2 Pädagogische Perspektive

▼ 4 (fortgesetzt)

Zunächst erläutere ich den Rahmen von Professionalisierung von Lehrerinnen mittels der Begriffe Profession, Professionalität und der damit verbundenen Anforderungen. Daran anknüpfend spezifiziere ich meine Forschungsfrage und begründe die Eingrenzung meines Untersuchungsfeldes. Ich lokalisiere Professionalisierungsprozesse von Lehrerinnen und beziehe mich auf Themen, die in diesem Zusammenhang auftauchen. Ziel dieser Auseinandersetzung ist es, die Anforderung, vor die Lehrerinnen in unserer heutigen Gesellschaft gestellt sind, im Kontext meiner Fragestellung bewusst zu machen.

2.1 Profession und Professionalität im pädagogischen Kontext

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Der Begriff Profession wird bereits wesentlich länger gebraucht als das Wort Professionalisierung. Letzteres beschreibt zunächst einen sozialen Wandel oder eine Haltung, die im Zuge der industriellen Moderne notwendig wurde, hin zu einer Ausdifferenzierung der Professionen. Diese wurde notwendig, um auf gesellschaftliche Anforderungen adäquat reagieren zu können, beispielsweise bezogen auf die Schulausbildung im Interesse einer effektiven Nutzung von Lehr-Lern-Beziehungen: Wie arbeiten Lehrende, deren Unterricht als effizient bzw. als qualitativ hochwertig gilt? Das Bedürfnis nach pädagogischer Professionalität ist durch die nicht eindeutige Steuerungsmöglichkeit eines Lernprozesses gegeben, die sich aus systemtheoretischer Perspektive durch Kontingenzen und Ungewissheiten in der Interaktion erklärt.15 Professionell zu arbeiten heißt allerdings nicht, diese Probleme nur zu lösen, vielmehr gilt es, sie wahrzunehmen, zu deuten16 und ggf. Lösungen aufzuzeigen und zu vermitteln.17 Der Religionspädagoge Rudolf Englert plädiert dafür, über das eigene Selbst- und Berufsverständnis nachzudenken sowie wahrzunehmen, dass ein gelungener Unterricht auch von seinem Umfeld abhängig ist, nämlich von äußeren Voraussetzungen des Unterrichts und der Kultur einer Schule sowie von Lehrplan und Fachdidaktik.18 Professionalisierung von Religionslehrenden zu unterstützen, ist deshalb ein weiteres Anliegen meiner Arbeit, da diese, so meine These, mit Erwartungen und Situationen konfrontiert werden, die das Unterrichten von Religion zu einer besonderen Herausforderung machen. Als Beispiele seien hier die Existenz des Faches als Randstundenfach oder der jahrgangsübergreifende Unterricht genannt. Häufig werden an Religionslehrende bestimmte Erwartungen herangetragen, wie beispielsweise eine Erziehung zum Glauben oder zu Werten; andererseits stehen sie Verdachtsmomenten von religiöser Indoktrination und dem Vorwurf von Unwissenschaftlichkeit gegenüber. Die Deutung und religionspädagogische Reflexion einer solchen Bandbreite von kommunikativen Forderungen ist meiner Einschätzung nach unerlässlich, um als Religionspädagogin zu einer professionellen Haltung zu kommen. Die Frage nach der guten Religionslehrerin ist offen zu halten, sie ist meines Erachtens nicht einfach mit einem Katalog von Kompetenzen zu beantworten. Im Folgenden wird auf das Verständnis von Professionalisierung näher eingegangen, um das spezifische Vermittlungsverhältnis im Unterrichtsgeschehen und die damit verbundene Problemlage zu konkretisieren und Forschungsfragen zu entwickeln.

2.1.1 Begriffsklärungen

Die gegenwärtige Verwendung des Begriffs Professionalisierung ist einerseits auf den Ausdruck professionell zurückzuführen, der inzwischen Einzug in die Alltagssprache gehalten hat und für umsichtiges, fachlich fundiertes oder reflektiertes Handeln steht. Andererseits lässt er sich auf den Begriff der Profession beziehen. Professionen erfüllen allgemeinbedeutsame gesellschaftliche Aufgaben, für die Spezialwissen gebraucht wird. Deshalb ist der Zugang zu einer Profession nur über eine besondere Ausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage oder über eine besondere Funktion möglich und wird durch entsprechende Fachprüfungen gesteuert. Durch ihre Aufgabenfelder sind Professionen an bestimmte Werte der Gesellschaft gebunden, aus denen sie ihr jeweiliges Berufsethos entwickeln. Professionen übernehmen nicht zuletzt identitäts- bzw. sinnstiftende Aufgaben und werden unter der Auflage besonderer Verhaltenserwartungen ausgeführt. In diesem Zusammenhang ist das Verhältnis zwischen Status bzw. Macht, Einfluss und dem Grad der Professionalisierung zu beachten.19 Die Ausübung der Tätigkeit selbst gilt jedoch als von hoher Entscheidungsfreiheit geprägt, für Kontrolle und Weiterentwicklung stehen Berufsverbände oder ähnliche Organisationen und die berufsbezogene Fort- und Weiterbildung.20 Im Falle evangelischer Religionslehrerinnen ist in dieser Hinsicht auch an die Erteilung der Vokation durch die Landeskirche zu denken.

Heute ist das Feld der Professionen äußerst differenziert, primär wurden Medizin, Jura und Theologie als Professionen begriffen. Der Lehrberuf entwickelte sich mit Entstehen der industriellen Gesellschaften zu einer eigenständigen Profession, da eine allgemeine Bildung immer wichtiger für den gesellschaftlichen Fortschritt wurde. Mit der Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu bilden, besetzten Lehrende eine Schlüsselstellung für zukünftige, gesellschaftliche Entwicklungen.21 Trotz eingehender wissenschaftlicher Auseinandersetzungen behalten die Begriffe Profession und Professionalisierung in ihrer Anwendung etwas Diffuses, da sie ebenso erlangte Qualifikationen, also den Erwerb berufsbezogener Kenntnisse und Fähigkeiten umfassen, wie auch Statusinteressen berühren.22 Die Argumente in den öffentlichen Debatten um Professionalisierung und Entprofessionalisierung, wenn es um die geringe Berufsorientierung innerhalb der Ausbildung geht, oder die Forderung nach mehr Ganzheitlichkeit und Selbstorganisation belegen dieses. So befürchtet man beispielsweise die Vernachlässigung des professionellen Spezialwissens.23

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Einer Profession nachzugehen bedeutet nicht nur besondere Kenntnisse und Fähigkeiten, sondern auch Prestige und Privilegien. Der Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialistischem Professionsbegriff kann hier nicht ausführlicher thematisiert werden. Statusfragen wurden und werden im Kontext der jeweiligen Gesellschaft beantwortet. Prozesse der Professionalisierung waren für beide, auf die Verwissenschaftlichung bauenden Gesellschaftssysteme wichtig. Es wäre meines Erachtens allerdings eine zu enge Sicht, Profession oder Professionalisierung mit dem Prozess der Verwissenschaftlichung gleichzusetzen. Der Erwerb theoretischen Wissens ist als eine von mehreren Ebenen der Professionalisierung zu verstehen. Bernhard Koring verwies Ende der 1980er Jahre auf die Notwendigkeit, den Begriff der Professionalisierung offen zu halten und als Desiderat ernst zu nehmen:

„Ein Professionalisierungskonzept jenseits von Verwissenschaftlichung und / oder Technologie ist weder professionstheoretisch und -politisch noch im erziehungswissenschaftlichen Diskurs entwickelt worden.“24

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Professionelles Handeln gründet sich auf Erfahrungswissen, das über den Horizont der gesellschaftlichen Verwissenschaftlichung hinausreicht. Fragen nach dem beruflichen Selbstverständnis und die Biographisierung des Professionalisierungsprozesses brachten neue Bewegung in die Debatte der letzten fünfzehn Jahre. Stellvertretend möchte ich hier auf Arbeiten von Sabine Reh verweisen, die nahe legen, dass sich diese Forschungsansätze nach der Wende für die Bestimmung von Professionalität in Gesamtdeutschland aufschlussreich gestalteten.25 Hans-Josef Wagner sieht für die pädagogische Professionalität in Pierre Bourdieus Habitusbegriff die Vermittlungskategorie zwischen dem theoretischen Wissen und der Praxis.26 War für Bourdieu der Habitusbegriff, der mittels Aufdeckung bearbeitet und dessen Einfluss minimalisiert werden sollte, als subtil wirkender und die bestehenden Machtverhältnisse stabilisierender Klassenhabitus negativ besetzt, ist er für Wagner die Beschreibung einer Haltung,

„[…] die wissenschaftliche und verstehende Komponente im pädagogischen Handeln so zu berücksichtigen, dass eine angemessene Vermittlung zwischen Theorie und Praxis gelingt.“27

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Wie sich in dieser Auseinandersetzung schon andeutet, besitzt die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft für die Frage nach der Professionalität eine besondere Qualität, so dass auch in dieser Hinsicht im Verlauf dieser Arbeit weiter auf Bourdieus Analysen zurückgegriffen wird. Der Begriff des Habitus wird dabei dynamisch zu verstehen sein.28

Neben dem Versuch Professionen von anderen Berufen durch Haltung und Tätigkeitsmerkmale, die Theorie und Praxis betreffen, zu unterscheiden, wirkt der Gebrauch des Begriffs Profession als Würdigung einer Tätigkeit in besonderer Weise, wenn diese als besonders relevant für die Gesellschaft gewertet wird. Dieses verleiht Professionellen ein höheres Ansehen in der gesellschaftlichen Hierarchie und festigt ihren beruflichen Status.29 Zugleich ist diese Würdigung auch mit gesellschaftlichen Leitbildern und Erwartungen sowie mit der gesellschaftlichen Institutionalisierung verknüpft. Allerdings stehen Professionen deshalb auch häufig in der öffentlichen Kritik.

2.1.2 Anforderungen

Angehörige einer Profession stoßen hier an die Grenzen normierender politischer, ökonomischer und kultureller Außenanforderungen.30 Denn gerade wegen ihres direkten Bezugs zur Gesellschaft, genauer gesagt zu den Individuen einer Gesellschaft, hat die Ausübung einer Profession immer etwas Situationsbezogenes und Personengebundenes. Trotz gleicher Rahmenbedingungen auf Seiten der pädagogischen und schulorganisatorischen Institutionen beispielsweise muss sich pädagogische Professionalität in immer neuen schulischen Verhältnissen in konkreten Schulen und Klassen bewähren. Auswirkung der Aufsicht durch die Institution einerseits und die pädagogische Beziehung zu den einzelnen Schülerinnen und Schülern andererseits bedeutet für Lehrende die Arbeit in einem nicht aufzulösenden Spannungsverhältnis zwischen bürokratischer Verwaltung und pädagogischem Handeln.

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„…ihre Arbeit vollzieht sich in der Form einer unmittelbaren Beziehung, eines Gib und Nimm, der sie doch unterm Bann ihrer höchst mittelbaren Zwecke nie gerecht werden kann.“31

Ein prominentes Gerechtigkeitsproblem stellt beispielsweise die Leistungsfeststellung dar. Gerade von Religionslehrenden wird immer wieder, wie auch diese Studie zeigt, die Benotung im Fach Religion in Frage gestellt. Forscher sprechen von einem paradoxen Spannungsverhältnis oder Berufsdilemma. Durch dessen Unlösbarkeit wird bisweilen die gesamte Professionalität in Frage gestellt, weil nach diesen Kriterien kaum alle Ansprüche an professionelles Handeln zufrieden stellend erfüllt werden können. Hier findet sich auch eine Ursache für Statusprobleme, ausgelöst durch die Kritik der Öffentlichkeit, mit denen Lehrerinnen und Lehrer bis in die Gegenwart zu kämpfen haben.32 Rationalisierungsbemühungen, wie die Entwicklung von Standards und der Forderung nach Basiskompetenzen, sind nicht zuletzt durch dieses Bedürfnis, sowohl Schülerinnen und Schülern als auch den Anforderungen der modernen Gesellschaft gerecht zu werden, motiviert. Letztlich ist aber das beschriebene Spannungsverhältnis kaum zu vermeiden.33

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Auf der anderen Seite sind diejenigen Gründe, warum Lehrende um ihren institutionalisierten Professions-Status kämpfen, ebenfalls ambivalent. Denn auch Interessen, die mit dem persönlichen Lebensentwurf verknüpft sind, spielen häufig eine Rolle. Was ist also Interesse des Staates oder auch anderer beteiligter Institutionen wie der Kirche, was ist im Interesse der Lehrerinnen und Lehrer, wie wird wer aktiv in der Anstrengung um Professionalisierung? Wie sich die Problemlage gestaltet, ist dies nur durch eine genauere Kontextanalyse zu bestimmen. Dabei werden die Situation in der Schule und die individuell-geprägte Lehrsituation in den Blick genommen. Persönlicher Lebensentwurf und Statusinteressen wirken sich genauso wie berufliche Ideale, Kenntnisse und Fähigkeiten auf den eigenen Professionalisierungsprozess aus. Um bedeutsame Aspekte bestimmen zu können, sind Handlungsbedingungen zu unterscheiden, die vor allem im Kapitel drei und vier untersucht werden. Sind mit der Berufswahl „Religionslehrerin“ auch Statusinteressen verbunden? Diese Frage nach den Akteuren und ihren Motiven ist für die differenzierte Betrachtung eines Professionalisierungsprozesses erkenntnisleitend.34

2.1.3 Erkenntnisleitende Faktoren für die Frage nach der Professionalisierung evangelischer Religionslehrerinnen an Regelschulen in Thüringen

Professionalisierung wird also einerseits durch Wissen und Fertigkeiten, teils pädagogisch, teils fachspezifisch, gestärkt, andererseits durch gesellschaftliches Ansehen und das eigene Selbstverständnis. Möchte man Professionalisierung mit Hilfe dieser Faktoren bestimmen, wird deutlich, dass diese erstens von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zweitens von der Schulform – dies betrifft vor allem die pädagogischen und fachspezifischen Kompetenzen – abhängt, drittens aber auch vor dem Hintergrund von Beziehungen, Statusinteressen und persönlichen Lebensentwürfen eine geschlechtsspezifische Frage ist. Diesen Aspekten widme ich in der vorliegenden Interviewstudie meine Aufmerksamkeit.

Erstens: Schule wird in den Bundesländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR auch geprägt durch das Lehrerbild aus den Zeiten der DDR-Gesellschaft und den Funktionen, die Schule in der DDR übernahm. Sie war die Institution, die die Bildung aller förderte, aber gleichzeitig nach den Bedingungen der sozialistischen Ideologie Karrierechancen an Ausgewählte zu verteilen und Schülerinnen und Schüler auf eine bestimmte berufliche Schiene zu lenken suchte. Dieses wird von den interviewten Lehrerinnen auch in den Gesprächen reflektiert. Aufgrund ihrer Entscheidungsmacht genossen Lehrende hohes Ansehen. Nach der Wende wurde dieses System in Frage gestellt, man erwartete nun von den Schulen in den neuen Bundesländern einen kompletten Systemwechsel von einer auf eine Ideologie ausgerichtete Schule in die Schule einer Dienstleistungsgesellschaft für die und den Einzelnen. Damit änderte sich der Status der Lehrerinnen beträchtlich. Das Personal blieb in der Regel das gleiche, einige Fächer wurden abgeschafft, andere neu eingerichtet. Eine neue Erfahrung war, dass die Förderung, die Schülerinnen und Schüler erhielten, im entscheidenden Maße auch von ihrem privaten sozialen und finanziellen Hintergrund bestimmt war.

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Zweitens: Wird das dreigliedrige Schulsystem und die darauf abgestimmte Lehrerausbildung betrachtet, ist festzustellen, dass pädagogische und fachspezifische Anteile nicht gleichberechtigt verteilt vermittelt werden. Das Fachspezifische dominiert in der gymnasialen Oberstufe, pädagogische Fertigkeiten werden eher für die jüngeren Jahrgangsstufen und in der Bildungshierarchie niedriger angesiedelten Schulformen für relevant gehalten. Wenn allerdings der Grad der Professionalisierung vor allem am Spezialwissen gemessen wird, erklärt dieses das höhere Ansehen einer Gymnasiallehrerin gegenüber beispielsweise einer Real- bzw. Regelschullehrerin. Indessen wird inzwischen in der allgemeinen Diskussion auch eine bessere pädagogische Ausbildung der so genannten wissenschaftspropädeutisch arbeitenden Lehrerinnen und Lehrer eingefordert. Worauf legt in diesem Zusammenhang der Lehrplan der Regelschule wert? In den Interviews kam zur Sprache, dass Religionsunterricht als eine Sache der Gebildeten wahrgenommen wird. Worauf die Lehrenden selbst Wert legen in ihrer professionellen Entwicklung, hängt von ihrer eigenen Schwerpunktsetzung im pädagogischen Arbeiten, also von ihrem – häufig schulformenspezifisch geprägten – beruflichen Selbstverständnis ab. Der gesellschaftliche Stellenwert eines bestimmten Schulabschlusses, konkrete Probleme der Schule bzw. Schulform und der soziale Hintergrund und die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler entfalten in dieser Beziehung ebenfalls ihre Wirkung.

Drittens: Der Lehrberuf gilt als einer der ersten qualifizierten und professionalisierten Frauenberufe. Der Professionalisierungsprozess von Frauen entwickelte sich wesentlich langsamer gegenüber männlichen Kollegen, teils durch gezielte Begrenzungen der staatlichen Institutionen, teils durch die gesellschaftlich gepflegte Frauenrolle.35 Seit den Anfängen hat der Lehrberuf Frauen vor allem finanzielle Unabhängigkeit geboten, ergänzt um die Möglichkeit, den Beruf mit den Bedürfnissen einer Familie zu vereinbaren. Möglichkeiten, Privates und Berufliches zu vereinen, entwickelten sich entweder erst durch den Bedeutungsverlust des Lehrberufs als Aufstiegsberufs oder bestimmten, durch die neuen Interessen an Vereinbarung, selbst die Veränderung des Berufbildes mit. Bis in die Gegenwart prägen diese Umstände, die unter anderem für den Verlust an Sozialprestige des Lehrberufes verantwortlich gemacht werden, das Selbstbild und das Bild von Lehrerinnen und Lehrern in der Öffentlichkeit.36 Das Streben nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie, das sehr eng mit dem Einsatz von Lehrerinnen, weniger mit der Beschäftigung von Lehrern verknüpft wird, ist ein Beispiel für die Nützlichkeit einer genaueren Differenzierung. In der Bildungsforschung wird deshalb die Unterscheidung zwischen den Bedürfnissen von Lehrerinnen und Lehrern nahe gelegt.37

Inwiefern wirkt sich die so genannte „Feminisierung“ des Lehrberufs auf die Professionalisierung bzw. auf die Institution Schule aus? Weisen Lebensentwürfe geschlechtspezifische Gewichtungen auf? Die Arbeit von Lehrerinnen ist dann besonders wirksam, stellt Dietlind Fischer fest, wenn Frauen „ihre Professionalisierung informell und außerhalb öffentlicher Gremien selbst organisieren“ und sie anschließend in allgemeinschulische Strukturen integrieren. Das bedeutet auch, „die unsichtbare Arbeit von Lehrerinnen in der Schule sichtbar zu machen.“38 Dass informelle Bildung und Beziehungen im Professionalisierungsprozess von Lehrerinnen wichtig sind, bestätigt Christa Händle:39 In ihrer Studie stellte sie fest, dass zwar formale und inhaltliche Motivationen und Kompetenzen bei Lehrerinnen und Lehrern gleich ausgeprägt schienen, soziale und integrative Handlungsprioritäten allerdings häufiger bei Lehrerinnen festzustellen waren, die sich zum Beispiel in einer bewussteren Schülerorientierung zeigten. Soziales Handeln, so Händle, war für diejenigen besonders wichtig, die „von widersprüchlichen Beziehungs- und Arbeitserfahrungen in ihren Herkunftsfamilien und in der Schule“ berichteten. Die Bedeutung integrativen Handelns war vor allem bei den Lehrerinnen und Lehrern besonders auszuweisen, „die schon umfangreichere Berufs- und Lebenserfahrungen über die Schule hinaus“ besaßen. Was Lehrerinnen in dieser Untersuchung von Lehrern unterschied, fasst Händle unter dem Stichwort „doppelte Sozialisation und Qualifikation“ zusammen, die eben bis in die Gegenwart eher Frauen betrifft.40 Darunter fallen einerseits Erfahrungen wie die Arbeit an verschiedenen Institutionen, andererseits Erziehungs- und Organisationsarbeit in der eigenen Familie und unter verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen. Aufgrund dieser Befunde ist es für diese Arbeit von Interesse, besonders „informeller“ – nicht gesteuerter – Bildung und beruflichen Beziehungen in den Berufs(lebens)geschichten meiner Gesprächspartnerinnen nachzuspüren.

2.2 Lehrerinnen im Blickfeld der Professionalisierungsforschung

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Lebensgeschichten als individuelle Lerngeschichten zu interpretieren, ist ein Denkansatz der erziehungswissenschaftlichen Forschung in ihrer Beschäftigung mit Biographien. Dieser kommt in der vorliegenden Arbeit zu Professionalisierungsgeschichten von Lehrerinnen zum Tragen. Dabei berücksichtigt die biographische Perspektive zweierlei: einerseits eine innere Seite, die in der Lebensgeschichte gesammelte persönliche Erlebnisse und Erfahrungen meint, andererseits eine äußere Seite, die sich auf den unter bestimmten Bedingungen einer Gesellschaft sich vollziehenden Lebenslauf und den auf biologischen Entwicklungen beruhenden Lebenszyklus bezogen wird, also dessen, was im Zusammenhang eines Lebens relevant erscheint.41 Die Handlungsfähigkeit eines Subjektes hängt von einer funktionierenden Identitätsbildung ab, deren Erforschung innere wie äußere Komponenten berücksichtigen muss:42

„Wie transferiert ein Subjekt die in seiner Person und seiner Umwelt vorhandenen Ressourcen in subjektive Identitätsprozesse? In welcher Form verhandelt das Subjekt seine Identität mit anderen und damit auch mit sich selbst?“43

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Bildungsgeschichtliches Forschungsobjekt sind also neben Lebensgeschichte und Lebenswelt die Perspektive und Deutung der jeweiligen Erzählerin, die dadurch nicht Objekt eines Bildungsprozesses bleibt, sondern zum Subjekt des eigenen Lern- und Professionalisierungsprozesses werden soll.44 Um Leben zu bewältigen, werden lebensgeschichtliche Erfahrungen zusammengetragen, die dann die Grundlage für persönliche Alltagstheorien bilden.45 Biographisch überlegt werden muss die Dimension von Biographie als gesellschaftliche Konstruktion und als Kommunikationsform.46 Sie ist so zunächst einmal als erzählte Geschichte aufzugreifen, die subjektive Erzählperspektive und Alltagskonstruktion sowie die Interaktion im Gespräch wird methodisch und kommunikationstheoretisch zu berücksichtigen sein.47

„ – hier geht es vor allem um die Beschaffenheit lebensgeschichtlicher Erfahrungen und um die Frage, wie denn das lernende Subjekt im biographischen Bildungsprozeß sein Leben entwirft und gestaltet [und – kommunikationstheoretisch – …] wie ein biographisches Subjekt seine Erfahrungen und Lebenserinnerungen äußert, deutet und bearbeitet, und damit um eine Einübung pädagogischen Verstehen[s].“48

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Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht einerseits die Untersuchung der Wechselwirkung zwischen Lebensentwurf und beruflicher Situation, andererseits der Verlauf der beruflichen Sozialisation und die Frage, was daraus für den Berufsalltag resultiert. Erkenntnistheoretisch nähere ich mich hier Bourdieus Verständnis von einer wechselseitigen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft an:

„Die Gesellschaft entsteht aus Akteuren, die sie konstruieren, und die Akteure entstehen aus der Gesellschaft, die sie konstruiert. Diese wechselseitige Konstruktion gibt der sozialen Wirklichkeit ihre Bedeutung im Sinne sozialer Praxis. … die er [Bourdieu] als praktisch-dialektische Beziehung denkt.“49

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Die moderne Gesellschaft ist für Bourdieu ein sozialer Raum, indem in unterschiedlichen Kraftfeldern agiert wird. Angelehnt an diesen Feldbegriff50 stelle ich mir ein religionspädagogisches Feld vor, einen Raum, in dem die Religionslehrerinnen versuchen, sich mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten eine Existenzgrundlage zu schaffen. Die Dynamik innerhalb dieses Feldes ist vor allem vom Selbstverständnis (vergleichbar mit Bourdieus Habitusbegriff) und ihren Fähigkeiten (vergleichbar mit Bourdieus Kapitalbegriff) abhängig.51 Diese dynamische Wirkung auf die Tätigkeit als Lehrerin soll im Folgenden umrissen werden, um relevante Auswertungsaspekte für den empirischen Teil vorzustellen. Auf die Gesprächspartnerinnen als aktive Subjekte des Auswertungsprozesses52 gehe ich in Kapitel 5 genauer ein.

2.2.1 Berufswahl

Wie eigene Lebenserfahrungen zur Lern- bzw. Professionalisierungsgeschichte werden, zeigt sich schon in der Entscheidung für den Lehrberuf. Positive wie negative biographische Erfahrungen, beispielsweise über die eigene Schulzeit und eigene Lehrer beeinflussen die Entscheidung, selbst den Lehrberuf zu ergreifen. Positive Erfahrungen sind in dieser Hinsicht häufig für die Vorstellung verantwortlich, dass es sich um einen vielseitigen Beruf handelt, in dem die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt steht, persönlich sinnstiftend durch die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen. Negative Erfahrungen haben häufig den Wunsch geprägt, es besser zu machen. Auch wenn es sich hierbei nicht um ein Lernresultat im herkömmlichen Verständnis handelt, so entsteht doch aufgrund der Erfahrungen eine bestimmte Haltung, die die Perspektive auf den Beruf und damit die weitere Professionalisierungsgeschichte entscheidend mitbestimmen können.

Vorbilder, nicht nur für das eigene Lehren, sondern auch für die Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf, prägen darüber hinaus die Wahl mit. Viele Lehramtsstudierende geben an, dass eigene Eltern als Lehrerin oder Lehrer tätig waren oder sind. Demzufolge bleibt die Quote der Berufsvererbung neben den eigenen Berufs-Ideen und -Idealen nicht ohne Einfluss. Dass der Berufswunsch zu unterrichten, sich schon in der Kindheit ausgeprägt, ist eher bei Frauen zu finden als bei Männern. Das Geschlechtspezifische dieses Befunds erklärt sich zum einen durch die Erwartungshaltung Mädchen gegenüber, dass sie sich auf Beziehungen und soziale Arbeit konzentrieren sollen, und zum anderen aus der Tatsache des nach wie vor geschlechtsspezifisch segmentierten Arbeitsmarkts. Schon Kinder machen diese Erfahrung, wenn sie Erwachsene in ihrem Umfeld als Berufstätige beobachten. Männer haben in der Kindheit vergleichsweise vielfältige, oft wechselnde Berufswünsche und kommen häufig durch andere soziale Arbeiten wie beispielsweise dem Zivildienst zum Lehramt. Obwohl inzwischen der Beruf auch für Frauen ein essentieller Teil ihres Lebensentwurfs ist, übernehmen sie doch in der Regel die Hauptverantwortung für die Familie.53 Dadurch unterliegen sie in ihrer Berufswahl Einschränkungen von außen, die auch erklären, warum Frauen sich im Gegensatz zu Männern weniger mit Arbeitsbedingungen, sondern vielmehr inhaltlich mit ihrem Beruf auseinandersetzen, da in der Regel ihre Wahl- und Karrieremöglichkeiten durch die hinzukommende Arbeit in der Familie sowieso beschränkter sind. Obwohl es nicht ihr eigentlicher Berufswunsch war, ergreifen manche wiederum deshalb den Beruf der Lehrerin, weil dieser augenscheinlich von der Struktur günstige Bedingungen bietet, Familienarbeit und berufliche Tätigkeit zu vereinbaren, und – trotzdem – relative Aufstiegs- und Entwicklungschancen verspricht.

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Berufliches Selbstverständnis und Stellenwert des Berufes im Lebensentwurf stehen so in einem engen Verhältnis. Selbstverständnis wird durch die konkrete berufliche Situation und das Ansehen, welches man aufgrund seines Berufes erfährt, geprägt.54 Nichtsdestotrotz muss gerade dieser dann mit Inhalt gefüllt werden.Die Prioritätensetzung innerhalb des Lehramts, sei es auf erzieherische Aspekte oder die fachlich-wissenschaftliche Orientierung, spielt dabei eine Rolle. Auch künstlerische oder sportliche Begabungen können ein Grund sein, den Lehrberuf zu ergreifen, da man solche Fähigkeiten in die Tätigkeit einbringen kann. Selbstverständnis und berufliche Situation sind hier der Dynamik unterworfen, wie Bourdieu sie mit Hilfe seines Habituskonzept beschreibt als

„eine Art von Transformationsmaschine, die dafür sorgt, daß wir die sozialen Bedingungen unserer eigenen Produktion ‚reproduzieren’, aber auf eine relativ unvorhersehbare Art, auf eine Art, daß man nicht einfach mechanisch von der Kenntnis der Produktionsbedingungen zur Kenntnis der Produkte gelangt.“55

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Welchen Stellenwert nimmt hier Religion als Unterrichtsfach ein, in dem vielseitig eigene Akzente gesetzt werden können, ob musikalisch, ethisch u. s. w., in seiner Relevanz für die Gesellschaft oder im individuellen Lebensvollzug?

2.2.2 Gesellschaftliche Situation

Wie Schule ist, begründet sich von jeher in der jeweiligen Lebenswelt des Individuums. Bourdieu bescheinigt dem persönlichen Habitus einer Akteurin in dieser Hinsicht eine hohe Stabilität – einerseits strukturiert durch das Individuum, andererseits aber auch strukturiert durch die Gesellschaft.56 Abseits der persönlichen Vorstellungen hat sich Lehrerdasein in den letzten fünfzehn Jahren durch die Erwartungshaltung einer Wissensgesellschaft entwickelt. Methodenkompetenz ist zum Lehrgegenstand geworden, bezüglich der Sachkompetenz soll Unterricht möglichst auf dem neuesten Stand wissenserweiternd sein. Parallel hierzu ist auch für die Schülerinnen und Schüler das Erreichen höherer Abschlüsse immer bedeutsamer geworden.Jugendliche haben nur Chancen im gesellschaftlichen Leben, wenn sie auf qualifizierende Bildung zurückgreifen können.58 Haupt- und Realschule, bzw. die Regelschule sind davon betroffen, weil sie ihre Schülerinnen und Schüler kaum noch mit konkreten Berufsperspektiven entlassen können. Aber auch die Schülerschaft des Gymnasiums hat sich grundlegend verändert.

Darüber hinaus hat sich die Phase der Kindheit im Vergleich zu den vorhergehenden Generationen eklatant verändert. Das Konsumangebot, die Vielfalt von heutigen Familienverhältnissen, Lebensentwürfen und Weltanschauungen haben die Konsequenz, dass Kinder und Jugendliche mit vielen Moden, Kulturen und Ideologien leben. Vor diesem Hintergrund müssen sie begleitet werden, Orientierung finden und Differenzen wie Brüche untereinander bewältigen lernen. Erziehungs- und Bildungsaufgaben zwischen Schule und Elternhaus sind nicht mehr klar zu verteilen. Schule kann sich in dieser Lebenswelt nicht mehr rein um Qualifikation und Selektion kümmern. Schülerinnen und Schüler genau wahrzunehmen, in ihrer individuellen Entwicklung zu begleiten, Identitätsstiftendes und Sinngebendes aufzuzeigen und zu diskutieren, ist heute ebenso Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern und wird immer wieder besonders an den Religionsunterricht und die ihm nahe stehenden Fächer herangetragen.59 So hat sich auch die berufliche Situation von Lehrerinnen und Lehrern verändert. Das, was in der Schule für Kinder und Jugendliche geleistet werden soll, zieht neue Reibungspunkte zwischen Eltern und Lehrenden nach sich und in Zeiten sinkender Schülerzahlen erhöht sich an mancher Schule auch der Druck auf Lehrerinnen und Lehrer von Seiten der Schulleitung. In der öffentlichen Diskussion erscheint der Lehrberuf entweder als Horrorjob oder er befindet sich in der allgemeinen, pauschalen Kritik. Wie nehmen Religionslehrerinnen diese Herausforderungen wahr?

2.2.3 Berufslaufbahn

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Neben den inhaltlichen und lebensweltlichen Verknüpfungen, die das Selbstverständnis von Lehrerinnen bestimmen, ist der Prozess selbst bedeutend und damit die zeitliche Dimension:

„Wie verknüpft ein Subjekt seine biographisch mehr in der Vergangenheit liegenden mit den eher gegenwartsorientierten Erfahrungen? Welche Rolle spielen in diesem zeitlichen Verknüpfungsprozeß zukunftsorientierte Entwürfe von sich selbst? Wie sieht der Verknüpfungsprozeß von verschiedenen und teils auch widersprüchlichen Erfahrungen aus? Welche Vorstellungen und Balance und Aushandlung beschreiben diesen Verknüpfungsprozeß am adäquatesten?“60

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Sichtbar schlägt sich die Prozesshaftigkeit von Professionalisierung in mehreren Phasen der beruflichen Laufbahn nieder. Eine Phase kann von der vorherigen bzw. der folgenden abgegrenzt werden durch das Aufkommen einer bestimmten Form von beruflichen wie privaten Fragen, Herausforderungen und Krisen. Wann und wie die Entwicklung und die Übergänge zwischen einzelnen Phasen gestaltet werden, ist abhängig von der jeweiligen Lehrperson und ihrem Hintergrund. Identitätsbildende Faktoren wie Status, Kompetenz und Beziehungen entscheiden über Gelingen und die berufliche Zufriedenheit. Von der eigenen beruflichen Identität hängt ab, wie Situationen angegangen und Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen werden. Inwiefern spielt religiöse Identität und Sozialisation dabei eine produktive oder auch unproduktive Rolle?

Die Berufseinstiegsphase ist geprägt durch Erkundungen und Experimente. Institutionelle Gegebenheiten, wie das Einzugsgebiet der Schule, die soziale Zusammensetzung der Lerngruppen sowie die aktuelle Bildungspolitik bestimmen vor allem die Form der Krisen, die in dieser Phase auftreten können. Die Berufszufriedenheit ist eher hoch, dadurch dass junge Lehrerinnen und Lehrer häufig viel Befriedigung aus der altersbedingten Nähe zu den Schülerinnen und Schülern ziehen. Ein wichtiger Aspekt für die Zufriedenheit und im weiteren Verlauf für die Entwicklung professionellen Handelns ist die Unterstützung, die einerseits im Austausch mit berufsbiographisch gleichaltrigen Kolleginnen und Kollegen, andererseits mit erfahrenen Lehrkräften erlebt wird.

Die darauf folgende Phase ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die berufliche Situation stabilisiert hat. Die private Situation wird häufig wieder wichtiger; die Notwendigkeit Familie und Beruf in Einklang zu bringen wird vor allem Frauen bewusst. Demgegenüber kann diese Phase auch zum Aufbruch mit neuen Karriereinteressen werden. Berufszufriedenheit ist in dieser Phase vor allem mit dem eigenen Selbstverständnis und dem Meistern der sich selbst gesetzten Ziele verbunden. Die Veränderungen führen zu neuen Herausforderungen oder auch in berufliche wie private Krisensituationen, die womöglich eine Neubewertung notwendig machen und die Ausgangpunkt für den Verlauf der dritten Phase ist: In dieser wird der Rückzug aus dem Beruf vorbereitet. Auf der einen Seite vergrößert sich nun die Distanz zur Schülerschaft und vielfach setzt eine Müdigkeit gegenüber Veränderung ein. Auf der anderen Seite speist sich berufliche Zufriedenheit vor allem aus der Rückschau auf ein erfülltes Berufsleben, im fachlichen Austausch mit Jüngeren angesichts der eigenen professionellen Wirksamkeit bzw. aus dem Kontakt mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern oder auch Kolleginnen und Kollegen. Frauen ergreifen in dieser Phase, in der das Familienleben häufig nicht mehr so viele Anforderungen stellt, noch einmal die Chance, neue Aufgaben im Beruf zu übernehmen.61

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Für den beruflichen Lebenslauf lokalisiert Michael Huberman aufgrund seiner empirischen Untersuchungen drei Arten von Themen:

„metaphorische Themen (‚untergehen’, ‚sich niederlassen’, ‚Ernüchterung’, ‚neuen Antrieb bekommen’)

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administrative Themen (‚während meiner Ausbildung’, ‚Verbeamtung auf Lebenszeit’, ‚als ich dann in der Oberstufe unterrichten konnte’)

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historische Themen (‚die Orientierungsstufe’, ‚die Bildungsreform’, ‚1968’), die mit wichtigen strukturellen Schulreformen zu tun hatten oder mit Ereignissen, die sich auf die Schule ausgewirkt haben“62

Zur berufsbiographischen Analyse arbeitet Gertrud Hirsch in Anlehnung an Hubermans Themen-Systematik folgende Bereiche heraus, in die verschiedene Muster aufgenommen und interpretiert werden können. Unter Bewältigungsstrategien ordnet sie alle Fähigkeiten ein, die vermittlerische, erzieherische und Beurteilungskompetenz erfordern. Einen eigenen Bereich widmet sie dem Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern als zentrales Element. Das Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen, Behörden, Eltern und dem eigenen Privatleben fasst sie unter dem Begriff interaktive Bedingungen zusammen. Unter situative Bedingungen versteht sie die Rahmenbedingungen wie die Lerngruppen- und Schul- und private Situation. Die Berufszufriedenheit erwähnt sie nicht explizit, aber Wohlbefinden, nicht näher eingegrenzt, ist für sie ein weiterer thematischer Faktor. Darüber hinaus versucht Hirsch, Aussagen zur Selbstfindung und über die allgemeine Orientierung einer Gesprächspartnerin zu erfassen.63 Wie beschreiben Religionslehrerinnen an thüringischen Regelschulen unter Anwendung dieser Aspekte ihre Berufslaufbahn bezüglich des Religionsunterrichts?


Fußnoten und Endnoten

15  Werner Helsper: Pädagogische Professionalität als Gegenstand des erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Einführung in den Thementeil, in: Pädagogik. Heft 3, 50. Jahrgang 2004, S. 303

16  Ulrich Oevermann: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns, in: Arno Combe; Werner Helper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchung zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt a. M. 1996, S. 70-182

17  Rudolf Stichweh: Professionen in einer funktional differenzierten Gesellschaft, in: Combe; Helsper: Professionalität, 2005, S. 49-69

18  Rudolf Englert: Die Situation von Religionslehrern und -lehrerinnen, in: Ulrike Baumann; Rudolf Englert u.a. (Hg.): Religionsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2005, 21f.

19  Ursula Rabe-Kleberg: Professionalität und Geschlechterverhältnis. Oder: Was ist „semi“ an traditionellen Frauenberufen? in: Combe; Englert (Hg.): Professionalität, 2005, S. 276-302

20  Vgl. u. a. Heinz-Elmar Tenorth: Professionen und Professionalisierung. Ein Bezugsrahmen zur historischen Analyse des „Lehrers und seiner Organisationen“, in: Manfred Heinemann (Hg.): Der Lehrer und seine Organisation. Stuttgart 1977, S. 458f.; Ulf Schwänke: Der Beruf des Lehrers. Professionalisierung und Autonomie im historischen Prozeß. Weinheim 1988, S. 25f.; Eric Hoyle: Professionalisierung von Lehrern: ein Paradox, in: Ewald Terhart (Hg.): Unterrichten als Beruf. Neuere amerikanische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen. Köln, Wien 1991, S. 136

21  Hans Peter Henecka: Erziehung als „Profession“? in: Informationsschrift zur Lehrerbildung, Lehrerfortbildung und pädagogischer Weiterbildung. Professionalität und Lehrerberuf. Heft 38, Wintersemester 1989/1990. Hg. v. Institut für Weiterbildung (ifw) der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Redaktion; Marie-Luise Schwerdel; Willi Wölfing). Ladenburg 1989, S. 23 ff.

22  Helsper: Professionalität als Gegenstand, 2004, S. 303

23  Kritik an einem nicht berufsspezialisierenden Studium wurde beispielsweise – verständlich – von Seiten der Pädagogischen Hochschulen geübt: Vgl. Henecka, Erziehung, 1989, S. 33f.

24  Bernhard Koring: Eine Theorie pädagogischen Handelns - Theoretische und empirisch-hermeneutische Untersuchungen zur Professionalisierung der Pädagogik. Weinheim 1989, S. 772

25  Sabine Reh: LehrerInnen in der DDR – LehrerInnen im vereinten Deutschland. Vom Wandel des beruflichen Selbstverständnisses. Chance für eine Professionalisierung?, in: Hans-Jürgen Apel; Klaus-Peter Horn (Hg.): Professionalisierung pädagogischer Berufe im historischen Prozeß 1999, S. 254-276

26  Hans-Josef Wagner: Eine Theorie pädagogischer Professionalität. Weinheim 1998, S. 33

27  Ebd., S. 169. Wagner stellt hier eine Beziehung zu Herbarts Begriff des „Pädagogischen Taktes“ her und schlägt vor, diesen Begriff durch den Habitusbegriff als Vermittlungskategorie zu ersetzen (vgl. ebd.)

28  Egon Flaig: Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (1972), in: Walter Erhart; Herbert Jaumann (Hg.): Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann. München 2000, S. 379ff.

29  Hoyle: Professionalisierung, 1991, S. 135f.

30  Hans Peter Henecka verweist in diesem Zusammenhang auf den „Human-Relations-Ansatz“ der Organisationssoziologie. Vgl. Henecka, Erziehung, 1989, S. 25f.; ebenso Sabine Enzelberger: Sozialgeschichte des Lehrerberufs. Gesellschaftliche Stellung und Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern von den Anfängen bis zur Gegenwart. Weinheim u. München 2001, S. 11ff.

31  Theodor W. Adorno: Tabus über dem Lehrberuf, in: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe, Stichworte, Anhang. Frankfurt am Main 1977 [Gesammelte Schriften, Band 10,2], S. 668f.

32  Vgl. u. a. Henecka: Erziehung, 1989, S.25ff. Enzelberger: Sozialgeschichte, 2001, S. 232ff.

33  In seinem Aufsatz „Tabus über dem Lehrberuf“ (1965) fordert deshalb schon Theodor W. Adorno praktische Veränderungen, indem Lehrende diese unauflösliche „Ungerechtigkeit“ nicht verdrängen, sondern bewusst reflektieren sollen. „Aus solchen Reflexionen folgt, nebenbei gesagt, unmittelbar die Notwendigkeit psychoanalytischer Schulung und Selbstbesinnung im Beruf der Lehrer.“ Adorno: Tabus, S. 669

34  Tenorth: Professionen; 1977, S. 464

35  Enzelberger: Sozialgeschichte; 2001, S. 12f. und 211ff.

36  Ebd., S. 223f.; Christa Händle: Formelle und informelle Bildung von Lehrerinnen für berufliche Aufgaben, in: Dietlind Fischer; Juliane Jacobi; Barbara Koch-Priewe (Hg.): Schulentwicklung geht von Frauen aus. Zur Beteiligung von Lehrerinnen an Schulreformen aus professionsgeschichtlicher, biographischer, religionspädagogischer und fortbildungsdidaktischer Perspektive. Weinheim 1996, S. 97

37  Edith Gumpler: Professionsforschung des Lehrerinnenberufs, in: dies.; Carsten Fock (Hg.): Frauen in pädagogischen Berufen. Band 2: Lehrerinnen. Bad Heilbrunn 2001, S. 25

38  Dietlind Fischer; Juliane Jacobi; Barbara Koch-Priewe: Schulentwicklung durch Lehrerinnen – alte und neue Perspektiven, in: dies. (Hg.): Schulentwicklung geht von Frauen aus. Zur Beteiligung von Lehrerinnen an Schulreformen aus professionsgeschichtlicher, biographischer, religionspädagogischer und fortbildungsdidaktischer Perspektive. Weinheim 1996, S. 23f.

39  Händle: Bildung, 1996, S. 97

40  Ebd., S. 100ff.

41  Schulze: Biographieforschung, 1999, S. 39f.

42  Heiner Keupp u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identität in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 217

43  Ebd., S. 191

44  „Es hat vermutlich seinen guten Grund, dass sich die Subjektivität des Subjekts lieber in Geschichten als in Abhandlungen und Untersuchungen einfangen lässt. Aus Geschichten lernen!“ Dieter Baacke; Theodor Schulze: Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. Weinheim 1993, S. 36

45  Herbert Gudjons; Marianne Pieper; Birgit Wagner: Auf meinen Spuren. Die Entdeckung der eigenen Lebensgeschichte. Vorschläge und Übungen für die pädagogische Arbeit und Selbsterfahrung. Hamburg 1992

46  Schulze: Biographieforschung, 1999, S. 40

47  Baacke; Schulze: Geschichten, 1993, S. 32f.

48  Schulze: Biographieforschung, 1999, S. 45

49  Christian Papilloud: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds. Bielefeld 2003, S. 39f.

50  Ebd., S. 35ff.

51  Ebd., S. 40

52  Schulze: Biographieforschung, 1999, S. 51

53  Patricia J. Sikes; Lynda Measor; Peter Woods: Berufslaufbahn und Identität im Lehrerberuf, in: Ewald Terhart (Hg.): Unterrichten als Beruf. Neuere amerikanische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen. Köln, Wien 1991, S. 232

54  Enzelberger: Sozialgeschichte, 2001, S. 246-256

55  Bourdieu 1993, hier zitiert nach: Papilloud: Bourdieu, 2003, S. 102

56  Papilloud: Bourdieu, 2003, S. 49

58  Die PISA-Studie belegt allerdings, dass das in der Familie erworbene Humanvermögen die bedeutendste Grundlage für einen lebenslangen Bildungsprozess darstellt, vgl. http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Programme/a_Familienpolitik/s_835.html (05.01.2007): Die bildungspolitische Bedeutung der Familie - Folgerungen aus der PISA-Studie. Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen.

59  Andrea Schulte; Ingrid Wiedenroth-Gabler: Theologie kompakt. Religionspädagogik. Stuttgart 2003, 95ff.

60  Keupp u. a.: Identitätskonstruktionen, 1999, S. 190f.

61  Sikes; Measor; Woods: Berufslaufbahn, S. 231-248. Michael Huberman: der berufliche Lebenszyklus von Lehrern. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Ewald Terhart (Hg.): Unterrichten als Beruf. Neuere amerikanische und englische Arbeiten zur Berufskultur und Berufsbiographie von Lehrern und Lehrerinnen. Köln, Wien 1991, S. 249-267. Ein Schema zu Berufsbiographiemuster findet sich bei Gertrud Hirsch: Biographie und Identität des Lehrers. Eine typologische Studie über den Zusammenhang von Berufserfahrungen und beruflichem Selbstverständnis. Weinheim und München 1990, S. 77

62  Huberman: Lebenszyklus, 1991, S. 252

63  Hirsch: Biographie, 1990, S. 63ff.



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