10. Alltags-Strukturen. Und Lösung von diesen

10.1.   Raum-zeitliche Gliederung: Orte und Mobilität im Alltag

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Zunächst wurden Raum-Zeit-Modelle herangezogen, um die offensichtliche Bedeutung von Orten für die Strukturierung des Alltages und ihre Auswirkungen auf das Handeln zu beschreiben. Solche Ansätze stoßen jedoch dann an ihre Erklärungsgrenzen, wenn zunehmend Dynamiken einen Alltag bestimmen. Dies liegt insbesondere in der Definition von Behavior Settings begründet: Settings müssen eine Vielzahl einzelner Bedingungen und Merkmale erfüllen, um als ein solches gelten zu können. Kaminski kritisiert hieran: „Diese Definition wirkt unscharf (»fuzzy«), weil manche dieser Merkmale erhebliche Interpretationsspielräume offen lassen (z.B. räumliche Grenzen […])“ (ders. 1986c: 266, Hervorhebung im Original). Die zuvor beschriebene Verbindung von Mobilität und Ort durch Kommunikationsmedien und eine Abnahme der Bedeutung des Übergangs zwischen beiden – (kommunikative) Handlungen können nahtlos mitgenommen werden, oft fällt die Notwendigkeit des Ortsbezuges weg – führen dazu, dass sich diese Unschärfe in der Definition und Abgrenzung räumlicher Settings im Alltag noch verstärkt.

Handlungen ließen sich in der Untersuchung oft nicht auf den Kontext eines Ortes oder einer Situation begrenzen. Sie reichten darüber hinaus und verwiesen auf vorhergehende oder zukünftige Handlungen. Insbesondere die Bewegung im Raum ist Teil weiterer Bezüge, die einen Einfluss auf das Handeln haben, und denen sich der Handelnde meist nicht bewusst ist. In der Bewegung, so Edelhäuser53

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 „sind die Handlungen eingebettet in eine konzentrische Struktur übergeordneter, in der jeweiligen biographischen Situation Bedeutung tragender Ringe zukunftsgerichteten Weltbezugs.“ (ders. 1998: 120)

Übertragen auf die Einbettung einzelner Handlungssettings in den Alltag bedeutet dies: Die einzelne alltägliche Handlung – sei sie unterwegs oder an einem Ort – ist für sich alleine verständlich. Aber eben nicht nur das. Sie trägt gesehen auf den gesamten Tag die Bedingungen bisheriger Handlungen in sich und treibt ihrerseits Handlungsstränge voran. In ihr sind vergangene und zukünftige Handlungen ebenso vereint, wie Bezüge zu Mobilität und zu Orten. Hierdurch wird eine Ambivalenz in der Betrachtung deutlich: Die wahrnehmbaren, eingrenzbaren Settings als Räume der Prägung von Handeln stehen auf der einen Seite. Und die übergeordneten Kreise, die solche Raum-Zeit Modelle komplex gestalten, indem sie neben dem Vorher und Nachher auch das Entfernte, räumlich Getrennte einbeziehen, auf der anderen.

Statt der starren Einteilung in räumliche Settings, rückte daher, wie dargelegt, eine genauere Betrachtung der strukturierenden Wirkung mobiler Phasen und der Rückwirkung des Handelns dort auf Orte in den Blick. Denn Personen, die unterwegs sind, haben immer mehr Möglichkeiten, vormals ortsgebundene Handlungen in die Mobilität zu verlagern. Die Zeit im Alltag, die für Handeln zur Verfügung steht, ist begrenzt, denn der Fluss des Alltages strömt unablässig weiter. Doch die verfügbare Zeit kann unterschiedlich intensiv genutzt werden. Phasen die vormals „brach lagen“, werden durch mobile Kommunikation genutzt und kommunikativ „fruchtbar gemacht“. Es konnte festgestellt werden, dass gerade während des Unterwegsseins Dinge erledigt wurden, für die am Ort keine Zeit mehr eingeräumt wurde oder werden konnte. Das Unterwegssein bot so eine Chance, Zeit für neue Anforderungen zu gewinnen. Durch Vorgriffe und Planung von unterwegs wurde so auch neue Zeit an festen Orten freigeräumt oder geschaffen.

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Beate etwa nutzt ihre Fahrt von der Arbeit, um Verabredungen zu treffen und andere Gespräche zu führen, etwa, um sich, falls nötig, für den gemeinsamen Einkauf mit ihrem Mann zu koordinieren. Falls dieser bereits zuhause ist, weiß er dann, dass er mit dem Kochen beginnen kann. Zudem führt sie weitere Gespräche von Unterwegs (etwa mit den Eltern), damit dies beim Ankommen zuhause erledigt ist. So schafft sie sich Zeit für zuhause. Besonders die Gespräche mit ihrem Mann zeigen die Wirkung mobiler Kommunikation auf die Gestaltung zukünftiger Orte: Beate plant mit ihrem Mann den gemeinsamen Abend – meist sind bei diesen Gesprächen beide unterwegs. So können sie ihre Arrangements treffen, ohne dass sie sich zuvor direkt treffen müssen. Kostbare Zeit zuhause, die sonst für die gemeinsame Planung benötigt gewesen wäre, wird so frei. Und schließlich entspannt Beate auf ihrer Fahrt. Sie kann abschalten, etwa dadurch, dass sie mit dem Fahrrad eine Strecke durch die Natur wählt (wie im Go-Along miterlebt) oder indem sie während der Fahrt mit der Bahn ihre Umwelt betrachtet, wie sie im Interview schildert. Zuhause angekommen hat sie so, wie sie sagt, den Stress der Arbeit hinter sich gelassen. Das Handeln an einem räumlich und zeitlich entfernten Ort ist in diesem Beispiel also mehrfach dadurch vorab gestaltet, dass Beate in der Zeit des Unterwegsseins Arrangements treffen und sich selbst „vorbereiten“ konnte.

Exemplarisch für diese Bedeutungssteigerung des Unterwegsseins durch kommunikative Verbindungen ist auch das „Mobile Büro“ von Frau Schmitz. Neben ihrem Büro auf der Baustelle erscheint ihr Auto – wie auf dem folgenden Bild deutlich wird – als eine mobile Variante dieses.

Abb. 9: Kommunikative Nutzung des Zwischen-Raums: Das mobile Büro von Frau Schmitz

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In der begleitenden Beobachtung wurde der Stellenwert dieser mobilen Kommunikationszentrale offensichtlich: Auch unterwegs bestand der Kontakt zu anderen Personen und Orten. Handlungsstränge begannen hier, andere wurden aufgegriffen und weitergeführt oder aber beendet. Frau Schmitz war in ihrer Mobilität in ein weitreichendes kommunikatives Netzwerk eingebunden.

Dies funktionierte allerdings nur, weil an bestimmten Orten Personen auf ihre Planungen reagierten. Ihre Mobilität hing also von der Lokalität anderer ab. Bei aller Mobilität ist also auch hier der Ortsbezug immer von Bedeutung. Dabei ist der Kommunikationsraum „Mobilität“ eine Art Erweiterung des Handlungsraumes am Ort. So kann „das Auto auch als verlängerter Arm der Wohnung betrachtet werden, als Zimmer außerhalb“ (Zschocke 2005: 35), in diesem Fall gewissermaßen als mobiler Anbau des Büros. Denn zentral ist für Frau Schmitz nicht, ob sie sich auf einer der Baustellen oder in Bewegung befindet. Wesentlich ist, dass sie mit anderen jederzeit kommunizieren und so auch aus der Entfernung Einfluss auf das Handeln vor Ort nehmen kann. Dieser Prozess des Verbindens von Handlungen über die einzelnen Orte hinaus fand sich über den Tag gesehen vielfach wieder und war in unterschiedlicher Form in den untersuchten Fällen zu finden.

Der Aufbruch: Vorbereitet sein auf Mobilität

Mobilität beginnt bereits an Orten, bevor man aufbricht. Denn auch im Vorfeld des Unterwegsseins prägt Mobilität bereits das Handeln: Vor dem eigentlichen Verlassen eines Ortes standen viele Handlungen, die dieses vorbereiteten. Besonders deutlich wurde dies an Handlungen, die als Planungen oder Verabredungen kodiert wurden. Das Vorbereitet-Sein spielte in diesem Zusammenhang für die Teilnehmer eine große Rolle. Sinnbildlich hierfür war die Handlung des Taschepackens, die vielfach sehr ausführlich beschrieben und illustriert wurde. Für das Unterwegssein wird eingeplant, welche Dinge den Tag über gebraucht werden könnten:

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„Das ist also die Tasche, die ich jetzt auch dabei hab. Die ich eigentlich meistens dabei hab. Wo mein, dieses Notizbuch drin ist. Wo Unterlagen drin sind. Und die Tasche hatte ich jetzt auch dabei, weil ich im Moment auf Wohnungssuche bin und Stellensuche, hab ich da die Papiere dabei. […] Und die Thermokanne, weil ich nach Köln gefahren bin, um unterwegs Kaffee zu trinken.“ (Herr Eberle/Interview)

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„Genau, da habe ich meine Handtasche fotografiert und da liegen alle Sachen, die da drin sind, verstreut rum, weil ich die morgens meistens nochmal packe mit allen wichtigen Sachen, die ich für den Tag brauche. Und das ist halt auch wichtig, damit ich alles dabei habe und es ärgerlich ist, wenn ich was vergesse. […] Mein Portemonnaie, Kalender, Stift, Sonnenbrille. Dann hab ich so ein kleines Mäppchen mit Pflastern, Deo, keine Ahnung, so kleine Hygieneartikel. Und mein Handy und je nachdem, wie´s Wetter ist, halt noch nen Regenschirm. Und manchmal auch noch irgendwie, keine Ahnung, was Kleines zu essen. Oder Tee oder irgendwas. […] Die meisten Sachen brauch ich jeden Tag und ja, ja sicherer füh-, ja kann man schon sagen, dass ich mich dann sicherer fühle.“ (Beate/Interview)

Bereits vor der eigentlichen Mobilität werden so Sicherheiten für diese Phase getroffen. Vorbereitet zu sein, bedeutet, das Unterwegssein zu einem gewissen Teil kontrollieren, in verlässlichen Bahnen halten, kurz: in den Alltag integrieren zu wollen.

Zwischen dem Vorhaben, loszugehen, und der Umsetzung dieser Handlung lag so eine gewisse Zeit. Es gibt eben immer noch Dinge, die nicht im Unterwegssein erledigt werden können. Und wieder spielten Medien hier eine Rolle. Karin verkündete um 18Uhr: „Feierabend“ und betont, dass sie jetzt unbedingt direkt los müsse. Obwohl sie in der Zeit zuvor bereits alles für den Aufbruch vorbereitet hat und diesen auch schon mehrfach ankündigte, ist es 18:20Uhr, bevor sie schließlich ihr Geschäft verlässt. „Ihr fallen immer wieder kleine Handlungen ein, die vor dem Losgehen noch erledigt werden müssen. So führt sie noch zwei Telefonate und überlegt längere Zeit, ob sie sich Arbeit mit nach Hause nehmen soll. Außerdem ruft sie noch einmal E-Mails ab, obwohl sie schon Feierabend hat. Im Rausgehen schaut sie sich mehrfach um und kontrolliert das Ausgabefach des Faxgerätes.“ (Karin/Go-Along) Das Verlassen des Büros bis zum nächsten Tag erscheint als etwas Abschließendes, das genau überlegt sein will. 

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Solche langen Phasen des Aufbruches fanden sich an vielen Stellen, etwa beim zuvor beschriebenen festen Plan von Herrn Eberle, der beschreibt, was alles zuhause erledigt werden muss, bevor er aufbrechen kann. Das Sich-fertig-Machen war auch in den anderen Interviews eine wichtige Phase, die bereits an Orten auf Mobilität hinwies. Frieda beschreibt etwa: „Schminken [lacht] find ich für meinen Alltag auch wichtig, bevor ich halt aus dem Haus gehe. […] ohne würd ich jetzt nicht rausgehen.“ (Frieda/Interview) In dem Go-Along mit Frau Schmitz war es üblich, dass zwischen dem Ankündigen des Aufbruches und der Umsetzung viel Zeit verging. Nachdem sie etwa am frühen Nachmittag mehrfach betont hatte, dass sie dringend nach Hause müsse, um etwas zu erledigen, dauert es noch etwa 25 Minuten, bis sie die Baustelle verließ: „Sie kündigt an, gleich nach Hause zu müssen und deshalb jetzt die Baustelle zu verlassen. Der Aufbruch verzögert sich jedoch immer wieder, da Frau S. immer wieder Gespräche mit Arbeitern, die sie auf dem Weg trifft, anfängt.“ (Frau Schmitz/Go-Along)

Bei der Beobachtung solcher Wechsel zwischen Alltagsphasen, die insbesondere beim Verlassen von Orten offensichtlich wurde, zeigte sich, wie sehr die Einteilung des Alltages in eine Abfolge von Orten und damit verbundenen Handlungen weiterhin Bestand hat. Dass die befragten Personen zudem ihren Alltag vor allen Dingen als einen raum-zeitlich strukturierten Ablauf schilderten, stützte diese Annahme (vgl. auch Kapitel 8). Doch durch mobile Kommunikationsmedien wurde diese Ortsgebundenheit einzelner Handlungen vielfach gelockert oder gelöst (vgl. Kapitel 9). Schließlich konnte bereits während des Unterwegssein Einfluss auf andere Orte genommen werden.

Bei der Untersuchung von Medien als wesentliches Element alltäglicher Handlungen erschien es so dringlich, die bei der Erfassung und Darstellung alltäglicher Handlungsphasen grundsätzlich hilfreichen Raum-Zeit-Konzepte zu erweitern: Zum einen um mediale Kommunikation als raumübergreifendes Handeln. Und im Weiteren um die zusätzlichen Nutzungsmöglichkeiten in Phasen der Mobilität, also um mobile Kommunikation.

10.2.  Erweiterung der Alltagskonzepte um Kommunikation und Mobilität

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Daher komme ich zurück auf die zuvor beschriebenen Raumkonzepte. Hier wird alltägliches Handeln nach den Orten, die den Tag über aufgesucht werden, gegliedert. Es lassen Sich Raum-Zeit-Karten der Alltagshandlungen einer Person erstellen (vgl. Bayazit 2007; Riege/Schubert 2005: 16; Pohl 44ff), die den Alltag beschreiben. Bewegung wird in diesen Konzepten meist als reine Einheit für die Raumüberbrückung gesehen. Besonders offensichtlich wird diese Vernachlässigung des Bewegungsraumes in vielen Darstellungen der Raum-Zeit-Strukturen: Während der Aufenthalt an Orten in seiner zeitlichen Ausdehnung abgebildet wird, ist Bewegung lediglich als räumlicher Wechsel erfasst. Die handelnde Person „beamt“ in solchen Darstellungen gewissermaßen von einem Setting in das nächste. Die zeitliche Ausdehnung und somit die Relevanz der Mobilität als eigenständige gestalterische Phase bleibt dabei unberücksichtigt. (vgl. beispielhaft Bayazit 2007: 133, Abb. 7-1) 

Dabei zeigte sich wie gesehen gerade in diesen Phasen des Unterwegsseins eine große Anzahl sozialer Handlungen, von denen die Bewegungsräume geprägt wurden. Doro etwa beschreibt das Unterwegssein im Zug sowohl alleine, als auch mit Freunden als eine persönliche, ereignisreiche Phase. Beispielhaft für die Dichte an Handlungen und Ereignissen in Phasen der Mobilität ist ihre Schilderung einer Fahrt mit Freunden: 

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„Da sind wir nach Köln gefahren. Da war ich mit meiner Cousine unterwegs. Und halt, da waren wir halt abends weg. [Foto] »Hugo«, auf solche Ideen kommt man dann. Der Club, in den wir wollten, hatte dann zu, ham wir festgestellt. Also [Foto] ja, wir ham nen Einkaufswagen gefunden.“ (Doro/00:22:37-8)

Abb. 10: Mobilität als leere Phase? Beispiel für ereignisreiches Unterwegssein

Solche Schilderungen in der Reflexiven Fotografie zeigten, ebenso wie die Erkenntnisse aus den Beobachtungen, dass eine Zug-, Auto- oder Busfahrt kein leerer Räume der Bewegung sein muss, sondern wie auch das Gehen in seinen vielfältigen Ausprägungen im Alltag durch Interaktion und Kommunikation geprägt ist. Sicherlich ist eine Fahrt mit der Clique meist aufregender und ereignisreicher, als die Fahrt ins Büro. Dass Zeiten der Mobilität kommunikativ genutzt wurden, fand sich jedoch grundsätzlich wiederkehrend in den untersuchten Handlungen und Handlungszusammenhängen der unterschiedlichen Alltage. Begegnungen und Interaktionen waren Teil dieser Überbrückung von Raum. Mobilität ging also mit der Einbindung in kommunikative – direkte wie medienvermittelte – Arrangements einher. Eine Bezeichnung des öffentlichen Raumes, also dem Ort, an dem Mobilität stattfindet, als leeren Raum (vgl. Sennett 1983: 25), in dem Bewegung als reine Fortbewegung gesehen wird (vgl. ebd.: 27), erscheint angesichts solch dichter Schilderungen und den Erfahrungen in den Go-Alongs als distanziert. Sicherlich, Sennett bezieht sich unter anderem auf die wahrnehmbare Leere, die seiner Ansicht nach öffentliche Orte immer mehr zu Durchgangsorten ohne eigenen Charakter macht. Augé wiederum hebt in diesem Sinne die Beliebigkeit von Orten des Durchgangs durch deren globale Homogenisierung hervor, wenn er von der „Kosmologie“ der Konsumorte und ihrem „objektiv universellen Charakter“ spricht (vgl. ders. 1994: 124). Aber sich im Ort zu bewegen und mit anderen in Kontakt zu sein, füllt diese Phasen des Unterwegsseins aus. Räume des Transits werden so vielfältig persönlich gestaltet. Zumal, wenn, wie zuvor ausgeführt, zu direkter Interaktion auch medienvermittelte Kontakte hinzukommen.

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Aber nicht nur das Unterwegssein wird so durch kommunikative Verbindungen geprägt. Durch die Möglichkeit, in der Bewegung Einfluss auf zukünftige Orte zu nehmen, steigt zwar die Bedeutung des Unterwegsseins für die Strukturierung des ganzen Tages. Zunächst soll der Blick aber ganz grundsätzlich auf die raumübergreifende Wirkung medialer Kommunikation gerichtet werden. Ist der Tagesablauf in raum-zeitlichen Betrachtungen unterteilt durch eine lineare Abfolge von Orten und Bewegung, die sich relativ deutlich voneinander trennen, sich in ihrer Konstitution also definieren lassen, so werden diese Konzepte mit der Erweiterung um Kommunikation zwischen den Orten komplexer. Von Orten oder Settings aus können andere Settings nachhaltig beeinflusst werden; Orte folgen nicht nur aufeinander, sondern sind auch außerhalb ihrer räumlichen Grenzen vielfältig miteinander verbunden. 

Dies ist keine Entwicklung, die erst mit digitalen Medien einhergeht. Sie begann im größeren Maßstab bereits mit der Verbreitung und Nutzung des Telefons als stationärem, aber raumübergreifenden Medium (vgl. beispielhaft Fischer 1992: 151). Der amerikanische Literat Francis Scott Fitzgerald schildert in seinem erstmals 1926 erschienen Roman The Great Gatsby – einer Betrachtung und Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft im Jazz-Age der 1920er Jahre – die durchdringende Einflussnahme auf Situationen über den Raum hinweg, die das Telefon ermöglichte: Das Telefonklingeln bringt die Konstitution einer kleinen Abendgesellschaft durcheinander. „The telephone rang inside, startingly, and as Daisy shook her head decisively at Tom [...] all subjects vanished into air.” (ders. 1994: 22) Den Anwesenden ist bewusst, dass es sich bei der Anrufenden um eine Affäre des Gastgebers handelt. Keiner lässt es sich anmerken. Trotz der erdrückenden Offensichtlichkeit, versuchen Tom, seine Frau und die beiden Gäste durch Höflichkeiten und Oberflächlichkeit die sorgsam aufgebaute Stimmung aufrecht zu erhalten. Doch der mediale Eindringling in die eigenen vier Wände, der ungebetene Gast und seine durch das Medium betonte Präsenz – „[the] fifth guest´s shrill metallic urgency“ (ebd.) – lassen sich nicht leugnen.54 Die Stabilität dieser Situation wurde durch entfernte Einflussnahme ausgehöhlt und Normalität sowie Gelassenheit als Fassade enttarnt.

Dieses Beispiel illustriert anschaulich, wie die Konstitution eines Settings von einem anderen Ort aus nachhaltig in seinem Fortgang geprägt wird. Während mögliche Störungen des Settings ursprünglich von den anwesenden Teilnehmern ausgehen beziehungsweise das Zustandekommen oder die Auflösung des Settings von der Anzahl anwesender Teilnehmer abhängt (das sogenannte „overmanning/undermanning“ findet sich als zentraler Aspekt in Barkers Behavior Setting Ansatz; vgl. ders. 1968: 182f; Saup 1986: 48ff), bringt Kommunikation auch entfernte Dritte ins Spiel. Ein Aspekt der in raum-zeitlichen Strukturierungsansätzen nicht beachtet wird. Zwar wird gelegentlich auf Prägungen des jeweiligen Settings von außen eingegangen, wie Hamm anmerkt: „Behavior Setting verändern sich nicht nur durch Handlungen der Teilnehmer, sondern […] durch (in Bezug auf das Setting) exogene Einflüsse“ (ders. 1986: 197). Gemeint sind hier jedoch die jeweils größeren Kontexte als Rahmen des Settings (vgl. ebd.: 197ff), also etwa der Einfluss des Settings „Sparkasse“ auf das darin eingeschlossene Setting „Bankschalter“. Mediale Kommunikation als verbindendes Element zwischen Settings bleibt jedoch unberücksichtigt.

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Giddens wiederum führt an, wie wesentlich gerade die externe Einflussnahme durch „Raumüberwindungstechniken“ (Paetau 2003: 195) für die Konstitution von Orten ist: 

„Schauplätze werden von entfernten sozialen Einflüssen gründlich geprägt und gestaltet. Der lokale Schauplatz wird nicht bloß durch Anwesende strukturiert, denn die »sichtbare Form« des Schauplatzes verbirgt die weit abgerückten Beziehungen, die sein Wesen bestimmen.“ (Giddens 1995b: 30) 

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Paetau spricht bei solch einer Einbindung entfernter anderer von „Sozialität unter Abwesenden“ (ders. 2003: 201), die „keineswegs im Gegensatz stehen muss zur Herausbildung und Stabilisierung sozialer Ordnung“ (ebd.). 

Der Tauglichkeit raum-zeitlicher Konzeptionen, Alltag strukturiert zu erfassen und darzustellen, steht also das Defizit entgegen, entfernte Dritte, die durch Kommunikationsmedien an dem Handlungsraum teilnehmen und ihn durchaus nachhaltig beeinflussen können, nicht zu berücksichtigen.

Mit der Berücksichtigung mobiler Kommunikation stellt sich zudem die Frage, wie sich Raum-Zeit-Modelle um die Perspektive auf das Unterwegssein erweitern lassen. Denn durch die Hervorhebung der kommunikativen Bedeutung von Zwischen-Räumen durch mobile Medien wird die Komplexität eines um mediale Kommunikation erweiterten Strukturierungsmodelles zusätzlich dynamisch. So sehr sich die kommunikative Überbrückung von Raum im Falle des Festnetztelefons und des Mobiltelefons zunächst ähneln, darf nicht übersehen werden, dass die Nutzung unterwegs mehr ist, als ein weiteres Attribut des Telefonierens. Mobiles Telefonieren ist nicht (nur) Telefonieren von unterwegs, es ist eine völlig andere Handlungsweise, wie Höflich bereits 2001 festhält:

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„Das Handy ist in diesem Sinne nicht schon etwas anderes als ein schieres Telefon, weil man damit mehr als telefonieren (so z.B. Kurznachrichten schreiben) kann, sondern weil man damit anders und in anderen Kontexten (wie auf der Straße, damit störungsanfälliger, unter Teilhabe Dritter u.v.m.) telefoniert. Dahinter steckt, anders gewendet, die These, dass die Praxis des Gebrauchs von Medien deren Bedeutung ausmacht. Ändert sich diese, dann hat man es – zumindest in einem sozialen Sinne – mit einem anderen Medium zu tun“ (ders. 2001: 3f).

Hierfür ist vor allen Dingen ein Aspekt verantwortlich: Während das Festnetztelefon Orte miteinander verbindet, verbindet das mobile Telefon Personen mit Personen (vgl. Geser 2005: 53; Burkart 2009: 217). So wie das Festnetztelefon an einen Ort gebunden ist und oft von mehreren benutzt wird55, ist das Mobiltelefon in aller Regel eng mit einer Person und ihrem sozialem Netzwerk verbunden, sei sie an einem bestimmten Ort oder unterwegs (vgl. Höflich 2001: 4). Steht im ersten Fall die Ortsbezogenheit der beiden Handelnden im Vordergrund, ist bei der mobilen Kommunikation das Aushandeln von Orten zwischen Personen zentral (vgl. Feldhaus/Logemann 2006: 35f). Bereits in einer frühen Memo-Skizze aus der Datenauswertung wurde dies festgehalten:

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Abb. 11: Memoskizze: „Mobile Kommunikation verbindet Alltage“ (Memo/Go-Along I)

Es wurde skizziert, wie Arrangements über einen gemeinsamen Zielort getroffen werden, der nicht zwangsläufig der räumlich beziehungsweise zeitlich nächste im Alltagsablauf sein muss (Abb. 11, 3). Der mobil Telefonierende nimmt Bezug zu oder Einfluss auf den Ort des anderen, auf sein Unterwegssein und weitere Orte in seinem Tagesablauf (Abb. 11, 1.a,b,c). Es wird sich über weitere Orte und Handlungen verständigt, die letztendlich zu einem gemeinsamen Ziel führen. Die Aushandlung bezieht sich so ganz konkret auf die eigene Alltagsgestaltung zurück (Abb. 11, 2). Zwei Alltage werden so in unterschiedlichen Phasen miteinander verknüpft. So wie der Anrufende Einfluss auf den Alltag des Angerufenen nimmt, so wird der begonnene kommunikative Handlungsstrang, wenn er etwa zu einem späteren Zeitpunkt aufgegriffen wird oder wenn er die Planung eines gemeinsamen Treffens zum Ziel hat, auch auf seinen eigenen Alltag zurückwirken. Wann und wie dies geschieht, ist dank mobiler Medien offener als je zuvor.

Durch diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten sind somit mehr beziehungsweise zusätzliche Räume geschaffen worden, die sich in die Darstellung von Raumkonzepten integrieren lassen, wenn Kommunikation mitgedacht wird. Gerade in einer mobilen Gesellschaft, in der Aufenthalte an Orten kürzer und der Wechsel von Orten häufiger werden, ist dies eine Möglichkeit, neue Mobilitätsanforderungen in den Alltag einzubinden. Räume des Unterwegsseins und der Überbrückung können dabei immer effizienter genutzt werden, um weitere Phasen des Alltages zu gestalten und sich hierfür mit anderen Personen zu arrangieren. Sie finden sich nicht nur in den ganz offensichtlichen großen räumlichen Bewegungen des Alltages, sondern auch in den kleinen Wechseln zwischen zwei Aktivitäten, wie Hulme beschreibt:

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„So what do I mean by »Inter-space«? Just to slightly complicate things it comes in two forms but the forms themselves are easy to understand. The first idea of inter-space is time/space between events or arrangements [...]. What becomes of significant interest is how we »fill« the time/space between the arrangement being made and it being kept in relation to one another. […] The second idea relates to what happens as we move between spaces [...], say as we move between spaces that we might consider a work space to a more social space. In other words it relates to more locational aspects of behaviour whilst we are mobile or in transit.“ (ders. 2004: 2)

Eine Erweiterung von Raum-Zeit-Modellen um Kommunikation im ersten und um mobile Kommunikation im zweiten Schritt, fasst diesen Gedanken der Ausweitung des Raumbezuges auf entfernte Räume und auf das Unterwegssein zusammen.

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Abb. 12: Darstellung Raum-Zeit-Struktur: Zentralität der Orte (1), Mediale Einbindung weiterer Orte (2), Einbindung mobiler Kommunikation (3)

Der dargestellte Alltag ist durch die aufgesuchten Orte und die Bewegung zwischen ihnen räumlich wie zeitlich strukturiert. Die einzelnen Orte und Situationen prägen im Sinne von Behavior Settings das Handeln der Person und somit letztendlich die Gestaltung des Alltages (1). In dieser klar gegliederten und nachvollziehbaren Form erschienen die Alltage der Teilnehmer in ihren eigenen Schilderungen. Eine solche Sortierung scheint eine gewisse Orientierung und Sicherheit bei der Darstellung des eigenen Alltages zu bieten und zeigte eine grundlegende Geltung bei der Strukturierung des Alltages. Im Laufe der Interviews und besonders intensiv in den begleitenden Beobachtungen wurden kommunikative Handlungen deutlich, die zeigten, dass eine so abgeschlossene Einteilung und Abgrenzung der Orte im alltäglichen Handeln schwerlich zu finden ist. Ein konsistentes Setting kann alleine durch die häufige Einbeziehung entfernter Räume und Personen durch mediale Kommunikation oft nicht attestiert werden. Durch Telefonate oder E-Mails werden die Bedingungen an Orten vielfach verändert und neue Handlungen initiiert (2). Die punktierten Linien zeigen die Verbindung zu entfernten Settings Dritter. Aber auch in diesem Schritt der Modellerweiterung bleibt ein wesentlicher Punkt unberücksichtigt, der sich als wesentlich für das Verständnis eines mobilen Alltages erwies: Mobilität ist mehr als nur der Raum zwischen Orten. In der Untersuchung wurde deutlich, wie intensiv das Unterwegssein kommunikativ genutzt wurde und wie sehr es daher für die Gestaltung des Alltages als ein Netzwerk ortsgebundener und mobiler Handlungen von Bedeutung ist (3). Das Unterwegssein zwischen den Orten stellt so selbst eine zentrale kommunikative Phase des Alltages dar, in der Settings erweitert und miteinander verbunden werden, wie mit den weiteren, sich auf die mobilen Phasen beziehenden Verbindunglinien illustriert wird. 

Die grundsätzliche Struktur eines Alltages durch die aufgesuchten Settings bleibt also bestehen. Sie wird durch die Berücksichtigung kommunikativen Handelns jedoch um den Einbezug entfernter Dritter und die Berücksichtigung mobiler Phasen als weitere Gestaltungsphasen des Alltages erweitert. Bei der Betonung der Räumlichkeit von Orten darf also nicht deren sozialer Charakter durch die handelnden Personen und die kommunikative Einbindung anderer Orte und Situationen übersehen werden.

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„Das physikalische Raumbild blendet den funktionalen Kontext der gesellschaftlich-sozialen Inhalte des Raumes vollständig aus, als ob beispielsweise der öffentliche Raum unabhängig von den Menschen, die ihn organisieren und darin leben, eine eigenständige Kategorie sei.“ (Schubert 2000: 11)

Gerade das Behavior Setting Konzept neigt zu einer Betonung der statischen Rahmenbedingungen, die ein Setting, also den Zusammenschluss aus örtlichen, zeitlichen und inhaltlichen Bedingungen, ausmachen. Die Eingängigkeit dieses Konzeptes beruht auf dieser klaren, nachvollziehbaren Unterteilung und der grundsätzlichen Überindividualität. Menschen kommen in diesem Ansatz in ihrer Reduktion auf die soziale Rolle und ihre Anzahl (over-/undermanning) vor. Raum als Container zu betrachten, der „scheinbar a priori existiert, um gesellschaftliche und soziale Rauminhalte aufnehmen zu können“, begünstigt die Argumentation, Räume der Bewegung als leere Räume zu betrachten, da sie geographisch oder physikalisch nicht oder schwer zu fassen sind. In einer mobilen Gesellschaft stützt diese Sicht die Annahme der Enträumlichung. (vgl. Schubert 2000: 11) Hierbei wird jedoch eine soziale (Neu-)Gestaltung von Raum übersehen. Die grundsätzliche Aussage, dass strukturelle Vorgaben das Handeln prägen, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Sobald jedoch der Aspekt der medialen Kommunikation, die es erlaubt, Raum ohne Bewegung zu verlassen (oder von anderen Orten aus erreicht zu werden), hinzukommt, werden solche Konzepte komplexer. Einflüsse von außen bestimmen das Setting mit. Orte werden so vielschichtiger, Handlungsoptionen vielfältiger. Daher sehe ich mehr als das Argument einer Enträumlichung durch Mobilität und Mediatisierung, das auf einem starren Raumbild basiert, eine Erweiterung der Räumlichkeit durch die vielfache mediale Einbindung in andere Räume. 

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Mit der zusätzlichen Betrachtung der durch mobile Kommunikation aufgewerteten Räume der Bewegung zeigt sich dann endgültig, dass medialen Handlungen ein größerer Stellenwert in solchen Raumkonzepten eingeräumt werden muss. Denn für viele der untersuchten Handlungen und übersituative Handlungsstränge war der lokale Bezug und somit die Prägung des Raumes unerheblich. Mehr noch: Viele der Alltagshandlungen wären durch stärkere räumliche Restriktionen gar nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Räume und die Bewegung zwischen ihnen einen Alltag grundsätzlich strukturieren. Die soziale Füllung dieser Räume wird jedoch erst durch die Betrachtung des Zusammenspiels zwischen Raumbezügen, der Einbindung entfernter Räume und der eigenen potentiellen Mobilität und somit durch den Einbezug von Kommunikationsmedien offensichtlich.


Fußnoten und Endnoten

53  Edelhäuser folgt in seinem Aufsatz „Intentionalität und Bewegung“ (ders. 1998) dem Ziel, anthropologische mit neurologischen Betrachtungen der menschlichen Bewegung zusammenzubringen.

54  Ein Aspekt den Höflich folgendermaßen beschreibt: „Das Klingeln des Telefons erweckt unmittelbare Aufmerksamkeit – ja geradezu einen Zwang, darauf zu reagieren. Das Klingeln des Telefons ist nicht nur eine einfache Interaktionsaufforderung, sondern steht gleichsam für einen Zwang, zum Hörer zu greifen, einen Zwang, den jeder verspürt, wenn er ein Telefonklingeln vernimmt“ (ders. 2001: 7). Dies wurde in einer aktuellen ethnomethodologischen Studie hinsichtlich des Mobiltelefons erneut untermauert (vgl. Höflich 2010a).

55  Man denke an eine Familie, bei der zuhause angerufen wird: Der Anrufer weiß, welchen Ort er erreicht, aber nicht unbedingt, welche Person.



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