3 Religionspädagogische Perspektive

▼ 22 (fortgesetzt)

In diesem Kapitel nehme ich den religionspädagogischen Forschungskontext meiner Frage nach der Situation und dem Selbstverständnis von Religionslehrerinnen in den Blick. In diesem Zusammenhang beschreibe ich die zugrunde gelegten Begriffe von Religion, Religiosität und mein Anliegen als forschende Religionspädagogin. Danach wende ich mich Ergebnissen der religionspädagogischen Forschung zu, die für diese Untersuchung von Bedeutung sind. Im Blickpunkt stehen dabei die Aspekte gelebte und gelehrte Religion, Selbstverständnis und Berufszufriedenheit von Religionslehrenden.

3.1 Professionsprofile von Religionslehrerinnen

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Religion von Religionslehrenden wird vor allem durch die eigene Familie und die kirchliche Gemeinde geprägt.64 Dieses legt zumindest die Befragung von Christoph Gramzow zu Gottesvorstellungen von Religionslehrerinnen und Religionslehrern in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg nahe. Die Ergebnisse zeigen für die beiden neuen Bundesländer, dass die Lehrenden ihre religiöse Entwicklung in erster Linie von der Kirche begleitet sehen, dicht gefolgt von der Familie. Hier zeigt sich die Bedeutung der Kirchen als einzige religiöse Instanzen zu DDR-Zeiten.65 Während die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Religion unterrichten, das biblische Gottesbild mit eindeutiger Mehrheit vertreten, weisen die ausschließlich für den Schuldienst ausgebildeten Religionslehrenden eine deutliche Varianz an Haltungen auf. Aus dieser kann nur schwer eine dominierende Vorstellung hervorgehoben werden auch wenn der biblische Bezug ebenfalls deutlich wird.66 Religionslehrerinnen und -lehrer gestalten – Gramzows Befund soll hier als Beispiel dienen – ihre eigene Religiosität sehr unterschiedlich.

3.1.1 Begriffsklärungen

Von religionspädagogischer Seite wird die Ansicht weitgehend geteilt, dass Religion heute nicht mehr mit Kirchenzugehörigkeit gleichzusetzen ist.67 Um die Situation und das Selbstverständnis von Lehrerinnen für das Fach Evangelische Religionslehre zu erforschen, muss allerdings der Einfluss der Kirche als gesellschaftliche Institution, als Sozialisationsinstanz und in ihrer Mitverantwortung für den schulischen Religionsunterricht mitbedacht werden. Schließlich verhält sich eine individualisierte Gestalt von Religion nicht völlig unabhängig von gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen. Unter Umständen entfernt sie sich, dies aber dann in der Auseinandersetzung mit den vorgegebenen religiösen Fragen und Deutungen.68 Hervorzuheben ist, dass es sich auch hier um eine Beziehung zwischen Subjekt und gesellschaftlich-religiösen Zusammenhängen handelt.

Was unter Religiosität zu verstehen ist, versuchen Walter Fürst und Andreas Wittrahm in fünf Beziehungs-Dimensionen zu systematisieren. Dahingehend setzt sich Religiosität zusammen aus

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Nicht alle Dimensionen müssen gleichberechtigt vorhanden sein und ihre Gewichtung kann sich im Laufe des Lebens verändern in Abhängigkeit von Situationen, in der sich persönliche Religiosität bewähren muss, ihre Stimmigkeit und Funktionalität bewusst oder unbewusst überprüft wird.69 Sozialwissenschaftliche Bestimmungen akzentuieren, im Sinne einer Funktionalität, die Aspekte Sinnstiftung, Weltdeutung und Vergewisserung für den Einzelnen und die Gesellschaft als Struktur von Religion.70 Mit Hilfe eines solchen Religionsverständnisses sind auch Transzendenzen im Alltag, Sehnsüchte und existenzielle Fragen zu fassen.71

Wilhelm Gräb und Andreas Feldtkeller setzen sich aus theologischer Sicht ebenfalls mit der Bedeutung der menschlich-existenziellen Fragen für ein modernes Verständnis von Religion und Religiosität auseinander. Religion ist im theologischen Sinne, so Gräb und Feldtkeller, als Deutung menschlichen Lebens und Wirklichkeit schlechthin zu verstehen.72 Tendenzen wie die sich entwickelnde religiöse Individualisierung und kirchliche Distanz auf der einen Seite und der pluralisierten Wahrnehmung von Religion durch Migration und Globalisierungsprozesse auf der anderen Seite, haben in dieser Hinsicht Einfluss auf religiöses Verstehen im Kontext der Gesellschaft und damit auch in der Schule: Ethische Wertmaßstäbe werden eher aus der eigenen Lebensgeschichte begründet. Das bedeutet, dass durch eigene Erfahrungen in der Regel religiöse Sinnfragen als relevante Fragestellungen aufgegriffen werden.73 Gräb formuliert auf dieser Grundlage den Bildungsauftrag der Evangelischen Kirche für den Religionsunterricht folgendermaßen:

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„Es kann demnach behauptet werden, daß es keineswegs nur durch die Lage des Christentums in der gesellschaftlichen Moderne gefordert scheint, daß es ebenfalls nicht nur den Intentionen der modernen (Reform-)Pädagogik, sondern durchaus dem unter Neuzeitbedingungen reformulierten Wesen des christlichen Glaubens selber entspricht, wenn seine unterrichtliche Vermittlung darauf eingestellt wird, den jeweils eigenen Zugang zu ihm zu ermöglichen.“74

Folgerichtig ist dann, dass auch Religionslehrende ihren eigenen Zugang zum christlichen Glauben deuten und für sich reflektieren sollten. Bezogen auf ihr Verhältnis zur Kirche geht es deshalb weniger um die Frage ihrer Distanz oder Nähe, sondern welchen Stellenwert sie dieser Beziehung oder Verbindung in ihrer Lebensgeschichte einräumen. Ich gehe von einem Religionsverständnis aus, das sich mehr oder weniger ausdrücklich aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen entwickelt bzw. vor diesem Hintergrund reflektiert wird. In Kapitel 3 wird darüber hinaus Religiosität vor dem Hintergrund geschlechtspezifischer Sozialisationseinflüsse zu betrachten sein.

3.1.2 Religionspädagogisches Anliegen

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Mit einem weit gefassten, erfahrungsorientierten Religionsbegriff möchte ich mich hier bewusst in einer offenen Forschungshaltung gegenüber meinem Forschungsgegenstand üben, das heißt in erster Linie meinen Gesprächspartnerinnen gegenüber. Anknüpfend an Martha Heizer, die auf die gute Voraussetzung der Theologie hinweist, „ideologischen Verengungen und zu schnellen Lösungsansätzen zu widerstehen“,75 möchte ich die Haltung auch theologisch begründen als eine Suche nach einer gelingenden Professionalisierung ohne den Blick für die Realität zu verlieren. Theologie heißt für mich in diesem Sinne, sich kritisch herausfordern zu lassen durch die Spannung der Erkenntnis des Umfassenden, Unbestimmten und den Blick auf das Konkrete, Subjekt wie Gesellschaftliche, das unseren Handlungsraum bestimmt und von unseren Handlungen abhängt.76

Theologisch reflektiert bedeutet dies also eine religionspädagogisch-methodische Haltung, die von voreiligen Hypothesen absieht, bzw. die Generierung von Thesen sehr bewusst im Verhältnis zwischen Forschungskontext und Subjekt, zwischen Theorie und Praxis reflektiert, ggf. auch Spannungen zwischen diesen beiden Ebenen aushält. Nähe und Distanz während des Forschungsprozess gegenüber den Interviewten, gegenüber meinen Hypothesen und Ergebnissen müssen stets neu überdacht werden, alleine deshalb, weil ich selbst nicht nur theoretisch arbeite, sondern auch auf meine Erfahrungen als Lehrerin bewusst und unbewusst zurückgreife. Es geht allerdings nicht um Anwendungswissen, sondern darum, Wissen über die Praxis zu erlangen. Stefan Heil sieht dahingehend die Aufgabe für die religionspädagogische, empirische Forschung vor allem in der Arbeit an Hypothesen über die Praxis im Sinne einer Grounded Theory Method nach Strauss und Corbin.77 Die Entwicklung von umfassenderen Erklärungsmodellen sind in dieser Hinsicht nicht von Bedeutung,78 sondern vielmehr sehe ich es als Herausforderung, Ausblendungen zu überwinden und Differenzen im Sinne eines als Vielfalt verstandenen, für die Subjekte gewinnbringenden Diversity-Konzepts fruchtbar zu machen.79 Was für den Forschungsprozess gilt, gilt auch für das hier pädagogisch und theologisch zu vertretende Menschenbild – immer wieder neue Reflexionsarbeit an Widersprüchen und offenen Fragen ist notwendig:

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„Wie können wir, die verschiedenen Pädagoginnen und Pädagogen, die verschiedenen Kinder und Jugendlichen, die Weisheit des alten chassidischen Satzes ‚In jedermann ist etwas kostbares, das in keinem anderen ist’ verstehen lernen und begreifen, daß gerade so Gemeinsamkeit entstehen kann? Wie können wir eine solche Einsicht uns zu eigen machen und mit unseren Erkenntnissen verbinden?“80

Allerdings ist der gesamte Forschungsprozess gleichzeitig auf seine Grenzen hin zu reflektieren und kritisch vor Beliebigkeit zu bewahren. In dieser Hinsicht ist es auch bedeutsam, wie es mir gelungen ist, mir den eigenen Prozess als Forscherin in der Beziehung zwischen gesellschaftlich-pädagogischem bzw. -kirchlichem Kontext vor Augen zu führen und mir eigener Grenzen bewusst zu werden.81 An dieser Stelle wird der Hinweis wichtig, dass ich mich als Forscherin und Religionspädagogin gleichermaßen auch als Pädagogin wie als Theologin begreife.

3.2 Religionspädagogischer Kontext: Gelebte und gelehrte Religion

Dass sich gesellschaftliche Entwicklungen und Zeitumstände in der Schule widerspiegeln, ist Ausgangspunkt der Studie von Andreas Feige u. a. zu Religion bei ReligionlehrerInnen in Niedersachsen. Feige beobachtet eine Entkopplung des Religionsunterrichts von der Kirche, die sich in der Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung der Lehrenden vollzieht. Statt des kirchlichen Bezugs werden religiöse Alltagsphänomene aufgegriffen und die eigene – individuelle – Religiosität in den Unterricht eingebracht, da vielen Schülerinnen und Schülern sonst die eigene Anschauung von und Erfahrung mit religiöser Praxis fehlt.82 Aufgrund dieses Defizits beinhaltet der schulische Religionsunterricht Verantwortung für religiöse Verständnis- und Aneignungsprozesse, der die Religionslehrenden, so zeigt die Niedersachsen-Studie, gerecht zu werden versuchen. Die Ergebnisse aus Niedersachsen vermitteln, dass tendenziell ein konfessionsübergreifendes Christentum favorisiert wird. Es existiert eine besondere schulspezifische Gestalt und Form von Religion, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich gerade mit dem Ziel der Entwicklung und Förderung von individueller Religiosität an den kirchenfernen Schülerinnen und Schülern orientiert. Kirchengeschichte und die Institution Kirche werden in diesem Zusammenhang auch kritisch bearbeitet.

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Allerdings: Um so jünger die Religionslehrerinnen, um so mehr leben sie persönlich gestaltete Frömmigkeit, individualisiert, entkonventionalisiert mit pragmatischem Verhältnis gegenüber der Kirche, statt eine traditions- und institutionskritische Haltung.83 Feige und sein Forscherteam konnten aufzeigen, dass sich die gelebte und die gelehrte Religion der Lehrerinnen und Lehrer wechselseitig bedingen und dass der schulische Religionsunterricht für die Tradierung christlich-jüdischer Inhalte, aber weniger für die Weitergabe von konfessionell-kirchlichen Inhalten Beachtliches leistet. Dabei weisen die Lehrenden in ihrem Selbstverständnis durchaus ein protestantisches Profil auf. Besonders hervorzuheben ist, wie bewusst sie ihre gelebte und gelehrte Religion für das eigene Verständnis reflektieren.84 Dieses Abwägen und Prüfen der eigenen Haltung ist für eine erfolgreiche – also professionelle – Unterrichtstätigkeit notwendig.

3.2.1 Gelebte und gelehrte Religion im Religionsunterricht des öffentlichen Schulsystems

Fraglich ist, in welcher Form dieser Befund aus Niedersachsen für Thüringen gilt, wo im Religionsunterricht schon seit seiner Einführung Verantwortung für religiös Unerfahrene übernommen wird: Was bedeutet es, Evangelische Religion an der öffentlichen Schule in Thüringen zu unterrichten, in Klassen mit einem hohen Anteil nicht religiös sozialisierter Schülerinnen und Schüler? Welches Religionsverständnis kommt diesen Überlegungen entgegen? – Nicht selten erleben Religionslehrende in Thüringen bei der Vorstellung ihres Faches immer wieder Misstrauen von Seiten der Eltern, Schülerinnen und Schülern, manchmal auch von Seiten der Schulleitung, weil diese eine Bevormundung durch Religion befürchten.

Friedrich Schweitzer arbeitet aus der erziehungswissenschaftlichen Perspektive Kriterien heraus, die angelegt werden sollen, um die kind- und jugendgerechte Gestalt von Religion und Religiosität zu bewahren. Nicht kindgerecht sind die religiöse Einschränkung eigener Lebensentscheidungen, Angst erzeugende Erziehungspraktiken, eine unangemessene religiöse Wertorientierung, die die Übernahme von Verantwortung und individueller Freiheit behindert, und religiöse Sinnangebote, die nicht offen gestaltbar sind. Eine solche Art von Religion gehört nicht in den schulischen Religionsunterricht. Religion und Religiosität sollten nach erziehungswissenschaftlichen Kriterien stets eine Wertorientierung zur sozialen Verantwortung und individueller Freiheit unterstützen, die Phantasie und Kreativität in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes anregen und Hoffnung auf eine gestaltbare Zukunft machen.85 Solche Forderungen stellen konkrete Ansprüche an die Professionalität von Lehrerinnen hinsichtlich der Gestaltung und Reflexion religionspädagogischer Unterrichtsprozesse:

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„Es ist deshalb ein wichtiges Merkmal der Professionalität von Religionslehrern, die eigene religiöse Biographie und die darin wirksamen Prägungen und Lebensführungsmuster reflektieren und zu den eigenen unterrichtlichen Ziel- und Gestaltungspräferenzen ins Verhältnis setzen zu können.“86

Michael Wermke gibt explizit vor dem Hintergrund der religionspädagogischen Situation in Thüringen zu bedenken, dass Mitteilung und Darstellung von Religion zu einem handlungsorientierten Verstehen von Religion führen sollten.87 Religion kann nicht ohne eigene religiöse Erfahrung erklärt werden und religiöse Erfahrung bedarf wiederum der Reflexion und Erklärung. Thüringer Schülerinnen und Schüler spiegelten, so Wermke, im Religionsunterricht das Spannungsverhältnis zwischen gelehrter und gelebter Religion wider. Während einerseits die christlich Sozialisierten, Informationen und Erklärungen, also gelehrter Religion, bedürften, brauchten andererseits die atheistisch Geprägten einen religiösen Erfahrungshintergrund, also gelebte Religion. Kaum ein Drittel der Thüringer gehört einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Letztlich wissen wir auch über die konfessionell gebundenen Schülerinnen und Schülern nicht, wie sehr sie auf kirchliche und religiöse Erfahrungen zurückgreifen können. Kaum einer der Kinder und Jugendlichen lebt in Zusammenhängen, in denen Religion und evangelisches Christentum alltäglich und selbstverständlich präsent sind. Aber auch wenn ein kirchennaher Begriff von Religion nicht mehr trägt, warnt Karl Ernst Nipkow vor einem zu allgemein-pauschalen Verständnis von Religion in der Pädagogik.88 Aus der beschriebenen Situation ergeben sich zwangsläufig situationsspezifische Anforderungen an die Berufspraxis von Religionslehrenden: Was heißt es, in Thüringen als Pädagogin im Fach Religion an der öffentlichen Schule auf diese Weise zu unterrichten? Was lehren (gelehrte Religion) Religionspädagoginnen, die Fachfrauen für die Reflexion anhand pädagogischer und religiöser Deutungskriterien sind? Wie gestaltet sich ihr berufliches Selbstverständnis, bewusst wie unbewusst, pädagogisch und religiös ausgedeutet (gelebte Religion) und welche Wirkung hinterlässt es im Unterricht?89

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In der Folgestudie, die die Forschungsgruppe um Andreas Feige in Zusammenarbeit mit Werner Tzscheetzsch für den evangelischen und katholischen Religionsunterricht in Baden-Württemberg erarbeitet hat, bestätigt sich einmal mehr, dass die Bestimmung des Unterrichtshabitus von Religionslehrerinnen und Religionslehrer und damit der Religionsunterricht selbst nur kontextabhängig fassbar sind. Wie sehr der Kontext mitbestimmt, möchte ich hier an drei Beispielen zeigen, die im Vergleich zwischen Niedersachsen und Baden-Württemberg zu Tage traten: Gemeinsam ist Religionslehrenden in beiden Bundesländern, dass sie eine hohe Berufszufriedenheit bezüglich des Fachs Religion betonen und in erster Linie versuchen, sich an den Bedürfnissen ihrer Schülerinnen und Schüler zu orientieren. Allerdings unterscheiden sich die Rahmenbedingungen doch gravierend, da in Niedersachsen über die Hälfte der Befragten bedauern, auf Religionsunterricht verzichten zu müssen, in Baden-Württemberg sind es dagegen nur ein knappes Drittel der Lehrenden, die dieses beklagen müssen.90 Dieses Ergebnis korreliert mit der Beobachtung eines beträchtlichen Stundenausfalls an Unterrichtsstunden in Religion in Niedersachsen. Außerdem zeigt sich eine feste Akzeptanz und Verankerung von Religion in der baden-württembergischen Schule daran, dass für 90% der Religionslehrerinnen und Religionslehrer religiös gestaltete Rituale und Feiern zum Schulleben gehören. In Niedersachsen sind es dagegen etwa 50% der Religionslehrenden, die eine religiös-rituelle Gestaltung in der Schule für möglich halten.91 Darüber hinaus ist eine unterschiedlich hohe evangelisch-konfessionelle Akzentsetzung zu beobachten.92 Ihre Intensität verhält sich in Abhängigkeit zur (zahlenmäßigen) Dominanz der katholischen Konfession, wie schon Ergebnisse aus Niedersachsen nahe legen.93 Für Thüringen, das kaum volkskirchliche Strukturen aufweist, sind hier wahrscheinlich ganz andere Befunde zu erwarten. Mein Forschungsprojekt kann dahingehend vielleicht einige vorläufige Tendenzen aufzeigen.

In Ablösung von statischen Konzeptionen, wie sie die Religionspädagogik vielerorts vollzogen hat, wird die Frage nach Religion pädagogisch in eine „Offenheit des Suchens und des Fragens aufgelöst“ – „Alles schwankt, auch Gott“.94 – Oder, katholisch gewendet:

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„An klugen Beschreibungen der Situation herrscht kein Mangel, wohl aber – nach wie vor – an einer integrativen Theorie christlich verantworteter religiöser Lernprozesse. Dies umfasst auch die Aufgabe, energisch und entschieden an den nötigen Suchprozessen von Kirche und Gesellschaft im 21. Jahrhundert teilzunehmen.“95

Historisch hat sich mit den religionspädagogischen Konzeptionen jeweils auch das Bild der Religionslehrerin oder des Religionslehrers verändert: So entwickelten sich nach 1945 die Erwartungen von der Lehrenden als Zeugin des Glaubens hin zur politisch-emanzipatorischen Moderatorin. Matthias Hahn zeigt auf, dass durch solche Haltungen Lehrerinnen und Lehrer sich immer wieder zwischen Überforderungen und überhöhten Erwartungen wiederfänden.96 Andererseits demonstrieren gerade die Ergebnisse der Studie aus Niedersachsen, dass Religionslehrerinnen-(Da)Sein sich nicht einfach zwischen Erwartungen und Realität, zwischen Kirche und Schule verliert. Religionslehrerinnen sind in der Lage, ihren Beruf, ihren Handlungsraum bewusst auszudeuten und zu nutzen, wenn sie sich ein reflektiertes Verständnis ihres Berufsprofils aneignen. Diese Konzeption der Wahrnehmung individueller Gestaltungsräume sowie Bedingungen innerhalb der jeweiligen Berufssituation und die Reflexion der eigenen Berufsrolle, so Bernhard Dressler, sichere den Gehalt des Unterrichts, ohne Religionslehrerinnen zu überfordern.97 Die neue Konzeption kann dann so etwas wie eine religiös-pädagogische Wahrnehmungsschulung sein und die Religionslehrerin wäre eine Suchende im schwankenden Raum. Um herauszufinden, wie die einzelne Lehrkraft dieses individuell deutet und löst, sind Verfahren notwendig, die aus einer Verzahnung von hermeneutisch-phänomenologischen und empirisch-qualitativen Methoden entwickelt werden.98

3.2.2 Selbstverständnis und Berufszufriedenheit von Religionslehrenden

Welchen Stellenwert Lehrerinnen ihrem Beruf lebensgeschichtlich einräumen, ist vor allem an der Einschätzung ihrer Berufszufriedenheit abzulesen. In der Lehrerforschung gelten als positive Faktoren Aktivität im Beruf einerseits, Gelassenheit und Sicherheit andererseits, vor allem aber das Gefühl, eine Wirkung durch sein eigenes Handeln zu erzielen.99 Berufszufriedenheit, die über das eigene wirksame Engagement entsteht, ist auch ein wichtiger Indikator für Professionalität, denn die fehlende Wirksamkeit in einer pädagogischen Situation mit engem Handlungsspielraum bzw. angesichts weniger Handlungsmöglichkeiten wird von Lehrenden als berufliche Belastung wahrgenommen. Michael Huberman beobachtet daneben allerdings eine Berufszufriedenheit bei zunehmender Gelassenheit, in der man die allgemeine Schulsituation kritisch-pessimistisch wahrnimmt und damit eigene Zurückhaltung im Engagement begründet. Diese Haltung interpretiert er als Kompensationsstrategie, die eher auf die Rechtfertigung eines selbstzufriedenen Zustands abzielt und weniger eine wirkliche Zufriedenheit in der beruflichen Tätigkeit widerspiegelt.100

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Anton A. Bucher und Helene Miklas haben in ihrer 2005 erschienenen Studie zur Situation und Berufszufriedenheit von katholischen und evangelischen Religionslehrenden in Österreich festgestellt, dass Religionslehrerinnen und -lehrer, auch wenn sie häufig Randpositionen einnehmen, ihre soziale und kommunikative Kompetenz im Umgang mit Kolleginnen und Kollegen gut einsetzen können und sie so durch Uneinigkeit im Kollegium kaum belastet sind. Sie arbeiten äußerst gerne mit ihren Schülerinnen und Schülern und interessieren sich für sie; gelungene Beziehungsarbeit ist für sie das größte Erfolgserlebnis. Sie leiden allerdings unter dem zunehmenden Mangel an religiösen Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen und an deren Desinteresse und Widerstand. Weiterhin empfinden sie die Rahmenbedingungen häufig als problematisch, dazu gehören Sparmaßnahmen, die Abmeldemöglichkeit vom Religionsunterricht, zu kleine, aber auch zu große Lerngruppen sowie die Stundenplanung bzw. das Pendeln zwischen mehreren Schulen. Von ihren Kirchen wünschen sich Religionslehrende emotional eine höhere Wertschätzung. Interessant an der Bucher / Miklas Studie ist, dass zwischen den Konfessionen in diesen Aspekten kaum nennenswerte Unterschiede existieren. Religionslehrerinnen und -lehrer schöpfen viel Freude aus der Beziehung zu Kindern und Jugendlichen und der Möglichkeit, sie bei der Auseinandersetzung mit Lebensfragen zu begleiten. Sie wählen eigene Lernwege mit großem Freiraum für Gestaltung. Sie sind äußerst zufrieden mit ihrem privaten Leben und fühlen sich unterstützt von ihren Familien. Dieses sind alles Gründe für eine Haltung, so Bucher / Miklas, die Religionslehrende vor Belastungen durch Burnout schützt und die zu der Einschätzung hoher Berufszufriedenheit führt.101

Für Religionslehrerinnen und -lehrer in der Bundesrepublik gilt Ähnliches, wie die schon erwähnten Studien von Andreas Feige belegen. Überdies stellt Christhard Lück in seiner Befragung von Grundschullehrerinnen und -lehrern fest, dass 92,6% das Fach „sehr gerne“ bis „eher gerne“ unterrichten.102 Als Faktoren für eine ausgeprägte Zufriedenheit nennt er das Engagement für interkonfessionelles Lernen, eine Verbundenheit mit der evangelischen Kirche, eine interessierte Schülerschaft und von Seiten der Lehrkraft eine handlungs- und erfahrungsbezogene Didaktik, die sich bemüht, elementare Grundlagen des christlichen Glaubens zu erschließen. Zudem sind die Notengebung – vermutlich weil sie dazu beiträgt, dass Religion als ordentliches Lehrfach anerkannt wird – sowie ein wöchentlich regelmäßiges Stundendeputat für die Zufriedenheit der Lehrenden mit dem Unterricht förderlich. Organisatorische Probleme oder Disziplinschwierigkeiten, die Einforderung einer interreligiösen, gesellschaftskritischen Didaktik und ein stofforientierter, lehrerzentrierter Unterricht stehen dieser Zufriedenheit dagegen eher entgegen.103

Für Dressler, der sich empirisch auf die grundlegenden Erkenntnisse der niedersächsischen Studie bezieht, ist es eine gut protestantische Sicht, wenn die vorfindliche gebildete Religion persönlich gestaltet und verantwortet wird. So kann das Spannungsverhältnis von gelebter und gelehrter Religion, vor allem wenn es ohne Negation bewusst gestaltet wird, zur Grundlage einer fruchtbaren Auseinandersetzung werden.104 Professionalität einer Religionslehrerin zeigt sich in der Wahrnehmung von und Ausrichtung an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler sowie der Auseinandersetzung mit Rahmenbedingungen und eigener religiöser Biographie in ihrer Bemühung um berufliche Zufriedenheit.


Fußnoten und Endnoten

64  Dass dagegen der Religionsunterricht prägend ist, legen erste Ergebnisse der Studie von Andrea Schulte und Michael Wermke nah. Vgl. Schulte; Wermke: Studienmotive, 2006, S. 120-146

65  Christoph Gramzow: Gottesvorstellungen von Religionslehrerinnen und Religionslehrern. Eine empirische Untersuchung zu subjektiven Gottesbildern und Gottesbeziehung von Lehrenden sowie zum Umgang mit der Gottesthematik im Religionsunterricht. Hamburg 2004, S.186. Gramzow arbeitet außerdem auch regionale Unterschiede hinsichtlich des bibelnahen-personalen Gottesbildes heraus, das in Baden Württemberg eine stärkere Zustimmung erhält. Ob das religiöse Gottesverständnis von Lehrenden aus Sachsen und Sachsen-Anhalt vergleichbar mit dem in Thüringen ist, muss hier Mutmaßung bleiben.

66  Ebd., S. 312

67  Friedrich Schweitzer: Pädagogik und Religion. Eine Einführung. Stuttgart 2003, S. 104

68  Walter Fürst; Andreas Wittrahm: Gestalten erwachsener Religiosität, in: Gottfried Bitter u. a. (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. München 2002, S. 205

69  Ebd., S. 207

70  Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie. Frankfurt a. M. 1973; Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt a. M. 1977, in: Friedrich Schweitzer: Pädagogik und Religion. Eine Einführung. Stuttgart 2003, S. 105f.

71  Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt a. M. 1991, in: Friedrich Schweitzer: Pädagogik und Religion. Eine Einführung. Stuttgart 2003, S. 106

72  Existenzielle Fragen, an die hier zu denken ist, sind beispielsweise die Frage nach dem Bewusstsein, der menschlichen Wirklichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit, die Frage nach Gemeinschaft, nach Sinn und dem Eingebunden-Sein in das Ganze. Vgl. Andreas Feldtkeller: Warum Religion? Eine Begründung. Gütersloh 2006; Wilhelm Gräb: Religion und die Bildung ihrer Theorie – Reflexionsperspektiven, in: ders.; Birgit Weyel (Hg.): Religion in der modernen Lebenswelt. Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven. Göttingen 2006, S. 191-207; ders.: Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur. Gütersloh 2006

73  Wilhelm Gräb: Lebensgeschichten, Lebensentwürfe, Sinndeutungen. Eine Praktische Theologie gelebter Religion. Gütersloh 1998, besonders S. 252ff.

74  Ebd., S. 262

75  Martha Heizer: Zur Evaluierung von theologischen qualitativ-empirischen Forschungsprozessen, in: Theo-Web – Religionspädagogik, Heft 2, 3. Jg. 2004, S. 38

76  Ebd., S. 40

77  Anselm Strauss; Juliet Corbin: Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim 1996

78  Heizer: Evaluierung, 2004, S. 39

79  Andrea Zimmermann: Diversity – Vielfältige Vorteile von Verschiedenheit, in: Schlangenbrut Nr. 86, 22. Jg. 2004, S. 25

80  Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden 2006, S. 196

81  Heizer: Evaluierung, 2004, S. 39f.

82  Andreas Feige u. a.: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Münster u. a. 2000, S. 26ff. und Bernhard Dressler; Andreas Feige: Religionslehrerinnen und Religionslehrer, in: Gottfried Bitter u. a. (Hg.): Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe. München 2002, S. 400

83  Bernhard Dressler: Religion unterrichten – als Beruf. Persönliche Religiosität und religionspädagogische Professionalität, in: Lernort Gemeinde, Heft 4, 21. Jg. 2003, S. 41

84  Das berufliche Selbstverständnis, das sich aus den beiden Ebenen „gelebt“ und „gelehrt“ ergibt, bezeichnet Feige als Unterrichtshabitus. Vgl. Feige u. a.: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen, 2000, S. 457

85  Schweitzer: Pädagogik, 2003, S. 177ff.

86  Dressler: Religion, 2003, S. 42

87  Michael Wermke: Welchen Religionsunterricht braucht Thüringen? Überlegungen zu einer Religionsdidaktik im ostdeutschen Kontext, in: Volker Elsenbast; Rainer Lachmann; Robert Schelander (Hg.): Die Bibel als Buch der Bildung. Festschrift für Gottfried Adam zum 65. Geburtstag. Wien 2004, S. 455; ders.: Religion unterrichten in Thüringen, in: Theo-web – Zeitschrift für Religionspädagogik. Heft 2, 5. Jg. 2006, S. 147-161

88  Vgl. Schweitzer: Pädagogik, 2003, S. 105

89  Feige u. a.: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen, 2000, S. 33ff.

90  Andreas Feige; Werner Tzscheetzsch: Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat? Unterrichtliche Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis von ev. und kath. Religionslehrerinnen und -lehrern in Baden-Württemberg. Eine empirisch-repräsentative Befragung. Stuttgart 2005, S. 13

91  Ebd., S. 15

92  Ebd., S. 17 und S. 20

93  Feige u. a.: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen, 2000, S. 314ff.

94  Folkert Rickers: Religionspädagogik. 2.2 Evangelische Religionspädagogik, in: Norbert Mette; Folkert Rickers (Hg.): Lexikon der Religionspädagogik, Band 2, Neukirchen-Vluyn 2001, Sp. 1734

95  Ulrich Hemel, Ulrich: Religionspädagogik. 2.1 Katholische Religionspädagogik, in: Norbert Mette; Folkert Rickers (Hg.): Lexikon der Religionspädagogik, Band 2, Neukirchen-Vluyn 2001, Sp. 1728

96  Matthias Hahn: Religionslehrerinnen und Religionslehrer (Da)sein – Person und Beruf, in: Ulrich Becker; Bernd Trocholepczy (Hg.): Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik. Stuttgart u. a. 2000, 77f.

97  Feige u. a.: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen, 2000, S. 455 und Dressler: Religion, 2003, S. 39f.

98  Peter Biehl: Religionspädagogik. 3 Methoden, in: Norbert Mette; Folkert Rickers (Hg.): Lexikon der Religionspädagogik, Band 2, Neukirchen-Vluyn 2001, Sp. 1737

99  Huberman: Lebenszyklus, 1991, S. 263

100  Ebd., S. 264f.

101  Anton A. Bucher; Helene Miklas: Zwischen Berufung und Frust. Die Befindlichkeit von katholischen und evangelischen ReligionslehrerInnen in Österreich. Wien 2005, S. 208ff.

102  Christhard Lück: Beruf Religionslehrer. Selbstverständnis – Kirchenbindung – Zielorientierung. Leipzig 2003, S. 287ff.

103  Ebd., S. 305

104  Dressler: Religion, 2003, S. 42



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