11. Zwei Gesichter des mobilen mediatisierten Alltages 

11.1.  Strukturen und Handlungsstränge: Verbindung der Perspektiven

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Was ist also zentral in den gleichermaßen strukturierten und dynamischen Alltagen gewesen?

Aus Sicht der Teilnehmer und auch in den Beobachtungen wurden Orte und der Wechsel zwischen ihnen als grundlegende Struktur des Alltages ausgemacht. Die Teilnehmer beschrieben ihr eigenes Handeln in Abhängigkeit solcher Raum-Zeit-Pfade. Eine grundsätzliche handlungsstrukturierende Geltung von Behavior Settings lag so nahe. Darüber hinaus betonten die handelnden Personen ihren angenommenen persönlichen Einfluss auf die Alltagsgestaltung und die persönliche Aneignung und Verwendung von Medien. Beides sind Aspekte, die klassische Raum-Zeit-Modelle vor Herausforderungen stellen. Denn die klare strukturierende Wirkung von Orten oder Settings wird durch individuelle Ausgestaltung und mediale Einbindung Dritter strapaziert.

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In den Befragungen und deutlicher noch in den begleitenden Beobachtungen stellte sich neben lokalen Bezügen das Unterwegssein als wesentlicher Gestaltungsraum des Alltages heraus. Im Gegensatz zu den erörterten Ansätzen, die Mobilität als zergliederndes Element oder als reines Mittel zum Zweck beschreiben, zeigten sich auch die Phasen der Mobilität im Alltag als Zeiten und Räume der (medialen) Kommunikation und der persönlichen Entfaltung. Kommunikative Handlungen reichten hierdurch über einzelne Situationen hinaus. Der alltägliche Handlungsfluss bestand aus einer Vielzahl so entstandener Handlungsstränge, in denen Orte und Mobilität durch Medien verbunden wurden. Die zuweilen starre Struktur raum-zeitlicher Konzepte wurde daher um die Perspektiven auf Kommunikationsmedien und Mobilität erweitert.

Auf der einen Seite steht also Alltag als raum-zeitlicher Zusammenhang, bei dem die Bewegung zwischen den Orten an Bedeutung gewinnt: 

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„Trotz aller zunehmenden Mediatisierung der Alltagswelt bleiben deren Flüsse aber auch physischer Natur. Zu denken ist hier an physische Flüsse der Bewegung von Menschen, die zuerst einmal im Lokalen stattfindet, d.h. zwischen den verschiedenen Lokalitäten der Alltagswelt.“ (Hepp 2008: 82) 

Auf der anderen Seite wird dieses raum-zeitliche Gerüst überlagert von Dynamiken, die über die einzelnen Situationen hinausgreifen und Personen, Orte und Mobilität miteinander verbinden. Insbesondere durch mediale Kommunikation werden so Aushandlungen getroffen, die es ermöglichen, eine auf der Strukturierung des Alltages basierende Verlässlichkeit zu erhalten. Diese Aushandlungen und Arrangements passieren, wie sich gezeigt hat, ganz selbstverständlich und beiläufig den Tag über. Die revolutionäre Möglichkeit, auch unterwegs auf andere Orte und entfernte Personen Einfluss zu nehmen, ist mittlerweile ganz alltäglich. Und das, obwohl die gesellschaftliche Verbreitung Medien mobiler interpersonaler Kommunikation gerade einmal in den 1990ern ihren Anfang nahm. 

Es wurde also zweierlei offensichtlich: Während die Teilnehmer der Studie die klare Abfolge der alltäglichen Orte und Situationen als Grundlage für ihren stabilen Alltag betonen, wird deutlich, dass sich über diese einfache Strukturierung des alltäglichen Handelns ein komplexes Netz handlungsverbindender und -vorantreibender Aushandlungen zieht. Dieses wird aufgespannt und gestützt durch die raumübergreifenden Funktionen von Medien.

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Man könnte sagen, dass über den wahrgenommenen, offensichtlichen, ontologischen Alltagsstrukturen ein alles zusammenhaltender Alltagsfluss liegt. Durch unterbewusste, selbstverständlich Aushandlungsprozesse zwischen ortsbezogenem Handeln und Handeln in Zwischen-Räumen können sich im Alltag Handlungsstränge herausbilden, die weniger an die raum-zeitliche Strukturierung gebunden sind, sondern sich vielmehr frei über den Tag hinweg etablieren und entwickeln. 

Zugespitzt ausgedrückt: Während der Handelnde im „hic et nunc“ seiner Handlung verhaftet ist, laufen im Hintergrund Handlungen weiter, mit denen er sich immer wieder synchronisiert. Das konkrete Handeln ist eingebunden in das Abstrakte des entfernten Vorher und Nachher:

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„Der Kernbereich der Alltagswelt ist das hier und jetzt Wirkliche. Als Horizont umgibt ihn das räumlich und zeitlich Entfernte, das Mögliche, Fragliche, Abgeleitete. Für jeden Einzelnen stellt sein Leib mit seinen Empfindungen und Wahrnehmungen das hier und jetzt Wirkliche dar, von dem aus er die Welt in Nah- und Fernzonen gliedert.“ (Stagl 2007: 30)

Während die Person Alltag als wiederkehrend und verlässlich empfindet, spielen sich vielfältige dynamische Prozesse ab, die diesen Alltag stützen. Solche Prozesse, Handeln an verschiedenen Orten und zwischen diesen zu Handlungsschleifen zu verbinden, sind es, die es verhindern, dass ein Alltag in einer mobilen Gesellschaft zunehmend zergliedert und zerfällt. Sie werden ermöglicht und getragen durch kommunikatives mediales Handeln. Das augenblickliche Handeln ist so eingebunden in größere Zusammenhänge, ohne dass dies dem Handelnden bewusst sein muss. Dies findet sich auch in Giddens Argumentation bezüglich einer Theorie der Strukturierung wieder. Hamedinger führt hierzu an:

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„Mit seiner Formulierung der Sozial- und Systemintegration wehrt sich Giddens gegen einen weiteren Dualismus, der in der Soziologie etabliert wurde: die Trennung zwischen Mikrosoziologie, in der es um die Analyse von Handlungen von freien Akteuren geht, und Makrosoziologie, in der es um strukturelle Zwänge als Beschränkungen für das Handeln geht. Diese Unterscheidung widerspricht fundamental dem Giddenschen Ansatz der Dualität der Struktur. Jedes Handeln im Mikrobereich bezieht sich ja auf Strukturen, die außerhalb des Subjekts und über lange Raum-Zeit-Strecken ausgedehnt sind, sodaß im Routinehandeln Mikro- und Makrobereich sowohl zeitlich als auch räumlich ständig vermischt werden.“ (ders. 1998: 157f)

Das Episodenhafte der eigenen Handlungsbetrachtung ist so eingewoben in den übersituativen Handlungskontext eines Alltagsflusses, der wiederum in weitere Strukturen eingebunden ist. 

Spricht man von solch einem überlagernden Fluss, der das Handeln durchzieht, ruft dies Castells´ Entwurf der Ströme einer Netzwerkgesellschaft auf den Plan (vgl. ders. 2001). Mit einem Fluss der Alltagshandlungen, also dem Alltagsfluss ist jedoch nicht das gemeint, was Castells als Ströme benennt. Denn dieser stellt Räume der Ströme und Räume des Ortes in Opposition (vgl. ebd.: 467ff, 479ff; vgl. auch Moores 2006). Das, was einen Alltag in Bewegung hält und sich zugleich auf Verlässlichkeiten stützt oder diese schafft, ist das Verbinden von unterschiedlichen Phasen und Orten des Alltages durch den überspannenden Fluss der alltäglichen Handlungsstränge. Und diese werden, so die Erkenntnis, durch die Möglichkeit zu mobiler Kommunikation dynamischer, da lokale und mobile Handlungen verbunden werden. Informationelle Ströme und physische Orte bestanden nicht wie Castells es beschreibt parallel oder gar „als zwei diametral entgegen gesetzte Formen mit vollkommen verschiedenen »Logiken«“ (Moores 2006: 192). Die überlagernden kommunikativen Netzwerke im Alltag erschienen vielmehr in ihrer Konstitution je individuell ausgestaltet und mit dem strukturellen Raum-Zeit-Gerüst des Alltages abgestimmt. So lieferten sie eine passende Grundlage um den Fluss der unterschiedlichen Alltagshandlungen in Bewegung zu halten – sei es an Orten oder sei es unterwegs. Die bei Castells getrennt voneinander bestehenden Räume der Ströme und des Lokalen wurden so durch eine ständige Synchronisierung miteinander verbunden. Mobilität und mobile Kommunikation wurde also in den Alltagsfluss integriert, ohne die Bedeutung der lokalen Räume grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Mehrschichtigkeit von Räumen (vgl. Foucault 1999: 145), die zugleich Orte des Lokalen und Orte der kommunikativen Vernetzung sind, steht bei dieser Betrachtung daher im Vordergrund.

11.2. Fazit der Arbeit

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In meiner Studie habe ich untersucht, wie Personen mit ganz unterschiedlichen Mobilitätsanforderungen und -möglichkeiten in ihrem Alltag umgehen und Mobilität in ihr alltägliches Handeln einbinden. Es hat sich gezeigt, dass viele der sich über den Tag hinweg entwickelnden Handlungsstränge sowohl Orte, als auch das Unterwegssein betrafen und daher in einem übersituativen Kontext betrachtet werden mussten. Bei solchen Aushandlungen wurde die Bedeutung von Medien für den Umgang mit Mobilität im Alltag in zweierlei Hinsicht deutlich:

Zum einen ermöglichten mobile Medien, Räum zwischen Orten intensiv zu nutzen, um zuvor begonnene Handlungen weiterzuführen, wieder aufzugreifen oder neue zu beginnen. Mobilität wurde so als kommunikative Phase in den Alltag eingebunden und dazu genutzt, auch unterwegs den Handlungsfluss über den lokalen Bezug hinaus voranzutreiben. Dies hatte direkten Einfluss auf die raum-zeitliche Gliederung im Alltag. Absprachen, für die es unerheblich war an einem bestimmten Ort zu sein, wurden ausgelagert, wodurch am Ort selbst Freiraum für andere Aktivitäten entstand. Dies galt insbesondere in beruflicher Hinsicht, also bei der Planung von Terminen oder Projekten. Aber auch im privaten Bereich wurde diese Strategie zur Integration mobiler Phasen in den alltäglichen Handlungsstrom deutlich. Insbesondere Verabredungen mit dem Partner oder der Familie wurden in Zeiten des Unterwegsseins getroffen, so dass das gemeinsame Zuhause-Sein bereits vorab geplant und die Zeit dort intensiver genutzt werden konnte.

Zum anderen sind bei aller Mobilität im Alltag und der Mobilisierung von Medien bestimmte Handlungen durch Medien an Orte gebunden. Sei es der (leistungsstarke) Computer, der zum Arbeiten benötigt wird und im Büro steht, das Faxgerät, das trotz der Verbreitung von E-Mails im geschäftlichen Bereich eine Rolle spielt oder der häusliche Internetanschluss, der genutzt wird, weil mobiles Internet als zu teuer oder als zu umständlich angesehen wird. Trotz aller technischen Möglichkeiten, auch unterwegs oder zeitversetzt fernzuschauen, ist es zudem (immer noch) das Fernsehen, das nicht nur mit einem bestimmten Ort, sondern auch mit bestimmten Zeiten und sozialen Kontakten verbunden wird. Für einige Handlungen des Tages ist es so alleine schon aufgrund von Mediennutzung notwendig an einem bestimmten Ort zu sein. Mobilität im Alltag wird so auch durch die Notwendigkeit oder den Wunsch nach bestimmten medialen Handlungen in gewisse Bahnen gelenkt.

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Betrachtet man nun beides zusammen, so wird deutlich, wie Medien Mobilität im Alltag handhabbar machen: Mobilsein und Am-Ort-Sein haben ihren je eigenen Charakter und ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten. Dadurch, dass die medialen kommunikativen Möglichkeiten auch unterwegs zunehmen, ist es für das Weiterführen bestimmter Handlungen weniger erheblich, ob die Beteiligten an bestimmten Orten sind. Ortsbezug und Mobilität sind durch die vielfältigen Bezüge zueinander somit weniger als getrennte Phasen, sondern vielmehr als Teil eines gemeinsamen Kontinuums von Handlungen zu sehen. Denn es wird in vielen Fällen schwieriger, Handlungen einem Ort oder einer Phase des Alltages – also einer bestimmten Situation oder einem Setting – zuzuordnen.

Mobilität ist dabei nicht nur ein notwendiges Übel, um Raum zu überwinden und Orte zu erreichen. Sie ist vielmehr eine kreative Phase, in der bereits Handlungen an Orten vorgegriffen wird. Handeln wird auch unterwegs weitergetrieben, der alltägliche Handlungsfluss bleibt so ständig in Bewegung.

Diese fortwährende Verbindung von lokalen Handlungen und Mobilität ist dabei den Tag über unterschiedlich dynamisch. Beispielsweise stellen gewisse Phasen des Alltages – insbesondere der Abend, die Freizeit oder der Feierabend seien hier genannt – eine Art Verlangsamung des Flusses alltäglicher Handlungen dar. Handlungsstränge laufen aus, werden zuvor noch (unterwegs) abgeschlossen und Bezüge zu Mobilität abgebaut, indem das Handy ausgeschaltet oder nicht mehr beantwortet wird. Andere Medien, die den Ortsbezug betonen, werden relevant.

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Die Frage nach der Integration von Mobilität ließ sich so insbesondere vor dem Hintergrund der raum-zeitlichen Strukturierung des Alltages einordnen und beantworten: Die Leistung der Personen in ihren alltäglichen Handlungen ist es also gewesen, die Lokalitäten, die den Tag strukturieren, mit Mobilität in Einklang zu bringen. Und dies gelingt, so zeigte sich, durch eine ständige kommunikative Verbindung von Ort und Mobilität, die über den einzelnen Handlungen aufgespannt ist. Hierdurch wurde wiederum eine situationsübergreifende Sichtweise nötig.

Empirische Konsequenzen

Diese Perspektive auf Prozesse, die den Alltagsfluss in Bewegung halten, hat auch empirische Konsequenzen: Bei der Untersuchung einzelner Handlungsepisoden oder Situationen muss sich der Forscher vor Augen halten, dass er nur einen Ausschnitt aus einem längeren Handlungsstrang sieht. Eine einzelne Situation mobiler Kommunikation ist Teil vieler vorhergehender und folgender Handlungen. Ihre Bedeutung für das alltägliche Handeln wird daher nur in einer übersituativen Betrachtung deutlich. Das gemeinsame Verfolgen eines Tages im Leben der Teilnehmer öffnete den Blick auf die größeren Handlungszusammenhänge im Alltagsfluss. Die Methode der Go-Alongs hat sich in dieser Hinsicht bewährt.

Alleine auf Beobachtungen gestützt wären jedoch wiederum Aspekte zunehmender Vielschichtigkeit der Alltagshandlungen entgangen. Die subjektive Perspektive in den Go-Alongs und im besonderen Maße in den Interviews lieferten Hinweise auf solche vielfältigen Verknüpfungen zu anderen Personen und Orten. Zudem wurden hierdurch weitere Verbindungen zu vorangegangenen oder zukünftigen Handlungen in den untersuchten Situationen verständlich.

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Die übersituative Betrachtungsweise in meiner Studie brachte so gemeinsam mit der Kombination aus Befragungen und Beobachtungen ein deutliches Bild raum-zeitlicher Strukturierung des Alltages zum Vorschein und zeigte darüber hinaus die Verknüpfung von Handlungen über die einzelnen Phasen solch einer Struktur hinweg auf. So konnte die Stabilität des Alltages nicht nur auf die Aneinanderreihung kommunikativer Situationen, sondern eben auch auf eine übergreifende Gliederung durch Handlungsstränge zurückgeführt werden.

Die Methode der Go-Alongs bietet auch für zukünftige kommunikationswissenschaftliche Forschungen eine solide und zugleich ausbaufähige Grundlage, da sich Mediennutzung in einer mobilen Gesellschaft mit diesem Ansatz zuverlässig und flexibel erfassen lässt. Zudem sehe ich ein großes Potential in der (technischen) Erweiterung der Methode: Gerade hinsichtlich der Verbreitung von GPS-Empfängern und dem Einsatz von Videoaufzeichnungen lässt sich das Verfahren zukünftig verfeinern oder auf neue Fragestellungen übertragen.

Gleiches gilt für die Reflexive Fotografie. Mit ihr habe ich eine ganz selbstverständliche Form von Alltagsdokumenten in die Befragungen integriert: Fotografieren stellte für alle Teilnehmer keine außergewöhnliche Aufgabe dar. Andere Formen der elektronischen Dokumentation hätten einige der Teilnehmer jedoch sicherlich überfordert. Betrachtet man jedoch die aktuelle Entwicklung, das eigene Leben ständig nicht nur mit Fotografien, sondern zunehmend auch mit Videoaufnahmen, dem Festhalten und Verbreiten eigener Aufenthaltsorte und dem permanenten medialen Kommentieren der eigenen Tätigkeiten zu dokumentieren, so sehe ich hier weitere mögliche Diskussionsstimuli für dieses erprobte Verfahren. Der Alltag der Teilnehmer könnte dann anhand solcher Anhaltspunkte noch tiefergehend gemeinsam nachvollzogen werden. 

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Die Auswahl verschiedener Alltage hinsichtlich der sozialen, finanziellen und physischen Möglichkeiten zu Mobilität erwies sich – auch wenn durch die lokale Begrenzung der Untersuchung ein spezieller Ausschnitt vorgegeben war – als erkenntnisfördernd. Denn trotz der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und persönlichen Ausgestaltung, ließen sich wie geschildert Gemeinsamkeiten und somit fallübergreifende Erkenntnisse zur Konstitution mobiler, mediatisierter Alltage ausmachen.

Resümee

Menschen bewegen sich im Alltag. Ganz selbstverständlich überbrücken sie Raum und Zeit. Sei es zu Fuß oder mit technischen Verkehrsmitteln: Sie folgen Tag für Tag gewohnten Wegen und erreichen ihre unterschiedlichen Alltags-Orte. Das Unterwegssein erscheint so als Verbindung der zentralen raum-zeitlichen Strukturen in ihrem Alltag.

Aber Mobilität im Alltag ist darüber hinaus selbst ein bedeutungsvoller Handlungsrahmen. Alleine die grundlegendste Form der körperlichen Raumüberwindung, das Gehen, ist ein komplexer Aushandlungsprozess der mit einer Vielzahl oberflächlicher wie auch dichter Interaktionen einhergeht. Gleiches gilt für die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Weniger jedoch für automobile Mobilität.

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Und zu diesen direkten Interaktionen gesellt sich durch mobile Kommunikationsmittel die Interaktion mit entfernten anderen – eine Möglichkeit, die zuvor an feste Orte und stationäre Kommunikationsmittel gebunden war. Räume und Zeiten der Mobilität erfahren so eine kommunikative Aufwertung.

Mit zunehmender Mobilisierung, werden solche Phasen des Unterwegsseins immer wesentlicher für die Gestaltung des Alltages. Die Möglichkeit des mobilen Kommunizierens wird also auch weiterhin an Bedeutung gewinnen. Denn durch sie entsteht eine Verbindung zwischen dem Unterwegssein und den weiterhin offensichtlichen raum-zeitlichen Strukturen des Alltages.

Die Erweiterung solcher Modelle, die insbesondere Orte, Räume oder Settings als Strukturen für das alltägliche Handeln sehen, führt dabei drei wesentliche Erkenntnisse zusammen:

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Eine Strukturierung von Alltag nach den Orten, die regelmäßig aufgesucht werden, erscheint auch in einer mobilen Gesellschaft als stabiles Gerüst und Ausgangspunkt der weiteren Betrachtung. Denn auf dieser verlässlichen Struktur baut das Alltagshandeln auf. „Die Gewohnheit ist gleichsam eine zweite Natur“ (Cicero, zitiert nach Kühner 1861: 283). Und diese alltäglichen Routinen werden durch Medien vielfach gestützt.

Zugleich wird Lokalität durch mediale Kommunikation erweitert. Eine klare Trennung zwischen einzelnen Orten des Alltages wird so schwieriger, da im lokalen Handeln auch Bezüge zu anderen Orten oder entfernten Personen eine Rolle spielen. Die Vielschichtigkeit von Orten und ihre Einbindung in kommunikative Netzwerke werden insbesondere in dem Zusammenspiel unterschiedlicher Phasen des Alltages deutlich.

Die Zunahme von Mobilität im Alltag rückt dabei das Unterwegssein in den Blick. Alltag und den Fluss von Alltagshandlungen zu verstehen, ohne die kommunikativen Aushandlungen in diesen Phasen zu berücksichtigen, erscheint zunehmend unmöglich. Mobile Kommunikation lässt die Bedeutung dieser Zeiten des Tages steigen. Dennoch ist das Unterwegssein und die Auswirkung mobiler Kommunikation nicht gänzlich zu verstehen, wenn lokale Bezüge im Alltag ausgeblendet werden.

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Und so schließt sich der Kreis: Alltag als raum-zeitliches Konstrukt und somit als eine verlässliche Struktur des Alltagshandelns lässt sich nur verstehen, wenn auch die übersituativen Zusammenhänge, also Handlungsstränge, die über die einzelnen Stationen des Tages hinausgehen, Berücksichtigung finden. Die Betrachtung von Mobilisierung im Alltag kann wiederum nur dann erfolgreich sein, wenn man sich bewusst macht, dass Alltag trotz aller Flexibilisierung immer noch auf einer ontologischen Struktur von Orten und Routinen aufbaut. Diese beiden Prozesse im Verbund und nicht als getrennt oder gegenläufig zu betrachten (vgl. Castells 2007), eröffnet für weitere Untersuchungen den Blick auf den Wandel in dem Verhältnis zwischen Mobilität und Beständigkeit im Alltag. Das methodische Vorgehen hat hierbei Wege zur Erfassung medialen Handelns im Alltag aufgezeigt, die gleichermaßen situatives Handeln in seiner übersituativen Einordnung berücksichtigt und eine befragende mit einer beobachtende Perspektive verbindet.


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26.05.2011