[Seite 156↓] 

5. Ergebnisse und Ausblick

In diesem abschließenden Kapitel der Dissertation sollen zwei Unterpunkte besprochen werden.

Zunächst geht es darum, die Ergebnisse der beiden Einzelanalysen für die Geschichtsschreibung der deutschen Grammatikographie zusammenzufassen und zu diskutieren. Danach soll das allgemeine Potential der historischen Sprachbewusstseinsanalyse für die Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachgeschichte erörtert werden.

5.1. Das Grammatikverständnis der frühen deutschen Grammatikographen

Die Einzelanalysen beschäftigten sich mit dem als Grammatikverständnis bezeichneten Ausschnitt des Sprachbewusstseins von Valentin Ickelsamer und Laurentius Albertus. Die Untersuchung der einzelnen Sprachreflexionen diente dabei der Beantwortung der zentralen Frage, welcher Art das Sprachbewusstsein der Textproduzenten im Hinblick auf ihre jeweilige Beschäftigung mit Grammatik ist und auf welchem Fundament es steht.

Dabei ergab sich, dass das Grammatikverständnis von Valentin Ickelsamer und das von Laurentius Albertus trotz aller Überschneidungen, z.B. im Hinblick auf die Verwendungsweise des Wortes Grammatik und die Bezugnahme auf den klassischen und humanistischen Bildungshintergrund, Unterschiede aufweisen, die entscheidenden Einfluss auf die Konzeption ihrer Grammatikschriften haben. Besonders an den sprach- und erkenntnistheoretischen Grundlagen des untersuchten Sprachbewusstseinsausschnitts und den Motiven, die die beiden Grammatikographen für die Beschäftigung mit der Grammatikschreibung des Deutschen angeben, lässt sich ablesen, in welchem Kontext sich die Grammatiksicht von Ickelsamer und Albertus bewegt.

Dadurch, dass die deutsche Grammatikschreibung im 16. Jahrhundert noch an keine festen Institutionen gebunden war, wie dies etwa für die lateinische Grammatikographie gilt, mussten Ickelsamer und Albertus zunächst den Platz für ihren Abhandlungsgegenstand bestimmen.


 [Seite 157↓] 

Der didaktische Hintergrund, der bei beiden über ihre berufliche Tätigkeit gegeben war, reichte als Begründung für ihre Projekte nicht aus, da eine Grammatikabhandlung der deutschen Sprache sowohl für den auf die Vermittlung elementarer Fähigkeiten ausgerichteten Unterricht an den deutschen Schulen als auch für das lateinorientierte höhere Schulwesen ein zu rechtfertigender Text war, für den keine allseits anerkannte Nachfrage bestand. Das Grammatikverständnis der Grammatikographen war demnach auch vom Wissen über die Rechtfertigungsnotwendigkeit der frühen deutschen Grammatikographie geprägt.

Während Valentin Ickelsamer als Hauptrechtfertigungsgrund für seine Arbeit religiöse Motive angibt und darin ein starker – nach heutiger Sichtweise – sprachexterner Faktor seines Grammatikverständnisses deutlich wird, besteht das Hauptmotiv von Laurentius Albertus in seinem frühneuzeitlichen (sprach)wissenschaftlichen Interesse.

Die unterschiedlichen Motive der beiden Grammatikographen bedingten wesentlich ihr Verhältnis und ihren Umgang mit der Tradition der klassischen Grammatikschreibung, die in der Frühen Neuzeit einen dominanten Rahmen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Grammatik bildete.

Indem Ickelsamer Gott als eine über dieser etablierten Wissenschaft stehende Autorität für jegliche Spracharbeit anführt, die ihn in seinen Überlegungen leitet, rechtfertigt er seinen selektiven Umgang mit der gelehrten Tradition und deren Modifikation. Sein Grammatikverständnis ist zwar entscheidend geprägt von der Integration der traditionellen Wissensbestände der klassischen und humanistischen Grammatikographie, die Propagierung des Eigenwertes der deutschen Sprache erklärt sich bei ihm jedoch hauptsächlich aus seiner Abgrenzung von der gelehrten Tradition. Im Sprachbewusstsein Valentin Ickelsamers stellt die Beschäftigung mit der deutschen Grammatikschreibung ein Gebiet dar, das neben dem lateindominierten universitären Bildungswesen, dessen rein selbstbezüglichen wissenschaftlichen Wert er generell kritisiert, in einem eigenen didaktischen Kontext bestehen kann. Ihr besonderer Nutzen ist für ihn in der allgemeinen Einwirkung auf den bewussten Sprachgebrauch der Muttersprachler zu sehen. Die deutsche Sprache verfügt über ein inneres Wesen, dessen Kenntnis zu einem besseren christlichen Leben führt. Ihr grammatischer Aufbau erschließt sich trotz der Übernahme traditioneller Beschreibungsmuster vor allem im Vertrauen auf die göttliche Hilfe.


 [Seite 158↓] 

Das Grammatikverständnis des Laurentius Albertus ist dagegen geprägt von der vollständigen Integration der deutschen Grammatikschreibung in die Tradition der klassisch-humanistischen Grammatikographie. All seine Überlegungen zur Spezifik der deutschen Sprache stehen im Zusammenhang der etablierten gelehrten Sprachbetrachtung. Mit dem Bezug auf die Grammatikographietradition erbringt er den Nachweis für den Wert einer Beschäftigung mit der deutschen Grammatik. Für ihn ist diese nicht außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes durchführbar und gerechtfertigt.

Blickt man nun auf die bisherigen Arbeiten zur Geschichte der deutschen Grammatikschreibung, so wird die Unterschiedlichkeit der Rahmenbedingungen frühneuzeitlicher Grammatikographie zwar festgestellt340, jedoch selten in ihrer Auswirkung auf die verschiedenen Konzeptionsansätze untersucht. Dies ist aber für die Einschätzung der Entwicklungsprozesse der deutschen Grammatikschreibung von immenser Wichtigkeit. So ist es von besonderem Interesse, die geistesgeschichtlichen Hintergründe des Grammatikverständnisses einzelner Grammatikographen zu erschließen, um auf diese Weise einerseits die Wurzeln von deren Spracharbeit und zum anderen die verschiedenen und gemeinsamen Elemente ihrer Positionsbestimmung nachvollziehen zu können. Auf diese Weise erhält man einen umfassenderen Einblick in die historische Bedingtheit der frühneuzeitlichen Beschäftigung mit der Grammatikder deutschen Sprache und in die Art ihrer grammatikographischen Darstellung.

Zugleich kann durch die Ergebnisse der historischen Sprachbewusstseinsanalyse auch die Frage nach der wissenschaftlichen Adäquatheit des Sprachbewusstseins der Grammatikographen differenzierter beantwortet werden.

Die Sprachreflexionen der beiden untersuchten Grammatikographen laufen handlungsentlastet ab und lassen sich einem hohen Sprachbewusstseinsgrad zuordnen. Ob diese jedoch der cognitio clara distincta inadaequata oder der cognitio clara distincta adaequata341(und damit dem höchsten Sprachbewusstseinsgrad) entsprechen, ist abhängig von den jeweils angelegten wissenschaftlichen Adäquatheitskriterien. Vor dem Hintergrund der  [Seite 159↓]  frühneuzeitlichen (Sprach-)Wissenschaft in ihrer Eingebundenheit in die septem artes liberales ist sicher dem Sprachbewusstsein des Laurentius Albertus die höchste wissenschaftliche Angemessenheit der angegebenen Begründungen zuzusprechen, da er besonders darum bemüht ist, den Wert der deutschen Sprache durch den Anschluss seiner grammatikalischen Sprachreflexionen an die Reduktionsmuster342 der lateinischen und griechischen Grammatikschreibung unter Beweis zu stellen. Seine Strategie für die deutsche Grammatikographie besteht also in ihrer möglichst vollständigen Erfassung innerhalb der Paradigmen der traditionellen Sprachbetrachtung. Indem er die Vollständigkeit der Darstellung erreichen will, erhebt er ebenso den Anspruch auf die höchste (frühneuzeitliche) wissenschaftlich diskursautonome Adäquatheit seiner Tätigkeit.

Valentin Ickelsamers Sprachreflexionen sind dagegen weniger eindeutig einer Adäquatheitsstufe zuschreibbar. Während eine Reihe seiner Sprachreflexionen, indem sie sich an die traditionellen Ordnungsmuster anschließen, wissenschaftlich adäquat begründet sind, zeichnet sich gerade ein Großteil seiner als innovativ beschriebenen Überlegungen zur Grammatikschreibung des Deutschen durch die wissenschaftliche Unangemessenheit ihrer Begründung aus. An den Stellen, an denen er unter Einbezug pragmatischer und religiöser Positionen von der Tradition abweicht oder diese unter Berufung auf die Eigenständigkeit der deutschen Sprache modifiziert, stellt er bewusst die Prinzipien der frühneuzeitlichen lateindominierten Wissenschaft in Frage. Obwohl er sich auch hier zumeist an den Wissensbeständen und Methoden der gelehrten Tradition orientiert, sind die Gründe, die er für diese Art seiner Sprachreflexionen angibt, diskursheteronomer Natur.

Interessanterweise werden jedoch in den Abhandlungen zur Geschichte der  [Seite 160↓]  Grammatikschreibung diese diskursheteronom begründeten innovativen Elemente des Ickelsamerschen Grammatikverständnisses im Hinblick auf das neuzeitliche wissenschaftliche Adäquatheitskriterium der Objektivität der Sprachbetrachtung als positive Tendenz der “Teutschen Grammatica” bewertet. Indem durch die oben vorgenommene Analyse die Hintergründe dieser innovativen Elemente erschließbar werden, ermöglicht die historische Sprachbewusstseinsanalyse somit einen detaillierten Einblick in die verschiedenen geschichtlichen Einflüsse auf den Entwicklungsprozess der heutigen Sprachwissenschaft und in den historisch bedingten Charakter von Wissenschaftlichkeit.

So scheint es, dass die für die Entstehung der deutschen Grammatikschreibung notwendige Ablösung von der lateinischen Grammatikographie ohne die jenseits damaliger Wissenschaftlichkeit verorteten Impulse nicht stattgefunden hätte. Erst im Zusammentreffen von humanistisch geschulter Sprachbetrachtung und deren innovativer Anwendung auf die deutsche Sprache entwickelte sich ein Sprachbewusstsein, das die Basis für eine zunehmend eigenständige grammatikographische Behandlung des Deutschen bildete. Der Anstoß für die Wahrnehmung der grammatischen Eigenständigkeit der Muttersprache kam aber vor allem aus Bereichen wie dem religiösen und dem praktischen, die nicht zum Wissenschaftsfeld der septem artes liberales zählten.

Für die Historiographie der deutschen Grammatikschreibung bilden die Ergebnisse der historischen Sprachbewusstseinsanalyse in diesem Sinn eine Möglichkeit, die verschiedenen Einflüsse auf die Entwicklungsgeschichte der Grammatikographie des Deutschen in allen Einzelheiten zu erschließen. Auf diese Weise lässt sich ein umfangreicherer und angemessenerer Blick auf die Anfangsgründe der Beschäftigung mit der deutschen Grammatik gewinnen.


 [Seite 161↓] 

5.2. Das Potential der historischen Sprachbewusstseinsanalyse für Sprachwissenschaftsgeschichte und Sprachgeschichte

Die historische Sprachbewusstseinsanalyseinterpretiert Sprachreflexionen über die Erschließung der in ihnen aktualisierten Bildungs- und Erfahrungshintergründe. Dadurch kann sie die historischen Stufen des Sprechens über Sprache, einschließlich der “Ideen von Sprachgeschichte”343, im Zusammenhang ihres jeweiligen Standorts erfassen und erlaubt damit einen in historiographischer Hinsicht objektiveren Zugriff auf die untersuchten Quellen.

Die historische Sprachbewusstseinsanalyse ist deshalb in der Lage, die Sprachwissenschaftsgeschichte gerade bezüglich der deutschen Grammatikschreibung um wichtige Ergebnisse zu ergänzen und die bisher dominierende Bewertung der Quellen aus der Perspektive der heutigen Grammatikschreibung um einen Blickwinkel zu erweitern, der nach den soziokulturellen Rahmenbedingungen von grammatikographischer Spracharbeit fragt.344 Dabei versteht sich die hier vorgestellte historische Sprachbewusstseinsanalyse als ein Zugang, der an den einzelnen Texten und den in ihnen enthaltenen Sprachreflexionen ansetzt und diese in ihrer jeweiligen Eigenart zu erschließen sucht. Die allgemeinen historischen Erkenntnisse zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Grammatikschreibung werden dabei zwar einbezogen, jedoch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Sprachbewusstsein der Grammatikographen am Einzelfall betrachtet. Gleichsam eröffnet dieser Zugriff auf das reflektierende Individuum den Blick auf die Gesamtheit der vom Textproduzenten wahrgenommenen Diskurse der Vergangenheit und seiner Gegenwart, denen er, wie auch der heutige Forscher ihm, in einem hermeneutischen Prozess begegnet.

Die historische Sprachbewusstseinsanalyse als Methode des Sprachbewusst-  [Seite 162↓]  seinsgeschichte stellt in ihrer Wahrnehmung von “Veränderungen in den kommunikativen Mentalitäten, Einstellungen, Theorien“345 einen geeigneten Ansatz für eine standortorientierte Beschäftigung mit der Sprachwissenschaftsgeschichte dar.

Diese muss, wenn sie frühe Formen der grammatikographischen Sprachbetrachtung zu den Vorstufen oder Anfängen der Sprachwissenschaft zählen will, die deutsche Grammatikschreibung verstärkt vor ihrem historischen Hintergrund beschreiben. Wie zu einer bestimmten Zeit über Sprache reflektiert wurde, ist in erster Linie auch von außersprachlichen Umständen abhängig, welche sich besonders in einem noch nicht von der Säkularisation beherrschten Weltbild stark von den heutigen wissenschaftlichen Sprachreflexionen unterschieden.

Im Erfassen der historischen Hintergründe expliziter Sprachreflexionen ist auch das Potential der historischen Sprachbewusstseinsanalyse für die Sprachgeschichte begründet. Gerade für die Verbindung von äußerer Sprachgeschichte und Sprachformengeschichte ist ihre textphilologische Vorgehensweise eine gute Möglichkeit, über die Analyse der subjektiven Sprachwahrnehmung den Einfluss bestimmter sprachexterner Faktoren auf den Sprachgebrauch zu untersuchen.346

Letztlich, und darin besteht das allgemeinere Interesse der Sprachbewusst-seinsgeschichte, verbindet sich mit der Frage nach dem Sprachbewusstsein historischer Personen immer auch die Frage nach dem Ort unseres eigenen Nachdenkens und Sprechens über Sprache. Wir können nicht über Sprachbewusstsein sprechen, ohne selbst Teil der Sprachbewusstseinsgeschichte zu sein.


Fußnoten und Endnoten

340 Max Hermann Jellinek teilt die verschiedenen orthographischen und grammatikographischen Schriften aus diesem Grund in Gruppen ein, wie zum Beispiel in “Arbeiten der Schulmeister” (zu der er die “Teutsche Grammatica” Ickelsamers zählt).

341 Siehe S. 33 dieser Arbeit.

342 Die Beschäftigung mit der Grammatiksetzt immer die Reduktion der komplexen Einzelsprache auf eine einheitliche funktionelle Sprache voraus. “Diese Reduktionen sind in methodischer Hinsicht außerordentlich wichtig: Sie ermöglichen erst eine kohärente Fragestellung bei der Beschreibung von Sprachsystemen in grammatischer, lautlicher und lexikalischer Hinsicht. [...] Die Grammatik hat immer schon etwas Einheitliches beschreiben wollen. Hier liegt auch der Ursprung der Normativität, und zwar sowohl der objektiven, sozial anerkannten Normativität als auch der subjektiven Normativität, die darin besteht, dass jemand eine bestimmte Art oder Form der Sprache vorschlägt. Die Reduktionen sind also für die Fragestellung der Grammatik im umfassenderen Sinne, d.h. für die Beschreibung von Sprachsystemen, sehr wohl berechtigt.” Coseriu (1988), S. 27f.

343 Bei dieser Überlegung wird Sprachgeschichte verstanden als das “von Trägern sprachbezogenen Wissens (Sprachphilosophen, -wissenschaftlern, -ideologen) aus jeweils besonderen zeitgenössischen Konstellationen heraus entworfene, sinnstiftende, von Rezipienten übernehmbare, gesellschaftlich funktionalisierte Bild von Herkunft, der Gegenwart und der Zukunft einer Sprache” Reichmann (1998), S. 1. Siehe dazu auch S. 21 dieser Dissertation.

344 Letztlich stellt die Sprachwissenschaftsgeschichte, indem sie die Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Sprachreflexionen zum Gegenstand hat, ein Teilgebiet der Sprachbewusstseinsgeschichte dar.

345 Mattheier (1995), S. 15.

346 Wie lohnenswert eine solche sprachbewusstseinsorientierte Untersuchung sein kann, hat Joachim Scharloth (2005) in seiner Auseindandersetzung mit Aussagen zu Fragen der Sprachnormierung und deren Hintergründen gezeigt.



© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.
DiML DTD Version 3.0 HTML-Version erstellt am:
23.05.2006