Krasemann, Andreas: Eric Voegelins politiktheoretisches Denken in den Frühschriften

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Kapitel 5. Eric Voegelins politiktheoretisches Denken in den Frühschriften 1925 - 1938: Wertung und Ausblick

Das Anliegen dieser Arbeit ist die systematische Analyse der Schriften Eric Voegelins in dessen früherer Schaffensperiode, den Wiener Jahren zwischen 1925 und 1938. Das Jahr 1925 steht für Voegelins erste größere Auseinandersetzung mit den Auffassungen seines akademischen Lehrers Hans Kelsen in dem Aufsatz Reine Rechtslehre und Staatslehre, das Jahr 1938 hingegen für Voegelins erzwungene Emigration aus Wien und Österreich, die ihn schließlich für lange Zeit in die Vereinigten Staaten von Amerika führen sollte. In diesen Zeitraum, zwischen 1925 und 1938, in welchem Voegelin in Wien die akademische Laufbahn einschlug, fällt unter anderem die Entstehung der Schriften Rasse und Staat (1933), Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus (1933), Der autoritäre Staat (1936) und Die politischen Religionen (1938). Diese Schriften sind in der vorliegenden Arbeit einer systematischen Analyse unterzogen worden.
Zu Beginn der Arbeit wurden drei Fragestellungen aufgeworfen. Auf die ersten beiden Fragen, die sich, erstens, auf die Rassenproblematik und, zweitens, auf Voegelins Kritik an Kelsens „Reiner Rechtslehre“ beziehen, wurde bereits im Rahmen der Zusammenfassungen am Ende der beiden ersten großen Kapitel eingegangen.
Bezugnehmend auf die dritte der am Beginn dieser Arbeit gestellten Fragen, inwieweit sich nunmehr Entwicklungslinien zu den Voegelins späteres Werk kennzeichnenden Fragestellungen bereits in dessen Frühschriften nachweisen lassen, ist festzustellen, daß es einen solchen „roten Faden“ zumindest in inhaltlicher Hinsicht nicht wirklich gibt. Freilich treten an einzelnen Stellen seiner Werke Ausführungen auf, mit denen Voegelin sich schon vorher befaßt hat, jedoch stellen diese keine essentielle Entwicklungslinie dar. So findet sich etwa sowohl im Autoritären Staat als auch in den Politischen Religionen hier und da mal eine Erwähnung der Rassenproblematik, ohne daß diese jedoch zu einer inhaltlich kohärenten Verknüpfung der genannten Werke erwächst.
Vielmehr zeugen die Schriften des hier zu beleuchtenden Zeitabschnittes im Schaffen Voegelins, wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit deutlich gemacht wurde, von Brüchen anstatt von einer kontinuierlichen Entwicklung. Ein „roter Faden“ in Voegelins Denken läßt sich somit zwar nicht in den Inhalten, die Voegelins Schriften zwischen 1925 und 1938 bestimmen, ausmachen, wohl aber ist auf einige interessante Parallelen hinzuweisen.
So stellt das bezüglich Rassentheorie und Rassenidee von Voegelin entwickelte Postulat der einheitlichen Betrachtung von Leib, Seele und Geist eine Konsequenz der von Voegelin eingeforderten umfassend ontologischen Betrachtung dar. Voegelin geht es um eine in der platonisch-aristotelischen Metaphysiktradition stehende Ontologie, die ganz im Gegensatz zu den positivistischen Moden der Neuzeit im besonderen die Anerkennung der Existenz eines transzendenten Bereichs der Seinsordnung einfordert. Der Transzendenzbezug durchzieht Voegelins gesamtes Lebenswerk, und die in den 1930er Jahren in Rasse und Staat aufgestellten ontologischen Postulate wiederholt Voegelin zwanzig Jahre später in seiner Neuen Wissenschaft der Politik fast wortgenau, wenn er schlußendlich ein „Wiedererwachen des Bewußtseins der Prinzipienfragen“ einfordert.
Eine Parallele von Voegelins Autoritärem Staat zu seinem späteren Werk besteht wiederum in dem von Voegelin selbst gesetzten Ziel der Abfassung einer politischen Verfassungslehre Österreichs, die im Gegensatz zu der die österreichische Staatsrechtslehre bestimmenden administrativen Tradition steht. Von dieser ebenfalls in den 1930er Jahren angestellten Überlegung zum Autoritären Staat ausgehend läßt sich zwanzig Jahre später ein Bezug zu Voegelins Abhandlungen über das Repräsentationsproblem in der Neuen Wissenschaft der Politik herstellen. Wenn Voegelin in den 1930er Jahren den Verfassungsübergang von 1933/34 als einen Schritt in der existentiellen Staatswerdung Österreichs bezeichnet, als den Wandel des Stils von Herrschaft weg von einem „administrativen“ hin zu einem „politischen“ Charakter, so läßt sich dieser Prozeß in den Voegelinschen Termini der 1950er Jahre als Schritt zur einer politischen Herrschaft bezeichnen, die dem entscheidenden Kriterium einer „Repräsentation im existentiellen Sinn“ gerecht wird.
In den Politischen Religionen wendet sich Voegelin dann erstmals einem Themenkreis zu, welcher für sein gesamtes späteres Schaffen paradigmatisch wird. Es handelt sich hierbei um eine Untersuchung über das Problem der totalitären Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Eben diese, vor allem Nationalsozialismus und Kommunismus, sind es, die als „politische Religionen“ etikettiert werden.
Das, was Voegelin in seiner 1938 veröffentlichten Schrift „politische Religionen“ nennt, bezeichnet er in seinem späteren Werk als Problem der „Gnosis“. In seiner Neuen Wissenschaft der Politik stellt er den „Gnostizismus“ als ein Wesensmerkmal der Moderne heraus, wobei hier eben jene Entwicklung des Phänomens „politischer Religion“ angesprochen wird, die bereits im frühen Mittelalter ihren Anfang nahm. Sowohl dabei als auch überhaupt wird die Analyse und Interpretation mythopoetischer


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Spekulationen zu einem charakteristischen Element in der wissenschaftlichen Methodik Eric Voegelins. Diese sind es auch, anhand derer Voegelin jenen Erlebnistypus im Ordnungsdenken des Menschen nachzuweisen versucht, welchen er als gnostisch bezeichnet, und demzufolge in seiner Theorie der Geschichte und Politik der Gnostizismus das Wesen der Modernität ausmacht. Der wissenschaftliche Positivismus sowie die politischen Phänomene des Nationalsozialismus und des Kommunismus sind Paradebeispiele dieser Entwicklung.
Die politischen Religionen sind somit von Voegelins Schriften der 1920er und 1930er Jahre dasjenige Werk, in welchem die Vorwegnahme des für Voegelins späteres Werk charakteristischen Denkens sich am stärksten manifestiert. In allen Schriften Voegelins aus der genannten Epoche spiegelt sich von Anfang an dessen geisteswissenschaftliche Ausrichtung, und unter diesem Blickwinkel dessen Interesse für Probleme des Staates als politischer Gemeinschaft, wider.
Voegelin mißt der Rassenidee eine signifikante Rolle im Prozeß der Bildung politischer Gemeinschaften bei. Dies veranlaßt ihn, im Zusammenhang seiner Arbeiten zu einem „System der Staatslehre“ sich mit der Rassenproblematik ausführlich auseinander zu setzen und die Rolle der „Rasse“ bei der Konstituierung politischer Ordnungen zu verdeutlichen. Den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus sieht Voegelin als Auswüchse dieser Entwicklung an. Ebenso als auf Politik ausgerichtetes Interesse ist Voegelins Befassung mit Österreichs autoritärer Verfassung zu erklären. Als Politikwissenschaft im Sinne von Geisteswissenschaft versteht Voegelin im besonderen jenen Bereich einer „Staatslehre“, der die von Kelsen gezogenen Grenzen einer als Rechtslehre verstandenen Staatslehre überschreitet. Genau dieser Bereich ist es, für den sich Voegelin interessiert. Voegelin geht es dabei stets um eine Erklärung der Bestimmungsgründe für die Existenz des Menschen in Gesellschaft, sprich die Erklärungsgründe für politische Ordnung.
Dabei setzte er sich zunächst als Ziel, eine umfassende Staatslehre im politik- und geisteswissenschaftlichen Sinne zu erarbeiten. Diese 1925 in seinem Aufsatz Reine Rechtslehre und Staatslehre gefaßte Zielsetzung versuchte Voegelin mit den Schriften der folgenden Jahre umzusetzen, auch wenn er von dem Vorhaben eines „Systems der Staatslehre“ im engeren Sinne bereits nach 1933 abkommt und sich anderweitigen, aber nach wie vor stets auf den „Staat“ bezogenen Fragen widmet. Gründen sich Rasse und Staat und Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus noch direkt auf dieses Vorhaben, so stehen Der autoritäre Staat und Die politischen Religionen nicht mehr damit in unmittelbarem Zusammenhang. Dennoch widmen sich auch die beiden letzteren Arbeiten dem Wesen „Staat“. Trotz der inhaltlichen Heterogenität und Brüche, die Voegelins Schriften der 1920er und 1930er Jahre charakterisieren, haben sie alle eines gemeinsam: den Gegenstandsbereich Staat aus geisteswissenschaftlicher Sicht, verbunden mit dem ontologischen Postulat der Anerkennung der Existenz eines transzendenten Bereiches der Seinsordnung.
Dieser die Schriften der 1920er und 1930er Jahre durchziehende „rote Faden“ ist freilich sehr dünn und nicht inhaltlicher, sondern mehr methodischer Natur, bedeutsam ist er jedoch im Hinblick auf Voegelins intellektuelle Biographie der auf seine Emigration 1938 folgenden Jahrzehnte. Jener metahistorische Exkurs durch die Ideengeschichte der Menschheit, welchem sich erstmals Die politischen Religionen widmeten, wird für Voegelin zum Daueranliegen und bestimmt die Inhalte der in den 1940er Jahren entstandenen History of Political Ideas und der in den 1950er Jahren veröffentlichten Neuen Wissenschaft der Politik und ersten drei Bände des Hauptwerkes Order and History. Der in den früheren Schriften noch sehr dünne gemeinsame rote Faden hat nunmehr an Gewicht zugenommen, insgesamt wirken die genannten Schriften Voegelins der 1940er und 1950er Jahre inhaltlich kohärenter. Markante Brüche wie in Voegelins früherer intellektueller Biographie treten hier nicht mehr auf. Voegelin hat nunmehr seinen Weg gefunden: die Politische Wissenschaft als „kritische Wissenschaft von menschlicher und sozialer Ordnung“.
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