25). Dies muss nicht als Belastung, sondern kann auch als entlastende Befreiung erlebt werden. Der Kontrast von Profession und Organisation lässt sich in tabellarischer Kurzform wie folgt darstellen:

▼ 255 

Abb. 8-6: Vergleich Profession und Organisation schulisch-pädagogischer Arbeit 281

Deutlich wird hier, dass etliche „Konflikte und Belastungen strukturelle Momente des Lehrerberufs“ sind als Ausdruck einer hohen, durch den Kontext angelegten „Diskrepanz zwischen den Erwartungen und den realen Möglichkeiten“ (Kretschmann 2001b, 16; Hvg.R.M.). In ähnlicher Weise gilt das ansonsten nur für Krankenhäuser und kirchliche Einrichtungen. Die Besonderheit von semi-professionellen Berufen im Allgemeinen und von Schule im Besonderen verdeutlicht das folgende Schaubild von Rolff im Vergleich verschiedener Organisationstypen:

Abb. 8-7: Organisationsanalytisches Polaritätenprofil (nach Rolff 2001, 44)

▼ 256 

Huschke-Rhein (1998, 149) unterscheidet ähnlich, benennt den Unterschied aber anders, nämlich als ‚institutionelle Systemebene’ und als ‚personale Systemebene’. Er ergänzt einen weiteren Gegensatz zwischen Pädagogik und staatlicher Organisation von Schule. Schule als Organisation stellt tendenziell eher einen harten Kontext dar (z.B. Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß), während die (die Schule und Pädagogik beeinflussenden) derzeitigen gesellschaftlichen Vorstellungen eher weiche Kontexte darstellen (Wertepluralismus, Unverbindlichkeit). Im Nachklang der 70er Jahre kann dies auch verstanden werden als der Versuch von Pädagogen, den harten Kontext von Schule als Organisation (der klare traditionelle Werte einfordert) für die Schüler durch ein Verständnis für Abweichungen ‚abzufedern’. Huschke-Rhein (1998a, 65) selbst plädiert für „mittlere Werte zwischen ‚weich’ und ‚hart’.282

Die genannten Gegensätze aus dem widersprüchlichen Verhältnis von individuumszentrierter Pädagogik und staatlicher Organisiertheit von Schule als Zwangsveranstaltung sind gegenwärtig als die kontextuelle Gegebenheit des Lehrerberufs anzusehen – und als Herausforderung, mit diesen unterschiedlicher Systemlogiken umgehen zu müssen. Reinhard (2002, 54) schlägt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen ‚Beamter’ (institutionelle Ebene) und ‚Künstler’ (personale Ebene) vor. Während der Beamte eher schulische Umgebungen danach analysiert, ob bzw. inwieweit er selber und sie sich an bestehende Ordnungen halten (vgl. Kap. 8.4.2), versucht der Künstler eher seine subjektiven Vorstellungen in einem Umfeld zu realisieren, das er danach beurteilt, ob bzw. inwieweit es zu ihm und seinen Vorstellungen passt. Die ‚Beamtensicht’ beschreibt Reinhard (2002, 56) dementsprechend eher als eine fremdbestimmte, objektivierende, belehrende, ‚realitätsabbildende’ und misstrauende Funktionslogik, der die ‚Künstlersicht’ als eine eher selbstbestimmte, subjektivierende, kreativ-erfinderische, vertrauensvolle ‚Logik’ gegenüber gestellt wird. Wenngleich die zweite Sichtweise eher mit konstruktivistischen Annahmen übereinstimmt, so betont der systemische Ansatz doch auch, dass Handeln seine Kontextbedingungen mitbedenken muss.283

Der Widerspruch zwischen individuumszentrierter Pädagogik und staatlichem Schulrahmen prägt in jedem Fall – ob bewusst oder nicht - kommunikatives Verhalten an der Schule. Er wird vom einzelnen Lehrer oder Schüler individuell erfahren und ‚be-antwortet’. Damit stellt sich die Frage, wie ein Pädagoge sich entscheidet, mit pädagogischen und organisationalen Anforderungen in seiner je eigenen Selbstorganisiertheit und das heißt auch vor seinem Gewissen und gemäß seiner Berufsauffassung – in einer bestimmten Situation umzugehen. Hier besteht eine große Gefahr, sich in Doppelbotschaften zu verfangen (Huschke-Rhein 1998a, 65). Für den Lehrer gilt es dann individuell, nach dem je situativ angemessenen Sowohl-als-auch-Mischungsverhältnis zwischen diesen Funktionen bzw. Sichtweisen zu suchen, sie den Schülern transparent zu machen und ggf. zusammen mit diesen nach stimmigen Formen der gemeinsamen Beziehungsgestaltung zu suchen (Reinhard 2002, 60).

▼ 257 

Von einigen Vertretern der Elternseite, die einer idealisierenden humanistischen Alltagspsychologie und hohen Anforderungen anhängen, werden oftmals die Lehrer für Aspekte wie z.B. die Schulunlust von Kindern verantwortlich gemacht, die mit der Organisation von Schule zusammenhängen: „Lehrer werden oft als allmächtig angesehen in ihrer Fähigkeit, Schaden anzurichten, gleichzeitig aber als machtlos in ihrer Fähigkeit, zu erziehen und Wissen zu vermitteln. Nach dieser Sichtweise kommen Kinder offen, neugierig [...] zur Schule, werden aber allmählich dazu ‚erzogen’, gelangweilte und apathische Mitläufer zu werden. Lehrer [...] sind damit implizit diejenigen, die die Seele des Kindes verwunden“ (Omer/Schlippe 2004, 171). Eine Berücksichtigung der Kontextbedingungen schulischen Unterrichtens (auch durch Eltern und Schüler) kann es dem Pädagogen einfacher machen, sich selber in dem Spannungsfeld zwischen Profession und Organisation angemessen und flexibel zu verorten.

Bewusstheit für diese Widersprüchlichkeit von professionellen und organisationalen Ansprüchen macht es ihm dann auch leichter, seiner zentralen unterrichtlichen Aufgabe in realistischer Weise nachzukommen und angemessene Lernkontexte zu kreieren und zu begleiten. Insofern als in Schule eine Vielzahl von Kontextbedingungen schlichtweg gegeben (und tendenziell in der Hand der ‚öffentlichen Hand’) sind, relativiert sich nämlich abermals284 die Verantwortung von Pädagogen. Lehrer können nicht das, was vom System (Organisation) nicht geleistet wird, kompensieren, ohne auf Dauer auszubrennen. Zugleich muss eine strukturelle Kopplung gewährleistet bleiben zwischen den Interessen der Schülern als Systemmitgliedern und den (staatlichen) Interessen des Systems Schule (Huschke-Rhein 1998b, 32,37,121) sowie der Interessen und vitalen Bedürfnisse des Lehrers selber. Allerdings ist es möglich, „ein Sachsystem wie das Lernsystem der Schule als System personaler Beziehungen wiederzuentdecken“, indem man in der Betrachtung verstärkt auf Aspekte von Beziehungsgestaltung und Psyche achtet (Huschke-Rhein 1998b, 144). Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist zwar eingebunden in den Kontext einer Double-Bind-Insitution mit für beide Seiten letztlich unerfüllbaren weil widersprüchlichen Forderungen, und die Lehrer-Schüler-Beziehung bleibt deshalb auch durch den Kontext belastet. Aber ein immer wieder erfolgender Rückgriff auf metakommunikative gemeinsame Verständigung kann deutlich machen, dass der Lehrer sich dieser Problematik bewusst ist und Schule primär als System personaler Beziehungen sieht (Palmowski 2003, 220).

Letztlich wachsen mit dem konstruktivistisch-postmodernen Modell autopoietischer Steuerung die Zweifel, ob bzw. inwieweit Schule über bürokratische Megasysteme überhaupt handhabbar- bzw. steuerbar sein kann. Versuche, pädagogische Wirklichkeiten zu kalkulieren, erscheinen dann als „Omnipotenzfantasien jedweder Art“ (Siebert 2005b, 134). Gleichzeitig gilt, dass Schule auch in den postmodernen Gesellschaften bis auf weiteres massivem parteipolitischen Einfluss und staatlicher Organisiertheit unterliegen wird.

▼ 258 

Die hier vorliegende Arbeit und die Weiterbildung, auf die sie sich bezieht, setzen die momentane Verfasstheit von Schule als Kontextbedingung heutiger schulisch-pädagogischer Arbeit voraus. In diesem Kapitel sollte verdeutlicht werden, dass Pädagogen in der staatlichen Schule es mit zwei unterschiedlichen Systemlogiken zu tun haben. Diese sind für das eigene gesundheitliche Wohlbefinden wie auch für angemessene Lern- und Erziehungsprozesse zu berücksichtigen und mit den Schülern besprechbar und in Fragen der Ausgestaltung kooperativ verhandelbar. Ein Kampf gegen oder ein Ausblenden von einer Seite – Profession oder Organisation - wird auf Lehrer und Schüler langfristig negativ zurückwirken. Zugleich wird an dieser Stelle klar, dass viele Unsicherheiten von Lehrern in Schule – heute mehr denn je – strukturbedingt und nicht auf intellektuelle Defizite zurück zu führen sind (Siebert 2005b, 136).

Die Schulorganisationsforschung versucht in den letzten Jahren verstärkt, dass beschriebene Dilemma dadurch zu lösen, dass Organisationen als lernende, selbstorganisierende Systeme beschrieben werden (Kap.11.1). Überträgt man dieses aus dem Wirtschaftssystem kommende Modell auf die Schulhäuser, dann stellen ihre Mitglieder Diagnosen, ermitteln Bedarf, setzen und evaluieren Ziele und Schwerpunkte, handeln gemeinsam, und Führung geht tendenziell über in die Selbstorganisation kooperierender Teams (Rolff 2001, 43). Allerdings verbleiben diese Schulhäuser innerhalb des staatlich verwalteten und kontrollierten Erziehungssystems, was eine solche Übertragung nicht einfach möglich macht. Der Double-Bind-Charakter staatlicher Schulpolitik (zumindest der aktuellen) lässt sich damit nicht auflösen, er verstärkt sich vielmehr (Kap.2.3.2). Dies kann zu einer problematischen Form schulischer Organisationskultur führen (Kap. 8.4.2), die krank machen kann, wenn man sie nicht durchschaut. Es gibt aber nicht nur eine problematische Organisationskultur von Schule.

8.4 problematische Organisationskulturen von Schule

Nachdem Organisationskultur definiert und ihre Besonderheiten für Schule als technokratisch-bürokratisches System beschrieben wurden, sollen in diesem Kapitel idealtypische Fallen bzw. gesundheitsgefährliche Formen schulischer Organisationskulturen behandelt werden.285 Hierzu werden zunächst veränderungserschwerende, chronifizierende Aspekte von Schule beschrieben (Kap.8.4.1), die vor allem für mögliche Veränderungsprozesse in Schulhäusern zu berücksichtigen sind. Dann werden die Gefahren der Übertragung von Elementen aus (unternehmerischen) Belohnungssystemen auf schulische, bürokratische Ordnungssysteme (Kap. 8.4.2) näher beleuchtet. Dieses Thema besitzt auf dem Hintergrund, dass die Bildungspolitik genau dies sich vornimmt, aktuelle Brisanz für Schulhäuser und ihre Nicht/Entwicklungen. In einem dritten Unterkapitel werden zwei extreme Spielarten von Schulkulturen (Konsens- und Konfusionskulturen, Kap.8.4.3) vorgestellt, wie sie in manchen Kollegien vorherrschen und deren Dynamik zu erkennen eine Burnout-Prophylaxe darstellen kann. Abschließend werden die Wirkmechanismen psychosomatischer Kulturen beschrieben (Kap. 8.4.4), deren Kenntnis, angesichts der Tatsache, dass sehr viele Lehrer psychosomatische Beschwerden aufweisen, ebenfalls als gesundheitsunterstützend angesehen werden kann.

8.4.1 Schule als chronifizierendes System

▼ 259 

Schule als generelles Erziehungssystem wie auch Schule im Sinne des speziellen Schulhauses stellen hochgradig konstante, tendenziell veränderungsarme, für einige Autoren (fast) ‚veränderungsresistente’ Systeme dar. Für das generelle Schulsystem gilt diese Aussage aufgrund seines bürokratischen Charakters als technisches Ordnungssystem (Kap. 8.4.2). Für das Schulhaus gilt dies, weil es bei großer Kontinuität der Lehrer gegenüber den Schülern dem Modell eines Durchlauferhitzers286 gleicht (Schumacher 2002). „In der Beziehung zu ihren Schülern sind sie [die Lehrer] fast immer die Wissenden, die Schüler die Unwissenden. Welchen Grund sollte es für Lehrer geben, an ihrem Wissen zu zweifeln und neu zu lernen, wenn Schüler sie nicht stören?“ (Simon 2002, 157). Aber selbst dann, wenn sie stören, werden sie bald das Schulsystem verlassen und durch neue Schüler ersetzt werden. Die Schule braucht nicht zu lernen, da sie nicht einem Marktmodell folgen muss, kritisiert Simon (2002, 158). Die Schüler werden ihr automatisch, notfalls (bis zur neunten Klasse durch die Polizei) auch zwangsweise zugeführt.

Schule kann als ein eher konservatives System gelten, das in rekursiven, selbstbestätigenden Prozessen vor allem an der Fortsetzung seiner eigenen Existenz interessiert ist (Huschke-Rhein 1997, 36). Als solches stellt es für Lehrer „zwangsläufig [...] eine im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen unerhört konstante Umwelt“ dar, so dass Lernanreize für Lehrer bzw. das System verloren gehen (Simon 2002, 157). Im Sinne einer Störungsprophylaxe gibt es zahlreiche Möglichkeiten, den bisherigen Ablauf störende Schüler entweder aus dem Schulhaus dauerhaft zu entfernen oder sie zu pathologisieren. Solange Schule aber als unverändert erfahren werden kann, reicht das bisherige Unterscheidungs- und Verhaltensrepertoire aus.

Für eine solche soziale Organisation ist es schwer, aus eigener Kraft und aus eigenem Antrieb heraus, Verfestigungen aufzubrechen und Entwicklungen konzertiert auf den Weg zu bringen (v.Lüde 1997, 287). Dennoch wird seit einigen Jahren die Idee einer lernenden Schule propagiert; und gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Veränderungen durch den Einzug der Postmoderne lassen, aus einer Außenperspektive betrachtet, den Veränderungsbedarf von Schule ‚tatsächlich’ steigen. Schule muss das allerdings aus einer Innenperspektive nicht unbedingt so sehen. Aufgrund ihrer Abschottung bzw. mangelnden Kopplung mit anderen Systemen (Luhmann 2002) sowie der Machtstellung, als problematisch erlebte Schüler abschieben oder ‚exkommunizieren’287 zu können, vermag sie, Probleme und zum Teil auch Verantwortlichkeiten zu externalisieren.

▼ 260 

Sie übersieht dabei, dass, „je [...] starrer ein System auf Verhaltensänderungen reagiert, desto eher wird es Problemverhalten (eines oder mehrerer seiner Mitglieder produzieren)“ (Palmowski 1998a, 53). Am problematischsten werden Schüler erlebt, die eine Aufrechterhaltung der Chronifizierung von Schule nur über ihre eigene persönliche Pathologisierung zulassen (Schule besitzt hier Definitionsmacht), die aber nicht abgeschoben werden können und das faktische Verhalten in der Klasse über störendes Verhalten wesentlich mitbestimmen (der Schüler besitzt hier Verhaltensmacht).288 Chronifizierende Schulkulturen produzieren solche Situationen mit. Die relativ hohe Chronifizierung des „Konservatismus im Schulsystem“ (Hubrig/ Herrmann 1997, 167) findet dann ihre Grenze, wenn innerhalb des Systems zu viele Schüler sich so unerwartet verhalten, dass eine kritische Masse erreicht wird, ab der das System intern anders reagieren muss.

Nicht verschwiegen werden soll, dass die Kontinuität von Schule freilich auch als eine Stärke betrachtet werden kann. Verlässliche Rahmen schaffen Orientierung, Komplexitätsreduktion und Arbeitserleichterung durch Routinen. Andererseits besitzt Schule Umfelder, in die hinein sie ihre Klientel entlassen muss, so dass die These, dass Gesellschaft sich maßgeblich verändert, voraussichtlich mittel- oder langfristig Schule betreffen wird. Dann wird sich die Frage stellen, wie Schule in postmodernen Zeiten als bürokratisch-technische Einrichtung des Staates sich anpassen muss, kann, soll, darf. Die Diskussion um Schule als lernende Organisation (Kap.11) wird hier interessant.

Chronifizierenden Schulkulturen stellt die Kultusbürokratie gegenwärtig neue Verordnungen und Gesetze gegenüber, die – in Teilen - mehr Anreize für Veränderung geben sollen. Dabei differenziert sie aber ungenügend zwischen zwei grundlegenden, unterschiedlichen Funktionslogiken, wie das nächste Unterkapitel aufzeigt.

8.4.2 Vermischung von Ordnungs- und Belohnungskulturen

▼ 261 

In diesem Kapitel soll zunächst die für staatliche, bürokratisch-technische Institutionen typische Ordnungskultur dargestellt werden und mit neueren Versuchen ihrer wirksameren Ausgestaltung verglichen werden, die aus einem anderen Denkmodell heraus erfolgen. Eine Kenntnis dieser beiden Modelle und ihrer deutlich eingeschränkten Kompatibilität stellt wichtige Kenntnisse für die Einschätzung der Schule als Arbeitskontext und der gegenwärtigen schulpolitischen Neuerungsversuche zur Verfügung. Professionalität als Pädagoge beinhaltet Bewusstsein über diese Modelle, die den schulischen Alltag und ggf. schulische Veränderungsprozesse wesentlich prägen. Die Darstellung folgt im Wesentlichen Looss (2007).

Lehrer in Schule leben in relativ stabilen Arbeitsverhältnissen, verbeamtet, ggf. auch mehrere Jahrzehnte im gleichen Schulhaus, i.d.R. ohne Chance auf drastische Karrieresprünge. Ein solches System versucht, (bestehende) Ordnung aufrechtzuerhalten und Kontinuität zu sichern. Während die gegenwärtige Organisationsforschung, die sich primär allerdings auf Unternehmen bezieht, davon ausgeht, dass Organisationskulturen Bewahrung und Veränderung ausbalancieren müssen (Kap. 8.1.2), kann Schule als konservatives System und staatliche Bürokratie als eine Einrichtung gesehen werden, die den Bereich der Bewahrung und Ordnung sehr stark betont und auch so konzipiert ist. Tätigkeiten wie extracurriculare Weiterbildung, Elternarbeit, Supervision und Teamarbeit und alle Formen schulischer Entwicklungsarbeit sind, aus der Sicht der das System tragenden Mitglieder - „ihr Privatvergnügen – getragen von ihrem Ethos und ihrer Energie, aber streng wirtschaftlich genommen unnötig“ (Schweitzer 2005, 78). Eine solche Ordnungskultur gleicht im Ideal einer trivialen Maschine, ihr Ziel ist Ordnung, ihr Anreiz Ruhe, Stabilität und in diesem Sinne Sicherheit. Das ‚Leben’ und seine Unberechenbarkeit wird hier als ‚Störfall’ abgearbeitet. Der Beamte mit seinem ‚Dienstvertrag’ steht entsprechend nicht in einem Arbeits-, sondern in einem Treueverhältnis, und er wird für seine Tätigkeit nicht bezahlt, sondern, wie der Fachbegriff lautet, ‚alimentiert’.289 Diese Konzeption von Schule entspricht dem Modell von Schule als Organisation (Kap.8.3) und sieht Lehrer in Dienstverträgen (vgl.S.200).

Hiervon lassen sich Zielerreichungssysteme unterscheiden, wie sie eher für Unternehmen am Markt typisch sind. Diese klären ihre Ziele stets neu, entwickeln hieraus Anstrengungen und Projekte, die der Erreichung konkreter Ziele dienen, die sich z.T. auch kurzfristig wieder ändern können. Der Anreiz ist hier nicht Ruhe sondern Belohnung, ihr Ideal die ‚Heldentat’. Zielerreichungssysteme sind i.d.R. zugleich Beurteilungs- und Belohnungssysteme.

▼ 262 

Ob diese Kulturen als gut oder schlecht eingestuft werden, hängt von der zugrundegelegten Perspektive dessen ab, was erreicht werden soll (Martin/ Schuster 2005, 79). Ein Schaubild soll die beiden unterschiedlich funktionierenden Systeme noch einmal verdeutlichen und einander gegenüber stellen:

Abb. 8-8: zwei Organisationskulturen: Bürokratie und Wirtschaft

Eine Vielzahl von in verschiedenen Bundesländern in der Diskussion oder der Umsetzung stehenden Projekten (Schul- und Fortbildungsprogramm, Evaluation, leistungsgerechte Bezahlung, ergebnisorientierte Lehrpläne usw., vgl. Kap. 2.2) entsprechen eher der Logik von Zielerreichungssystemen, die in einem Ordnungssystem implementiert werden sollen. Ein Funktionieren muss hier nicht ausgeschlossen werden, man sollte sich nur bewusst halten, dass beide Systeme nach unterschiedlichen Logiken funktionieren und aus einem Ordnungssystem nicht durch Übertragung einiger Aspekte von Entlohnungssystemen selber Entlohnungssysteme werden. Schule ist weiterhin als Ordnungssystem organisiert, die angesprochenen Reformen stellen in diesem Sinn daher auch keine Veränderung zweiter Ordnung dar. Systemisch betrachtet, arbeiten Systeme Inputs von außen nach der eigenen Logik ab. Das heißt hier, dass Schule als Ordnungssystem mit seiner Eigenlogik Zielerreichungselemente i.d.R. als Störfalle abzuarbeiten versucht bzw. versuchen wird, um wieder die gewohnte Ruhe herzustellen und die alten Rituale aufrechtzuerhalten. Tatsächlich werden bereits in den Vorgaben an die Schulhäuser (und nicht erst bei den Reaktionen der Schulhäuser auf diese Vorgaben) die bisherigen schulbürokratie-typischen Double-Bind-Situationen chronifiziert und verstärkt. Das lässt sich in Hessen (dem Land, in dem die hier untersuchte Fortbildung stattfand) vielfach belegen.290

▼ 263 

Die Übertragung von Zielerreichungsaspekten in Ordnungssysteme produziert in letzteren unvermeidbar Widersprüche. Verfahren und Methoden von Zielerreichungssystemen werden dann in Form von Störfällen abgearbeitet und im Sinne der eigenen Systemlogik abgeschwächt. Schematisch lässt sich das wie folgt darstellen:

Abb. 8-9: Versuch der Übertragung von Zielerreichungssystemen in Ordnungssysteme

Die Aufgabe für Einzelkollegen, Schulhäuser und v.a. Schulleitung ist dann, sich die beiden Logiken bewusst zu halten und zu schauen, wie sie mit Vorgaben ‚von oben’ intelligent und für die eigene Einrichtung sinnvoll umgehen können. Das sind Verhandlungsfragen, die Schulentwicklung und, was Schulleitung betrifft, auch Führung betreffen.

▼ 264 

Es können sich sowohl Schule als bürokratisch-technische Einrichtung des Staates als auch schulhäusliche Kulturen chronifizieren. Beide sind von der Vermengung von Ordnungs- und Zielerreichungssystemen betroffen. Die beiden nächsten Unterkapitel beziehen sich hingegen v.a. auf Schulhäuser.

8.4.3 Konsens- und Konfusionskulturen

Eine weitere wichtige Unterscheidung im Bereich der Organisationskulturen trifft Simon (2001a, 136ff) für Unternehmens- wie auch explizit für Lehr-Lern-Kulturen. Auch hier geht es um die Beschreibung von Merkmalen, anhand derer erkennbar wird, dass man den Boden einer angemessen funktionstüchtigen Organisationskultur verlässt. Simon beschreibt zwei gefährliche Formen von Organisationskulturen, bei denen Veränderung verunmöglicht wird, weil nichts als ‚neu’ eingebracht werden kann. Im einen Modell sind die vorhandenen Wirklichkeitskonstruktionen und Regeln so starr, dass potenzielle Neuerungen eliminiert oder schon gar nicht mehr gedacht werden. Simon spricht hier von ‚Konsenskultur’. Im anderen Extrem sind Wirklichkeitskonstruktionen und Regeln so unklar und uneindeutig, dass es kein etabliertes Altes gibt, gegen das sich neue Ideen durchsetzen könnten, alles ist unverbindlich und stets neu. Simon nennt diese Organisationskultur ‚Konfusionskultur’.

Beide modellhafte Kulturmodelle (Konsens und Konfusion) begrenzen sich gegenseitig, da sie sozusagen auf einem Kontinuum die beiden Extrempole darstellen. Günstig ist, wenn die Organisationskultur sich auf dem Kontinuum in einem mittleren Bereich bewegt und sowohl Eindeutigkeiten als auch Mehrdeutigkeiten zulässt (= sowohl-als-auch). Problematisch wird es, wenn eine Seite die Oberhand gewinnt (entweder-oder), was bei zwei Szenarien der Fall ist. Erstens, Ambivalenz (Ordnung und Chaos) wird dort, wo sie nützlich wäre (z.B. beim Aufschub von noch unreifen Entscheidungen), nicht zugelassen. Hier wäre eigentlich noch mehr Experiment im ‚Spielmodus’ (Clement 2004, 167) nötig. Zweitens, Ambivalenz wird dort, wo Eindeutigkeit (Ordnung) nützlich wäre (z.B. beim Treffen notwendiger und drängender Entscheidungen), nicht aufgelöst. Hier wäre mehr Verbindlichkeit im ‚Ernstmodus’ angesagt. Zielgerichtete Veränderung wird in beiden Fällen wesentlich erschwert oder verunmöglicht, weil die realen Handlungsmöglichkeiten zu sehr eingeengt werden oder deren Bedeutungsgebung nichtssagend wird.

▼ 265 

Die beiden extremen, als gefährlich eingestuften Organisationskulturen können einander wie folgt gegenüber gestellt und stichpunktartig erläutert werden:

▼ 266 

Abb. 8-10: Konsens- und Konfusionskulturen (erstellt nach Simon 2001a, 136ff)

Schulen mit extremen Kulturen befinden sich - nach Simon - eher auf der Konfusionsseite, wo jeder einzelne einen hohen Autonomieanspruch hat und seine Kreativität vor zu viel Verregelung schützen will. Schulen mit Konsenskulturen befinden sich eher in kirchlicher Trägerschaft, sind Privatschulen oder Schulen, die einer (städtischen) Konkurrenzsituation ausgesetzt sind und sich als ‚beste Schule vor Ort’ verstehen. Für Lehrer kann es wichtig sein, solche Kulturen zu erkennen und sich vor entsprechenden Verstrickungen, soweit möglich, zu schützen (z.B. über eine hohe eigene Klarheit im Umgang mit der eigenen Position, eigenen Ressourcen und eigenen Verantwortlichkeiten, vgl. Kap.9). Anderenfalls drohen psychosomatische Beschwerden.

8.4.4 Psychosomatische Kulturen

Psychosomatische Beschwerden müssen nach Untersuchungen als für den Lehrberuf typisch gelten (Bauer 2004a; Hubrig/ Herrmann 2005, 142). Sie werden dementsprechend in einem eigenen Kapitel behandelt. Psychosomatische Leiden verortet Simon v.a. in Konsenskulturen, weil dort aufgrund von - gegenüber einem selbst - hart durchgesetzten hohen Anforderungen eigene Bedürfnisse verdrängt werden, die sich dann über die Weisheit des Körpers wieder ‚melden’. Meine Erfahrung in Supervisionsgruppen ist, dass psychosomatische Beschwerden auch in schulischen Konfusionskulturen gang und gäbe sind. Das kann auf zweierlei Art interpretiert werden. Erstens ist es möglich, dass auch hier eigene Bedürfnisse vernachlässigt werden, dass z.B. Abgrenzung und Distanzierung nicht genügend gelebt werden (in sozialen Berufen gibt es häufig zentripetale Tendenzen von Beziehungsgestaltung).291 Zweitens können unzureichende Abgrenzungsfähigkeiten auch biographisch begründet sein (und Menschen unbewusst in einen sozialen bzw. in den Lehrberuf ziehen), wo diese Mechanismen solange weiter wirken, bis man sie sich (z.B. über Fortbildungen oder Supervisionen) bewusst macht (Hubrig/ Herrmann 2005, 48, Schmidbauer 2001).292 Mangelnde Distanzierungsfähigkeiten stehen auch in der Studie zur Lehrergesundheit von Schaarschmidt (2005) bei beiden dort beschriebenen Risikomustern im Mittelpunkt (vgl. Abb. 9-8, S.336). Es gibt für Psychosomatik in Schule also mehr als nur eine Lesart. Auch hier gilt: die Vielfalt der Erzählungen bereichert und steigert die (Re)aktionsmöglichkeiten.

▼ 267 

Psychosomatische Muster können zunächst als individuelle Muster gelten. Damit sie (Teil der) Organisationskultur werden, müssen eine Vielzahl von Individuen sie leben. In sozialen Berufen passiert dies immer wieder. Eine solche Organisationskultur wirkt dann zirkulär auf die Mitarbeiter (Abb. 8-1, S.225). Dieses Kapitel kann daher unter zwei Sichtwinkeln gelesen werden. Erstens, bezogen auf Dynamiken in einzelnen Pädagogen, wie sie gerade bei helfenden Berufen häufig anzutreffen sind (Schmidbauer 2001). Zweitens, bezogen auf mögliche Subsysteme (z.B. Teilkollegien) oder die Organisationskultur in diversen Schulhäusern.

Mücke (2004, 546,550; nach G.Schmid) und Simon (2001b, 165ff) erklären die Organisation des individuellen psychischen Systems bei psychosomatischen Symptomen wie folgt: Die Loyalitäts-Seite des Individuums verbündet sich mit den spezifischen Kontextbedingungen und versucht, gegen die Bedürfnisse des eigenen Organismus die von außen an einen gestellten Erwartungen zu erfüllen. Das bewusste Ich ist dabei von der Autonomie-Seite und damit vom Organismus dissoziiert. Erst wenn sich die psychosomatische Symptomatik entwickelt, muss sich das bewusste Ich dieser Symptomatik und damit dem Organismus zuwenden.

Abb. 8-11: personales psychosomatisches System (Mücke 2004, 546)

▼ 268 

Personale und soziale Systeme mit psychosomatischem Muster besitzen durchaus große Fähigkeiten (Mücke 2004, 550) wie z.B.,

Individuelle Muster und Kontextbedingungen können sich gegenseitig so verstärken, dass ungeschriebene Regeln im Verhalten zwischen Kollegen psychosomatische (Sub)Kulturen bilden. Dann gelten unausgesprochen für die Beteiligten in etwa folgende psychosomatische Spielregeln: ‚Mir geht es nur gut, wenn es den anderen gut geht. Ich sorge dafür, dass es den anderen gut geht. Man äußert keine eigenen Bedürfnisse. Man belastet die anderen nicht und stellt sie nicht in Frage. Vermeide passiv oder aktiv wirklichen Konfliktaustrag (da Trennung droht, auch wenn er langfristig für alle hilfreich sein könnte). Sage nicht Ja und nicht Nein. Betreibe keine Metakommunikation’ (Schumacher 2002). Die mangelnde eigene Distanzierungsfähigkeit wird an diesen Sätzen deutlich. Einen sozial akzeptierten, aber immer nur vorübergehenden Ausstieg aus diesem Spiel ermöglicht bei solchen Narrationen bzw. ‚Glaubenssätzen’ nur Krankheit.

▼ 269 

Auf diesem Hintergrund ist es für Weiterbildungen für Lehrer wichtig, Fragen der persönlichen Distanzierungsfähigkeit zu behandeln. Ein alternativer Ausstieg besteht nach Mücke bspw. in der Anerkennung, dass, etwas für die anderen zu tun, zugleich auch heißt, etwas für sich selber tun im Sinne eines akzeptablen heimlichen Gewinns. Es geht ggf. auch um eine Würdigung, dass, gebraucht zu werden, eine erfolgreiche Überlebensstrategie war und ist. Der Hinweis oder der Vorsatz, etwas für sich selber tun zu sollen, wäre lediglich Teil des Entweder-oder-Musters des Problems (Abb.8-11) und wenig hilfreich. Auch kann die eigene Konfliktfähigkeit weiter ausgebaut werden im Sinne der Fähigkeit, die eigene Person zielorientiert und kompromissfähig zu vertreten bei gleichzeitiger Akzeptanz, dass man nicht immer gewinnen kann. Letztlich ist es bei psychosomatischen Beschwerden wichtig, zu lernen, auf den eigenen Organismus zu hören (Kap.9.6.2).

Die in diesem achten Kapitel beschriebenen schulischen und schulhäuslichen organisationskulturellen Aspekte bilden einen Rahmen, dessen Berücksichtigung wichtig ist bei der konkreten und erfolgsorientierten Umsetzung der in Kap.7 gezogenen und erläuterten pädagogischen Konsequenzen des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes für schulische Pädagogik in der Postmoderne. Die folgenden Kapiteln können sich nun in konkreter Form den Bereichen schulischer Pädagogik (Kap.9) und Beratung (Kap. 10) sowie der Schulentwicklung (Kap.11) zuwenden.


Fußnoten und Endnoten

270  Die für diese Dissertation erstellte Fortbildung bezieht sich v.a. auf Einzellehrer, wie vom Auftraggeber (RPA, S.103) gewünscht. Damit trägt diese Weiterbildungsreihe der Tatsache Rechnung, dass Lehrer in Deutschland i.d.R. immer noch Einzelkämpfer sind, was wiederum mit der Konzeption des institutionellen Kontextes durch die Bildungspolitik zusammenhängt.

271  Dazu kann es auch gehören, diese Kenntnis für Schulentwicklungsprozesse zu verwenden, so dass letztere in angemessener Form und sowohl ressourcennutzend als auch –schonend verlaufen können. Mehr dazu in Kap.11.

272  Dort geht es um einen anderen Blick als den soziologischen, wie ihn bspw. Luhmann auf Schule warf (Kap.6.2).

273  Hiervon abweichend die Unterscheidung bei König: Personensystem, Kommunikationssystem und Systemumwelt (König 2006, 220). Darüber hinaus wird der Begriff der Organisation in dieser Arbeit wie in der Forschungsliteratur auch im Sinne einer Institution oder eines Unternehmens gebraucht.

274  Seine Benutzung würde auch für jene Organisationsberater, die lediglich Kommunikation und nicht Personen als Elemente von Systemen sehen, keinen Sinn machen.

275  Krainer entwirft auf dem Hintergrund dieser Logik ein etwas neueres, stärker wirtschaftlich geprägtes Bild von Schule als (bloßer) Organisation, wie es auch in der aktuellen Bildungssteuerungsdiskussion durch die Bürokratie und Kultusministerien teilweise vertreten wird: „Schule können als Betriebe aufgefasst werden, deren Hauptaufgabe darin besteht, (Schüler-)Material zu veredeln [...in] einem langjährigen Bearbeitungsprozeß [...] unter ständiger Qualitätsbeobachtung und –prüfung [...] mit einem Gütesiegel“ (Krainer 1991, 61f).

276  z.B. Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Ulrich Oevermann.

277  Man könnte auch sagen: Die Rationalität des Schulsystems und die Rationalität des einzelnen Erziehers differieren.

278  Nohl nannte sie den „pädagogischen Bezug“ (Nohl zitiert nach Huschke-Rhein 1998b, 33).

279  Dabei sieht Luhmann allerdings noch keine strukturell-etablierten Vorkehrungen der Organisation (wie z.B. bei Konfliktmanagementsystemen), sondern betont in diesem Zusammenhang die persönliche Verantwortung des Pädagogen als Appellationsinstanz (Kuper 2004, 141).

280  Würde man jemandem vorschreiben, wie er als Mündiger zu denken hat, behandelte man ihn als unmündig. Jeder Schüler muss für sich entscheiden, was Mündigkeit heißt. Daher ist Erziehung zur Mündigkeit Erziehung zur Selbsterziehung.

281  Reich bezeichnet den Blick der bürokratisch-mechanischen Organisation auch als ‚institutionelle Pädagogik’, während er für die Profession eine konstruktivistische Sichtweise fordert (Reich 1998c, 20). Der hier vertretenen Auffassung gemäß liegt die Stärke eines systemischen wie konstruktivistischen Ansatzes allerdings gerade auch in der Berücksichtigung der Systemlogik von Schule für die pädagogische Arbeit.

282  Jedenfalls zeichnet sich der pädagogische Bezug nicht notwendig durch einen weichen Kontext aus. Deshalb habe ich diese Unterscheidung auch nicht in dieser Form in die Tabelle in Abb. 8-6 aufgenommen. Die weiteren Ausführungen (insb. Kap.8.4.3 und 9.1.6) werden zeigen, dass auch ich eine je einzelfallbezogene Mischung von harten und weichen kommunikativen Aspekten für den pädagogischen Bereich für angemessen halte.

283  Damit ist über die zukünftige Organisationsformen von Schule noch nichts ausgesagt. Zu vermuten steht, dass, wenn die Entwicklungen in Richtung postmoderne Gesellschaft (i.S. des Modells der Stufe 5 nach Kegan, vgl. Kap.5.2.3) weiter geht, systemisch-konstruktivistische Sichtweisen auch in der Organisation von Schule stärker zum Tragen kommen dürften (vgl. dazu Palmowski 2004b; Thom/Ritz 2000). Fraglich ist, ob staatliche Bürokratie in ihrer jetzigen Form als Ordnungssystem (Kap.8.4.2) Bestand haben kann.

284  Die gleiche Feststellung ergab sich aus der autopoietischen Selbstorganisation der Schüler.

285  Es ist leichter möglich, Szenarien bzw. Kriterien zu vermitteln, anhand derer ein Pädagoge feststellen kann, dass eine problematische Situation gegeben ist, als Gelingensbedingungen en detail zu formulieren, die standardisiert umgesetzt werden könnten. Letzteres ist auch für Organisationsentwicklungsprozesse nicht möglich, da Organisationen komplexe soziale Systeme sind, für deren Betrachtung (ebenso wie im pädagogischen Professionskontext) der Einzelfallbezug gilt.

286  Die Schüler werden automatisch dem System zugeführt und durch das System geschleust. Überspitzt formuliert impliziert dies Aussagen wie, dass ein Arbeitsblatt, das sich zwanzig Jahre lang bewährt hat, nicht falsch sein könne.

287  aus der Kommunikation ausschließen

288  Das sind z.B. Schüler, die so wirken, als woll(t)en sie nicht lernen (z.B. weil sie auch mit einem schlechten Real- oder einem Hauptschulabschluss keinen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen bekommen werden), und sich in Schulformen befinden, in die von Seiten der Politik wenig Geld und außerdem auch von Eltern wenig Aufmerksamkeit fließt. Kommen sie in die Schule, sind solche Schüler kaum abzuschieben und auch nur äußerst schwer zu motivieren. Ebenfalls als problematisch erlebt wird die ansteigende Zahl von Schülern, die aufgrund ihrer Leistungen z.B. das Gymnasium ‚packen’, aber Verhaltensauffälligkeiten (z.B. ADHS) zeigen, mit denen insb. fachorientierte Pädagogen ihre Schwierigkeiten haben.

289  „Der Staat als zentrales, die Egoismen seiner Bürger übersteigendes Subjekt [...] nimmt [...] in seinen entscheidenden Funktionen die Hilfe der Beamten in Anspruch; sie haben einen Eid zu leisten, dass sie sich an diesem Wettbewerb aller gegen alle nicht beteiligen, und bekommen für ihre Selbstentwaffnung freien Abzug in die Pension zugesichert“ (SZ 8.8.07. S.12).

290 

Hier drei Beispiele. (1) In Hessen wurde 2005 nach langer Diskussion eine Fortbildungsregelung eingeführt, der gemäß die dortigen Lehrer nunmehr eine bestimmte Anzahl von Fortbildungspunkten für einen bestimmten Zeitraum nachweisen müssen. Der Anreiz ist hier lediglich symbolischer Art und nicht handfest materieller, wie dies typisch für staatliche Ordnungssysteme ist (z.B. Ordensverleihung nach Tod für das Vaterland). Die verliehenen Punkte dienen auch weniger einer Belohnung als vielmehr dem Vermeiden von Nachteilen, die allerdings nur entstehen können bei Bewerbungen auf höhere Posten. Lehrer, die mit ihrer Dotierung zufrieden sind (in einem System mit vergleichsweise wenig Aufstiegschancen wahrscheinlich nicht wenige), brauchen sich, streng genommen, nicht um diese Regelung zu kümmern, die für Mitarbeiter über 60 ohnehin nicht gilt. Das vermeintliche Signal der Belohnungschance wurde häufig von Lehrerseite faktisch als Vorwurf aufgenommen, sich nicht genügend fortzubilden, also unprofessionell zu lehren.

(2) Auch bei der Einführung von Mitarbeitergesprächen wird die Problematik der Vermischung der Systeme und ihrer Logiken offensichtlich. Nach langen Verhandlungen u.a. mit den Personalvertretungen der Lehrer wurden jährliche Mitarbeitergespräche als verpflichtend eingeführt. Während in der Wirtschaft ein Leiter i.d.R. sechs bis acht solcher Gespräche pro Jahr führt, sollen Schulleiter bzw. Schulleitungen großer Systeme bis zu 120 und mehr Gespräche führen, ohne wesentliche Entlastung. Explizit ausgenommen von solchen Gesprächen sind Beurteilungsfragen, die hingegen in Zielerreichungssystemen üblicherweise explizit in die Mitarbeitergespräche integriert sind. Belohnungschancen können Schulleiter bis jetzt noch nicht offerieren, da es eine Bezahlung nach Leistung (noch) nicht gibt. Wenn sie käme, wäre sie bei der jetzigen Planung in Hessen allerdings ein Nullsummenspiel: Es dürfen – so der Planungsstand - maximal Abweichungen von 10% vorgenommen werden, wobei die Verrechnung kollegiumsintern im Sinne eines Nullsummenspiels erfolgen muss. Vergleichbare Projekte gehaltswirksamer kollegiumsinterner Beurteilung sind in anderen Staaten bereits ausnahmslos gescheitert, weil sie teamartige Kooperation noch mehr konterkarieren (Rolff/ Buhren 2002, 44).

(3) Die Einführung ergebnisorientierter Lehrpläne soll Schulhäusern mehr Freiheiten bei der Gestaltung des Unterrichts geben und zugleich Bildungsstandards sowohl sichern als auch Lernergebnisse vergleichbarer machen. Sowohl die Ausformulierung der Bildungsstandards auf Landesebene als auch (meist) die Ausformulierung ihrer konkreten Umsetzung in Schule sind allerdings letztlich im Wesentlichen eng angelehnt an die alten Lehrpläne und so umfangreich, dass die Gestaltungschancen von vielen Kollegen als kaum erhöht angesehen werden. Gleichzeitig wächst aber (für ein Ordnungssystem nicht verwunderlich) die Verunsicherung unter den Lehrkräften, zumal parallel das zentrale Abitur eingeführt wurde, dessen tatsächliche, genauen Aufgaben und Themen vorher nicht bekannt sind – wohl aber wurde (zumindest im Abendschulbereich) deutlich, dass in den staatlichen Vorgaben zum Landesabitur (in einigen Fächern) teilweise Themen genannt wurden, die in den (Entwürfen der) Bildungsstandards gar nicht aufgetaucht waren und den Umfang des Lernmaterials noch zusätzlich erweitern. Momentan sind die Bildungsstandards wieder zurück gerufen worden.

291  Sich dann doch zu entscheiden, sie zu leben, kann dazu führen, das Schulhaussystem zu verlassen (vgl. die Zeile ‚Ergebnis der Konfusionskultur’ in der obigen Tabelle (Abb. 8-10).

292  Das beträfe Lehrer dann zunächst unabhängig von der Zugehörigkeit zu Konsens- oder Konfusionskulturen.



© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 3.0TARGET
Textarchiv Gotha/Erfurt
HTML-Version erstellt am:
09.06.2008