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3.  Methodische Grundlegung

Im Anschluss an die Ausführungen des theoretischen Teils soll im folgenden zweiten Teil der Arbeit eine Methode zur historischen Sprachbewusstseinsanalyse grammatikographischer Texte entwickelt werden. Dabei werden neben dem Untersuchungszugang und der Vorgehensweise bei der Analyse auch die Korpusauswahl sowie die Grenzen der historischen Sprachbewusstseinsanalyse und damit der Sprachbewusstseinsgeschichte besprochen.

An erster Stelle ist es hier jedoch notwendig, auf die Besonderheiten von Grammatiktexten als Gegenstand einer solchen Untersuchung einzugehen.

3.1. Besonderheiten der Textbezeichnung “Grammatik”

Bei den im Analyseteil dieser Arbeit bearbeiteten Quellen handelt es sich um zwei Grammatikschriften aus dem 16. Jahrhundert, die sich mit der Beschreibung des Aufbaus und der Regeln der deutschen Sprache beschäftigen. Als deutsche Grammatiken werden in der Sekundärliteratur solche Texte bezeichnet, “die Regeln, Erklärungen oder Anmerkungen zur Grammatik [...] der deutschen Sprache enthalten.”97 Doch schon an dieser ersten grundsätzlichen Artikulation der Kriterien, die die Zuordnung einzelner Quellen zur Fachtextgruppe ‘Grammatik’ zulassen, wird die Komplexität des Grammatikbegriffs deutlich, die sich hauptsächlich daraus ergibt, dass das Wort Grammatik98 zugleich die Lehre bzw. die Lehrwerke als auch deren Gegenstand bezeichnet.

Nach dem heutigen Verständnis des Terminus können bei seiner Verwendungsweise im Wesentlichen folgende vier Bedeutungsmöglichkeiten unterschieden werden99:

  1. Grammatik wird verstanden als “Wissen bzw. Lehre von den morphologischen und syntaktischen Regularitäten einer natürlichen Sprache”100. Andere Gegenstandsbereiche der Sprachwissenschaft wie die Phonologie, Phonetik und Semantik werden in diesem Begriffsverständnis aus der Grammatik ausgegrenzt.

  2. Grammatik wird vor allem im Anschluss an de Saussure als strukturelles Regelsystem verstanden, welches “allen sprachlichen Produktions- und Verstehensprozessen zu Grunde liegt.”101
  3. Grammatik wird innerhalb der Disziplin der generativen Transformationsgrammatik zum einen als das sprachliche Wissen eines Muttersprachlers verstanden und zum anderen als ein Modell, das in der Lage ist, jene Sprachkompetenz des Muttersprachlers abzubilden.
  4. Grammatik wird im übergeordneten Sinn auch verstanden als “systematische Beschreibung der formalen Regularitäten einer natürlichen Sprache in Form eines Nachschlagewerkes oder Lehrbuches.”102

Bei den Bedeutungsebenen eins bis drei ist das jeweilige Begriffsverständnis abhängig von den zu Grunde liegenden theoretischen Positionen zum Aufbau der Sprache und den Aufgaben einer auf sie gerichteten Sprachwissenschaft. Diese orientieren sich an den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen der Sprachwissenschaft vornehmlich des 20. Jahrhunderts.

Betrachtet man dagegen die historische Verwendung des Wortes Grammatik vor der eigentlichen Begründung der Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert, so zeigen sich weitere Bedeutungsmöglichkeiten, die teilweise vom heutigen Begriffsverständnis abweichen.

Unterinstitutionalisiertem Aspekt verwendete man Grammatikbzw. Grammatica als terminus technicus für die erste und grundlegende der Sieben Freien Künste (septem artes liberales).103Sie war in allegorischer Hinsicht die ianua artium, die Torhüterin zum Einstieg in den Turm des Wissens, die sich traditionell unter  [Seite 57↓]  Berufung auf die hellenistische Bildungstradition mit der Sprachlehre (der lateinischen Sprache) und Lektüre und Interpretation antiker Autoren beschäftigte.104So umfasste sie im Mittelalter die gesamte Sprach- und Stillehre der lateinischen Sprache und gehörte damit zu den Grundlagen der Rhetorik. In diesem Zusammenhang setzte sie sich insbesondere mit der Redetugend der latinitas (Sprachrichtigkeit)105 auseinander.

Daraus wird ersichtlich, dass sich der Terminus Grammatik nicht nur auf die institutionalisierte Kunst des Lesens und Schreibens bezog, sondern ebenso, unter didaktischem Aspekt, die Lehre dieser Kunst bezeichnete. Der elementare Grammatikunterricht106 wurde während des gesamten Mittelalters und auch noch bis zum 16. Jahrhundert vorwiegend auf Basis der Schulgrammatik >Ars minor< des Aelius Donatus vollzogen, die zu gleichen Teilen Lektürestoff und Lehrbuch war.

In diesem Sinn begegnet uns – ähnlich der vierten Verwendungsweise von Grammatik in der heutigen Zeit – Grammatik bzw. Grammatica unter praktischem Aspekt als Buch oder Buchtitel, seit dem 16. Jahrhundert besonders auch für die Sprachlehren, die der Festlegung wie der Erlernung der deutschen Sprache dienten.107

Ausgehend von den Ausführungen zum institutionalisierten, didaktischen und praktischen Aspekt und bezogen auf deren eigentlichen Beschäftigungsgegenstand – also unter inhaltlichem Aspekt – konnte unter Grammatik in der Frühen Neuzeit auch die einer Sprache zu Grunde liegende formale Struktur, die Summe und das System ihrer Regularitäten und Ordnungsprinzipien sowie deren Kenntnis und Anwendung verstanden werden. Die Kenntnis und Beherrschung der grammatischen Regeln galt zugleich als Grundvoraussetzung für den richtigen Sprachgebrauch. Dies wird besonders dann verständlich, wenn man beachtet, dass sich der Grammatikunterricht in der Frühen Neuzeit in erster Linie auf das Erlernen der klassischen Bildungssprachen bezog und somit Bestandteil des  [Seite 58↓]  Fremdsprachenunterrichts war.108

Die beschriebene differenzierte Verwendungsweise gibt Auskunft über die Vielschichtigkeit des Grammatikbegriffs in der Frühen Neuzeit. Ausgehend davon stellt sich die Frage, wie die in der Studie untersuchten Grammatikographen Grammatik verstehen, bzw. welchen Einfluss der damalige wissenschaftstheoretische Rahmen auf die Konzeptionen der deutschen Grammatikographie hatte. Denn erst aus der Wahrnehmung der unterschiedlichen Standpunkte frühneuzeitlicher und heutiger Grammatikschreibung erwächst die Möglichkeit, die grammatikorientierten Positionen im Sprachbewusstsein der Grammatikographen angemessen verstehen und beschreiben zu können.

Dies ist besonders dann von elementarer Wichtigkeit, wenn man Grammatiken als “kreative Konstruktionen”109 begreift, bei denen es dem Schreiber innerhalb der jeweiligen historischen Diskurse überlassen bleibt, welches Ordnungskonzept er für die deutsche Sprache vorschlägt bzw. wie er dieses ausgestaltet.

3.2. Vorgehensweise bei der Analyse

Im Kapitel 2.1.2.4. wurden in einem kurzen Abriss die möglichen Untersuchungsrichtungen der historischen Sprachbewusstseinsanalyse vorgestellt. Diese Studie setzt sich mit dem ersten der drei Untersuchungszugänge auseinander, da dieser durch die Konzentration auf einzelne Quellen und einen Ausschnitt des Sprachbewusstseins des Textproduzenten eine textnahe und detaillierte Basisanalyse darstellt, deren inhaltliche und methodische Klärung eine Grundlage für die beiden anderen Richtungen der Sprachbewusstseinsanalyse bilden kann. Bei dieser Art der Analyse wird derjenige konkrete Ausschnitt von Sprachbewusstsein untersucht, der sich abhängig vom inhaltlichen Gegenstand der  [Seite 59↓]  Quelle aus den einzelnen sprachreflektorischen Äußerungen erschließen lässt. Dieser Untersuchungszugang bietet sich vor allem auch in Anbetracht der in grammatikographischen Texten auftretenden Vielzahl von sprachreflektorischen Sequenzen an. Diese Vielzahl lässt es zweckmäßig erscheinen, sich auf einen Untersuchungsaspekt zu konzentrieren, der sich in angemessener Weise in einer Studie wie der hier vorliegenden bearbeiten lässt. Aus diesem Grund sollen die Texte auf Aussagen zum Grammatikverständnis des Textproduzenten befragt werden. Diese bilden einen Teil seines Sprachbewusstseins.

3.2.1. Grammatikverständnis als Teil des Sprachbewusstseins

An dieser Stelle ist zunächst zu klären, wie der Begriff des Grammatikverständnisses zu fassen ist. Grammatikverständnis wird in dieser Studie als Oberbegriff für mehrere Einzelfragen gesetzt, die der Beantwortung einer zentralen inhaltlichen Frage bezüglich des Sprachbewusstseins der untersuchten frühneuzeitlichen Grammatikographen dienen sollen:

Welcher Art ist und auf welchem Fundament steht das Sprachbewusstsein des Textproduzenten im Hinblick auf seine Beschäftigung mit Grammatik?

Diese Frage umreißt, was das Grammatikverständnis beinhaltet, nämlich die einzelnen Sprachreflexionen eines Grammatikographen zur Grammatik und zur Grammatikschreibung. Gemäß der in Kapitel 2.1.2.1. gegebenen Sprachbewusstseinsdefinition bezeichnet das Grammatikverständnis demnach einen Ausschnitt des Sprachbewusstseins, indem es ein Sprechen (und/oder Schreiben) über ein spezielles sprachliches Thema darstellt.

Die frühneuzeitlichen Grammatikschriften des Deutschen unterscheiden sich trotz ihrer geteilten, mitunter starken Verpflichtung gegenüber der lateinischen Tradition in ihrer Ausführung. Wie die deutsche Sprache in den einzelnen Exemplaren beschrieben wird, ist abhängig von den Beweggründen und der geistesgeschichtlichen Verortung des Grammatikographen. Das Grammatikverständnis bildet den Teil des Sprachbewusstseins ab, an dem sich besonders gut nachweisen lässt, warum und unter welchen Einflüssen ein Grammatikograph genau jene Grammatik geschrieben hat, die uns vorliegt.


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Wie in den Ausführungen des theoretischen Teils festgestellt wurde, besteht bei einer historischen Sprachbewusstseinsanalyse die Notwendigkeit, die expliziten Sprachreflexionen, die sich diesem Ausschnitt seines Sprachbewusstseins zuordnen lassen, aufgrund der historischen Distanz immer auch im Rahmen der geschichtlichen Gegebenheiten wahrnehmen zu müssen. Daher setzt sich die Untersuchung des Grammatikverständnisses eines Grammatikographen aus zwei wesentlichen Tätigkeiten zusammen, nämlich dem Analysieren des Textes auf in ihm enthaltene explizite Sprachreflexionen, die für unsere Fragestellung interessant sind, und der Interpretation und Auswertung dieser Textstellen im Rahmen des diskursiven Umfelds der Texte. Präzisiert man diese Differenzierung im Hinblick auf die methodische Vorgehensweise, so sind zwei Untersuchungsschritte vorzunehmen. Im ersten Untersuchungsschritt sollen aus dem betreffenden Grammatiktext die expliziten Sprachreflexionen ausgewählt werden, die Auskunft über den Inhalt und die Grundlagen des Grammatikverständnisses geben. Im zweiten Schritt geht es darum, Sprachreflexionen unter Rückgriff auf die ihnen zu Grunde liegenden Bildungs- und Erfahrungshintergründe zu interpretieren.

3.2.1.1. Auswahl der zu analysierenden Sprachreflexionen

Die Auswahl der zu untersuchenden Textstellen richtet sich nach den folgenden Einzelfragen, die zur Aufschlüsselung der oben genannten allgemeinen Frage zum Grammatikverständnis dienen und deren Teilaspekte wiedergeben. Ihre Reihenfolge ergibt sich aus dem oben dargelegten Zugang zum Text mittels der Analyse der Verwendungsweise von Grammatik in den einzelnen Sprachreflexionen und der anschließenden Untersuchung der Bildungs- und Erfahrungshintergründe, die diesen Sprachreflexionen zugrunde liegen.110

  1. Wie verwendet der Textproduzent das Wort Grammatik?111
  2. Gibt der Textproduzent eine explizite Definition des Grammatikbegriffs? [Seite 61↓] 
  3. Welche grammatikographischen Tendenzen und Traditionen kritisiert der Textproduzent?

  4. An welchen Autoritäten orientiert sich der Textproduzent?
  5. Welche Terminologie verwendet der Textproduzent, um die deutsche Grammatik zu beschreiben?
  6. Wie wendet der Textproduzent die klassischen grammatikographischen Konzepte auf die deutsche Sprache an?
  7. Worin bestehen die sprachtheoretischen Grundlagen seines Grammatikverständnisses?
  8. Welche Motive führt der Textproduzent für seine Beschäftigung mit derGrammatik an?

3.2.1.2. Interpretationsansatz

Die Interpretation der expliziten Sprachreflexionen ist bei der historischen Sprachbewusstseinsanalyse untrennbar mit der Erschließung der ihnen zu Grunde liegenden Bildungs- und Erfahrungshintergründe verbunden. Unter dem Sammelbegriff Bildungs- und Erfahrungshintergründe werden all jene Bildungs- und Erfahrungsinhalte subsumiert, die ein Sprecher während seiner “sekundären Sprachsozialisation”112 erworben hat, wobei es sich sowohl um erlernte Bildungsinhalte als auch um sprachreflektorisch gemachte Erfahrungen handeln kann.

Ins Blickfeld der historischen Sprachbewusstseinsanalyse rücken vor allem jene Hintergründe, die in den einzelnen Sprachreflexionen aktualisiert wurden. Im Fall der historischen Grammatikschriften ist zu erwarten, dass aus der Gesamtmenge der Bildungs- und Erfahrungshintergründe hauptsächlich diejenigen erschließbar sind, bei denen es sich um erlernte Bildungsinhalte handelt, da sich diese aus der Kenntnis der geistesgeschichtlichen Gegebenheiten jener Zeit und der Biographie des Grammatikographen herleiten und mit diesen abgleichen lassen.

Schon die im Kapitel 3.1. dargelegte Vielschichtigkeit des Wortes Grammatik macht deutlich, wie wichtig die genaue Klärung des Verständnisses bei den  [Seite 62↓]  einzelnen Grammatikographen ist. Die Frage danach, wie der Textproduzent Grammatik verwendet, bzw. ob er es als Begriff explizit definiert und an welchen Autoritäten er sich dabei orientiert, ermöglicht einen ersten Einblick in sein Grammatikverständnis und die geistesgeschichtliche Verortung dieses Ausschnitts seines Sprachbewusstseins. Dabei wird es von besonderem Interesse sein, was der Textproduzent gerade hinsichtlich des inhaltlichen Aspekts unter Grammatik versteht, da letztlich hierin seine Wahrnehmung der deutschen Sprache und die sprachtheoretischen Grundlagen seines Grammatikverständnisses greifbar werden.

Wegen der im Verhältnis zur heutigen Wissenschafts- und Grammatikauffassung weitestgehend unterschiedlichen Grundbedingungen der frühneuhochdeutschen Grammatikschreibung ergibt sich des Weiteren die Notwendigkeit, die Motive zu klären, die die Reflexionen der jeweiligen Grammatikographen leiteten. Denn die Motive können zu einem großen Teil Aufschluss darüber geben, warum sich der Textproduzent in einer bestimmten Weise über Sprache äußert und welche Bildungs- und Erfahrungshintergründe er darin aktualisiert.

Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, aus welchem Grund sich der einzelne Textproduzent auf grammatikographischem Weg mit der deutschen Sprache auseinander setzt und welche Intentionen er mit seinem Projekt verknüpft. Entscheidend für deren Beantwortung ist die Untersuchung der Adressatenausrichtung des Grammatikographen. Die Auseinandersetzung mit der Adressatenorientierung nimmt Rücksicht auf den didaktischen Kontext der frühen deutschen Grammatikschriften. Mit deren Ausrichtung auf verschiedene Zielgruppen hängt untrennbar die Art der grammatikographischen Darstellung der deutschen Sprache zusammen.

Daneben ist es aber für die Beleuchtung der wissenschaftsgeschichtlichen Position dieser Texte von großem Interesse, welche Motive neben dem didaktischen Faktor Einfluss auf das jeweilige grammatikographische Projekt hatten. Es sind vor allem auch religiöse Positionen zu beachten, die in ihrer Auswirkung auf das gesamte Weltbild eminenten Einfluss auf das Grammatikverständnis und die Motive der Grammatikographen hatten. Dies gilt besonders für das 16. Jahrhundert, da die Beschäftigung mit der deutschen Grammatikographie durch die gesellschaftlichen und ideellen Veränderungen im Zuge der Reformation entscheidend vorangetrieben wurde.

Wie bereits in den Erläuterungen zur historischen Verwendungsweise von  [Seite 63↓]  Grammatik festgestellt worden ist, steht die Beschäftigung mit der Grammatikschreibung in der Frühen Neuzeit unter dem dominanten Einfluss der klassischen griechisch-lateinischen Tradition, die in der Bildungsbewegung des Humanismus eine neue Blüte erfahren hat. Es scheint daher insbesondere auch im Hinblick auf die frühen Entwicklungsprozesse der deutschen Grammatikographie im 16. Jahrhundert interessant, die Art des Grammatikverständnisses der einzelnen Grammatikschreiber unter dem Gesichtspunkt des Spannungsfeldes Tradition versus Innovation zu betrachten. Hierfür ist zu untersuchen, inwieweit sich die deutschen Grammatikographen der klassischen Tradition der Grammatikographie anschlossen, bzw. ob und in welcher Form ihr Grammatikverständnis auch neue und selbständige Gedanken zur grammatikographischen Darstellung des Deutschen aufweist. Dies lässt sich z.B. in besonderem Maß an der Terminologie und den grammatikographischen Paradigmen ablesen, die der Grammatikograph nutzt, um die deutsche Sprache zu beschreiben, aber ebenso am allgemeinen Aufbau seiner Grammatikschrift. Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob der Textproduzent seine Abhandlung analog zur klassischen Einteilung der Grammatikliteratur aufbaut und ob er Terminologien unverändert übernimmt, übersetzt oder einzelne Termini für die deutsche Sprache überdenkt.

Neben diesen Punkten und der Verwendungsweise des Grammatikbegriffs durch den Textproduzenten sind es vornehmlich die Aussagen, die sich lobend oder kritisch mit anderen Grammatikschriften oder auch ganzen Traditionslinien der Grammatikographie auseinander setzen, die Aufschluss darüber geben, an welcher Stelle ihr Verständnis von Grammatik positioniert ist, d.h. an welche bisherigen Grammatiktraditionen sie sich anlehnen und welche Tendenzen sie kritisieren. Die Klärung der Motive und sprachtheoretischen Hintergründe bildet wiederum die Basis für einen Einblick in die Ursachen und Rahmenbedingungen der unter dem Aspekt von Tradition versus Innovation beschriebenen grammatikographischen Vorgehensweise. Ein eingehenderer Blick auf den Aspekt von Tradition versus Innovation scheint vor allem auch für die Überprüfung einer weitverbreiteten Forschungsansicht angebracht, die seit dem 19. Jahrhundert die Bewertung der frühen Grammatiken des Deutschen beeinflusst, nämlich die der Unselbständigkeit der frühneuzeitlichen deutschen Grammatikographen gegenüber der lateinischen Tradition und der damit verbundenen “mangelnden  [Seite 64↓]  strukturellen Durchdringung der deutschen Sprache”113 in jenen Schriften.

3.2.2. Quellenaufbau und Untersuchungsfokus

Bei einer ersten Sondierung der Quellen stellte sich heraus, dass die Unterteilung der Texte in Vorrede und den eigentlichen grammatikographischen Darstellungsteil bei der Untersuchung und Bewertung der einzelnen Sprachreflexionen berücksichtigt werden muss. So findet sich hauptsächlich in den Vorreden eine Häufung von sprachreflektorischen Passagen, welche in besonderem Maß zur Beantwortung der Frage nach dem Grammatikverständnis beitragen können. Indem die Vorreden die Position des Verfassers in den Diskursen der Zeit verdeutlichen114, geben sie entscheidenden Aufschluss über die Standpunkte des einzelnen Grammatikographen zur Grammatik und Grammatikschreibung.

Vorreden sind in den Drucken seit dem Ende des 15. Jahrhunderts weit verbreitet.115 Sie tragen die Funktion von Begleittexten, die den folgenden Haupttext erläutern und textübergreifende Informationen enthalten.

Die Vorrede wird anerkannt als besondere Textsorte, in der intensive Prozesse der Versprachlichung mannigfaltiger Probleme, die verschiedene Lebens- und Kulturbereiche betrafen, dokumentiert sind. Spezifische kommunikativ-pragmatische Intentionen der Vorrede und die Freiheit in der Themenwahl machten diese Textsorte unter anderem zu einem Ort für exklusive Äußerungen, die zum Ziel hatten, das Wissen des Lesers zu erweitern und seine Vorstellungen in eine bestimmte Richtung zu lenken.116

Die Durchsetzung von Vorreden in den Drucken der Frühen Neuzeit steht im  [Seite 65↓]  Zusammenhang mit einer durch den Humanismus und den Buchdruck veränderten literarischen Öffentlichkeit. Die Verfasser, Übersetzer, Drucker oder Herausgeber ordneten die Werke über die in der Vorrede gemachten Aussagen in diese Öffentlichkeit ein und warben für ihre Veröffentlichung und damit letztlich ebenso für sich selbst. Da sich die Textproduzenten in den Vorreden neben den rein textbezogenen Aussagen auch über persönliche, zeitgeschichtliche, religiöse und andere Angelegenheiten äußerten, trägt diese Textsorte immer auch den Charakter eines Selbstzeugnisses, das Rückschlüsse auf die historischen und soziokulturellen Hintergründe des Gesamttextes ermöglicht.

Während sich in den Vorreden der lateinischen Schulgrammatiken aufgrund der Anknüpfung an die intertextuell geprägten humanistischen Veröffentlichungen117und des bereits stark entwickelten Personen- und Textnetzes118 der lateinischen Grammatikliteratur feste Autoritäten und Topoi etabliert hatten, stehen die deutschen Grammatikschreiber am Beginn dieser Entwicklung, da eine kontinuierliche Tradition der deutschen Grammatikschreibung erst im 16. Jahrhunderts begründet wurde. Deshalb müssen die Grammatikographen in ihren Schriften deutlich machen, wem sie sich in ihrer Tätigkeit anschließen wollen beziehungsweise wer ihre Gegner sind, und sie müssen sich dementsprechend zunächst entscheiden, welche rhetorischen und literarischen Leitbilder sie übernehmen wollen. Ihre Selbstpositionierung findet nicht in einem ausgeprägten Personen- und Textnetz wie dem der lateinischen Schulgrammatik statt, sondern die Autoren früher deutscher Grammatiken müssen sich die Basis für ein solches Netz zunächst erschließen und es für die deutsche Grammatikographie rechtfertigen.119

Die systematischen Darstellungsteile zeichnen sich im Gegensatz zu den Vorreden dadurch aus, dass sie fast ausschließlich aus verschriftlichten Sprachreflexionen  [Seite 66↓]  bestehen, die sich mit dem Aufbau der deutschen Sprache beschäftigen. Bei diesen Sprachreflexionen ist die Nähe zum grammatikographischen Muster der Lateingrammatiken unübersehbar, obwohl auch die Auswahl und Übertragung der Muster einer konzeptionellen Vorüberlegung bedarf.120Während wir in diesen grammatikalischen Abhandlungen aber vor allem die Art der Beschreibung der deutschen Grammatik auf der Basis der Auseinandersetzung mit den lateinischen und griechischen Vorgaben untersuchen können, lassen sich aus den Vorreden die grundsätzlichen programmatischen Positionen der Grammatikographen bezüglich der deutschen Grammatikschreibung ablesen.

Die vorliegenden Forschungsarbeiten konzentrierten sich bisher insbesondere auf die sprachsystematischen Teile der Grammatikschriften und wenig oder kaum auf die Vorreden, da deren Verbindung mit den eigentlichen grammatikographischen Teilen der Schriften marginalisiert wurde.121 Wenn es jedoch darum gehen soll, die frühneuzeitliche Wahrnehmung von Grammatik in ihrer Einbettung in die historischen Diskurse zu erfassen, so müssen gerade aber auch die Textstellen einbezogen werden, die Aufschluss über die Selbstverortung und Intentionen der Grammatikographen geben. Nicola McLelland stellt in ihrem Artikel zu den Grammatiken von Albertus und Ölinger fest, dass ein enger Zusammenhang zwischen “the decisions the authors make about the language on the one hand, and the metalanguage and organizational principles they use to present the results of those decisions on the other hand”122 anzunehmen ist.

Deshalb sollen in den Grammatikanalysen dieser Arbeit Sprachreflexionen aus beiden Textteilen im Fokus der Auseinandersetzung stehen. Anhand einer auch vergleichenden Untersuchung von Sprachreflexionen in den Vorreden und den Darstellungsteilen soll zum einen das Grammatikverständnis des Autors in seiner gesamten Spannweite und Differenziertheit erschlossen und zum anderen die Auswirkungen seiner programmatischen Aussagen in den Vorreden auf die Ausführungen im systematischen Teil überprüft werden.


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3.2.3.  Das Analysevorgehen bei den einzelnen Sprachreflexionen

Die Untersuchung der ausgewählten expliziten Sprachreflexionen123 konzentriert sich im Besonderen auf Schlüsselwörter und argumentative Strukturen, mittels derer die Bildungs- und Erfahrungshintergründe der Sprachreflexionen und deren Rolle in der Grammatikkonzeption erschlossen werden können.

3.2.3.1. Schlüsselwörter

Als Schlüsselwörter werden in dieser Studie diejenigen Wörter bezeichnet, deren Bedeutungsinterpretation aufgrund ihrer zentralen semantischen Rolle in den untersuchten Textstellen erst ein Gesamtverständnis der jeweiligen Sprachreflexion ermöglicht. Bei der Analyse der einzelnen Textstellen stellt die Auseinandersetzung mit den Schlüsselwörtern die zentrale Aufgabe dar. So ist es z.B. im Zusammenhang mit der Frage nach dem Grammatikbegriff des Textproduzenten von besonderem Interesse, mit welchen Wörtern er den Begriff erklärt, umschreibt bzw. auch übersetzt.

Bei der Untersuchung des Grammatikverständnisses in den einzelnen Grammatiken werden zum einen die verwendeten grammatikographischen Fachtermini als Schlüsselwörter betrachtet124, da sich aus ihnen zumeist ein Anknüpfungspunkt für die Erschließung der Bildungs- und Erfahrungshintergründe des Textproduzenten, aber auch für dessen Intentionen ergibt. Zum anderen zählen ebenso theologische und philosophische Begriffe zu den zu untersuchenden Schlüsselwörtern, da auch sie solche Anknüpfungspunkte für die Interpretation der Sprachreflexionen darstellen.

Die Vorgehensweise bei der Auswahl und Interpretation der Schlüsselwörter im Kontext dieser Untersuchung gestaltet sich so, dass in den ausgewählten Textstellen in erster Linie die Schlüsselwörter im Blickpunkt des Analyseinteresses stehen, die aufgrund ihrer exponierten Position in den Zitaten entscheidende Erkenntnisse über das Grammatikverständnis des Textproduzenten  [Seite 68↓]  gewinnen lassen. Eine entscheidende Rolle bei der Interpretation dieser Schlüsselwörter spielt der Bedeutungswandel einzelner Wörter, der es notwendig macht, ihre historische Bedeutung über Wörterbücher125 und den Kontext zu erschließen. Indem die Wörterbücher neben dem Bedeutungsumfang der Schlüsselwörter auch Auskunft über die typischen frühneuzeitlichen Verwendungsweisen geben, ermöglichen sie einen Einblick in intertextuelle Verknüpfungen. So ist es zum Beispiel für die Erschließung der Grundlagen des Grammatikverständnisses des Textproduzenten als Teil seines Sprachbewusstseins von explizitem Interesse, ob Schlüsselwörter, die im Zusammenhang der Äußerungen zur deutschen Grammatik stehen, sonst vor allem in theologischen oder philosophischen Kontexten zu finden sind. Dies würde auf einen Einfluss damals aktueller Diskurse auf das Grammatikverständnis des Textproduzenten schließen lassen und verweist auf die erweiterten kulturellen Bedeutungszusammenhänge, die jenseits der aus heutiger Sicht diskursautonomen grammatikographischen Darstellung der deutschen Sprache in der Einbindung allgemeiner frühneuzeitlicher geistesgeschichtlicher Überlegungen in die frühe deutsche Grammatikschreibung bestehen.

3.2.3.2. Argumentative Strukturen

Neben der Untersuchung einzelner Sprachreflexionen auf Grundlage der Klärung von Schlüsselwörtern sollen auch die argumentativen Strukturen126 der Grammatiktexte analysiert werden.127 Es geht dabei um die Art der Anordnung und der Textfunktion der untersuchten Sprachreflexionen und um die darin deutlich werdende Struktur der Argumentation (hauptsächlich die des  [Seite 69↓]  BEHAUPTENS und BEGRÜNDENS), die der Grammatikograph nutzt, um den angestrebten Leser- und Nutzerkreis128 von der Notwendigkeit und Richtigkeit seines grammatikographischen Anliegens zu überzeugen. Ebenso geht es darum, die Topik in den einzelnen Argumentationssträngen zu untersuchen, da der Autor über diese intertextuelle Bezüge zu bestimmten Diskursen herstellt.

Für die argumentative Gestaltung eines Textes ist entscheidend, an welche Rezipienten sich dieser wendet und welche Intention der Textproduzent hat. Letztere “impliziert die Motivation und den interaktional bedingten Anlass des Textproduzenten zum Sprechen/Schreiben”129. Die Auseinandersetzung mit der Adressatenausrichtung der Grammatiken und den Motiven der einzelnen Grammatikographen bildet somit eine wichtige Basis für die Untersuchung der argumentativen Strukturen.

Über die Analyse der argumentativen Textgestaltung, mittels derer der Textproduzent seine zentralen Positionen zu Grammatik und Grammatikschreibung präsentiert, lassen sich weitere Erkenntnisse darüber gewinnen, welchen Wert der Grammatikograph seinem Buch und letztlich der deutschen Grammatikschreibung sowie der deutschen Sprache überhaupt zuerkennt, womit ein wesentlicher Teil seines Grammatikverständnisses und damit seines Sprachbewusstseins berührt ist.


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3.2.4.  Hilfsmittel

Als Hilfsmittel für die Analyse der ausgewählten Textzitate werden folgende Wörterbücher herangezogen:

Wie schon in Kapitel 3.2.3.1. ausgeführt, werden die historischen Wörterbücher genutzt, um die Bedeutung der Schlüsselwörter in den untersuchten Textstellen erschließen zu können. Dafür werden die zu den betreffenden Lemmata gegebenen verschiedenen Bedeutungserklärungen der einzelnen Wörterbücher verglichen und gegenübergestellt und die im vorliegenden Fall zutreffende Bedeutung unter Einbezug des Kontextes und teilweise auch des biographischen Hintergrundwissens über den Textproduzenten ermittelt.


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3.3.  Quellenauswahl

Im dritten Teil dieser Arbeit werden zwei Grammatikschriften aus dem 16. Jahrhundert analysiert. Es handelt sich dabei um die “Teutsche Grammatica” des Valentin Ickelsamer und die “Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst” des Laurentius Albertus.

Der Beschränkung auf Grammatiken des 16. Jahrhunderts liegen zwei Hauptüberlegungen zu Grunde. Zum einen gibt es für diese Phase der deutschen Grammatikographie nur eine begrenzte Anzahl von Forschungsarbeiten, die aber gerade im Hinblick auf den Zusammenhang von historischem Kontext und dem spezifischen Grammatikverständnis einzelner Grammatikographen viele Fragen offen lassen. Zum anderen stellt die deutsche Grammatikschreibung besonders im 16. Jahrhundert aufgrund des schon mehrfach genannten kaum ausgebildeten Personen- und Textnetzes ein überaus interessantes Forschungsobjekt für die Sprachbewusstseinsgeschichte dar, da die Auswahl- und Anschlussmöglichkeiten der Grammatikographen eine Vielzahl von eigenständigen Sprachreflexionen notwendig machten, die auf der Resultatsebene im Text und hier vor allem in den Vorreden ablesbar sind. Diese programmatischen Vorüberlegungen zur Position einer Grammatikschreibung der deutschen Sprache sehen sich unter anderem von den großen gesellschaftlich-religiösen Veränderungen im 16. Jahrhundert beeinflusst.

Hinsichtlich der verschiedenen wissenschaftlichen Klassifizierungskriterien für Grammatiken ist festzustellen, dass die beiden ausgewählten Grammatikschriften darin übereinstimmen, dass es sich bei ihnen bezüglich ihres Gegenstandsbereichs um Korpus-Grammatiken handelt, deren Beschreibungsumfang sich an der Systematik der Lateingrammatiken orientiert. Sie beziehen sich auf die Einzelsprache Deutsch. Blickt man auf ihre Ausrichtung und die angesprochenen Rezipienten, gehören beide in einen pädagogischen Kontext.

Die Grammatik Valentin Ickelsamers wurde für die Analyse ausgewählt, da uns mit diesem Text die erste deutschsprachige Grammatik vorliegt, die sich selbst als solche bezeichnet, wenn sich die Schrift auch zum größten Teil als Leselehre präsentiert. Mit Ickelsamer begegnet uns ein Grammatikograph, dessen grammatikographische Bemühungen zwar vor dem Hintergrund seiner pädagogischen Tätigkeit als Schulmeister zu sehen sind, dessen politisches  [Seite 72↓]  Engagement in den Umbruchsprozessen der Reformationszeit sowie seine religiöse Bindung an die Schwärmerbewegung jedoch ebenfalls einigen Einfluss auf seine Beschäftigung mit der deutschen Sprache erwarten lassen. Obwohl sich die Forschung bereits mehrfach unter verschiedenen Fragestellungen mit der Grammatik Ickelsamers auseinander gesetzt hat, ist bisher die konkrete Einflussnahme der verschiedenen Bildungs- und Erfahrungshintergründe Ickelsamers und insbesondere die seiner religiös motivierten Sprachauffassung auf sein Grammatikverständnis und damit auf seine Grammatikkonzeption kaum umfassend untersucht worden. An diesem Desiderat setzt die hier vorgenommene Sprachbewusstseinsanalyse des Ickelsamerschen Textes an.

Die lateinisch verfasste Grammatik des Laurentius Albertus bildet den Gegenstand der Analyseskizze130, die sich an die Detailuntersuchung von Ickelsamers TG anschließt. Sie ist deshalb ausgewählt worden, da sie in der Forschung übereinstimmend als erste vollständige Grammatik der deutschen Sprache angesehen wird.131 Der gewichtigste Grund für die Beschäftigung mit diesem Text liegt aber darin, dass uns mit Albertus ein katholischer Grammatikograph begegnet. Damit zählt er zu einer zahlenmäßig kleinen Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert132. Die Frage, wie sich dieser religiöse Hintergrund neben anderen Bildungs- und Erfahrungshintergründen auf Albertus’ Grammatikverständnis und somit auf sein Sprachbewusstsein auswirkt, lässt sich im Besonderen anhand des umfangreichen Vorwortes gut untersuchen und soll ein Schwerpunkt der Analyseskizze sein.


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3.4.  Grenzen der Untersuchung

Die Probleme einer historischen Sprachbewusstseinsanalyse entsprechen letztlich denen einer jeden Auseinandersetzung mit historischen Texten.

So muss man bei den Drucken der frühen Neuzeit beachten, dass es in dieser Zeit durchaus üblich war, dass die Drucker und Herausgeber zum Teil Eingriffe in die Vorlagen der Autoren vornahmen. Zwischen verschiedenen Druckausgaben gibt es zum Teil erhebliche Textabweichungen, deren Autorisierung durch den Textproduzenten im seltensten Fall vorausgesetzt werden kann. Dies stellt für die Untersuchung des Sprachbewusstseins der Textproduzenten ein großes Problem dar, da man hier in besonderem Maß auf die Authentizität der Texte angewiesen ist. Bei den Vorreden, die wie oben ausgeführt eine wichtige Quelle für verschiedenste Informationen über Motive, Hintergründe und Positionen der Autoren sind, “kann man auch vermuten, daß die Texte nicht immer von denjenigen geschrieben wurden, die sie unterzeichneten, sondern daß sie von diesen bloß bestellt wurden.”133 Diesen Problemen lässt sich nur durch eine gründliche quellenkritische Überprüfung der Texte begegnen.

Neben den quellenspezifischen Problemen sieht sich die historische Sprachbewusstseinsanalyse auch den generellen Schwierigkeiten einer historischen Annäherung ausgesetzt. Trotz aller philologischer und historiographischer Genauigkeit bleibt ihr Blick auf die Bildungs- und Erfahrungshintergründe der Textproduzenten beschränkt. Aus deren Gesamtheit lassen sich lediglich diejenigen ermitteln, die aus der Kenntnis der Biographie und der allgemeinen geistesgeschichtlichen Hintergründe erschließbar werden.

Die Sprachbewusstseinsanalyse kann sich dem Sprachbewusstsein einer historischen Person nur zu einem gewissen Grad annähern, da sie zum einen nur auf die Texte zurückgreifen kann und keine Möglichkeit zu direkten Nachfragen hat, wir aber zum anderen aufgrund unserer historischen Distanz zur Gedankenwelt der Frühen Neuzeit diese erst aus den historischen Quellen rekonstruieren müssen. Mit Hilfe dieser Rekonstruktion versuchen wir, die konkreten Sprachbewusstseins-hintergründe der Grammatikographen zu ermitteln, wodurch auch die historische Sprachbewusstseinsanalyse den Stellenwert einer  [Seite 74↓]  Re-Konstruktion erhält.

Der Prozess des Verstehens historischer Texte setzt immer Interpretationshypothesen voraus, die auf der Basis von geschichtlichem Vorwissen und des theoretischen Zugriffs stehen. Somit unterliegt jede Erkenntnis über den untersuchten Gegenstand der Relativität des eigenen Standorts.134 Für eine objektive Erforschung der Quellen ist es notwendig, die eigene Standortbindung kritisch wahrzunehmen und durch die Quellenkritik135 zu objektivieren.

Auch die historische Sprachbewusstseinsanalyse und damit die Sprachbewusstseinsgeschichte steht vor dem Dilemma der Relativität ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie bemüht sich um einen Einblick in das Sprachbewusstsein des Produzenten der untersuchten Texte, ihre Standortbindung ist aber sowohl im Theorieansatz des Sprachbewusstseinskonzepts als auch in dem Ausgangsort ihres selektiven historischen Blicks zu sehen.

Es geht darum, diese Bedingtheit zu erfassen und aus ihr die Grundlagen für unsere Fragen an und unsere Aussagen über historisches Sprachbewusstsein zu formen. Denn letztlich gilt für die Sprachbewusstseinsgeschichte – trotz aller quellen- und fachspezifischen Unterschiede – dasselbe wie für die Geschichtswissenschaft:

Das, was eine Geschichte zur Geschichte macht, ist nie allein aus den Quellen ableitbar: es bedarf einer Theorie möglicher Geschichten, um Quellen überhaupt erst zum Sprechen zu bringen. Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich dann auf neue Weise im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese. Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.136


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3.5.  Zusammenfassung

In der methodischen Grundlegung ging es darum, unter Rückgriff auf die Überlegungen und Ergebnisse aus dem theoretischen Teil eine Verfahrensweise für die historische Sprachbewusstseinsanalyse zu erarbeiten.

Die konkrete Untersuchungsgrundlage sind zwei historische Grammatiken des Deutschen aus dem 16. Jahrhundert. Es handelt sich dabei um die “Teutsche Grammatica” des Valentin Ickelsamer und die “Teutsch Grammatick oder Sprach-Kunst” von Laurentius Albertus.

Diese Quellen bilden die Basis für die Analyse des Grammatikverständnisses des Textproduzenten. Als Grammatikverständnis wird derjenige Ausschnitt des Sprachbewusstseins bezeichnet, dessen Untersuchung sich mit der Frage beschäftigt, wie das Sprachbewusstsein des Textproduzenten im Hinblick auf dessen Auseinandersetzung mit Grammatikinhaltlich beschaffen ist und auf welchem Fundament es steht. Der Begriff Grammatikverständnis umfasst demnach die einzelnen Sprachreflexionen eines Grammatikographen, Grammatikund Grammatikschreibung betreffend.

Für die Analyse dieses Sprachbewusstseinsausschnitts werden aus den Texten explizite Sprachreflexionen ausgewählt und über die Erschließung der ihnen zu Grunde liegenden Bildungs- und Erfahrungshintergründe interpretiert.

Viele sprachreflektorische Passagen, die der Beantwortung der Frage nach dem Grammatikverständnis in besonderem Maß dienen, finden sich in den Vorreden der Quellen. Dies ist hauptsächlich durch die Funktion der Vorreden bedingt, die darin besteht, den neu entstandenen Text mittels der angeführten oder zitierten Autoritäten und der sowohl kritischen als auch lobenden intertextuellen Verweise in Bezug zu anderen historischen sowie zeitgenössischen Texten zu setzen. Für die Verfasser der frühneuzeitlichen Grammatiken des Deutschen bestand die Hauptaufgabe zudem darin, aufgrund des Mangels an einer kontinuierlichen und institutionalisierten Tradition der muttersprachlichen Grammatikographie zunächst einen Bezugspunkt ihrer Schriften bestimmen und sich selbst mit ihrem Anliegen positionieren zu müssen. Daher ist in den Vorreden der frühen deutschen Grammatiken ein besonders hoher Grad an Sprachreflexionen zum Gegenstand, der Grammatik, sowie zu den Intentionen und Motiven des Textproduzenten nachweisbar.


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In den Einzelanalysen sollen deshalb – systematischer als bisher in der Forschungsliteratur geschehen – sowohl Sprachreflexionen aus den Vorreden als auch aus den Darstellungsteilen untersucht und hinsichtlich ihrer Abhängigkeiten und Unterschiede bewertet werden, um auf dieser Basis einen umfangreichen Einblick in das Grammatikverständnis des Textproduzenten und damit auch in sein uns als Text vorliegendes grammatikographisches Projekt zu erreichen.

Die Analyse der einzelnen Sprachreflexionen setzt zum einen bei den Schlüsselwörtern, zum anderen bei den argumentativen Strukturen an. Als Schlüsselwörter werden die Wörter bezeichnet, deren Bedeutungsinterpretation wegen ihrer zentralen semantischen Funktion in den untersuchten Passagen erst ein Gesamtverständnis der jeweiligen Sprachreflexionen sowie der in ihnen aktualisierten Bildungs- und Erfahrungshintergründe und damit auch eine Einsicht in das Grammatikverständnis des Textproduzenten ermöglicht. Dabei kann es sich zum Beispiel um Fachtermini sowie um theologische und philosophische Begriffe handeln. Durch die historische Distanz, die wir teilweise zu einigen dieser Begriffe haben, aber auch durch den Bedeutungswandel vieler Wörter im Allgemeinen, ist es angeraten, bei der Analyse mit historischen Wörterbüchern zu arbeiten.

Darüber hinaus werden die argumentativen Strukturen untersucht, mittels derer der Textproduzent seine Aussagen zu Grammatikund Grammatikschreibung einem Rezipientenkreis präsentiert. Dies betrifft die Art und Weise, wie der Grammatikograph die Leser vom Wert seines grammatikographischen Unternehmens zu überzeugen sucht, sowie den darin deutlich werdenden Anspruch, den er der deutschen Grammatikographie zuspricht.

Da der dominante Bildungshintergrund für die deutschen Grammatiker im 16. Jahrhundert die klassische Grammatikographietradition war und sie auf dieser Basis zunächst die Position einer Grammatikschreibung der deutschen Sprache begründen mussten, soll bei der Untersuchung des Grammatikverständnisses ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Tradition und Innovation gelegt werden. Dabei soll eruiert werden, in welchem Maß sich die deutschen Grammatikographen der klassischen Tradition der Grammatikschreibung anschlossen oder ob und in welcher Form sie auch eigenständige und neue Gedanken zur grammatikalischen Darstellung der deutschen Sprache äußerten. Ebenso gilt es, die Motive für beide Tendenzen zu erschließen.


Fußnoten und Endnoten

97 Jahreiss (1990), S. 49.

98 In der Folge wird, wenn auf die Verwendungsweise des Wortes Grammatik Bezug genommen werden soll, dieses kursiv gesetzt – wenn ich es jedoch selbst verwende, nehme ich keine typographische Kennzeichnung vor.

99 Nach Bußmann (1990), S. 287f.

100 Ebd.

101 Ebd.

102 Ebd.

103 Vgl. Erben (1989), S. 6ff.

104 Siehe die in der hellenistischen Tradition stehende Definition des Fuldaer Abtes Hrabanus Maurus (um 776-856): “grammatica est scientia interpretandi poetas atque historicos et recte scribendi loquendique ratio.“ Müller (1882), S. 194.

105 Siehe Ueding (1994), S. 221ff.

106 Siehe HWdRh (1992ff.), S. 1136f.

107 Siehe DWb (1984), Sp. 1803.

108 Die beschriebenen vier Verwendungsweisen von Grammatik beziehen sich auf den Bereich der einzelsprachlich orientierten Grammatikliteratur, die auf die pädagogische Praxis abzielt. Die Tradition der philosophischen bzw. allgemeinen Grammatik, die eine zweite grundlegende Linie der Grammatikographie darstellt und im Gegensatz zu den pädagogischen Grammatikschriften einen stärker sprachtheoretisch und allgemeinsprachlich ausgerichteten Ansatz vertritt (siehe Gardt [1999], S. 25), wird an dieser Stelle ausgeblendet.

109 Siehe S. 50.

110 Siehe dazu auch die Ausführungen im folgenden Kapitel.

111 Vgl. dazu die in Kapitel 3.1. vorgestellten unterschiedlichen Verwendungsweisen von Grammatik in der Frühen Neuzeit.

112 Paul (1999a), S. 34.

113 Donhauser (1989), S. 30. Die Autorin kritisiert diese vorherrschende Auffassung und fordert in diesem Zusammenhang eine stärkere Beachtung der Bedingungen frühneuzeitlicher deutscher Grammatikschreibung.

114 Zum Form, Inhalt und Fuktionen von Vorworten als Paratexten siehe Genette (1992), S. 190ff.

115 Im Zusammenhang mit der Entfaltung der kommunikativen Kultur humanistischer Gelehrtenzirkel um 1500 “setzen sich Ende des 15. Jahrhunderts [Vorreden] in Drucken aus dem deutschen Sprachraum durch.” Puff (1995), S. 117.

116 Babenko (1997), S. 289.

117 Wie in den meisten anderen gedruckten Publikationen aus dem deutschen Sprachraum verbreiteten sich Ende des 15. Jahrhunderts die Vorreden auch in den lateinischen Grammatikschriften. Vgl. Puff (1995), S. 117f.

118 “Die Vorreden ordnen den Verfasser und seine Grammatik durch Widmungen, Referenzen sowie die Angabe vorbildlicher Autoren in ein reales oder fiktives Netz von Persönlichkeitsbeziehungen ein, das die Schicht der Literati zu einem Kommunikationszusammenhang verbindet.” Ebd., S. 117.

119 Siehe Donhauser (1989), S. 33.

120 Wie die einzelnen Grammatikographen die deutsche Sprache in das lateinische oder manchmal auch griechische Muster einordneten oder dieses auch teilweise durchbrachen, unterlag ihrer Entscheidung. Vgl. McLelland (2001), S. 7f. und 16ff.

121 Als Ausnahmen seien hier u.a. der Artikel von Karin Donhauser (1989) und die Arbeit von Helmut Puff (1995) genannt.

122 McLelland (2001), S. 34.

123 Zur Auswahl der Textstellen siehe Kapitel 3.2.1.1.

124 Hier ist vor allem zu beachten, ob der Textproduzent die lateinischen Fachtermini übernimmt, oder ob er versucht, diese zu übersetzen und etwa auch ihre Anwendbarkeit auf das Deutsche zu überprüfen.

125 Siehe dazu Kapitel 3.2.4.

126 “Unter ARGUMENTATION verstehen wir – bezogen auf die kommunikative Praxis und nicht auf logische Regeln [...] – jede Art der Beweisführung, die als Begründung für Thesen, Motive und Interessen gehandhabt wird.” Heinemann/Viehweger (1991), S. 249.

127 Vgl. dazu auch die Ansätze der lingusitischen Diskursanalyse. Martin Wengeler führt in seinem Forschungskonzept dazu aus: ˝Mit der Argumentationsanalyse soll ein Zugang geschaffen werden zu den in einem Diskurs zu einer bestimmten Zeit dominanten Denkmustern, da diese sich besonders in öffentlichen Debatten immer auch in Argumentationen pro und contra aktuelle politische Entscheidungen, Überlegungen und Meinungen niederschlagen.“ Wengeler (1997), S. 98.

128 Für die Art der Darstellung spielt die Adressatenausrichtung eine entscheidende Rolle, da mit dem Zielpublikum der Schrift auch deren argumentative Aufbereitung zusammenhängt.“Die Adressatenfrage ist für eine inhaltliche Analyse der Vorreden von besonderer Bedeutung, denn die Zitate und Exempel, welche in die Vorredentexte eingewoben sind, lassen sich zum Teil aus den Huldigungsadressen ableiten. Dort, wo Fürsten angesprochen werden, begründen die Autoren die Notwendigkeit sprachlich-literarischer Bildung für die Herrscher. Dort, wo ein städtischer Rat, einzelne Ratsherren oder andere Institutionen mit Schulaufsichtspflicht angesprochen werden, wird Bildung als Grundlage von Ordnung in Staat und Kirche thematisiert. Ergebenheitsadressen und Lob der Personen, denen die Vorrede gewidmet ist, gehören als beinahe unverzichtbare Bestandteile zur Exordialtopik.” Puff (1995), S. 118.

129 Heinemann/Heinemann (2002), S. 203.

130 Zu den Gründen der inhaltlichen Beschränkung der zweiten Analyse siehe Kapitel 1.2.

131 Dennoch liegen nur wenige Einzeluntersuchungen zu dieser Grammatik vor.

132 Eine kontinuierliche grammatikographische Tätigkeit auf katholischer Seite ist erst seit den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts nachzuweisen, nachdem Schulreformen auch in den katholischen Ländern die deutsche Sprache als Unterrichtssprache an den Gymnasien einführten und der daraus entstehende Fachliteraturbedarf vor allem von den Jesuiten wahrgenommen und bedient wurde. Darüber hinaus stellte auch die landschaftlich-untergliederte Debatte über Normierungs- und Standardisierungsfragen der deutschen Sprache zunehmend ein Motiv für süddeutsche Grammatikographen dar, die mehrheitlich katholischer Konfession waren. Vgl. Jellinek (1913), S. 210 und 245ff.; Jahreiss (1990), S. 48f.

133 Babenko (1997), S. 290.

134 Siehe Koselleck (1979), S. 176ff.

135 “Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können. Falsche Daten, falsche Zahlenreihen, falsche Motiverklärungen, falsche Bewußtseinsanalysen: all das und vieles mehr läßt sich durch Quellenkritik aufdecken. Quellen schützen uns vor Irrtümern, nicht aber sagen sie uns, was wir sagen sollen.” Ebd. S. 106.

136 Ebd. S. 106f.



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23.05.2006