4. Bewegung, Interaktion und Kommunikation im Alltag

▼ 47 (fortgesetzt)

Im Gegensatz zu früheren Epochen, wird es in der heutigen Gesellschaft als durchaus erstrebenswert erachtet, mobil zu sein. „Der Nomade ist zur positiv besetzten Leitfigur einer Gesellschaft avanciert, in der Mobilität als einer der höchsten Werte gehandelt wird und das Mobilsein zu einer gesellschaftlichen Norm geworden ist“ (Schroer 2006b: 118). Während noch Anfang des 20. Jahrhunderts der Nomade als unstet und „kulturlos“ (Weber 2008: 15) gesehen wurde, steht er heutzutage sinnbildlich für Flexibilität und Autonomie (ebd.), wobei es durchaus Altersunterschiede in der Bewertung gibt, wie Triebel anführt:

▼ 48 

„Bis zum dreißigsten Lebensjahr empfinden die meisten Menschen ein mobiles Leben als erstrebenswert und interessant. [...] Junge Erwachsene zwischen 25 und 35 verfügen über weit mehr Mobilitätserfahrung, als ähnlich qualifizierte Menschen zwischen 45 und 55.“ (ders. 2010: 47)

Und zu dem mobilen Menschen haben sich, wie beschrieben, Medien gesellt, die im Sinne einer „Nomadisierung“ (Höflich/Hartmann 2007: 219) feste räumliche Bezüge verlassen haben.

Allerdings bleibt Personen in einer modernen Gesellschaft oft auch nichts anderes übrig, als mobil zu sein, um ihren Alltag zu bewältigen. Triebel sieht hier eine Diskrepanz zwischen dem Bild von dem modernen, mobilen Menschen als unabhängiges und freies Individuum und den wirklichen Folgen steigender Mobilitätsanforderungen. So bezeichnet er die positive Besetzung der Begriffe „Mobilität, Flexibilität und Erreichbarkeit“ in unserer Gesellschaft als „Verheißungen der Moderne, als Errungenschaft von Politik, Wirtschaft und Fortschritt, als Inbegriff von Freiheit“ (ders. 2010: 12). Dieses Versprechen von Freiheit kann sich jedoch in sein Gegenteil verkehren, denn „wer mobil, flexibel und erreichbar sein muss, anstatt es sein zu dürfen, ist nicht frei“ (ebd.). Dies hat einen fundamentalen Einfluss auf die Gestaltung des alltäglichen Lebens, denn der „Mensch ist dann gefangen in etwas, das zwar ähnlich aussieht, sich aber ganz anders anfühlt als ein freies und selbstbestimmtes Leben“ (ebd.).

▼ 49 

Neben einem Zwang zu Mobilität hat aber auch das Fehlen von Mobilität im Alltag soziale Folgen: Für Menschen, die nicht oder nur eingeschränkt räumlich mobil sein können, fallen viele Interaktionsmöglichkeiten und somit Kontakte weg. Wie wichtig Mobilität für die gesellschaftliche Entfaltung eines Menschen und die Gestaltung seines alltäglichen Lebens ist, zeigen die sozialen Konsequenzen, die mit einer Einschränkung räumlicher Mobilität einhergehen: Fehlende Mobilität kann zu einem Ausschluss aus immer mehr sozialen Bereichen (vgl. Urry 2008: 17f) und in der Folge zu tiefgehenden Begrenzungen der alltäglichen Handlungsmöglichkeiten führen. Der Entzug von Mobilität dient daher auch als Sanktionierung. So ist die höchste Strafe, die in Deutschland verhängt werden kann, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit (vgl. Triebel 2010: 28).

Der Raum, in dem Bewegung stattfindet, wird durch das Handeln der Menschen und stete Interaktionen sozial bedeutungsvoll. Physisches Unterwegssein bedeutet daher immer auch soziales Aushandeln.

▼ 50 

„Räumliche Beweglichkeit ist sozial voraussetzungsvoll und folgenreich. Wer nicht über Mobilitätsmöglichkeiten verfügt, ist rasch auch von anderen sozialen Ressourcen abgeschnitten. Mobilität ist mithin etwas Soziales“ (Tully/Baier 2006: 17).

Das Unterwegssein als Phase wesentlicher sozialer Aushandlungen und somit als prägendes Element der Alltagsgestaltung wurde daher in der Anlage der Studie ganz bewusst berücksichtigt. Denn räumliche Bewegung ist ein wesentlicher Bestandteil des Alltages und somit der Bezugsrahmen für vielfältige alltägliche Handlungen.

Ob nun aus eigenem Antrieb, aus Gewohnheit oder aus Zwang: Menschen in unserer Gesellschaft sind mobil und Mobilität bestimmt immer mehr den Alltag. Nahezu jeder Bürger ist täglich unterwegs, weswegen die „Mobilität der Alltagswege“ eine zentrale Rolle in der Gestaltung von Alltag spielt (vgl. Tully/Baier 2006: 37). Konkret bedeutet dies in Deutschland:

▼ 51 

„90 Prozent aller Personen gehen an einem durchschnittlichen Tag aus dem Haus; im Durchschnitt werden 3,4 Wege pro Tag zurückgelegt. Gegenüber 2002 sind das plus vier Prozentpunkte bei der Mobilitätsquote und plus 0,1 Wege – das heißt: die Mobilität in Deutschland ist weiter leicht gewachsen.“ (BMVBS 2010: 23)

Neben der Anzahl steigt zudem auch die Dauer der einzelnen Wege kontinuierlich an (vgl. ebd.; Kramer 2004). Mittlerweile nimmt das Unterwegssein einen bedeutenden zeitlichen Umfang in den alltäglichen Handlungen ein: „Im Durchschnitt sind die Menschen in Deutschland 1 Stunde und 21 Minuten des Tages mobil“ (Holz 2004).

▼ 52 

Betrachtet man kommunikative Prozesse auch und gerade während räumlicher Bewegung wird deutlich: Phasen der Mobilität sind mehr als der bloße Wechsel zwischen zwei Orten, als der sie oft beschrieben werden. Insbesondere durch die Verwendung mobiler Kommunikationsmedien wurde die Bedeutung des „Zwischen-Raums“ (Hulme/Truch 2006) nachhaltig verändert und das Unterwegssein auch in das Blickfeld der Kommunikationswissenschaften gerückt: „In dem, was einst ein reiner Übergangs- und Durchgangsraum war, wird auf diese Weise sogar die Schaffung neuer Felder möglich“ (ebd.: 169). Räume der Bewegung wirken sich so auch auf weitere Phasen des alltäglichen Handelns aus. Doch auch abgesehen von den Möglichkeiten mobiler Kommunikation, sind Räume des Unterwegsseins seit jeher Orte des Interagierens und somit der Kommunikation gewesen. Gerade in der Bewegung von Menschen werden Handlungsstrategien des gegenseitigen Austausches offensichtlich. Besonders in der selbständigen räumlichen Körperbewegung sind Menschen ständig mit dem Handeln anderer konfrontiert und richten sich danach aus. (vgl. Goffman 1982, 1986, 2009)

4.1. Gehen: Kommunikativer Zugang zur Alltagswelt

Bei aller Technisierung der Fortbewegung, die durch neue, immer effizientere Verkehrsmittel in Reichweite und Vielfalt erweitert wird, nimmt das Gehen in unserem alltäglichen Unterwegsseins weiterhin einen bedeutenden Anteil ein. So führt Urry an: „In terms of history of movement, walking is easily its most significant form, and it is still a component of almost all other modes of movement” (ders. 2008: 63). Die tägliche Mobilität in Deutschland ist seit 1950 stetig und deutlich gestiegen. Und zwar sowohl auf die Häufigkeit der Verkehrsmittelnutzung, als auch die insgesamt zurückgelegte Strecke bezogen. (vgl. Reim 2008: 317) Deutlich mehr als die Hälfte aller Wege pro Tag (58%) wurden 2008 mit dem Auto zurückgelegt. Doch bereits an zweiter Stelle findet sich noch vor dem öffentlichen Personennahverkehr und dem Fahrrad das Gehen: Etwa ein Viertel der täglichen Wege werden zu Fuß zurückgelegt (vgl. BMVBS 2010: 31), wobei der Anteil der Fußwege seit 1998 sogar leicht angestiegen ist (vgl. BMVBS 2009: 6). Dies zeigt, dass bei aller Motorisierung der Gesellschaft das Gehen einen wesentlichen Stellenwert in dem alltäglichen Unterwegssein einnimmt. Zumal bei den genannten Erhebungen nur die Wege zwischen Orten, nicht aber die Bewegung und das Sich-Begegnen innerhalb dieser Orte berücksichtigt wurden. Ein Beispiel dafür, welche Wege so durch das Raster fallen, ist das Einkaufen in der Stadt. Der Weg dorthin wird als ein Einkaufsweg betrachtet und je nach Verkehrsmittel als Fußweg oder Weg mit einem anderen Verkehrsmittel gezählt. In der Stadt selbst werden jedoch weitere Wege zwischen den Orten zu Fuß zurückgelegt, die nicht in der Statistik auftauchen.

Dieser Punkt sprach mit Hinblick auf das methodische Vorgehen dafür, einen Ansatz zu wählen, der dicht an der handelnden Person ansetzt, um die Vielzahl solcher Wege erfassen zu können. Denn mit jedem dieser Wege gehen wiederum Interaktionen mit anderen Personen einher. Dies macht die Untersuchung des selbständigen alltäglichen Unterwegssein als permanenter Aushandlungsprozess im Vergleich zu der Betrachtung des motorisierten Individualverkehrs interessant. Denn die individuelle motorisierte Fortbewegung stellt eher eine Form der Vereinzelung dar, wie die Zahlen des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nahelegen: Bei zwei Dritteln aller Fahrten sitzt nur eine Person im Auto (vgl. BMVBS 2010: 90) und diese ist von der direkten Interaktion mit anderen abgeschnitten. Es

▼ 53 

„entsteht eine neue Form der Isolation, weil Menschen um der Bewegungsfreiheit willen in technischen Fahrzeugen eingeschlossen sind und nicht mehr auf den Gedanken kommen, dass der städtische Raum eine andere Bedeutung haben könnte, als der Fortbewegung zu dienen.“ (Schubert 2000: 41) 

Hiermit geht die „unabhängige Erfahrungsqualität“ des öffentlichen Raumes (ebd.) verloren. Der Handelnde tritt im Falle der technisierten Fortbewegung nicht (mehr) wie der Gehende in unmittelbaren Kontakt mit den ihn umgebenen Räumen und Personen. Sein Handeln ist für andere nicht direkt offensichtlich. Eine Beobachtung, die der Reiseliterat Johann Gottfried Seume bereits Anfang des 19. Jahrhunderts anstellt:

▼ 54 

„So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen“ (ders. 1839: 4).

Die Besonderheit des Gehens betonend fasst Seume zusammen: „Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne“ (ebd.). Der Gehende, nicht der Fahrende, ist für ihn der eigentlich Unabhängige. Und so mündet Seumes Gegenüberstellung eigenständiger und technisierter Bewegung in dem Ausspruch „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft“ (ebd.). 

▼ 55 

Ebenfalls im 19. Jahrhundert beschreibt Honoré de Balzac das Gehen selbst als Ausdruck vielerlei Dispositionen. Insbesondere stellt er hierbei die Präsentation des gesellschaftlichen Ranges durch die Art der Bewegung heraus. Solche Botschaften werden wiederum anderen Anwesenden offensichtlich. Seine Beobachtungen an Passanten fasst Balzac in einer „Theorie des Gehens“ (ders. 1997, zuerst 1833) zusammen, wobei er sich verwundert zeigt, dass sich solch ein naheliegender Aspekt menschlichen Handelns, wie er meint, bislang der wissenschaftlichen Betrachtung entzogen hat (vgl. ebd.: 70). Mehr noch als seine Klassifizierung des Ganges ist Balzacs Leistung, andere bei der Betrachtung des Gehens mitzudenken, hervorzuheben. Denn bei seinen Überlegungen bezieht er die Adressaten, zumindest aber die Empfänger der kommunikativen Botschaft des Gehens mit ein (vgl. ebd.: 101ff). Durch das Bewegen im Raum werden der Gehende und sein Handeln für andere ersichtlich, was grundsätzlich auch dem Handelnden selbst bewusst ist. Denn eine Person in Gesellschaft muss davon ausgehen, dass das eigene Handeln in die Handlungen der anderen einbezogen wird. Denn

„wenn Alter wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird und dass auch sein Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens wahrgenommen wird, muss er davon ausgehen, dass sein Verhalten als darauf eingestellt interpretiert wird“ (Luhmann 1984: 561f).

▼ 56 

Durch die Deutungsleistung anderer Anwesender wird der Gang zu einem bedeutungsvollen Handeln, das Verhandeln von Gehen zu einem sozialen Prozess. Denn nur weil Menschen verstehen, was die Bewegung des anderen zu bedeuten hat, können sie ihr Handeln darauf abstimmen. Der Gehende ist so Teil der sozialen Umstände die ihn umgeben und die er durch seine Bewegung mitgestaltet, wie auch Urry deutlich macht: „the walking body produces and reproduces social life“ (ders. 2008: 64). Die kommunikative Ausdrucksstärke, die von der menschlichen Bewegung im Raum ausgeht, lässt Augoyard (2007, zuerst 1979) Gemeinsamkeiten zwischen den Handlungen des Gehens und des Sprechens erkennen. Augoyards Ausführungen aufgreifend, führt Coyne an: „As with language, the ordinariness of walking becomes a means of asserting one´s presence, a »tactic of everyday life«, a »mode of being«” (ders. 2010: 158). 

Das Bewegen im Raum, das alltägliche Unterwegssein erscheint so immer weniger als reine Überwindung des Raumes. Mobil zu sein ist vielmehr in kommunikative Handlungen eingebunden – dank mobiler Medien auch dann, wenn man physisch gesehen für sich alleine unterwegs ist – und ist selbst eine kommunikative Handlung, die andere Personen verstehen und auf die sie reagieren können. Das direkte Abstimmen mit anderen, möglicherweise ebenfalls mobilen Personen, stellt so ein ständiges Wechselspiel in einem von Bewegung geprägten Alltag dar. Denn selten läuft man für sich alleine. In der Regel ist der Handelnde Teil der Bewegungen um sich herum. Coyne sieht das Gehen des Einzelnen daher zunächst eingebunden in die Bewegung anderer. Vor diesem Hintergrund sei individuelles Unterwegssein erst zu verstehen. So argumentiert er:

▼ 57 

„Walking is walking together, before it is walking alone. It is the tribe, the herd, the group, the mob that walks, a practice from which individuals break out from time to time for solitary ambulation“ (ders. 2010: 159)

Dieser gemeinsame Bewegungsstrom, aus dem sich das persönliche Handeln entwickeln kann und in den der Handelnde wieder zurückkehrt, rückt die Interaktion der sich im Raum bewegenden Personen in den Mittelpunkt. Bereits Simmel sieht persönliches Handeln eingebunden in Bewegungsströme, die eine moderne Stadt durchziehen. Öffentlich werdende, kollektiv geprägte Bewegungen (nicht nur physischer Natur), machen es dem Handelnden einfach, sich mitreißen zu lassen. Das Persönliche einer Handlung oder Bewegung droht dabei unterzugehen:

▼ 58 

„Das Leben wird ihr [der Persönlichkeit, GFK] einerseits unendlich leicht gemacht, indem Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewusstsein sich ihr von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf.“ (Simmel 1903: 130)

Individuelles Handeln könne nur noch durch „ein Äußerstes an Eigenart und Besonderung“17 (ebd.) aus dem allgemeinen Fließen herausragen, gehe daher meistens im Strom unter. Umso wichtiger war es, bei der Untersuchung alltäglichen Handelns aufmerksam auf die Handlungen des Einzelnen zu achten, um in dem allgemeinen Strom auch persönliche Nuancen erkennen zu können.

Goffman befasst sich mit der Frage, wie sich Personen innerhalb solch eines Bewegungsflusses im öffentlichen Raum in ihrer Bewegung koordinieren und sich dabei als „vehicular units“ (ders. 1971b: 5) mit anderen arrangieren. Er stellt heraus, dass öffentliche Aushandlungen alleine schon deshalb stattfinden, um Bewegungskonflikte von Passanten zu verhindern. Ein naheliegender und doch tiefgehender Gedanke, wie Höflich feststellt: Personen als sich arrangierende Bewegungseinheiten im öffentlichen Raum zu beschreiben 

▼ 59 

„appears so trivial that one could easily overlook this aspect. What it refers to are the requirements of navigating in space, particularly the practices of pedestrians that regulate the direction of movement and prevent collisions with others.“ (ders. 2005c: 164)

Dass Personen hierbei keinen besonderen Wert auf individuelles Herausragen legen, wird dabei nicht wie bei Simmel als Makel, sondern als eine Notwendigkeit in der öffentlichen Bewegungsaushandlung gesehen. Goffman nennt dieses gegenseitige Wahrnehmen und Abstimmen auf einer oberflächlichen, unpersönlichen Ebene „höfliche Gleichgültigkeit“ (vgl. ders.: 1982). Der Handelnde gibt nur so viel von sich preis, wie für das Bewältigen der öffentlichen Situationen nötig ist. Solche Navigationsleistungen, die auch im Zusammenhang mit mobiler Kommunikation sowohl bei den Nutzern, als auch bei Anwesenden ausgemacht werden können (vgl. Coyne 2010: 158; Höflich/Kircher 2010b: 77), tragen zu einem möglichst reibungslosen Ablauf in der öffentlichen Interaktion bei. 

▼ 60 

Als Gewohnheiten bleiben diese Abstimmungen dabei meist unreflektiert, denn „wer von uns denkt schon ans Gehen während er geht?“ (Balzac 1997: 106). Goffman sieht dieses unterbewusste Ausrichten, das er als „dissoziierte Wachsamkeit“ (ders. 1982: 218) bezeichnet, als Grundlage dafür, dass Handeln im öffentlichen Raum überhaupt erst möglich wird (vgl. ebd.). In diesem Sinne bemerken Höflich/Kircher:

„A taken for granted is what makes everyday life. Only special occasions, which diverge from the expected normality, forces people to give up his/her individual occupation in favour of a situational clarification.” (dies. 2010b: 63f) 

▼ 61 

Diese Arrangements werden als gegeben hingenommen, laufen ohne bewusste Steuerung ab und bleiben den sich bewegenden Personen daher normalerweise verborgen. Sie lassen sich jedoch durchaus beobachten oder in Befragungen aufdecken, wie Studien zu mobiler Kommunikation an öffentlichen Plätzen zeigen (vgl. Gergen 2002; Höflich 2006; Linke/Schlote 2010; Höflich/Kircher 2010b; Katz/Aakhus 2002; Katz 2006). Prominent, da besonders tiefgehend, sind hierbei die wiederholten Beobachtungsstudien zum Telefonierverhalten auf einer italienischen Piazza (Höflich 2005c, 2009). Es konnte zum einen beobachtet werden, dass sich Mobiltelefonierende anders im Raum bewegen, als sonstige Passanten. Zum anderen, dass diese Passanten wiederum augenscheinlich das Verhalten der Nutzer antizipieren und sich darauf einstellen, um die offensichtlich eingeschränkte Aufmerksamkeit der Telefonierenden zu kompensieren (vgl. Höflich/Kircher 2010b: 79). Diese Erkenntnisse wurden in Befragungen bestätigt: In mit Videos begleiteten Gruppendiskussionen wurde deutlich, dass Personen eine recht genaue Vorstellung davon haben, was bestimmte Bewegungen in Raum bedeuten. Sie beschrieben, wie sie auf die besonderen Bewegungen mobil Telefonierender eingehen beziehungsweise sich selbst in eigenen mobilen Kommunikationssituationen auf die Aufmerksamkeit der Passanten verlassen (vgl. ebd.: 83).

Durch solches Begegnen und Kommunizieren, das mit dem Unterwegssein einhergeht, wird Alltagswelt gestaltet. Das Sich-im-Raum-Bewegen als Grundlage für die Wahrnehmung von Welt ist durch das Zusammentreffen mit anderen bestimmt. Dies beschreibt auch Giddens:

▼ 62 

„Das alltägliche Leben findet als Serie von Begegnungen mit anderen in verschiedenen Kontexten und an verschiedenen Orten statt. Die meisten von uns treffen im Verlauf eines durchschnittlichen Tages eine Vielfalt anderer Personen und sprechen mit ihnen.“ (ders. 1995a: 112)

Begegnungen werden hier in der Verwendung des Begriffes bei Goffman (1971a, 1982) verstanden. Dieser unterscheidet zwischen zentrierter und nicht zentrierter Interaktion, in die Personen in ihrem alltäglichen Handeln treten können, wobei Begegnungen („encounters“) für eine gemeinsame Situation zentrierter Interaktion stehen (vgl. Giddens 1995a: 111; Lenz 1991: 34). Zentriert bedeutet, dass direkt auf das Handeln oder die Kommunikation des anderen eingegangen wird (vgl. Goffman 1971a: 35). Das unzentrierte Interagieren wiederum zeigt sich besonders in dem gegenseitigen Wahrnehmen und der Abstimmung des Handelns von Personen im öffentlichen Raum und begründet so die zuvor genannte „höfliche Gleichgültigkeit“. Dieses Prinzip ist dabei

▼ 63 

„ganz etwas anderes als das bloße Ignorieren einer anderen Person. Beide Beteiligte lassen erkennen, daß sie die Gegenwart der anderen Person bemerkt haben, doch vermeiden sie jede Geste, die als zu aufdringlich empfunden werden könnte“ (Giddens 1995a: 100)

Bei der direkten Begegnung liegt der Fall jedoch anders. Denn diese „erfordern stets »Eröffnungen«, die deutlich machen, daß höfliche Gleichgültigkeit über Bord geworfen wird“ (ebd.: 112).

Um die vielfältigen unzentrierten Interaktionen sowie direkten Begegnungen einer Person über den Tag hinweg untersuchen zu können, schloss ich mich bei der Erforschung mobiler Alltage dem Unterwegssein der Handelnden an. Denn gerade in dem Begehen von Welt, werden das Handeln und seine Umstände deutlich, wie schon Seume – als Reiseliterat um ein Vielfaches mobiler, als die meisten seiner Zeitgenossen – bemerkt: „Wer geht sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt“ (ders. 1839: 4). Diesen Gedanken der dichten Weltwahrnehmung in Bewegung griff ich für mein methodisches Vorgehen auf und wurde als „Wanderforscher“ (Girtler 2004: 54) selber mobil (vgl. Kapitel 6). Das gemeinsame Mobil-Sein ist so mein Zugang zu der Alltagswelt der Teilnehmer gewesen. Als begleitender Forscher war ich gewissermaßen als zusätzlicher Waggon einer „vehicular unit“ gebunden an die Wege, die von den Teilnehmern in ihrem Alltag eingeschlagen wurden (vgl. Kapitel 6.1). In einer zweiten Methode wurde der Prozess des Unterwegsseins gemeinsam mit den Teilnehmern durch visuelle Alltagsdokumentationen nachvollzogen (vgl. Kapitel 6.2).

4.2. „Alles fließt!“ Alltagshandeln als übersituativer Handlungsfluss

▼ 64 

Über den Tag verfolgt, erscheint das Handeln von Menschen als ein fließendes Geschehen. Handlungen gehen ineinander über, Bewegungen führen zu Begegnungen und diese wiederum zu neuen Interaktionen, ohne dass sich einzelne Situationen immer voneinander abgrenzen lassen. Bereits vor 2500 Jahren beschreibt der ionische Philosoph Heraklit den Wechsel und die Veränderung als Kern menschlichen Seins und Handelns. Der ihm zugeschriebene Ausspruch „Alles fließt!“ (vgl. Gemelli-Marciano 2007: 335) pointiert dies. Und dieser Gedanke, dass alles im Handeln voranstrebt, erscheint auch oder gerade heutzutage aktuell: Die Forderungen nach Flexibilität und Mobilität ist in unserer Gesellschaft präsent. Die Anzahl täglicher Wege steigt stetig, wie zuvor dargelegt. Zudem werden die einzelnen Wege länger. Daher sind wir immer kürzer an ein und demselben Ort und immer häufiger unterwegs. Alles, so kann man den Eindruck gewinnen, befindet sich stets in Veränderung.

Aber es findet sich nicht nur der Wandel, das unwiederbringliche Fließen, das alles in Bewegung hält, in Heraklits Ausführungen zum Wesen des menschlichen Seins. Vielmehr ist ihm daran gelegen, dem Fließenden das Beständige gegenüberzustellen. Denn, so führt er in seiner typisch dialektischen Betrachtungsweise an, „wir steigen in denselben Fluß und doch nicht in denselben; wir sind es, und wir sind es nicht“ (Heraklit 16 Fragm. 49a, zitiert nach Capelle 1958: 132). Unser Handeln ist Tag für Tag verschieden, trotzdem findet es immer wieder in denselben Rahmen statt. In diesem Wechselspiel zwischen Veränderung und Beständigkeit wird eines deutlich: Handeln und Sein ist in die ständige Bewegung eines Flusses eingebunden; alles verändert sich, ob mit unserem Zutun oder ohne. Dennoch gibt es das Gesetzmäßige, Unveränderliche, kurz: den Logos, auf den Heraklit seine Ideen aufbaut. (vgl. Gemelli-Marciano 2007: 338) Denn der Fluss bleibt in seinem festen Flussbett und somit in seiner äußeren Gestaltung der gleiche.

Diese Analogie auf den Rahmen menschlichen Handelns lässt sich auf die Gestaltung von Alltag übertragen: Häufiges Unterwegssein, das Zusammentreffen mit unterschiedlichen Personen an einer Vielzahl von Orten sowie neue Aufgaben und Anforderungen, die sich Tag für Tag stellen, stützen das Bild Heraklits „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, denn andere Wasser strömen nach“ (Heraklit Fragm. B91 i, zitiert nach Diels/Kranz 1957). Zugleich zeigt sich aber auch, dass sich Alltag auf wiederkehrende und gleichbleibende Bedingungen stützt (vgl. Giddens 1995a: 101).

▼ 65 

Giddens benutzt hier ebenso die Metapher des Fließens, um zu beschreiben, dass Alltagsleben zwar einem ständigen Voranschreiten unterworfen ist, dieses sich aber im Grunde auf Wiederkehrendes bezieht. So führt er an: „Das Alltagsleben hat eine Dauer; es ist ein Fließen, aber es fließt nirgendwo hin“ (ders. 1992: 89f). Und er erörtert weiter: „Allein das Adjektiv »alltäglich« und seine Synonyme (z.B. »von Tag zu Tag«) weisen darauf hin, daß Zeit hier nur als Phänomen des Sich-Wiederholens konstituiert wird“ (ebd.). Hierbei verwendet er den von Bergson geprägten Begriff durée im Sinne einer „reinen Dauer“ (vgl. Joas/Knöbl 2004: 406). Damit betont er den durchgehenden, dauerhaften Fluss des Handelns. Einzelne Handlungen lassen sich zwar nachträglich ausmachen, während des Handelns gehen sie jedoch in einer Kontinuität auf (vgl. ebd.: 407). Giddens stellt sich so gegen die Vorstellung, menschliches Handeln nur als eine Abfolge abgegrenzter, aufeinander aufbauender Handlungen zu sehen.

4.3. Raumkonzepte: Raum und dessen Rezeption

Das Erforschen von Alltag als fließender Prozess in vorgegebenen oder selbst gestalteten Bahnen legt daher eine übersituative Betrachtung nahe. Die Untersuchung alltäglicher Wege und der mit diesen einhergehenden Verwendung mobiler Medien „lenkt“ so Höflich „die Aufmerksamkeit darauf, die Nutzung des Mobiltelefons auch im Kontext übergreifender Kommunikationszusammenhänge zu betrachten“ (ders. 2010a: 104). Er sieht daher den „Gebrauch des Mobiltelefons im Kontext von Aktivitätsmustern“ (ebd., Hervorhebung im Original), also eingebunden in räumliche und zeitliche Bezüge. Die Verbindung einzelner Handlungssituationen durch übergreifende Handlungen rückt dabei in den Vordergrund:

▼ 66 

„[E]ine Person [hält sich, GFK] an einzelnen Standorten wie Wohnung, Arbeitsstätte, Einkaufsgelegenheit und Freizeiteinrichtung auf. Zwischen diesen stationären Aktivitäten führt sie raumzeitliche Bewegungen aus, die die Standorte verbinden. Der Blick führt weg von der einzelnen Raumeinheit hin zu Verhaltensmustern, die sich über mehrere Raumeinheiten erstrecken.“ (Riege/Schubert 2005: 16)

Dieser Fluss lässt sich als Weg durch den Alltag beschreiben und nachvollziehen. So führen Riege/Schubert weiter an: „In der Vorstellung des aktionsräumlichen Konzepts bewegt sich jedes Individuum auf einem Raum-Zeit-Pfad durch den Alltag“ (ebd.). Sie beziehen sich hier auf das Konzept der Human Activity Patterns nach Chapin (1974), das sie folgendermaßen beschreiben:

▼ 67 

„F. Stuart Chapin (1974) entwickelte ein zeit-räumliches Modell der »Urban Activity Systems« als umfassendes Konzept für die Art und Weise, wie Individuen, Haushalte, Institutionen und Unternehmen tagaus uns tagein ihre Angelegenheiten in der Interaktion untereinander in Zeit und Raum der kommunalen Öffentlichkeit verfolgen.“ (Riege/Schubert 2005: 16)

Dass Raum oder ein Ort bereits grundlegenden Einfluss auf das Handeln hat oder zumindest haben kann, findet sich in solchen raumkonzeptionellen Ansätzen wieder. So beschreibt Pohl, dass über „individuelle Motivation und Denkweisen als Prädispositionen des Verhaltens“ hinaus in Chapins Ansatz „die vorhandene Ausstattung des Raums in Form von Verfügbarkeiten von Gelegenheiten und die Wahrnehmung ihrer Qualität einen großen Einfluss auf das Verhalten hat“ (Pohl 2009: 153). 

Wie weit eine solche Prägung durch Orte gehen kann, zeigt sich deutlich in besonderen räumlichen Umgebungen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das sogenannte Jerusalem-Syndrom. Durch die besonderen Rahmen von Orten wie die Heilige Stadt stellen sich gerade bei Touristen oft außergewöhnliche Handlungen ein, wie Zschocke beschreibt: 

▼ 68 

„Von der geballten historisch-religiösen Ladung geradezu umgehauen, verwandeln sie sich alsbald in historische Figuren vorwiegend nach biblischem Vorbild. Sie verkünden Visionen, ziehen sich aus und versuchen übers Wasser zu gehen, rezitieren öffentlich selbst verfasste Gebete oder erklären, dass sie der Messias seien.“ (dies. 2005: 103)

Über diese außeralltäglichen Raumprägungen hinaus, findet sich eine Strukturierung des Handelns durch Orte auch im Alltag. 

▼ 69 

„Der Vollzug einer sozialen Praktik setzt ein ganz bestimmtes setting, einen sozialkulturellen und zugleich materialen Ort (locale) voraus, und ganze Komplexe sozialer Praktiken sind mit einer aktiven »Regionalisierung« des Räumlichen verknüpft.“ (Reckwitz 2007: 322, Hervorhebungen im Original)

Insbesondere Barker beschäftigte sich seit den 1950ern in seinen Studien mit der strukturellen Konstitution von Alltag (vgl. ders./Wright 1951; ders. 1968):

▼ 70 

„Barkers Vorhaben war es, menschliches Verhalten dort zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren, wo es im alltäglichen Leben auftritt und »naiv«, das heißt ohne wissenschaftliche Vorabausrichtungen und spezifische Fragestellungen an das Alltagsgeschehen heranzugehen. Nur so sei es möglich, menschliches Verhalten in seiner ganzen Komplexität, Dauer und Frequenz zu erfassen.“ (Lichtenberg/Eitmann/Goldmann 2003: 8)

Barker betont in seinem empirisch begründeten Konzept der Behavior Settings die Dominanz raum-zeitlicher Strukturen über das Handeln und somit letztendlich über die Alltagsgestaltung:

▼ 71 

„In jedem dieser Behavior Settings herrschen bestimmte charakteristische Verhaltensmuster vor, die von den Teilnehmern gleichsam wie nach einem Programm erfüllt werden, wobei es weitgehend gleichgültig ist, welche Individuen im einzelnen die auf das jeweilige Milieu abgestimmten Verhaltensmuster produzieren.“ (Kaminski 1986a: 9)

Alltagshandeln lässt sich mit diesem Ansatz als Bewegung durch den Raum nachzeichnen, denn bezieht „man den Raum-Zeit-Pfad zurück auf den geografisch definierten Raum, so ergibt sich ein räumliches Interaktionsmuster von Wegen, Fahrten und Aufenthalten“ (Riege/Schubert 2005: 16). Diese Perspektive hebt auch das Unterwegssein als bedeutungsvolle Phasen im Alltag hervor. Denn das Bewegen im Raum ist mehr als eine reine Distanzüberbrückung, auch wenn dies oft übersehen wird, wie Urry anmerkt:

▼ 72 

„In turn now to the increasingly significant pattern of meetings that take place in some sense on the move. In much analysis of travel it is usual to ignore such practices. It is presumed that the time that is spent traveling is unproductive and wasted; that activity time and travel time are mutually exclusive” (ders. 2008: 250)

Dass das Unterwegssein mehr ist als leere, verschwendete Phasen des Alltages, betonen auch Hulme/Truch (2006). Mit der Verbreitung mobiler Medien habe die Bedeutung solcher Räume als Verbindung größerer Felder des Alltages noch zugenommen. Mehr als zuvor sind sie in einer mediatisierten Gesellschaft zum Schauplatz vielerlei Aushandlungen, die wiederum andere Felder und die persönliche Identität des Handelnden betreffen, geworden. (vgl. ebd.: 169) 

▼ 73 

Innerhalb der alltäglichen Handlungsflüsse erscheinen so Orte und die Bewegungen zwischen diesen als eine Möglichkeit zur Gliederung des Alltages. Räume stellen dabei zumeist Strukturen dar, die auch ohne das Zutun des einzelnen Handelnden bestehen. Diese interindividuelle Geltung von Orten betont insbesondere Barker (vgl. ders. 1968). Denn die einzelne Situation in ihren räumlichen und sozialen Strukturen hat laut Barker entscheidenden Einfluss auf das Verhalten von Personen. Dabei ist das einzelne Setting grundsätzlich unabhängig von einem bestimmten Individuum: Das Setting besteht auch ohne die konkrete, handelnde Person (vgl. Barker 1968: 17; Saup 1986: 44f).

Doch wie geht das Herausgreifen einzelner Settings mit der Vorstellung eines alltäglichen Handlungsflusses zusammen? Die Antwort liefern Barker/Wrigth mit der für den Behavior Setting Ansatz grundlegenden Studie „One Boy's Day – a Specimen Record of Behavior”. Sie begleiteten einen Jungen über dessen vollständigen Tag und zeichneten sein Handeln auf (vgl. dies. 1951). Ergebnis dieser Studie war das Aufdecken und Erfassen eines „stream of behavior“ als übersituative Perspektive auf Alltagshandeln. Hieraus wurden einzelne Handlungssituationen nachträglich herausgegriffen und Verhaltensmuster ausgemacht, die in ihrem Zusammenspiel als die Ordnungsgrundlagen der Alltageshandlungen gesehen wurden (vgl. Lichtenberg/Eitmann/Goldmann 2003: 8f).

Es geht also darum, Alltagshandeln als das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen der individuellen Wahlfreiheit und den Restriktionen des Ortes zu erfassen: Alltagsgestaltung ist das, was der Einzelne innerhalb der Vorgaben als Handlungen wählt. Dieser Gedanke findet sich in den Pfaden durch den Alltag in dem genannten aktionsräumlichen Modell (vgl. Chapin 1974; vgl. auch Hägerstrand/Buttimer 1988; Pred 1981) und eben in den Behavior-Settings als Ordnungseinheiten des „stream of behavior“ bei Barker (1968) wieder. Besonders deutlich wird das Wechselspiel zwischen Alltagshandeln und Strukturen in Giddens Theorie der Strukturierung (vgl. ders. 1992). Es wird nicht nur die individuelle Handlungsfreiheit innerhalb von Vorgaben, sondern auch die grundsätzliche Rückwirkung der Handlung auf diese Strukturen betont. (vgl. auch Kapitel 2.2) 

▼ 74 

Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie Handeln eingebettet in und abhängig von räumlichen und zeitlichen Strukturen sehen, aber die Variabilität des Handelns innerhalb der Vorgaben berücksichtigen. Zudem ähneln sie sich darin, dass sie einzelne Handlungen eingefügt in übersituative Zusammenhänge (Raum-Zeit-Pfade, streams of behavior, Handlungsflüsse) sehen und so eine Betrachtung von Alltag als Einheit, die gleichwohl in einzelne Phasen unterteilt werden kann, ermöglichen.

Die übersituative Betrachtung erfordert dabei, dass der Forscher eine besondere Position in dem fortlaufenden Handlungsgeschehen einnimmt: Als Beobachter steht es ihm offen, einen Schritt zurückzutreten und neben dem aktuellen Handeln auch dessen Einbindung in vorherige Handlungen zu betrachten. Für den Handelnden selbst gilt hingegen die Feststellung „Alltag ist »hic et nunc«“ (Voß 2000: 35, Hervorhebung im Original), denn in der einzelnen, konkreten Situation und nicht in zeitlich und räumlich getrennten Situationen spielt sich der Alltag für die handelnde Person ab. Dass dieses Hier-und-Jetzt auch ein virtuelles sein kann, legt Gergen mit dem zuvor beschriebenen Konzept der absent presence, in die sich mobil Telefonierende begeben können, nahe (ders. 2002). Während der Handelnde also maßgeblich in das Augenblickliche, das Konkrete eingebunden ist, ist es dem Beobachter vorbehalten, den Kontext sowie das Vorher und das Voranschreiten der Handlungen in den Blick zu nehmen.

Was Personen, die in ihre Handlung vertieft sind, alles entgehen kann, zeigen Experimente zu dem Phänomen der „inattentional blindness“. Beispielhaft ist hier ein Test, bei dem sich Personen mit der vorgeschobenen Aufgabe, Ballwechsel in einem Video zählen zu sollen, beschäftigten. Hierauf konzentriert, übersahen sie einen ganz offensichtlich durch das Bild laufenden Gorilla. (vgl. Simons/Chabris 1999) Auch wenn es sich bei diesem mehrfach angewandten Versuch um ein Laborexperiment handelt19, legen die Ergebnisse doch die Vermutung nahe, dass einem beobachtenden Forscher Dinge offensichtlich werden können, die dem Teilnehmer verborgen bleiben. Und so sind auch in dem methodischen Konzept der vorliegenden Studie Beobachtungen ein wesentliches Element, um das Fortschreiten der Handlungen sowie deren Kontext zu erfassen.

4.4. Routinen und Strukturierungen des täglichen Unterwegsseins

▼ 75 

Mit dem täglichen Aufsuchen gleicher Räume gehen wiederkehrende Wege und bestimmte Begegnungen einher. So wird der alltägliche Handlungsfluss über weite Strecken zur Routine, wie Giddens schildert:

„Denk daran, was du z.B. gestern getan hast, und vorgestern. Wenn beide Tage Wochentage waren, dann bist du höchstwahrscheinlich zur »selben Zeit wie gewöhnlich« (was bereits für sich eine wichtige Routine darstellt) aufgestanden. Du hast vielleicht ziemlich früh am Vormittag die Schule oder eine Vorlesung besucht, was eine Fahrt in die Schule oder Universität erforderlich macht, die du praktisch an allen Wochentagen unternimmst.“ (ders. 1995a: 101)

▼ 76 

Giddens fährt fort, die weiteren möglichen Routinen eines typischen Tages zu beschreiben. Dieses Wiederkehren in ähnlicher Form ist es, was Alltag ausmacht. Es bedeutet jedoch nicht, dass jeder Tag gleich oder voraussagbar wäre. Giddens argumentiert vielmehr, dass Strukturen zwar den Alltag prägen, dass Handeln jedoch nicht a priori von den Strukturen abgeleitet werden kann (vgl. ders. 1992). Es bleibt Raum für die Variabilität des individuellen Handelns. Hierzu merkt Balog an:

„Die Ablehnung, aufgrund theoretischer Vorannahmen soziale Prozesse zu erklären oder zu prognostizieren, rührt aus der Einsicht in die ontologische Realität sozialer Sachverhalte, die nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinn determiniert sind, sondern durch die Handlungen von Akteuren reproduziert und verändert werden, also immer auch einen Aspekt des Unvorhergesehenen aufweisen.“ (ders. 2001: 203)

▼ 77 

Aber Giddens verweist eben auch auf die Strukturen, die Alltag in bestimmter Form verlässlich machen und ihn selbst zu einer wiederkehrenden, beständigen Struktur werden lassen. Das alltägliche Handeln folgt dabei dieser Struktur, indem bestimmte Wege gegangen und Orte aufgesucht werden, indem man dort Personen trifft und mit ihnen interagiert. Aber – und dies unterscheidet seine Theorie der Strukturierung von strukturalistischen Ansätzen – die Struktur gibt Handeln nicht nur vor. Vielmehr ist der alltägliche Handlungsfluss in dem gegenseitigen Bedingen zwischen Handelndem und den Umständen begründet. Joas führt hierzu an:

„Das Hauptproblem vieler Diskussionen über das Verhältnis von »Handlung« und »Struktur« liegt aber für Giddens in der Einseitigkeit, in der Handlungen als von Strukturen restringiert aufgefaßt werden. [...] Einer von Giddens´ zentralen Gedanken ist dagegen der von einer »duality of structure«, d.h. des doppelten Charakters von Strukturen als Ermöglichung und als Restriktion des Handelns, als Medium und Resultat der Praxis.“ (ders. 1992: 14)

▼ 78 

Mit dieser Dualität der Strukturen überwindet Giddens eine Unschärfe des Behavior Setting Konzeptes: In Barkers Annahmen bleibt die Verbindung zwischen Variabilität im Alltagshandeln und den Vorgaben der Settings unklar (vgl. Kaminski 1986a: 14). Auch ein weiterer Kritikpunkt, der gegen das Behavior Setting Konzept vorgebracht wird, kann mit der Theorie der Strukturierung ausgeräumt werden: Die Entstehung und Entwicklung des Handelns in einem Setting bleibt bei Barker weitgehend im Dunkeln, wie Koch betont: „[A]ußer Betracht bleiben die »generativen Mechanismen«, welche soziales wie auch raumbezogenes Verhalten in einem Behavior Setting erst hervorbringen“ (ders. 1986: 41). Bei Giddens hingegen bilden die Rückwirkung des Handelns auf Strukturen sowie die Variation des Handelns zentrale Pfeiler seiner Theorie. Dass Räume grundsätzlich, wie im Zusammenhang mit den aktionsräumlichen Ansätzen und dem Konzept des Behavior Settings dargelegt, Einfluss auf das in ihnen ablaufende Handeln haben, bestreitet Giddens dabei nicht.

Menschen wiederum haben durchaus eine Vorstellung davon, wie sie sich in bestimmten Räumen verhalten sollten oder dürfen. Dies kann aus gemeinsamen, auch unausgesprochenen Übereinkünften herrühren. Auf einem Friedhof etwa wird erwartet, dass man nicht rennt. In einem Restaurant lässt man sich eher Zeit als im Schnellimbiss und hält sich an andere Tischsitten. (vgl. Tessin 2004) Solche „selbstverständlichen“ Regulierungen rühren aus verinnerlichten kulturellen Vorstellungen und den Erwartungen anwesender Personen her. Überdies kann die Abstimmung des Verhaltens aus konkreten Vorschriften beziehungsweise Verboten resultieren. Auch solche Vorgaben wirken sich direkt auf die Gestaltung des täglichen Unterwegsseins aus, wie Coyne feststellt:

▼ 79 

„In everyday walking people encounter spaces that are conspicuously weighed down by signage, designed as if to accuse rather to inform: don´t wait here, have your passport ready, this is a quite zone, no entry. The charge of trespass and violation hangs heavy through visible and invisible reproach and censure.“ (ders. 2010: 163)

Zunehmende Mobilitätsmöglichkeiten werden also wiederum durch Restriktionen eingegrenzt.

4.5. Medien in Bewegung: Veränderung von Strukturen

Durch solche Regulierungen, das regelmäßige Abstimmen mit anderen sowie das Aneignen räumlicher, zeitlicher und sozialer Strukturen, entstehen Beständigkeiten und verinnerlichte Verhaltensregeln im Alltag. Diese Entwicklung lässt sich gut am Beispiel mobiler Kommunikation nachzeichnen: Anfang der 1990er Jahre war es nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass an bestimmten Orten in der Öffentlichkeit nicht telefoniert werden soll. Mobile Kommunikation war schlicht kein größeres gesellschaftliches Phänomen. Das Handy konnte sich auf Grund seiner technischen Möglichkeiten in der Folge nahezu frei in allen Bereichen des Lebens ausbreiten, da es zunächst nicht von gesellschaftlichen Übereinkünften oder gesetzlichen Vorgaben im Zaum gehalten wurde. So beschreibt Höflich, dass auf die angemessene Verwendung des Mobiltelefons lange Zeit hingewiesen werden musste:

▼ 80 

„Störungen ergeben sich aber gerade deshalb, weil sich noch keine Etikette des mobilen Telefonierens durchgesetzt hat, so dass an gewissen Orten – etwa dem Restaurant oder der Oper – noch ausdrücklich darauf hingewiesen werden muss, das »Handy« auszuschalten. Womöglich haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das mit dem Auftauchen kommunikativer Neuerungen generell verbunden scheint.“ (ders. 2001: 5)

Mit der Verbreitung des Mobiltelefons entstanden zunächst unterschiedliche Vorstellungen davon, wie und wo das Medium genutzt werden sollte oder durfte (vgl. Burkart 2000, 218ff; ders. 2007: 85ff) und wo es insbesondere störe (vgl. Feldhaus 2004: 160ff; Ling 2005). Hinzu kommt, dass „im Gegensatz zu den Nutzungs- und Austauschformen im 18. und 19. Jahrhundert […] das soziale Leben im öffentlichen Raum heute keine klare Angelegenheit mehr dar[stellt, GFK]“ wie Schubert anmerkt (ders. 2000: 61). Denn der öffentliche Raum zergliedert sich mehr und mehr in funktionsbezogene Orte, in „Settings gelebter öffentlicher Räume“ (ebd.: 56), die je unterschiedliche Verhaltensweisen fordern können. Neuere Untersuchungen weisen in die Richtung, dass sich in Hinblick auf die Verwendung mobiler Medien mittlerweile eine grundlegende Normalisierung eingestellt hat (vgl. Weber 2008: 12; Feldhaus 2004: 166f; Höflich/Kircher 2010b: 63) und sich ein Gefühl für den angemessenen Umgang mit diesem Medium entwickeln konnte.

▼ 81 

Zumindest hat sich gezeigt, dass Menschen durchaus eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wann und wo mobil telefoniert werden darf und wie die Nutzung an unterschiedliche Orte angepasst werden sollte (vgl. auch Burkart 2009). Solch eine Kategorisierung von Orten führt dazu, dass Handygespräche in bestimmten Situationen als besonders störend empfunden werden, wenn sich über diese oft unausgesprochene Einteilung hinweggesetzt wird (vgl. Linke/Schlote 2010: 109f). Neben dem Ort als Kriterium für mögliche Störungen, kann auch die Rolle einer Person in den jeweiligen Orten zu einer differenzierten Beurteilung führen. Dies legt die Untersuchung in einer Universitäts-Bibliothek nahe: Unterschiedliche Gruppen dort – das Bibliothekspersonal und die Studenten – beurteilten die Auswirkungen von Handygesprächen sehr unterschiedlich (vgl. Gebhardt/Höflich/Rössler 2008). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass es durchaus eine Differenz zwischen dem von anderen geforderten und dem eigenen Verhalten gibt. Menschen haben meist sehr genaue Kriterien für die angemessene Verwendung mobiler Medien im Kopf und erwarten deren Einhaltung auch von anderen. Auf das eigene Verhalten angesprochen reflektieren sie jedoch, dass sie im Alltag selbst oft genug gegen die von ihnen gewünschten Verhaltensweisen und Einschränkungen verstoßen (vgl. Höflich/Kircher 2010b: 83f).

Dass sich gesellschaftliche Vorstellung über das mobile Kommunizieren an unterschiedlichen Orten herausgebildet haben, zeigt, dass das Mobiltelefon durch Aneignung und tagtägliche Nutzung gewissermaßen „veralltäglicht“ wurde: Diesen Prozess einer Domestizierung von Medien (Silverstone/Haddon 1996; Röser 2007; Hartmann 2008) beschreibt Silverstone folgendermaßen: „Domestication is a process both of taming the wild and cultivating the tame“ (ders. 1994: 174). In diesem Sinne konnte auch das Mobiltelefon zu einem Phänomen werden, das in die sozialen Zusammenhänge unseres Alltages eingebunden ist. Das Medium und seine Verwendung sind somit alltäglich, „normal“ geworden. Den Prozess der Normalisierung von Kommunikationsformen beschreibt Weber folgendermaßen:

▼ 82 

„Für solche Effekte der Gewöhnung an eine Technik hat die Techniksoziologie den Begriff der »Normalisierung« geprägt – auch, um darauf aufmerksam zu machen, dass ein »normaler« Technikgebrauch erst das Ergebnis eines längerfristigen und oft konfliktreichen Prozesses der gesellschaftlichen Aneignung und Aushandlung ist, in dessen Verlauf sich eine Gesellschaft über Technikform und -verwendung verständigt.“ (dies. 2008: 12)

Sich im Raum zu bewegen und dabei medienvermittelt kommunizieren zu können, ist so zu einer Selbstverständlichkeit in einem mobilen Alltag geworden. Jedenfalls, solange die Nutzung nicht aus dem Rahmen fällt. Wie unangenehm es einer nutzenden Person sein kann, gegen die verinnerlichten Verhaltensweisen in der öffentlichen Kommunikation zu verstoßen, zeigt eine auf der Idee des Garfinkel´schen Krisenexperimentes (vgl. ders. 1967) basierende Studie (vgl. Höflich 2010a): Die angerufene Person (eine an der Studie teilnehmende, eingeweihte Studentin) durfte in einem Café eine zuvor vereinbarte Zeit lang das Gespräch nicht annehmen. Sie wähnte sich selbst auf dem Präsentierteller und fühlte sich zunehmend unwohl dabei, die Situation nicht aufklären zu können. Ein Zeichen dafür, dass Personen eben nicht unbedingt auffallen wollen, sondern sehr wohl einschätzen können, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten sollten (vgl. ebd.: 106). Das Gefühl mit dem eigenen Handeln von dem erwarteten Handeln abzuweichen und die Befürchtung sozialer Sanktionen lösen dieses Unbehagen aus (vgl. Peters 2009). Anderen Anwesenden schien die Situation hingegen wenig aufzufallen. Ein weiterer Hinweis für eine Normalisierung. Neben mehr oder weniger ausgeprägten sozialen Vereinbarungen und Rücksichtnahmen, stehen auch gesetzliche Vorschriften für das Bedürfnis, mobile Kommunikation in bestimmte, verbindliche Bahnen zu lenken. Dies kann mit einem Verweis auf die Sicherheit begründet sein, wie in Krankenhäusern, an Tankstellen oder im Straßenverkehr. Oder etwa wie in Ruheabteilen oder im Kino mit dem Hinweis, dass andere nicht gestört oder beeinträchtigt werden sollen.

4.6. Forschungsfragen

Die thematische und theoretische Rahmung der Studie betont die Relevanz einer Betrachtung alltäglichen Handelns hinsichtlich Mobilität und Mediennutzung. Mehr noch als in bisherigen kommunikationswissenschaftlichen Studien soll daher Mobilität und somit auch mobiles mediales Handeln eingebettet in den situationsübergreifenden Handlungsrahmen des Alltages betrachtet werden. Dies bedeutet vor allen Dingen, dass in der Untersuchung nicht nur die Zeiten und Räume der Mobilität selbst, sondern ebenso Phasen der Ortsgebundenheit von Bedeutung sind. Alltägliches Handeln wird so hinsichtlich der Mediennutzung in einem übersituativen Kontext betrachtet, Handlungen werden über einzelne Alltagsphasen hinweg weiter verfolgt. So sollen Aussagen dazu getroffen werden können, wie sich ein mobiler, mediatisierter Alltag gestaltet, ohne sich nur auf die Zeiten der Mobilität und die Zeiten der Mediennutzung zu beschränken.

▼ 83 

Aus der thematischen und theoretischen Einordnung meines Forschungsfeldes leiten sich mehrere Fragekomplexe ab. Der erste betrifft den Zusammenhang zwischen Mobilität, Beständigkeit und der Strukturierung des Handelns. Im zweiten wird die Perspektive um subjektive Einschätzungen und individuelle Ausgestaltungsmöglichkeiten erweitert. Der dritte Bereich rückt mediales Handeln im Alltagsverlauf in den Vordergrund. Diese Fragekomplexe beziehen sich dabei vielfach aufeinander, werfen sie doch jeweils unterschiedliche Lichter auf den gleichen Kontext: Sie stellen spezifische Konkretisierungen der grundsätzlichen Forschungsperspektive auf die Alltagsgestaltung in einer mobilen und mediatisierten Gesellschaft dar.

1. Alltag als verlässliches, zuweilen träges Gebilde und die Routine des Alltagshandelns stehen Mobilität und Flexibilität in vielen Bereichen des Lebens gegenüber. Daher stellt sich zunächst die Frage: (Wie) Lassen sich diese Perspektiven zusammenbringen? Beobachtungen sowie visuelle Elemente im empirischen Vorgehen zielen auf die Fragen nach dem Einfluss von Strukturen und längerfristigen Einstellungen ab: Wodurch wird Alltag strukturiert? Und konkreter Gefragt: Lösen sich in einem durch Mobilisierung und Flexibilisierung geprägten Alltag andere Strukturen auf?

2. Die subjektive Sicht soll, wie geschildert, ebenso in der Betrachtung Berücksichtigung finden. Es geht hier um das ganz unmittelbare Erleben des Alltages, das tagtägliche Handeln und Gestalten. Die zentralen Fragen hierzu lauten: Wie empfinden und beschreiben Personen Mobilität in ihrem Alltag? und Womit begründen sie ihre Alltagsgestaltung? Es geht also darum, zu ergründen, ob und wie Personen eine Mobilisierung ihres Alltages wahrnehmen, wie sie diese bewerten und wie sie ihre eigene Einflussnahme einschätzen. Hierzu gehört auch die Frage nach persönlichen Strategien der Alltagsbewältigung, wobei die Aneignung und Verwendung von Medien eine wesentliche Rolle spielen.

▼ 84 

3. Ganz grundsätzlich stellt sich so hinsichtlich eines mediatisierten Alltages die Frage: Wie werden Medien im Alltag verwendet? Der Blick auf den Umgang mit Medien in einer mobilen Gesellschaft wirft zugleich die Frage nach der potentiellen Strukturierung des Alltages durch Medien auf: Werden Medien verwendet, um Alltag (persönlich) zu gestalten und Mobilität zu integrieren? Da alltägliches Handeln ohne Medienbezüge kaum noch denkbar ist, wird es bei dieser Untersuchung wesentlich sein, festzustellen, ob und wo Medien Stabilitäten des Alltages stützen oder aufheben können. Wird eine Auflösung ontologischer und persönlichkeitsstiftender Strukturen des Alltages angenommen, so geht damit auch die Frage einher, ob und wie Medien hierzu beitragen. Es läuft also darauf hinaus, ob bestimmte mediale Entwicklungen als treibende Kraft einer Auflösung von Verlässlichkeiten wirken, oder ob sie helfen, gerade solche Entwicklungen zu bewältigen.

Die Fragen nach subjektiven Bewertungen und intersubjektiven Vorgaben zusammenbringend lässt sich formulieren: Wie vollzieht und gestaltet sich Handeln in einem mobilen, mediatisierten Alltag in dem Spannungsfeld zwischen persönlichen Einstellungen und strukturellen Vorgaben? Dabei liegt der Fokus darauf, wie eine erfolgreiche Alltagsgestaltung in einem immer mobiler werdenden Alltag möglich ist: Wie wird Mobilität in den Alltag integriert und welche Rolle spielen Medien bei diesem Prozess?

Während des Forschungsprozesses galten diese Forschungsfragen als vorläufig und konnten somit angesichts neuer Erkenntnisse erweitert und aktualisiert werden. Truschkat et al. beschreiben dies folgendermaßen:

▼ 85 

„Die Forschungsfrage soll zu Beginn des Forschungsprozesses offen sein, damit Zusammenhänge aus der Empirie heraus auftauchen und »befragt« werden können. Die Fragestellung erfährt dann erst über eine sukzessive Erforschung des Gegenstands mittels der Methode des permanenten Vergleichs […] eine Zuspitzung.“ (dies. 2007: 236)

Im Laufe des Forschungsprozesses präzisierten sich die Fragen anhand der empirischen Erkenntnisse (vgl. Krotz 2005: 123). Die Frage Werden Medien verwendet, um Mobilität zu integrieren? wurde beispielsweise angesichts der Daten auf die Frage Welche Rolle spielen Medien bei der Integration von Mobilität in den Alltag? erweitert. Das Untersuchungsfeld mit ersten Fragen, die eine thematische Richtung vorgeben, gleichwohl aber auch für die empirischen Erkenntnisse offen sind, anzugehen, nennt Alheit eine „geplante Flexibilität“ im Forschungsprozess (ders. 1999: 7).

4.7. Zusammenfassung mit Blick auf die Empirie

▼ 86 

Routinen und räumliche Vorgaben bilden ebenso wie soziale Vereinbarungen einen Rahmen für das, was als Handlungsfluss unseren Alltag durchzieht. Angesichts der Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse, die mit der Bewegung im Raum, dem Sich-Begegnen und der Einbindung medienvermittelter Kommunikation in bestehende Strukturen einhergehen, erscheint die eingangs des Kapitels vorgestellte Perspektive der aktiven, wechselseitigen Strukturierung für die Untersuchung des alltäglichen Unterwegsseins in einer mediatisierten Gesellschaft besonders schlüssig. Auch Voß betont die Eignung dieser Theorie, Handeln im Alltagskontext grundlegend verständlich zu machen:

„Die Annahme einer aneignenden Tätigkeit als Grundlage des Alltages schließt die Vorstellung ein, daß die Handelnden aktiv eine »Strukturierung« (Giddens) des Rahmens ihrer Tätigkeiten betreiben und betreiben müssen. Sie können dabei nicht beliebig gewünschte Bedingungen schaffen bzw. Vorgaben außer Kraft setzen. Aber sie »konstruieren« durchaus in dem Sinne die Situationen, in denen sie tätig sind, daß sie (z.B. mediale) Bedingungen aktiv zu beeinflussen und damit zu verändern suchen.“ (ders. 2000: 48)

▼ 87 

Diese duality of structure (vgl. Giddens 1986) bringt maßgebliche Punkte für meine Studie zusammen: Handeln ist eingebunden in einen alltäglichen Handlungsfluss. Dies legt eine übersituative Betrachtung von Handeln nahe. Trotzdem wird die Prägung des Handelns durch situationelle Strukturen berücksichtigt. Diese aufzudecken, erfordert eine beobachtende Perspektive. Handeln lässt sich jedoch nicht zwingend aus den strukturellen Vorgaben ableiten, da auch das Handeln selbst auf diese zurückwirkt und so individuelle, kreative Momente entstehen können.

Giddens Ansatz erfordert so ein methodisches Vorgehen, das Handeln über einzelne, wie auch immer abgrenzbare Situationen hinaus verfolgt. Denn der Handelnde folgt zwar bestimmten, nachvollziehbaren Pfaden in seinem Alltag. Diese sind jedoch nicht strikt vorgezeichnet. Vielmehr ist alltägliches Handeln, solches in wiederkehrender, aber eben auch veränderlicher und zugleich strukturverändernder Form. Wege, die eine Person gestern zurückgelegt hat, kann sie morgen mit einem anderen Verkehrsmittel bewältigen. Sie wird andere Personen treffen und mit ihnen in Interaktion treten. Unter Umständen wird sie ihre Umwelt anders wahrnehmen, neue Details entdecken, Gewohnheiten variieren. Trotzdem wird sie im Großen und Ganzen die gleichen Orte wie jeden Tag auf ähnlichen Wegen aufsuchen. Äußerlich beobachtet sieht man so Tag für Tag beispielsweise den Weg einer Person zu ihrer Arbeit. Begleitet man diese Person jedoch durch ihren Alltag und lässt sie Bezug auf das Erlebte nehmen, füllen sich solche beobachtbaren Strukturen mit dem Leben subjektiver Schilderungen. Kusenbach hebt dies hervor:

▼ 88 

„What may appear to an independent observer as a straightforward and relatively uneventful commute to work can actually be saturated with layers and contexts of meaning that subjectively transform a mundane routine into something entirely different.” (dies. 2003: 470)

Bei aller Offenheit meines methodologischen Rahmens (vgl. Kapitel 5.1) waren theoretische Vorannahmen nötig, um einen geeigneten Zugang zum Forschungsfeld finden zu können (vgl. auch Krotz 2005: 168). Aus den vorangegangenen Überlegungen und Einordnungen des Untersuchungsgegenstandes habe ich drei maßgebliche Bausteine für die Anlage meiner Studie abgeleitet:

1) Als Forscher mobil werden

Tägliche Mobilität nimmt einen bedeutenden Teil des Tages ein. Durch sie werden wir mit Orten und anderen Menschen verbunden. Zudem ist das Unterwegssein eine intensive Phase der Begegnungen (vgl. Giddens 1995a; Goffman 1982, 1986), der Persönlichkeitsbildung und der Verabredung über die Situation herausgehender Arrangements (vgl. Hulme/Truch 2006). Diese Zwischen-Räume zu erfassen, in denen sich Personen bewegen und mit anderen (medial) in Beziehung treten, fordert von einer möglichen Forschungsmethode und somit auch vom Forscher selbst Flexibilität und Mobilität (vgl. auch Urry 2008).

2) Den Alltag als Ganzen erfassen

▼ 89 

Das Verständnis von Alltag als Fluss miteinander verwobener Handlungen legt nahe, sich bei der Untersuchung von Alltagsgestaltungen auf Methoden zu stützen, die nicht ausschließlich einzelne Handlungssituationen oder Handlungsrahmen im Blick haben, sondern eine übersituative Perspektive zulassen. Dies spricht dafür, Personen durch ihren Alltag zu begleiten oder sie anhand von Alltagsdokumenten zu befragen, um den Handlungsfluss des Alltages nachvollziehen zu können. So kann alltägliche Mobilität nicht nur in einzelnen, abgeschlossenen Phasen, sondern eingebunden in und möglicherweise konkurrierend mit Ortsgebundenheiten im Alltag gesehen werden. Dies gilt auch für den Stellenwert der Mediennutzung in unterschiedlichen Phasen des Tages. Medien werden in solch einer längerfristigen Perspektive nicht nur in ihrer situativen Bedeutung, sondern als Teil eines Medienrepertoires eingebettet in andere Handlungen betrachtet (vgl. Kapitel 3).

3) Die Handlungsstrukturen berücksichtigen

Orte und die dort anwesenden Personen beeinflussen das Handeln. Barker (1968) spricht von Behavior Settings als Strukturen, die ein Verhalten in bestimmten Situationen vorzeichnen. Das Alltagshandeln ist geprägt durch die Aneinanderreihung solcher Settings. Auch in dem Ansatz der Human Activity Patterns (Chapin 1974) finden sich, wie erläutert, strukturelle Vorgaben als bestimmende Handlungsgrundlagen: Personen bewegen sich auf erfassbaren Raum-Zeit-Pfaden durch unterschiedliche Aktionsräume in ihrem Alltag. Ihr Handeln richtet sich hierbei maßgeblich an räumlichen und zeitlichen Strukturen sowie sozialen Übereinkünften aus, wirkt aber auch auf diese zurück. Das Aneinanderreihen von Handlungen und der Wechsel zwischen situationellen Vorgaben als Prozess zur Alltaggestaltung unterstreichen noch einmal die Relevanz einer situationsübergreifenden, flexiblen Methode. Denn mit dem Wechsel zwischen verschiedenen Settings, verändert sich auch das Verhalten (vgl. Barker 1968). Ebenso kann eine strukturierende Prägung des Alltages durch die zur Verfügung stehenden Medien und technischen Möglichkeiten angenommen werden, indem diese die Grundlage unserer Handlungsoptionen bestimmen (vgl. Kittler 1986) und gewissermaßen „einmassiert“24 in die gesellschaftlichen Strukturen unser Handeln durchdringen (vgl. McLuhan/Fiore 1969). Giddens greift in seiner Theorie der Strukturierung die Bedeutung von Strukturen für das alltägliche Handeln auf. Er stellt diesen jedoch die Handlungsfreiheit des Menschen gegenüber (vgl. ders. 1992). Handeln ist daher nicht alleine von den vorherrschenden Umständen ableitbar. Vielmehr entsteht es aus einem Aushandlungs- und Gestaltungsprozess zwischen Person und Struktur. Dies unterstreicht zum einen die Bedeutung einer beobachtenden Perspektive für das methodische Vorgehen, um den wechselseitigen Prozess der Strukturierung zwischen Person und den Handlungsvorgaben aufdecken zu können. Zum anderen wird die Relevanz von Befragungen deutlich, um die subjektive Sicht der Handelnden auf die Gestaltung ihrer Alltagswelt erfassen zu können.

Die Verbindung methodischer Mobilität mit einer übersituativen Betrachtungsweise sowie der Einbeziehung objektiver wie subjektiver Betrachtungsweisen bildete die Grundlage meiner Feldforschung. In dem folgenden Kapitel stelle ich zunächst den methodologischen Rahmen meiner Studie vor, um anschließend die methodische Gestaltung meiner Studie darzulegen.


Fußnoten und Endnoten

17  Die Tendenz hierzu sieht Schubert im urbanen Kontext der Gegenwart aufleben: „Der technisch überbrückte Raum verliert seine Aura für die menschliche Wahrnehmung. […] Narzistische Formen einer extravaganten Selbstpräsentanz re-auratisieren den urbanen öffentlichen Raum für das individuelle Erleben" (ders. 2000: 53).

19  Aktuell wurden diese Experimente auch in die Öffentlichkeit getragen und speziell auf mobile Kommunikation bezogen (vgl. Hyman et al. 2010; Höflich 2010b).

24  Ein Bild, das sich in dem ursprünglichen Titel Das Medium ist Massage von McLuhan/Fiore wiederfindet.



© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 3.0TARGET
Textarchiv Gotha/Erfurt
HTML-Version erstellt am:
26.05.2011