8 Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen – Erweiterung der Bestandsaufnahme vor dem Hintergrund der geführten Gespräche

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Zusammenfassend kann die Bestandsaufnahme nach der Sichtung der Literatur in den ersten vier Kapiteln um folgende Aspekte ergänzt oder vertieft werden.

Religionslehrerinnen haben ein Interesse an ihrer religiösen Lebensgeschichte. In ihrer Konstruktion, die gleichzeitig eine Deutung der Erfahrungen ist, hilft sie, Widersprüche zu erklären oder zu glätten. Beispielsweise wurde der gesellschaftliche Transformationsprozess der Wende von den Lehrerinnen in der Regel als einschneidend erfahren. Auf die heutige berufliche Situation wirkt, wie die Lehrerinnen verbunden mit beruflichen und persönlichen Brüchen umgegangen sind und was sie ungebrochen übernommen haben, wie in Kapitel 3 und 4 vermutet.

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Religion wurde häufig gewählt, um die eigenen Chancen im neuen System zu verbessern, aber auch, um ideell einen neuen Aufbruch zu wagen. Ausschlaggebend für die Entscheidung, Religion zu unterrichten, war in allen Fällen der persönliche Glaube oder zumindest eine Beziehung zur Kirche, die in der Familie bestand. Durch das Fach Religion entdeckten oder entfalteten die Lehrerinnen ihre persönliche Religiosität neu. Die gelehrte Religion hat vermutlich in der ersten Aufbauphase des Religionsunterrichts an Regelschulen in Thüringen die persönliche Religiosität der Lehrerinnen maßgeblich beeinflusst.

Viele Lehrerinnen sehen den heutigen Zustand an den Schulen eher kritisch. Allerdings ist diese Haltung womöglich auch auf ihre überwiegend lange Berufstätigkeit zurückzuführen, so dass sie resümierend – vielleicht ernüchtert – auf den eigenen beruflichen Werdegang und auf die Aufbaugeschichte des Religionsunterrichts zurückblicken. Dass alle Religionslehrerinnen in irgendeiner Form klagen, kann durch die immer noch ungünstigen Strukturen für das Fach Religion an vielen Regelschulen begründet werden. Der Austausch untereinander ist in Thüringen intensiv, weil sich viele Lehrerinnen regelmäßig auf Weiterbildungen wiedersehen. Das Geleistete verschwindet leicht, wenn miteinander über die negative Situation an der eigenen Schule erzählt wird. Auch der gesellschaftliche Druck auf Lehrerinnen und Lehrer mag hier eine Rolle spielen, denn das gesellschaftliche Ansehen ihres Berufs ist nach Aussage der Lehrerinnen seit der Wende gesunken. Andererseits heben sie hervor, dass sie durch das Fach Religion viel hinzugelernt und wichtige neue Beziehungen geknüpft hätten. So sind – trotz aller Mängel – die Religionslehrerinnen eher zufrieden mit ihrer Tätigkeit. Denkbar ist darüber hinaus auch, dass die interviewten Religionslehrerinnen gerade das Gespräch mit mir als Forscherin suchten, um Kritik loszuwerden, und deshalb die Beschwerde so in den Vordergrund rückt. Infolgedessen ist es aufgrund dieses Befundes umso bedeutender, das von Religionslehrerinnen Geleistete zu würdigen und zu fragen, wie sie weiterhin unterstützt werden können.

Beziehungsorientierung und soziales Handeln genießen bei den interviewten Religionslehrerinnen eine hohe Bedeutung. Eventuell ist dies schon durch das Auswahlverfahren der Gesprächpartnerinnen nahe liegend, da sich die Lehrerinnen von sich aus zurückgemeldet haben. Das setzt ein soziales Interesse und Kooperationsbereitschaft voraus. In der Regel haben sie den Lehrberuf ergriffen, weil sie an Vermittlung und Erziehung interessiert waren. Eine spezielle Fachorientierung war den Lehrerinnen meistenteils eher sekundär wichtig wie sie selbst in ihren Erzählungen nahe legen. Viele Religionslehrerinnen greifen auf ein Netzwerk von Fachkolleginnen und -kollegen aus der Aus-, Fort- und Weiterbildung zurück und nutzen dieses auch regelmäßig. Sie fühlen sich nicht allgemein als Einzelkämpferin, sondern nur dann, wenn sie ausschließlich als Fachlehrerin für Religion an einer Schule unterrichten.

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Zumeist genießen sie die Arbeit in den kleinen Lerngruppen. Andererseits ist ihnen bewusst, dass sie gerade vor dem Hintergrund niedriger Kursstärken um den Erhalt des Religionsunterrichts kämpfen müssen. Werbung für den Religionsunterricht, beispielsweise auf Elternabenden, spielt kaum eine Rolle – es ist für die Religionslehrerinnen schwierig, die Haltung der Eltern einzuschätzen. Über das Fach Religion besteht in der Regel kein Kontakt zu den Eltern. Auffällig ist, dass die Gesprächspartnerin, die als einzige ein grundständiges religionspädagogisches Studium absolvieren konnte, sicherer und ausdrücklicher als andere die Stellung des Fachs Religion an der öffentlichen Schule begründet. Was der Religionsunterricht braucht, um etabliert zu sein, haben darüber hinaus die beiden interviewten Fachberaterinnen gut im Blick. Sie betonen vor allem die Bedeutung von Kontinuität und eines Lehrplan gerechten, methodisch an Schülerinnen und Schülern orientierten Unterrichts. Andere Interviewpartnerinnen fühlen sich dagegen unsicher zwischen Schulleitung, Eltern und Kirche.

Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen sehen den Religionsunterricht als besonderes Fach, dadurch dass sie mehr von ihrer Persönlichkeit einbringen und ein anderes Vertrauen in der Lerngruppe herrscht als in anderem Unterricht. Dieses versuchen sie durch kleine Rituale, besondere Sitzordnungen oder Projekte zu unterstützen. Im Kollegium verstehen sie sich gerne als Expertinnen für religiöse Fragen. Diese Elemente prägen allerdings darüber hinaus ihre Tätigkeit an der Schule. Betont wird, wie wichtig eine wohlwollende Schulleitung für die fruchtbare Existenz des Faches ist. Genauer untersucht werden sollte, ob das Umfeld einer Regelschule – in der Stadt, im sozialen Brennpunkt oder in ländlicher Umgebung – Auswirkungen auf das Bestehen von Religionsunterricht an der Schule hat. In den Gesprächen mit Religionslehrerinnen begründen diese durchweg immer wieder, wie wichtig das Fach für Schülerinnen und Schüler sein kann, egal mit welchem sozialen oder religiösen Hintergrund. Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit sich selbst anzuregen und zu begleiten, ist für die Lehrerinnen von hoher Bedeutung. Deshalb versuchen sie den Unterricht möglichst nach den Bedürfnissen der Lerngruppe auszurichten. Religiöses Wissen in der Pluralität von Konfessionen und Weltreligionen ist für sie zumeist ein bedeutendes Bildungsziel. Wissensorientierung und soziale Orientierung sind geprägt von einer allgemeinen pädagogischen Haltung, die ihre Wurzeln schon in der Zeit vor der Wende haben. Im Weiteren möchte ich diese Professionalisierungsprozesse von Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen genauer betrachten.

8.1 Professionalisierung von Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen: Selbstverständnis und Situation

Professionalität, so legt das vorliegende Sample nahe, entwickelt sich in der Wechselbeziehung der Lehrerinnen zwischen ihren Begabungen, Erfahrungen und ihrer Situation. Die in diesem Kapitel dargestellten Ergebnisse sind durch den in Kapitel 5 beschriebenen Auswertungsschritt des axialen Kodierens entstanden. Durch die Deutung von in dieser Arbeit relevant herausgearbeiteten Aspekten in Beziehung zueinander gelingt meines Erachtens ein Einblick in diese Dynamik. So interpretiere ich in diesem Abschnitt abschließend zunächst die Beziehung zwischen Pädagogik und Religionspädagogik und angenommenen gesellschaftlichen Vorstellungen anhand des geschlechtsspezifischen Paradigma, um die professionelle Haltung der Lehrerinnen genauer zu bestimmen. Die Situation des Religionsunterrichts in Beziehung zur pädagogischen Situation an Regelschulen allgemein wird zu interpretieren sein, um Chancen und Probleme des Fachs Religion in dieser Schulform herauszuarbeiten.

8.1.1 Selbstverständnis – Wie verbinden die Religionslehrerinnen ihre pädagogische Erfahrung mit ihrer religionspädagogischen Tätigkeit?

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Die Religionslehrerinnen dieses Samples verstehen ihre religionspädagogische Arbeit vor dem Hintergrund ihrer pädagogischen Erfahrung und Tätigkeit. Nur als Religionspädagoginnen wahrgenommen zu werden, ist ihnen fremd. So sind sie in erster Linie Pädagoginnen, denen die Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen am Herzen liegt. Der Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern ist das Zentrum ihres Selbstverständnisses, darüber hinaus haben sie Freude an der Vermittlung von Wissen, Kultur und sozialen Werten. Das Fach Religion haben sie als einen besonderen Raum erfahren, ihr Anliegen und ihre Kompetenzen auf besondere Weise zu entfalten. Das im Folgenden beschriebene Handlungsspektrum wird nicht von allen Religionslehrerinnen ausgeschöpft. Ich versuche den Raum zu beschreiben, in dem sie sich mit ihrem Verständnis bewegen.

Christliche Werte erfahren die interviewten Lehrerinnen als gesellschaftlich bedeutend vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, für die das Christentum keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Religion zu unterrichten heißt deshalb, verschüttete Wurzeln frei zu legen und den Wissensbereich und das Kulturverständnis zu erweitern. Prägend im vorliegenden Sample ist die Hoffnung, die Perspektive ihrer Schülerinnen und Schüler zu erweitern. Ihr Ziel ist es, in der Gegenwart vieler Lebensentwürfe lebenden Kinder und Jugendliche in ihrer Identität zu stärken und ihnen Offenheit und Weitblick zu vermitteln. Letzteres zeigt sich vor allem in dem Anliegen, immer wieder auch konfessions- und religionsübergreifend zu arbeiten. Zum anderen ist es ihnen wichtig, dass Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht lernen, religiöse Fragen auf ihr Leben zu beziehen.

Als Religionspädagoginnen verstehen sie sich vor allem durch die kontinuierliche Suche nach dem Lebensbezug für ihre Lerngruppen. Während andere Fächer die Schülerinnen und Schüler vornehmlich auf ihr zukünftiges Leben und Arbeiten vorbereiten, wird das Fach Religion vor allem an seinem Nutzen für die Gegenwart und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gemessen. So versuchen Lehrerinnen immer wieder, sich an den Fragen und Themen der Schülerinnen und Schüler zu orientieren. Das zeigt sich in der besonderen Wahrnehmung der konkreten Schul- und Lebenssituationen der Kinder und Jugendlichen durch die Lehrerinnen. In der Offenheit – egal, wie sich letztlich die Kinder und Jugendlichen zu religiösen Werten positionieren – zeigen sie ihren Schülerinnen und Schülern neue Wege zur Lösung ihrer persönlichen Probleme und Lebensfragen. Es geht ihnen dabei nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um konkretes Vertrauen und um Halt in der Gemeinschaft des Religionskurses.

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Berufszufriedenheit ziehen sie aus dem Einsatz eigener Begabungen und in der Anwendung ihres Wissens. Viele im Sample geben an, dass sich ihre Unterrichtsfächer ergänzen bzw. das Wissen aus dem Religionsunterricht auch die anderen eigenen Fächer beeinflusst habe. Kraft ziehen sie vor allem aus der Beziehung zu Kolleginnen und Kollegen, allgemeinpädagogisch im Kreis des Kollegiums, religionspädagogisch im Kreis der FachkollegInnen auf Weiterbildungen. Diese Beziehungen nicht pflegen zu können, erschöpft viele Lehrerinnen, die ausschließlich Religion an mehreren Schulen unterrichten, da sie weder Zeit für sich, noch Anknüpfungspunkte zu ihren Kolleginnen und Kollegen haben. Der Zeitdruck, der durch den Schulwechsel entsteht, verhindert außerdem Möglichkeiten, auf Schülerinnen und Schüler außerhalb des Unterrichts einzugehen – ein weiterer Grund, der die Unzufriedenheit in einer solchen Arbeitssituation verstärkt. Zum Selbstverständnis gehört für die interviewten Religionslehrerinnen auch, Zeit für andere zu haben.

Im Blick auf die Schule und die Lebenswelt ihrer Schülerinnen und Schüler nehmen Religionslehrerinnen viele Brüche wahr. Eine ihrer Grundmotivationen ist deshalb die Überwindung gesellschaftlicher Defizite. Eine Grundmotivation ist es deshalb, weil viele bereits in ihrer allgemein pädagogischen Tätigkeit dem Bedürfnis nachgehen, zu helfen, integrierend und ausgleichend zu wirken. Dieses zeigt sich angefangen beim Wunsch, Medizin zu studieren, über das Engagement auffallend vieler interviewter Lehrerinnen für Schülerinnen mit Behinderung, Lernschwächen oder Migrationshintergrund bis hin zum Ausbau ihrer sozialpädagogischen Kompetenzen. Die Perspektivlosigkeit der Kinder und Jugendlichen in der Regelschule nehmen sie bewusst wahr. In diesem Zusammenhang sehen sie im Religionsunterricht die Chance, andere Akzente zu setzen als in sonstigen Fächern. In dieser Hinsicht sehen sie Religion als ein Fach, das sich quer zum allgemeingesellschaftlichen Verständnis in Thüringen stellt.

Ihre Kritik am Religionsunterricht der kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bezüglich der pädagogischen Aspekte Disziplinschwierigkeiten und Lehrplanorientierung zeigt – egal, ob dies zutrifft oder nicht -, dass sie selbstsicher mit ihrer pädagogischen Professionalität umgehen. Unsicher fühlen sie sich immer wieder bei biblischen Themen, für die sie nicht den theologischen Hintergrund zu besitzen meinen, und in der konkreten Begründung des Fachs Religion an der Schule beispielsweise vor Eltern. Verständniskonflikte haben viele von ihnen hinsichtlich der Leistungsbewertung, gegenüber der Haltung der Eltern und mancher Kolleginnen und Kollegen, die dem Fach Religion ablehnend gegenüber stehen. Betont wird der Mut, der als Religionslehrerin in einer dieses Fach ablehnenden Umgebung aufgebracht werden müsste.

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Von einem signifikanten Teil der Religionslehrerinnen werden folgende Aspekte als Problem empfunden: der Umgang mit der Wahl- und Abwahlmöglichkeit des Fachs, der Anspruch, besonders auskunftsfähig zu sein und Religion – trotz eines nicht mit anderen Fächern vergleichbaren Verständnisses – als ordentliches Lehrfach zu verstehen. Für diese Aspekte, die den Begründungszusammenhang des Faches Evangelische Religionslehre an der Schule über die spezifische Unterrichtssituationen hinaus betreffen, fehlt den Lehrerinnen offenbar der Rückhalt eines zur Professionalität führenden Studiums. Der Erwerb der Unterrichtserlaubnis und das ergänzende Studium wurden von den Religionslehrerinnen als Beginn eines religionspädagogischen Professionalisierungsprozesses geschätzt, in ihrer weiteren Entwicklung fehlen ihnen jedoch häufig die Kategorien, um die eigene Entwicklung selbstbewusst einzuschätzen. Dieses zeigt sich im Unterschied zu den Fachberaterinnen, die über ihre Professionalisierung institutionell ausführliche Rückmeldung durch den kontinuierlichen Austausch und die Weiterbildungen erfahren, und der Lehrerin, die ein grundständiges Studium absolviert hat. Die Bedeutung der Zertifizierung von Professionalisierung zeigt sich positiv darin, dass viele Lehrerinnen nach ihrer Ausbildung dem Fach Religion an ihren Schulen jeweils einen Stand erarbeitet haben. Dies resultiert auch aus dem Selbstbewusstsein, die Unterrichtsbefähigung zu besitzen und das Fach unterrichten zu können. Während sie sich Diskussionen außerhalb des Unterrichts nicht immer gewachsen fühlen, erleben sie sich im Rahmen ihres eigenen Unterrichts in der Regel als professionell. Neben der Kritik an vorhandenen Strukturen halten sie es für ihre Aufgabe vermittelnd tätig zu werden. Dieses zeigt sich beispielsweise in dem Anliegen, fächerübergreifend zu arbeiten, um in der Schule bewusst Religion in den Fragehorizont anderer Fächer zu integrieren und Vorurteile abzubauen.

Sicher im Religionsunterricht beweisen sich die Lehrerinnen dort, wo sie mit Problemen der Erziehung und Vermittlung allgemein zu tun haben. In diesem Zusammenhang greifen sie auf ihre allgemeinen pädagogischen Kompetenzen zurück. Aufgaben, die in diesen Bereich fallen, sind der Umgang mit heterogenen Lerngruppen hinsichtlich des Vorwissens und der intellektuellen Fähigkeiten insgesamt. Dass der Religionsunterricht eine Herausforderung für ihre pädagogische Professionalität darstellt, zeigt sich darin, dass die Lehrerinnen diese Anforderungen nicht klaglos hinnehmen. Nichtsdestotrotz mildern sie die Defizite, die beispielsweise bezüglich eines christlichen Erfahrungshorizontes bestehen dadurch, dass sie ihren Schülerinnen und Schülern gemeinsame Erfahrungen durch Projekte und Lebensbegleitung schaffen. Sie setzen auf Schülerorientierung, in dem sie bei den Erfahrungen ihrer Lerngruppen anknüpfen. Beispiele hierfür sind die Wahrnehmung wichtiger Lebensstationen der Schülerinnen und Schüler oder das biographieorientierte Lernen anhand bedeutender Persönlichkeiten. Professionell erschließen sie Material für den Religionsunterricht, indem sie zum Beispiel Lehrmaterialien aus dem Ethikunterricht als Ausgangspunkt nehmen, die sie dann für den fortschreitenden Lernprozess religionspädagogisch überarbeiten. Professionell und experimentierfreudig gehen sie ebenso mit praktisch-kreativen Methoden und Sozialformen um – entgegen eines Festhaltens am instruktionell, frontal ausgerichteten Unterricht, der zu DDR-Zeiten die Didaktik bestimmte. Hier zeigt sich, dass die berufsbegleitende Ausbildung von Lehrerinnen nach der Wende durch die pädagogisch-theologischen Institute und die Universitäten in der Entwicklung von religionspädagogischer Professionalität besonders in den didaktisch-methodischen Bereichen erfolgreich waren, indem an bestehende Kompetenzen der Lehrerinnen angeknüpft werden konnte, um diese zu erweitern und zu verändern.

Besonders die neue Methodenvielfalt betreffend denken die Religionslehrerinnen noch gerne an die ersten Schritte ihrer religionspädagogischen Tätigkeit zurück. In dieser Hinsicht fühlen sie sich auch verantwortlich für seelsorgerliche Aufgaben. Ihnen ist es wichtig, dass Schülerinnen und Schüler Kirche und Religion auch außerhalb der Schule wahrnehmen. Das zeigt sich in den Exkursionen, die sie innerhalb ihres Unterrichts organisieren. Dass Kirche in diesem Zusammenhang vornehmlich als Gebäude wahrgenommen wird, ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass bezüglich des Verständnisses von Kirche als Kirchenraum die Lehrerinnen am ehesten auf die Erfahrung ihrer Schülerinnen und Schüler zurückgreifen können, ob mit oder ohne religiösen Erfahrungshintergrund.

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Das religiöse Selbstverständnis der Lehrerinnen hat sich ebenfalls durch Erfahrungen in der Ausbildung und der eigenen Unterrichtspraxis entwickelt. Bedeutsam sind bis heute für die Religionslehrerinnen im Sample die gemeinschaftlichen Erlebnisse, wobei sie sich eine Gemeinschaft mit den kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wünschen. In diesen Zusammenhängen haben sie sich in ihrer Konfessionszugehörigkeit bewusster erfahren und eigenes theologisches Interesse entwickelt. Diese Erfahrungen empfinden die Religionslehrerinnen als Bereicherung für sich selbst, jedoch professionell zum Teil als noch nicht genügend. Eine Vermutung ist, dass hier auch das Problem von fehlendem eindeutigem Wissen im Fach Religion besteht. Auch wenn eindeutiges Wissen ebenso in anderen Fächern angezweifelt werden kann, so besteht doch in diesen – nicht zuletzt durch die Curricula – eine klarere Orientierung als im Religionsunterricht möglich. Der offene Erkenntnisprozess im Fach Religion steht dem Bild der Lehrerin entgegen, die stets Antworten auf die Fragen ihrer Schülerinnen und Schüler weiß. Fachlich ist hier die Kirche Autorität für die Religionslehrerinnen. Dem Wissen von ausgebildeten Theologinnen und Theologen fühlen sie sich nicht gewachsen bzw. von der Institution Kirche anscheinend nicht genügend autorisiert. Die Gespräche zeigten, dass sich Lehrerinnen noch mehr Unterstützung von kirchlicher Seite für ihre Situation und den schulischen Religionsunterricht wünschen. Auf die Religiosität und Beziehung zur Kirche gehe ich im nächsten Abschnitt genauer ein.

8.1.2 Selbstverständnis – Welche Bedeutung haben Muster geschlechtsspezifischer Religiosität und Lebensorganisation in der pädagogischen und religionspädagogischen Tätigkeit der Religionslehrerinnen?

Gemeinsam ist den interviewten Religionslehrerinnen, dass sie zumindest in ihrer Kindheit und Jugend auf Erfahrungen mit Christentum und Kirche zurückgreifen konnten. Bedeutend ist Religion in der Sicherstellung von Traditionen und Werten sowie als Trägerin von Gemeinschaft. Die Lehrerinnen sind überzeugt davon, dass der Religionsunterricht neben dem kirchlichen Unterricht ein wichtiges Bildungs- und Erziehungsangebot für Kinder und Jugendliche darstellt. Sie greifen dabei auf ihre eigene Erfahrung zurück. Als charakteristisch können zwei Erfahrungsperspektiven herausgestellt werden: Lehrerinnen mit einer kontinuierlichen Beziehung zur Religion und Kirche, die sich deshalb für das Fach Evangelischen Religionslehre entschieden, und Lehrerinnen mit einer brüchigen religiösen Sozialisation, die über ihr Religionslehrerinnendasein ihre persönliche Beziehung zur Religion und Kirche wieder intensivierten.

Erfahrung christlicher Gemeinschaft war für die Lehrerinnen der Grund, nie den Kontakt zur Religion zu verlieren. Wobei auffällt, dass keine Religionslehrerin von einer wirklich festen Integration in einer kirchlichen Gemeinde zu DDR-Zeiten erzählt. Am ehesten kommt dem ein Engagement in der Jungen Gemeinde nahe. Die Verbindung zur Kirche bleiben bestehen durch spezielle Aktivitäten wie Musik, politische Tätigkeit oder durch Familienmitglieder und Freunde. Die Studienjahre und der Beruf erlebten diejenigen, die erst mit der Wende bewusst wieder an ihrer religiösen Sozialisation anknüpften, in Entfremdung von der Kirche. Aber auch diese Lehrerinnen geben an, sich religiöse Offenheit erhalten zu haben, sei es in der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit religiösem Hintergrund in den zu betreuenden Klassen zu DDR-Zeiten oder in der Erfahrung, im Heimatort erneut an alte religiöse Wurzeln anzuknüpfen. Nicht alle fühlen sich als Religionslehrerinnen auch von ihren Kirchengemeinden angenommen. Die Bruchstellen verlaufen bei jeder einzelnen anders: Zum Teil verlaufen sie in Beziehung zur Gemeinde oder Pfarrer, teilweise werden sie im Rahmen der eigenen Gottesvorstellung oder der eigenen Lebenswirklichkeit thematisiert. Wichtig ist allerdings allen, in ihrer Erzählung eine Kohärenz herzustellen und Religion als Faden ihrer persönlichen Lebensgeschichte zu verstehen. Das Bekenntnis zur Kirche und die religiöse Gemeinschaft werden in dieser Hinsicht immer wieder thematisiert. Umso weniger zufriedenstellend, man könnte sagen je brüchiger die jeweilige Lehrerin ihre derzeitige berufliche Situation empfindet, je mehr wird die persönliche Religiosität zur Sprache gebracht. Dieser Befund müsste allerdings genauer erforscht werden. Vorstellbar ist, dass das Bekenntnis zur eigenen Religiosität hier den Zusammenhang zur beruflichen Biographie herstellt, beispielsweise weil die betroffene Lehrerin den Eindruck hat, dass ihre unterrichtliche Tätigkeit und das Umfeld nicht kohärent sind. Auf der anderen Seite gibt es einige Lehrerinnen, die bestätigen, dass sie durch den eigenen Religionsunterricht neue Einsichten für ihre persönliche Religiosität gewonnen hätten.

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Geschlechtsspezifisch lässt sich meines Erachtens dieses Bemühen um einen authentischen Zusammenhang vor dem Hintergrund von weiblichen Biographien interpretieren, in denen charakteristisch mehrere Strukturen unzusammenhängend nebeneinander existieren. Dieses Bedürfnis findet sich in den Interviews nicht nur in religionspädagogischer Hinsicht, sondern auch allgemein auf den Beruf bezogen. So verweisen nicht wenige Lehrerinnen auf Vorbilder, die sie in ihrer Entscheidung für den Lehrberuf geprägt haben. Diese Vorbilder, ob Mütter oder Lehrerinnen, sind ausschließlich Frauen. Entscheidend für den Lehrberuf waren häufig auch familiäre Gründe. Einem Beruf nachzugehen ist allerdings für alle selbstverständlich: Die Möglichkeiten, Beruf und Familie zu verbinden, werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Dazu gehörten die in der DDR umfassenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten oder die Möglichkeit für Lehrerinnen, auch als Erzieherinnen zu arbeiten. Auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern in der Schule meinen einige Lehrerinnen mütterliche Funktionen zu übernehmen; geknüpft an diese Wahrnehmung wird der Wunsch nach mehr Männern im Schuldienst. Als Grund wird vor allem die größere Autorität gegenüber den Kindern und Jugendlichen angeführt. Inwiefern dieses gerade auf die Situation der Regelschule bezogen wird, ist die Frage des nächsten Abschnitts.

8.1.3 Situation – Welche Bedeutung haben geschlechtsspezifische Muster für die Religionslehrerinnen an der Regelschule?

Der Lehrberuf an Grund- und Regelschulen ist weiterhin ein Beruf, der meistenteils von Frauen ausgeübt wird. Dieses war auch zu DDR-Zeiten in den vergleichbaren Schulformen nicht anders. Dabei konnte die Erziehungsarbeit, die zu Hause in der eigenen Familie den Alltag bestimmte, fortgesetzt werden. Dieses wurde strukturell unterstützt, in dem die Klassenleiterin die Aufgabe hatte, engen Kontakt zu den Eltern zu halten, oder Lehrerinnen auch für einige Jahre als Horterzieherinnen tätig werden konnten, wenn sich dieses besser mit ihrer familiären Situation vereinbaren ließ. Im Gestalten ihrer Beziehungen an der Schule beziehen sich die Religionslehrerinnen dieses Samples auf diese Erfahrungen und bedauern den Verlust von sozialer Kompetenz ihrer heutigen Schülerinnen und Schüler. Nichtsdestotrotz bleiben sie nicht bei dieser Kritik stehen, sondern sehen es als ihre Aufgabe, diese Defizite aufzuarbeiten. Sie versuchen weiterhin, den Kontakt zu den Eltern zu halten, und bemühen sich, bei Konfirmationen, Jugendweihen oder Schulabschlussfeiern für die Schülerinnen und Schüler präsent zu sein. Die Religionslehrerinnen im vorliegenden Sample heben vor allem die zwischenmenschlichen Eigenschaften als bedeutend für den Lehrberuf hervor. Im vorliegenden Sample finden sich verschiedenste Positionen, inwieweit hier geschlechtspezifische Muster zum Tragen kommen. Einerseits findet sich die Position, dass Frauen in dieser Hinsicht einfühlsamer und fürsorglicher wären, andererseits wird eine geschlechtsspezifische Zuschreibung kategorisch abgelehnt.

Dass es weniger auf das Fachliche in den Beziehungen zwischen Lehrkräften und den Kindern und Jugendlichen ankommt, legt die Äußerung nahe, dass Schülerinnen und Schüler, die die Lehrerinnen aus anderen Fächern kennen, auch gerne in deren Religionsunterricht kommen. Allerdings ist Religion das Fach, das gerade von bekannten „Oberstörern“ gewählt wird. Gründe dafür werden im Sample vor allem in der vertrauten Atmosphäre der kleinen Gruppe im Gegensatz zum Ethikunterricht mit der Mehrzahl eines Jahrgangs vermutet. Motivations- und Disziplinprobleme nehmen die Religionslehrerinnen im Vergleich zu vergangenen Jahren stärker wahr. Gerade in den älteren Jahrgangsgruppen treffen die Lehrerinnen häufig auf Widerstände. Bestätigt fühlen sie sich dort, wo ihr Engagement durch die Schülerinnen und Schüler begeistert angenommen wird. Das zeigt auch das Bedürfnis, entweder an der Grundschule oder mit erwachsenen Schülerinnen und Schülern, beispielsweise in der Berufsschule, zu arbeiten.

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Männer haben aus der Sicht der Lehrerinnen mehr Autorität. Einige Religionslehrerinnen im Sample äußern sich in diesem Zusammenhang wertschätzend über männliche Kollegen. Schülerinnen und Schüler würden wesentlich schneller und unproblematischer auf Anweisungen von diesen reagieren. Auf der anderen Seite wird aber betont, dass gerade Pfarrer häufig Disziplinschwierigkeiten hätten im Gegensatz zu ihnen als Religionslehrerinnen, die sich durch ihre anderen Fächer „einen Ruf“ erarbeitet hätten. So wird zwar mit geschlechtsspezifischen Mustern argumentiert, in erster Linie setzen die Religionslehrerinnen dieses Samples aber auf ihre pädagogische Professionalität.

8.1.4 Situation – Wie werden Religionslehrerinnen an der Regelschule pädagogisch und religionspädagogisch tätig?

Die Religionslehrerinnen dieses Samples werden den spezifischen Anforderungen der Regelschule gerecht, in dem sie versuchen, den Schülerinnen und Schüler Lebensperspektiven aufzuzeigen, aktuelle – auch persönliche – Probleme mit ihnen zu besprechen und sie zu praktischen Tätigkeiten anzuregen. Dabei heben sie das Arbeiten in kleinen Gruppen als großen Vorteil hervor. Sie beklagen in den letzten Jahren allerdings einen Leistungsabfall bei den Schülerinnen und Schülern und die geringe Offenheit gegenüber neuen Methoden. In dieser Hinsicht fühlen sie sich in der Regelschule ernüchtert. Das zeigt auch die Vermutung, dass am Gymnasium in dieser Hinsicht mehr möglich sei, sowie der Hinweis, dass im Religionsunterricht im Gegensatz zur Christenlehre „wirklich“ etwas gelernt würde und dass Religion etwas für Schülerinnen und Schüler sei, die in der Lage wären weiter zu denken.

Auf der anderen Seite sprechen sich die interviewten Religionslehrerinnen für die unbedingte Annahme eines jeden Kindes und Jugendlichen aus. Hier zeigt sich die persönliche Religiosität im theologisch begründeten Menschenbild angesichts der unbedingten Annahme des Menschen durch Gott. Sie geben aber auch an, in der Gestaltung ihres Unterrichts nach dieser Maßgabe, Schwierigkeiten mit der Leistungsbewertung zu haben bzw. den Lehrplananforderungen gerecht zu werden. Religionslehrerinnen werden mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert und konfrontieren sich selbst mit widersprüchlichen Erwartungen. Durchgehendes Motiv aus den Erfahrungen des Samples ist die Religionslehrerin als intellektuelle Expertin für religiöse Fragen im Kollegium einerseits und andererseits als soziale Expertin – also die Religionslehrerin als Organisatorin des Weihnachtsbazars und Anlaufstelle für Schülerinnen und Schüler mit Problemen. Auch wenn sich Religionslehrerinnen gegen manche Erwartungen abgrenzen, es überwiegt das Bedürfnis, allem gerecht zu werden. In dieser Hinsicht nimmt wieder die Beziehungsorientierung den Mittelpunkt ein: Das vorherrschende pädagogische Ziel ist die Schaffung einer vertrauten Atmosphäre, in der die Kinder einmal andere Seiten von sich zeigen können.

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Für die Religionslehrerinnen im Sample ist es selbstverständlich, Veranstaltungen im Schulleben mitzubegleiten und aus dem Unterricht heraus zu gestalten. Auch stehen sie zur Verfügung als Betreuerin von Themen für die übergreifende Projektarbeit, die mit Religion zu tun haben. Exkursionen gehören zum Standardrepertoire ihres Unterrichts, die Atmosphäre für das Erproben religiöser Gesten und Rituale versuchen sie immer wieder auszuloten. Die Situation vor Ort kommt dann zur Sprache, wenn sie für den Unterricht als problematisch wahrgenommen wird. In diesem Zusammenhang werden, wie auch in anderen pädagogischen Kontexten, Regelschulen in armen Stadtteilen genannt. Hier stößt der Religionsunterricht organisatorisch an seine Grenzen, wenn das Elternhaus keine finanzielle Mittel für besondere Veranstaltungen wie Exkursionen zur Verfügung stellt oder stellen kann. Vielleicht regt das Fach Religion besonders zur Aufmerksamkeit für die lebensgeschichtlichen Hintergründe der Schülerinnen und Schüler an? Neben der Wahrnehmung der materiellen Verhältnisse werden auch Migrationshintergründe, Religiosität und existenzielle Probleme der Jugendlichen beispielsweise mit Liebe und Sexualität wahrgenommen und aufgegriffen. Im Sample wird betont, dass im Fach Religion ein besonderer Platz sei, die alltäglichen Sorgen der Schülerinnen und Schüler zu bearbeiten.

Gefährdet werden diese Arbeit im Religionsunterricht und der Gruppenzusammenhalt, den Religionslehrerinnen zu ermöglichen versuchen, durch Stundenausfall und -kürzungen. Nicht selten ist der Religionsunterricht von der schwierigen Organisation des Ethikunterrichts betroffen. So werden Religionsstunden dann gekürzt, wenn nicht genügend Ethiklehrerinnen und Ethiklehrer zur Verfügung stehen. Um dagegen Religionsunterricht an manchen Schulen bestehen zu lassen, wird dieser häufig nicht nur quer durch verschiedene Leistungsgruppen, sondern auch jahrgangsübergreifend erteilt. Die Religionslehrerinnen im Sample versuchen, dieser Unterrichtssituation so gut es geht mit freier Arbeit und Projekten gerecht zu werden. Die Unterstützung von Seiten der Schulleitungen ist sehr unterschiedlich. Vielfach haben die Religionslehrerinnen im Sample Verständnis für die schulorganisatorischen Zugeständnisse. Andererseits zählt für sie vor allem die Kontinuität des Religionsunterrichts. Diese wiederum widersprüchliche Situation versuchen sie nach eigenem Vermögen aufzufangen. Neben vielen frustrierenden Erlebnissen haben sie in dieser Hinsicht auch Erfolge zu verzeichnen, so dass sie sich weiterhin für den Religionsunterricht einsetzen.

8.2 Professionalisierung von Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen: Was haben sie geleistet? Was brauchen sie für die Zukunft?

Die meisten Religionslehrerinnen im vorliegenden Sample haben ihre Unterrichtsbefähigung für Evangelische Religionslehre in einem Teilzeitstudium absolviert. Lebensgeschichtlich haben sie kaum gradlinige, sondern sehr vielfältige Erfahrungen und Begegnungen mit Religion gemacht. Ihre Professionalität als Pädagoginnen entspricht in mehrerer Hinsicht noch dem Professionsprofil von Lehrkräften zu DDR-Zeiten. Dabei ist es allerdings den Religionslehrerinnen dieses Samples im Großen und Ganzen gelungen, diese Professionalität zu transformieren. Ihre Kompetenzen im Blick auf Schülerinnen und Schüler und deren Förderungen war von Beginn an eine Stütze für den Religionsunterricht. In der sich nun stabilisierten Phase des gesellschaftlichen Wandels hat sich vor dem Hintergrund einer allgemein-bildungspolitisch angespannten Situation Ernüchterung eingestellt. Die Klientel im Religionsunterricht an Regelschulen in Thüringen ist heterogener, die Aufbruchstimmung ist der alltäglichen Schulroutine gewichen. Ohne die Freude der Lehrerinnen, sich auf Neues einzulassen und zu experimentieren, wäre der Religionsunterricht wahrscheinlich weniger selbstverständlich als er es heute an Schulen ist. Ziel dieses Abschnitts ist die Würdigung der Religionslehrerinnen für das Geleistete einerseits und andererseits die Entwicklung von Impulsen für die Zukunft im zweiten Teil dieses Kapitels.

8.2.1 Würdigung – Was haben Religionslehrerinnen geleistet?

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Religionslehrerinnen des vorliegenden Samples haben sich bewusst nach der Wende mit der Entscheidung für das Fach Evangelische Religionslehre für die Entwicklung von Regelschule und Unterricht entschieden und sich mit Experimentierfreude und Lust am Austausch mit anderen auf das neue Fach eingelassen.

Die Wahl- und Abwahlmöglichkeit des Fachs war mit der Einführung des Religionsunterrichts eine neue Erfahrung. Dabei gehörte auch Mut dazu, für den Religionsunterricht zu werben, weil er weder von schulischer bzw. Seiten der Eltern, noch von kirchlicher Seite uneingeschränkt unterstützt wurde. Bis heute werden Religionslehrerinnen persönliche Stellungnahmen abgefordert.

In Bezug auf die Schülerinnen und Schüler setzen sich Religionslehrerinnen an Regelschulen für ein persönliches Verhältnis und eine offene Unterrichtsatmosphäre ein, indem sie sich selbst um größtmögliche Authentizität bemühen. Ohne die Vermittlung religiöser Kompetenzen außer Acht zu lassen, ist ihnen die unbedingte Annahme und Begleitung ihrer Schülerinnen und Schüler durch den Religionsunterricht wichtig – egal mit welchem religiösen Hintergrund, Leistungsmöglichkeiten oder Altersunterschieden die Kinder und Jugendlichen kommen. Ihren Unterricht stimmen sie individuell auf den Wissensstand und die Bedürfnisse der Lerngruppe ab.

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So haben sie mit dem Religionsunterricht die Schule verändert durch neue Sozialformen, durch einen anderen Umgang in der Lerngruppe und erfahrungs- und handlungsorientierten Arbeiten. Einerseits bringen sie dabei ihre allgemeinen didaktisch-methodischen Kompetenzen mit ein, andererseits verstehen sie den Religionsunterricht als besonderen Raum in der Schule. Insofern trägt meines Erachtens diese Atmosphäre zu einer Religiosität beziehungsweise Spiritualität im schulischen Kontext bei. Darin und in Glaubensfragen versuchen sie, Kindern und Jugendlichen Vorbild zu sein, in dem sie sich um Fachlichkeit und Glaubwürdigkeit bemühen.

In gleicher Hinsicht verstehen sich die Lehrerinnen dieses Samples auch als Ansprechpartnerinnen für Kolleginnen und Kollegen in Sachen Religion. Im Gegensatz zu anderen Fächern nehmen sie im Wissenstand des Kollegiums hier deutliche Defizite wahr. Diese versuchen sie auch durch fächerübergreifendes Arbeiten bzw. durch das Thematisieren von Religion in anderen fachlichen Zusammenhängen entgegenzutreten.

8.2.2 Würdigung – Was brauchen Religionslehrerinnen in Zukunft?

Die geleistete Arbeit zu würdigen, bedeutet auch, sich der Verantwortung für die Zukunft des Religionsunterrichts an Regelschulen bewusst zu sein. Es bedeutet die Probleme anzuzeigen, Religionslehrerinnen dieses Samples ernst zu nehmen und Impulse für die Zukunft zu entwickeln. Der Religionsunterricht an Regelschulen in Thüringen ist einerseits weiterhin in seinen Rahmenbedingungen zu unterstützen, andererseits ergeben sich konkrete Impulse für den Unterricht.

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Im vorliegenden Sample wird deutlich, dass die konkreten Rahmenbedingungen des Religionsunterrichts häufig hinter den eigentlichen Anforderungen eines ordentlichen Lehrfachs zurückbleiben, sei es durch die Stellung bzw. den Raum innerhalb der Stundentafel oder durch die notwendigen jahrgangsübergreifenden Kurse. Hier ist einerseits selbstverständlich die strukturelle Verbesserung anzustreben. In Weiterbildungen sollten nach wie vor die Begründungszusammenhänge und Umsetzungen des Fachs Religion im öffentlichen Schulsystem diskutiert und entwickelt werden. Problematisch ist es unter den bestehenden Bedingungen, Religionsunterricht am Lehrplan zu orientieren. Deshalb sollte der Lehrplan so flexibel strukturiert werden, dass er auch unter den vorhandenen Bedingungen von den Lehrerinnen und Lehrern genutzt werden kann. Ansätze sind bereits in der Struktur gegeben, vor dem Hintergrund der heterogenen Kursstrukturen ist eine dahingehende methodische und didaktische Unterfütterung des Lehrplans zu entfalten.

Auf der einen Seite streben die Religionslehrerinnen eine wünschenswerte Vernetzung des Religionsunterrichts mit anderen Schulfächern an, auf der anderen Seite ist allerdings auch darauf zu achten, dass es nicht zu Redundanzen besonders zwischen anderen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern kommt. In dieser Hinsicht ist es wichtig, in Weiterbildungen zu diskutieren, welche Wissensbestände für den Religionsunterricht elementar sind und wie Verbindungen effektiv zu anderen Fächern zu knüpfen sind. Damit würde sich der Religionsunterricht einer der derzeitig wichtigen Herausforderungen für die Regelschule in Thüringen stellen. In dieser Hinsicht könnte auch produktiv an die Diskussion um religiöse Bildungsstandards angeknüpft werden.

Eine weitere Herausforderung betrifft das System der Regelschule, der sich Religionslehrerinnen, wie das vorliegende Sample zeigt, häufig schon stellen. Es ist die aktive Auseinandersetzung mit den Zukunftsperspektiven der Absolventinnen und Absolventen der Regelschule in der heutigen Gesellschaft. Hier ist einerseits auf die Veränderungen des Kinder- und Jugendalters einzugehen wie auch auf die Chancen der Hauptschülerinnen und -schüler. Wie kann ein Religionsunterricht diesen Anforderungen gerecht werden, ohne sich weiterhin dem Verdacht auszusetzen, dass Religion nur etwas für Gebildete ist?

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Der Umgang mit dem Fremden und der fortschreitenden Pluralisierung unserer Lebensverhältnisse ist ein weiteres Thema, in dem besonders den Religionslehrerinnen an Regelschulen Fort- und Weiterbildungen angeboten werden sollten, da Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in der Regel dieser Schulform zugeordnet werden. Das stellt auch den Religionsunterricht vor entsprechende Herausforderungen wie die beschriebenen Unterrichtssituationen im Sample zeigen. Darüber hinaus ist zu überlegen, inwiefern auf den Umgang mit Geschlechterdifferenzen anderer Kulturen einzugehen ist.

Religionslehrerinnen an Regelschulen sollten in ihrer religionspädagogischen Kompetenz gestärkt werden. In diesem Zusammenhang behalten Weiterbildung zu einzelnen Themen im Religionsunterricht wie auch die gemeinsame Sichtung und Bewertung von vorhandenem Material ihre Bedeutung. Vor allem ist der Austausch über den Umgang mit den offenen Erkenntnisprozessen zu fördern, die den Religionsunterricht ausmachen. In dieser Hinsicht bleibt der Umgang mit existenziellen Fragen und ihren Antwortmöglichkeiten wie auch die Frage des bewertbaren Wissens zu diskutieren.

Schließlich brauchen Religionslehrende den Austausch untereinander, um für ihre gelebte und gelehrte Religiosität Kraft zu schöpfen. Aufgrund der Befunde des vorliegenden Samples scheint es aussagekräftig, Lebens- und Berufsgeschichten sowie persönliche Spiritualität aufzugreifen. Der Austausch und die Zusammenarbeit aller Religionslehrerinnen und -lehrer, ob als Angestellte der Schule oder der Kirche, sind zu fördern. Weiterhin sollten Überlegungen angestellt werden, wie der Religionsunterricht gelingende Verbindung zu Eltern aufnehmen und pflegen könnte und inwiefern er sinnvoll mit Jugend-, Kirchengemeinde- oder Wohnviertelarbeit zu vernetzen ist.


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15.12.2008