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1. Einleitung

Diese Arbeit verbindet zwei Anliegen miteinander.1 Zum einen soll eine theoretisch fundierte Methode zur Analyse von Sprachbewusstsein in historischen Quellen erarbeitet werden. Zum anderen soll das aus dem ersten Schritt resultierende Analysekonzept exemplarisch auf zwei frühneuzeitliche, volkssprachlich orientierte Grammatiktexte angewendet und die Ergebnismöglichkeiten der historischen Sprachbewusstseinsanalyse für die Historiographie der Sprachwissenschaft überprüft werden.

Damit verbindet sich eine wiederholte Zuwendung zur historischen Grammatikschreibung der deutschen Sprache. Mittels der Sprachbewusstseinsanalyse sollen nun wichtige Erkenntnisse über den in den bisherigen Darstellungen kaum oder nur verkürzt behandelten Zusammenhang zwischen den historischen Rahmenbedingungen und der Art der grammatikographischen Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache gewonnen werden.

Die sprachbewusstseinsorientierte Beschäftigung mit historischen Quellen hat bereits eine wissenschaftliche Vorgeschichte. Vor allem im Anschluss an die kommunikativ-pragmatische Wende in der Sprachwissenschaft in den 1960er und 1970er Jahren setzte eine vermehrte Hinwendung zu den Größen ein, die an die subjektive Sprachwahrnehmung geknüpft sind. Die Pragmatik, die bekanntermaßen die Perspektive des Subjekts in die Forschung einbezieht und den Sprachgebrauch des einzelnen Sprachteilnehmers nicht losgelöst von ihm selbst betrachtet, thematisierte insbesondere die Rolle der Metakommunikation und des Bewusstseins für die Kommunikationspraxis. Aber auch der Blick über den “engen Rahmen” der Sprache hinaus auf deren soziale, kulturelle, ideologische, historische und philosophische Hintergründe gehört zu dem erweiterten Untersuchungsfeld jener pragmatischen Sprachsicht.

Auch für die bis in die Mitte der 60er Jahre des 20. Jh. überwiegend systemlinguistisch ausgerichtete Sprachgeschichtsschreibung waren die subjektiven “Äußerungen über Sprache und Sprachgebrauch [...] als  [Seite 8↓]  Selbstzeugnisse historischer Individuen zunächstohne – allenfalls zu Illustrationszwecken von – Belang”.2 Anknüpfend an die genannte Wissenschaftsentwicklung wandte sich die Sprachgeschichtsschreibung jedoch ebenfalls den subjektiven Größen zu, woraus sich in der Folge im Speziellen der Forschungsansatz der Sprachbewusstseinsgeschichte herausbildete. Diese versteht sich als Teil einer soziopragmatischen Sprachgeschichtsschreibung und erfasst besonders “Veränderungen in den kommunikativen Mentalitäten, Einstellungen, Theorien“3. Bei dieser Betrachtungsweise richtet sich der Blick nicht nur auf das Reflektieren über die Sprache als System, sondern darüber hinaus auch auf das mit ihr untrennbar verbundene Weltbild des Textproduzenten. Daraus ergibt sich ein äußerst komplexes Aufgabenfeld für den Sprachbewusstseinsforscher, da er neben der einzelnen Quelle auch all jene Diskurse in die Untersuchung einbeziehen muss, die Aufschluss geben können über die gedankliche und gesellschaftliche Verortung und die Intentionen des Verfassers. Somit rekonstruiert er stets auch die Gedankenwelt einer Zeit, indem er den historischen Sprachgebrauch zum Gegenstand seiner 'archäologischen' Analysen macht und die verschiedenen argumentativen und semantischen Schichten desselben freilegt. In diesem Bestreben trifft sich die Sprachbewusstseinsgeschichte in wesentlichen Punkten mit den derzeitigen Bemühungen um eine Erweiterung der Sprachgeschichtsschreibung um kulturgeschichtliche und diskurslinguistische Fragestellungen.4

In den letzten Jahren sind nun zunehmend Publikationen erschienen, die sich vor allem im Kontext der Analyse von sprachtheoretischen und sprachphilosophischen Schriften mit der historischen Sicht auf das Phänomen Sprache auseinander setzten und ihre Untersuchungsergebnisse unter den Oberbegriffen Sprachreflexion und Sprachbewusstsein zusammenfassten.5 Allerdings ist den meisten Studien gemein, dass in ihnen die oben genannten Termini vorwiegend als Sammel- oder Abstraktionsbegriffe für alle in der Untersuchung thematisierten  [Seite 9↓]  metasprachlichen Äußerungen verwendet werden, ohne dass eine entsprechende theoretische und methodische Klärung der Begriffe geleistet wird.

Auch in den programmatischen Arbeiten zur Sprachbewusstseinsgeschichte bleibt der Sprachbewusstseinsbegriff meist relativ unbestimmt.6

Wenn es jedoch darum gehen soll, sich mit dem Sprachbewusstsein in historischen Quellen auseinander zu setzen und aus dieser Beschäftigung neue Erkenntnisse über den Zusammenhang von geschichtlichen Rahmenbedingungen, Sprachwahrnehmung und Sprachgebrauch zu gewinnen, gilt es zu klären, wie man den Begriff des Sprachbewusstseins auch im Blick auf die Besonderheiten historisch orientierter Analysen fassen und das Sprachbewusstsein anhand der Quellen erschließen kann.

Es ist daher eine Hauptaufgabe dieser Studie, einen grundlegenden theoretisch-methodischen Weg für eine historische Sprachbewusstseinsanalyse aufzuzeigen und ihn anhand ausgewählter historischer Grammatiken der deutschen Sprache aus dem 16. Jahrhundert zu exemplifizieren. Die historischen Sprachbewusstseinsanalyse versteht sich daher als Methode der Sprachbewusstseinsgeschichte.

Der Zugriff auf historische Grammatiken über den Sprachbewusstseinsbegriff bietet zugleich die Möglichkeit, die wissenschaftliche Analyse dieser Quellen entscheidend zu erweitern. Denn während bislang Untersuchungen zu den biographischen sowie gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründen und zu den sprachsystemorientierten Untersuchungen weitestgehend unabhängig voneinander vorgenommen worden sind7, bzw. Forschung und Darstellung sich vorwiegend auf letztere konzentrierten, versteht sich dieser Ansatz mit seiner Frage nach dem Sprachbewusstsein, welches sich in den Quellen zeigt, als Beitrag zu einem tiefer gehenden Gesamtverständnis der grammatikographischen Texte in ihrem jeweiligen diskursiven Umfeld.

Die Auswahl historischer Grammatikschriften des Deutschen als Untersuchungsgegenstand hat zwei Gründe:


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Zum einen haben die Bamberger Bemühungen um die Geschichte der deutschen Grammatikographie, die unter anderem auch in der Herausgabe einer umfassenden Bibliographie zur Grammatikschreibung des 15. - 17. Jahrhunderts mündeten, das Augenmerk erneut auf diese historischen Quellen sowie auf entsprechende Forschungsdesiderata gelenkt und den Bedarf an einer modernen, auf die Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte bezugnehmenden Abhandlung über die Geschichte der Grammatikographie herausgestellt. Für den Bereich epochenübergreifender Darstellungen der Grammatikschreibung wird im Allgemeinen nur auf die umfassende und nach wie vor unersetzliche zweibändige “Geschichte der Neuhochdeutschen Grammatik“ von Max Hermann Jellinek verwiesen, die bereits 1913/14 in Heidelberg veröffentlicht wurde. Es erscheint aber aufgrund des seitdem angewachsenen Quellenmaterials und neuer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse sehr zu empfehlen, sich diesem Untersuchungsfeld erneut zuzuwenden. Nun kann es die hier vorliegende Arbeit hinsichtlich ihrer Orientierung auf die Darlegung eines theoretisch-methodischen Konzepts und seiner Anwendung auf zwei historische Grammatiken keineswegs leisten, das angesprochene Desiderat einer modernen Gesamtdarstellung der Grammatikographiegeschichte zu erfüllen. Jedoch soll in ihr ein Ansatz vorgestellt werden, mit dessen Hilfe eine differenziertere historiographische Abhandlung der Grammatikschreibung möglich wird.

Zum anderen handelt es sich aus theoretischer Sicht bei einem grammatikographischen Text um eine schriftliche und systematische Ausarbeitung von Sprachreflexionen, die sich mit der Explikation sprachlicher Regularitäten der deutschen Sprache beschäftigen. Die Erforschung dieser Quellen auf der Basis einer Untersuchung des Sprachbewusstseins erweist sich schon aus diesem Grund als lohnenswert, da sich an den Texten aufgrund der umfangreichen Analysebasis in Form von sprachreflektorischen Passagen sowohl die Grundbedingungen als auch die Erfolgsaussichten eines auf das Sprachbewusstsein ausgerichteten Untersuchungsansatzes im besonderen Maß erörtern und exemplifizieren lassen.

Zu den angestrebten Ergebnissen dieser Studie gehört demnach die Erarbeitung und Bereitstellung eines theoretischen und methodischen Instrumentariums für Untersuchungen im Bereich der Sprachbewusstseinsgeschichte, welches am Sprachbewusstseinsbegriff ansetzt und diesen für den Fall historischer Quellen zu bestimmen und zu beschreiben sucht. Des Weiteren geht es in der konkreten  [Seite 11↓]  Anwendung dieses Ansatzes auf historische Grammatiktexte des Deutschen auch um die Bewertung der Fruchtbarkeit der Sprachbewusstseinsanalyse im Hinblick auf die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesen Quellen.

Letztlich – und darin liegt das wissenschaftstheoretische Interesse dieser Arbeit – verbindet sich mit einer derartigen Untersuchung historischer Grammatiken, die oft als Vorformen der späteren institutionalisierten Sprachwissenschaft betrachtet werden, außerdem die Frage, welche neuen Einblicke die Ergebnisse einer sprachbewusstseinsgeschichtlich orientierten Analyse für die Sprachwissenschaftsgeschichte liefern können, und damit auch, welche Bedeutung der Sprachbewusstseinsgeschichte im Spannungsfeld von (äußerer) Sprachgeschichtsschreibung und Historiographie der Sprachwissenschaft zukommt.

Denn indem sich die hier vorliegende Studie vorrangig mit der Frage beschäftigt, wie die jeweiligen Äußerungen über Sprache in ihrer Eingebundenheit in die geistesgeschichtlichen Diskurse zu verstehen sind, leistet sie einen entscheidenden Schritt hin zu einer stärker kulturgeschichtlich orientierten Darstellung der Geschichte der Sprachbetrachtung im speziellen Fall grammatikographischer Texte. Sie sieht diese dabei als Quellen an, die in erster Linie innerhalb des historischen Kontextes ihrer Zeit zu analysieren sind, welcher eben auch das jeweilige Verständnis von Sprache prägt. Gerade bei der Frage nach der Wissenschaftlichkeit früher deutscher grammatikographischer Texte ist es von besonderem Interesse zu klären, an welcher Stelle des frühneuzeitlichen Wissenschaftsverständnisses sich die frühe deutsche Grammatikographie einfügt, um so auch ihr Wesen in einer Epoche angemessener beurteilen zu können, in der die grammatikographische Beschäftigung mit der deutschen Sprache noch in keinem festen institutionalisierten Rahmen stattfand.


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1.1. Gegenstand

Diese Dissertation setzt sich mit dem Problem auseinander, auf welche Art Sprachbewusstsein unter historischem Blickwinkel analysiert und beschrieben werden kann und exemplifiziert dies an zwei Grammatiken des Deutschen aus dem 16. Jahrhundert.

Sie bemüht sich daher in erster Linie um eine allgemeine definitorische Bestimmung des Sprachbewusstseinsbegriffs. Es soll hierbei jedoch nicht um die Erarbeitung eines grundlegend neuen Sprachbewusstseinskonzepts gehen, sondern um die Überprüfung und Modifikation bestehender Konzepte in Bezug auf die Möglichkeit der Formulierung eines Definitionsansatzes, der die Elemente des Sprachbewusstseinsbegriffs hervorhebt, an denen eine historisch orientierte Sprachbewusstseinsanalyse ansetzen kann und muss. Davon ausgehend sollen die methodischen Möglichkeiten einer nach dem Sprachbewusstsein fragenden Analyse historischer Texte diskutiert und erarbeitet werden.

Darin versteht sich die Studie als Beitrag zur Lösung eines oft angesprochenen Desiderats der Sprachbewusstseinsgeschichte, da bisher eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den theoretischen und methodischen Bedingungen einer Sprachbewusstseinsanalyse unter historischen Vorzeichen noch nicht oder nur eingeschränkt in Angriff genommen worden ist.

Bei der Untersuchung der “Teutsche(n) Grammatica” des Valentin Ickelsamer und der “Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst” des Laurentius Albertus, auf die die vorherigen theoretischen und methodischen Überlegungen angewendet werden, geht es sowohl um die beispielhafte Erläuterung und Überprüfung des Analyseansatzes als auch darum, die Erweiterungsmöglichkeiten der bisherigen Forschungsliteratur durch die Ergebnisse der historischen Sprachbewusstseinsanalyse einzuschätzen.


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1.2.  Vorgehensweise

Es wird zunächst notwendig sein, sich in einem theoretischen Teil anhand der Forschungsliteratur mit dem Begriff des Sprachbewusstseins auseinander zu setzen, ihn zu definieren und diesen Definitionsansatz vor allem bezugnehmend auf den historischen Aspekt und die damit verbundene Quellencharakteristik sowohl im allgemeinen als auch im speziellen Fall historischer Grammatiktexte zu besprechen.

Ausgehend von dieser theoretischen Grundlegung geht es im zweiten Teil der Arbeit darum, einen konkreten methodischen Zugang zu den hier ausgewählten Quellen zu erarbeiten.

Im dritten Teil sollen die genannten zwei Grammatiken aus dem 16. Jahrhundert auf der Basis des zuvor dargelegten Analyseansatzes untersucht werden, um auf diese Weise die historische Sprachbewusstseinsanalyse und deren Ergebnispotential für die Historiographie der Grammatikschreibung zu überprüfen. Die Exemplifizierung des vorgestellten Ansatzes soll dabei zunächst in Form einer Detailanalyse des Ickelsamer-Textes vollzogen werden, in der die gesamte Breite der methodischen Vorüberlegungen angewendet wird. Die sich daran anschließende Untersuchung der “Teutsch Grammatick” des Laurentius Albertus ist als Analyseskizze konzipiert, da eine zweite detaillierte Untersuchung den Rahmen dieser Dissertation sprengen würde.

Daher habe ich mich für eine konzentrierte Abhandlung entschieden, deren Ziel hauptsächlich darin besteht, die Ergebnisse zum Sprachbewusstsein Valentin Ickelsamers in einen historischen Bezug zu setzen. Des Weiteren fungiert sie aber auch als weitere Anwendbarkeitsstudie zur historischen Sprachbewusstseinsanalyse, an der das in den theoretischen und methodischen Grundlagen erarbeitete und an Ickelsamer exemplifizierte Instrumentarium auf seine Verallgemeinerbarkeit überprüft werden kann.

Abschließend gilt es, in einem Ergebnis- und Ausblickskapitel die Leistungsfähigkeit einer historischen Sprachbewusstseinsanalyse im Hinblick auf die generellen Möglichkeiten sprachbewusstseinsgeschichtlicher Untersuchungen für die Sprachgeschichtsschreibung und die Sprachwissenschaftsgeschichte zu diskutieren.


Fußnoten und Endnoten

1 Der vorliegende Text ist nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung verfasst. Zitate werden aber immer in der originalen Schreibweise wiedergegeben.

2 Döring (1999), S. 37.

3 Mattheier (1995), S. 15.

4 Siehe dazu Gardt; Haß-Zumkehr; Roelcke (1999), S. 1. Kultur wird hier verstanden “als ein Netz von Bedeutungssystemen, anhand dessen sich Menschen die Welt und ihre Situation in ihr deuten und an dem sie ihr Handeln orientieren.” Ebd.

5 Hierzu zählen z.B. die Arbeiten Andreas Gardts (1994) und Wolf Peter Kleins (1992).

6 Eine Ausnahme bilden einzelne Arbeiten zum kollektiven Sprachbewusstsein, wie z.B. die Arbeiten Brigitte Dörings, und die im letzten Jahr erschienene mentalitätsgeschichtlich orientierte Studie von Joachim Scharloth. Siehe dazu auch S. 25ff. dieser Dissertation.

7 In den meisten Fällen tragen die Aussagen zum Lebensweg und Bildungshintergrund des Grammatikographen nur einführenden oder ergänzenden Charakter.



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DiML DTD Version 3.0 HTML-Version erstellt am:
23.05.2006