Krasemann, Andreas: Eric Voegelins politiktheoretisches Denken in den Frühschriften

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Kapitel 4. Verfall der guten Ordnung - Voegelins Politische Religionen

4.1 Grundproblematik

1938, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Autoritären Staates, veröffentlicht Voegelin seine Politischen Religionen. Die zwei letzteren Werke kontrastieren inhaltlich sehr stark miteinander, was den Gegenstandsbereich der Abhandlungen angeht. Die politischen Religionen sind an quantitativem Umfang ein sehr kleines Werk, ganz im Gegensatz zu den umfangreichen Untersuchungen zum Autoritären Staat. Letztere repräsentieren zudem sehr stark noch den Staatsrechtler Voegelin und fallen besonders im letzten Teil der Abhandlungen durch die Untersuchung von Einzelheiten des Staatsorganisationsrechts auf.
Die politischen Religionen markieren einen Wendepunkt, eine Gelenkstelle, im Schaffen Voegelins. Den mit dem „System der Staatslehre“ im Zusammenhang stehenden bzw. aus diesem sich entwickelnden Problemkreis läßt Voegelin nunmehr fast gänzlich hinter sich. Erstmals wendet sich der Autor hier jenem Themenkreis einer Universalgeschichte politischer Ordnungen zu, welcher für sein späteres Schaffen paradigmatisch wird, ein Themenkreis, der in seinen gesamten bis dato entstandenen Schriften kaum beleuchtet worden ist. In seinen vorherigen Schriften waren es hingegen lediglich Einzelaspekte, die auch in sein späteres Schaffen Eingang finden sollten<934>.
Die politischen Religionen sind eine Abhandlung über das Problem der totalitären Massenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Eben jene, vor allem Nationalsozialismus und Kommunismus, sind es, die als „politische Religionen“ etikettiert werden. Es handelt sich dabei wohlgemerkt um eine Untersuchung, die zwar auf Objektivität abzielt, jene politischen Massenbewegungen jedoch angreifen und entlarven will. Voegelin spricht hierbei „jede Art von politischem Kollektivismus“<935> an. Die Untersuchung erhebt den Anspruch, dieses Problem von einer Seite zu beleuchten, die in nahezu aller sonstigen Literatur, die sich mit dem Problem totalitärer Massenbewegungen befaßt, nicht berücksichtigt werde:

„Der politische Kollektivismus ist nicht nur eine politische und moralische Erscheinung; viel bedeutsamer scheint mir das religiöse Element in ihm zu sein. Der literarische Kampf als ethische Gegenpropagagnda ist wichtig, aber er wird bedenklich, wenn er das Wesentliche verdeckt.“<936>

4.2 Die Begriffe „Staat“ und „Religion“

Ausgangspunkt der Betrachtungen Voegelins in den Politischen Religionen ist das Problem der Termini „Staat“ und „Religion“, wie sie in der neuzeitlichen Staatswissenschaft interpretiert werden. Charakteristikum der neuzeitlichen Interpretation der beiden Begriffe ist deren konsequente inhaltliche Trennung voneinander. Diese steht im Gegensatz zu den Ansichten des Mittelalters. Dieses charakterisierte die abendländische Reichseinheit im europäischen Kulturkreis. Beim Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wurde die Einheit des christlichen Reiches, des Sacrum Imperium Romanum, aufgelöst und wich dem Entstehen der modernen Staatenwelt:

„Der Staat und der weltliche Geist haben ihren Geltungsbereich im erbitterten Kampf gegen das heilige Reich des Mittelalters erobert, und in der Kampfsituation haben sich sprachliche Symbole gebildet, welche nicht die Wirklichkeit als solche erkennen, sondern die Gegensätze des Kampfes festhalten und verteidigen wollen.“<937>


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„Staat“ und „Religion“ in der Neuzeit als inhaltsverschiedene Begriffe sind Relikte dieses Kampfes, es sind Sprachsymbole, die sich auf eine bestimmte historische Situation beziehen, aber bis in unsere Gegenwart hinübergerettet worden sind. Nichtsdetoweniger handelt es sich bei diesen Begriffen, so wie bei allen Begrifflichkeiten der Wissenschaft überhaupt, jedoch nur um Sprachsymbole, die immer nur modellhaft sein können. Die Modelle mochten vielleicht für die besagte historische Kampfsituation dienlich gewesen sein, für eine wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens der „politischen Religionen“ sind sie es nach Voegelins Auffassung nicht. Um den Begriff der „politischen Religionen“ erfassen zu können, hält Voegelin es für notwendig, den Religionsbegriff dahingehend zu erweitern, daß dieser nicht nur die Erlösungsreligionen beinhaltet. Vielmehr gibt es auch in der Entwicklung des Staates religiöse Erscheinungen, und deshalb ist zu überprüfen, ob der Staatsbegriff tatsächlich nur ein weltliches Organisationsverhältnis einer Gesellschaft darstellt oder vielleicht doch auch religiöse Bezüge erkennen läßt<938>.
Voegelin führt zunächst, ohne den Autor beim Namen zu nennen, die herkömmliche, von Georg Jellinek stammende Definition von „Staat“ an, wonach der Staat eine „mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“<939> ist. Auf den ersten Blick scheint diese Definition des Staates gänzlich frei von religiösen Bezügen zu sein. Ein Problem tut sich allerdings auf, wenn die Rede von der Ursprünglichkeit der Macht ist. Jede Macht kann gestürzt werden, die Macht eines Staates findet ihre Grenzen sowohl innerhalb des Staates als auch im Verhältnis zu anderen Staaten. Die Vielzahl der Mächte bildet eine hierarchische Ordnung, und es sollte sich die Frage aufdrängen, welche Legitimität dieser Ordnung zugrunde liegt. In der Staatsdefinition Jellineks findet sich eine derartige Fragestellung nicht, die Ursprünglichkeit der Herrschermacht wird einfach nur behauptet. Unter Bezugnahme auf Hegel entwickelt Voegelin die These, daß der Staat den Geist eines Volkes repräsentiert. Mit dem Ineinandertreten verschiedener Staaten in ein Verhältnis zueinander ergibt sich zugleich eine Beziehung zwischen entsprechenden Volksgeistern sowie eine Beziehung der Volksgeister zum Weltgeist. Der Weltgeist befindet über das Schicksal der Volksgeister und damit über das Entstehen und den Untergang von Staaten. Anders ausgedrückt, findet sich in dieser Staatsauffassung eine religiöse Dimension<940>.
Ähnlich stellt Voegelin bei einer entsprechenden Durchforstung des Begriffes „Religion“ auch weltliche Bezüge fest. Zunächst ergründet er das Wesen der Religion in einem spezifischen Erfahrungstypus des Menschen, speziell der menschlichen Seele. Voegelin spricht hierbei unter anderem vom „Urgefühl, [...] tiefer im Lebensgrund als andere Gefühle, und die ganze Existenz von diesem Grund her durchschauernd“<941> und von einem „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, um das Erlebnis der Bindung an ein überpersönliches, übermächtiges Etwas zu zeichnen.“<942> Eine solche Begriffsumschreibung zur Religion subsumiert nicht nur die gemeinhin bekannten Weltreligionen, die sich bewußt zu einem transzendenten Gott bekennen, unter sich.
Auch auf atheistische Bewegungen trifft derselbe Erlebnistypus zu wie auf die klassischen Weltreligionen, auch hier findet sich jenes „Urgefühl“ und jener missionarische Eifer wieder, auch wenn sich die Atheisten des transzendenten Charakters ihrer Bewegung nicht bewußt sein mögen. Die klassischen Weltreligionen und der missionarische Atheismus repräsentieren lediglich zwei verschiedene Varianten ein und desselben Erlebnisses der Religiosität. Voegelin:

„Wir müssen daher eine sprachliche Entscheidung fällen: die Geistreligionen, die das Realissmimum im Weltgrund finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen.“<943>


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Die innerweltlichen Religionen sind das, wozu auch die „politischen Religionen“ zu zählen sind<944>. Die religiöse Natur der politischen Massenbewegungen gilt es nach Voegelin zu erfragen und zu untersuchen. Voegelin geht von der Realexistenz religiöser Kräfte des Guten und Bösen aus. Die religiösen Kräfte des Bösen können jedoch aufgrund ihres welttranszendenten Charakters nicht einfach mit den weltimmanenten Werten der Humanität und Sittlichkeit bekämpft werden. Hierzu bedarf es, so Voegelin, ebenso welttranszendenter religiöser Kräfte des Guten, die dem Satanischen entgegenzuhalten sind. Der Großteil der Literatur sieht diese religiöse Komponente des Gesamtproblems jedoch nicht und kritisiert die totalitären Bewegungen lediglich als sittlich und moralisch verwerflich. Das Kernproblem wird durch eine solcherart verengte Sicht bei der Mehrheit der Kritiker nicht freigelegt<945>.
Für den Wissenschaftler Voegelin muß sich ein solches auf der Ebene von Meinungen, nicht jedoch Wissenschaft, geführtes Unternehmen als wenig ergiebig und trostlos erweisen. Die Kritiker, über die Voegelin hier spricht, seien es nun, die ihm, Voegelin, eine neutrale Haltung zum Nationalsozialismus und den anderen totalitären Massenbewegungen vorwerfen. Diesen Vorwurf verteidigt Voegelin mit dem Postulat der wissenschaftlichen Betrachtung des Problems, der diese vermeintlich neutrale Haltung dient. Daß Voegelin die Massenbewegungen des politischen Kollektivismus ablehnt, wird im Vorwort zu den Politischen Religionen nicht verhehlt. Voegelin sieht sein Ziel jedoch nicht in der Abfassung einer Kampfschrift:

„Wenn meine Darstellung den Eindruck erweckt, als sei sie zu ‚objektiv’ und ‚werbe’ für den Nationalsozialismus, so scheint mir dies ein Zeichen dafür zu sein, daß sie gut ist - denn das Luziferische ist nicht schlechthin ein sittlich Negatives, ein Gräuel, sondern eine Kraft, und zwar eine sehr anziehende Kraft; und die Darstellung wäre schlecht, wenn sie den Eindruck hervorriefe, als handle es sich nur um eine sittlich minderwertige, dumme, barbarische, verächtliche Angelegenheit. Daß ich die Kraft des Bösen nicht für eine Kraft des Guten halte, geht für jeden, der für religiöse Fragen nicht stumpf ist, deutlich aus dieser Abhandlung hervor.“<946>

4.3 Echnaton - „politische Religion“ im alten Ägypten

Nach der Skizzierung des Grundproblems der Begriffe von „Staat“ und „Religion“ und der systematischen Einordnung des Phänomens der „politischen Religionen“ geht Voegelin zu einer groben Darstellung der metahistorischen Genese derselbigen über. Er beginnt mit einer Abhandlung über den Sonnenglauben der Ägypter, in welchem Voegelin die älteste „politische Religion“ erblickt.
Den Ausgangspunkt hierzu stellt der Sonnengott Horus dar. Die vordynastischen Könige der beiden in archaischer Zeit noch getrennten Reiche des oberen und unteren Ägyptens galten als Diener dieses Sonnengottes. Sie werden später als Götter verehrt. Mit dem Beginn der dynastischen Königsherrschaft dann gelten die Könige Ägyptens als Nachfolger des Horus und führen dessen Namen als Titel. Nach deren Ableben werden auch diese dann als Götter verehrt. Somit sind die Grundlagen einer Staatsreligion gelegt<947>.
Im weiteren Verlauf kommt es zu einem politischen Machtkampf. Die Verehrung der Götter ist eine Aufgabe, die zwar nur dem König zusteht, von diesem aber an Priester delegiert wird. Neben dem Sonnengott Horus gibt es eine Vielzahl lokaler Gottheiten, und alle haben eigene Priesterkollegien. Es kommt also zu einem Machtkampf zwischen den Priesterkollegien im Wettstreit, das Ansehen der jeweils eigenen Gottheit zu stärken und diese als die höchste anerkennen zu lassen. Der König nimmt


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als Funktion die Vermittlung zwischen Gott und Mensch wahr. Ziel des Kampfes zwischen den lokalen Priesterkollegien ist es dabei, den jeweils eigenen Gott als dem Horus nahestehendsten anerkannt zu wissen. Dieser Machtkampf wird im Übergang von der vierten zur fünften Dynastie schließlich zugunsten des Sonnengottes von Heliopolis, den „Re“, entschieden. In der Folgezeit gilt der ägyptische König als leiblicher Sohn des Re. Der Titel als Sohn des Re ersetzt später den alten Horustitel. Der Kult des Re wird zur neuen Staatsreligion<948>.
Sie überdauert auch den Untergang des Alten Reiches Ägyptens sowie die darauf folgende erste Zwischenzeit und findet sich auch im nun folgenden Mittleren Reich wieder. Es kommt allerdings zu einer Verlagerung des politischen Zentrums Ägyptens von Memphis nach Theben, die eine Aufwertung der thebanischen Lokalgottheit „Amon“ nach sich zieht, die nun zum Sonnengott „Amon-Re“ wird. Außerdem wird eine Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus bereits erkennbar, indem sich nunmehr die lokalen Gottheiten zunehmend als Gestalten des Amon-Re offenbart sehen<949>.
Auf das Mittlere Reich folgt eine zweiten Zwischenzeit, die Zeit der Hyksosinvasion, und schließlich das Neue Reich<950>. Die Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus schreitet fort. Die lokalen Priesterschaften werden zu einer einzigen vereinigt, an deren Spitze steht der Hohepriester des Amon, der dem Staatstempel in Theben vorsteht. In der Periode des Neuen Reiches expandiert Ägypten zum Weltreich, dem entspricht die Entwicklung der Staatsreligion.
Im besonderen wurde für die Bezeichnung des Sonnengottes der Name „Aton“ üblich, was in früheren Zeiten bereits ein Synonym für die „Sonne“ gewesen war. Mit dieser Bezeichnung wird die Entwicklung zur monotheistischen Religion, die mit der Integration der Lokalgottheiten im Mittelreich ihren Anfang genommen hatte, vollendet. Unter Amenothep IV. wird der Aton als höchster Gott eingeführt. Auch wenn dessen Identität mit dem Re nicht bestritten wird, so geht dessen Kult über den der Sonne als sichtbaren Gott hinaus. In Voegelins Interpretation heißt das:

„Aton ist nicht die Sonnenscheibe, sondern ‚die Glut, die in der Sonne ist’, Aton ist ‚der Herr der Sonne’, der neue Gott ist das lebenspendende Prinzip als solches, wie es in der Wirkung der Sonne sich offenbart.“<951>

In konsequenter Fortführung der Entwicklung zum Monotheismus werden die alten Priesterkollegien und ihre Lokalgottheiten beseitigt, „und schließlich änderte der König seinen eigenen Namen in Echnaton - ‚Es ist dem Aton angenehm’.“<952> Alle Spuren, die auf die früheren Lokalgottheiten und auf den Sonnengott Amon hinweisen, verschwinden, das politische Zentrum des Reiches verlagert sich abermals. Der Aton wird zum Reichsgott, die politische Staatsreligion Ägyptens ist vollendet. Sie erreicht zur Zeit des Königs Echnaton ihren Höhepunkt. Erst nach Echnatons Tod tritt eine rückläufige Entwicklung ein, die in dem Wiedererstarken der alten Lokalgottheiten besteht, die von Echnaton ausgeschalteten Priesterschaften und das Militär gewinnen an Einfluß<953>.
Am Schluß seiner Darstellung über den Sonnenglauben der Ägypter als dem historisch frühen Beispiel einer politischen Religion versucht sich Voegelin an einem Fazit. Dabei gelangt er insbesondere zu der Erkenntnis, daß der Sonnenkult des Echnatons in erster Linie eine Angelegenheit der herrschenden Schichten war. Denn neben den politischen Gottheiten gab es auch unpolitische. Letztere hatten für die Unterschichten große Bedeutung. Als Beispiel für solche unpolitischen Gottheiten erblickt Voegelin den Osiriskult<954>.
Sonnenkult und Osiriskult hatten unterschiedliche ontologische Zielsetzungen, ersterer orientierte sich an Welt und Staat und entsprach somit den Intentionen der herrschenden Schichten, letzterer befaßte sich mit der Seele des menschlichen Individuums und kam den Interessen des breiten Volkes näher. Während jedoch der Polytheismus ein freies Nebeneinander beider religiöser Kultformen ermöglicht hatte, so sieht Voegelin in den Reformen des Echnaton ein kritisches und somit instabiles Moment, da


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dieser nicht nur die politischen Lokalgottheiten, sondern auch die Volksreligionen, wie den Osiriskult, vernichtet habe, ohne dafür einen Ersatz zu stellen. Der monotheistische Sonnenglaube, die „politische Religion“ Echnatons, konnte für die unpolitischen Fragen nach dem Schicksal des menschlichen Individuums, die den Bedürfnissen der breiten Unterschicht des Volkes entsprachen und mit denen sich der Osiriskult befaßte, keine Antworten bereit halten<955>.

4.4 Das Werden der „politischen Religion“ im Mittelalter und in der Neuzeit

4.4.1 Der Symbolismus der „politischen Religion“ im Mittelalter

Im Anschluß an diese Darstellung einer „politischen Religion“ der frühesten Hochkulturen des Mittelmeerraumes vollzieht Voegelin einen großen Zeitsprung, um den Werdegang des Phänomens der „politischen Religion“ im Mittalalter zu skizzieren. Dabei kristallisieren sich vier Termini zur Bezeichnung sakraler Symbole heraus: „Hierarchie“, „Ekklesia“, „Spiritual und Temporal“ sowie „Apokalypse“<956>. Das Erstgenannte dieser Symbole, die „Hierarchie“, wird bereits im Sonnenkult des Echnaton deutlich, wenngleich sich dort die Hierarchie auf eine geistige Dimension beschränkt:

„Eine Grundform der Legitimierung der Herrschaft von Menschen über Menschen vollzieht sich im Symbol der Ausstrahlung von der göttlichen Spitze über die Hierarchie der Herrscher und Ämter bis hinunter zum letzten gehorchenden Untertan.“<957>

Bei Echnaton wird die göttliche Spitze und die Quelle des sakralen Ausgießens in der Sonne symbolisiert. Für die Weiterentwicklung des Hierachiesymbols führt Voegelin Philon von Alexandrien, Maimonides und Dante an. In der frühen Neuzeit werde das Bild einer sakralen Hierarchie bei Jean Bodin entwickelt. Hierbei unterstehen Gott, der die Spitze der hierarchischen Pyramide darstellt, die Fürsten als die Vasallen Gottes, den Fürsten wiederum unterstehen deren Untertanen. Diese strenge Hierarchie wird lediglich dadurch relativiert, daß die Untertanen zugleich auch Gott unmittelbar unterstehen, eine Mittlerfunktion des Fürsten zwischen Gott und Untertanen entfällt. Hierin sieht Voegelin einen Unterschied zum Sonnenkult des Echnaton, wo eine solche Mittlerfunktion des Herrschers unbedingt besteht. Die von Bodin entwickelte hierarchische Ordnung sieht Voegelin als bis in die Gegenwart erhalten an<958>.
Wenn hier von der „Dekapitierung Gottes“<959> die Rede ist, wird ein Prozeß angesprochen, der sich über das Mittelalter und die Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert erstreckt. Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist das Symbol einer „Hierarchie“, welche von der göttlichen Spitze über die fürstlichen Herrscher bis zu den Untertanen hinunterreicht. Die gesamte Hierarchie wird von der göttlichen Spitze ausgehend nach unten hin sakral durchflutet. Der nun folgende Prozeß besteht, wie gesagt, in einer „Dekapitierung Gottes“ mit der Folge, daß sich die Vergottung nunmehr auf die weltliche Herrschaftsordnung richtet und es somit zu deren „innerweltliche(n) Schließung“<960> kommt. Voegelins Ziel ist es, die Voraussetzungen dieses Prozesses darzustellen:

„Die Schließung einer herrschaftlich organisierten Gemeinschaft erfordert vor allem, daß die Gemeinschaft als Einheit mit einem in ihr selbst ruhenden Existenzzentrum erlebt wird. Der naturale Ansatz für das Wachstum der partikulären, innerweltlichen, sakral-politischen Gemeinschaft ist in der Primitivperiode immer - sei es matriarchalisch oder patriarchalisch - die Abstammungsgemeinschaft.“<961>

Diese Einsicht verweist auf Voegelins frühere Untersuchung Rasse und Staat, in welcher die Wirksamkeit von Abstammungsgemeinschaften für die Konstituierung politischer Ordnungen bereits


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erkannt worden ist. Die Abstammungsgemeinschaft bleibt jedoch nicht der einzige Konstituierungsfaktor für die Ordnung des Zusammenlebens von Menschen in Gemeinschaft, es treten weitere Faktoren hinzu:

„Weit stärker und deutlicher als durch die Reste der stammstaatlichen Gemeinschaftssymbolik sind die modernen innerweltlichen politischen Einheiten durch die Umbildungen der Ekklesia-Substanz bestimmt. Die christliche Idee, wie sie in den Paulusbriefen und dem nahestehenden Ebräerbrief entwickelt wird, versteht die Ekklesia, die Gemeinde als den mystischen Leib Christi.“<962>

Die christliche „Ekklesia“ sieht Voegelin als das Mittelalter und Neuzeit prägende Moment für die Konstituierung politischer Ordnungen an. Allerdings habe sich die christlich-transzendente Dimension der Ekklesia in eine innerweltliche gewandelt, wenngleich die Prinzipien der christlichen Ekklesia auch unter den Bedingungen der säkularisierten Moderne dieselben geblieben seien. Voegelin führt hierzu Beispiele aus der Geschichte Europas und Amerikas an. Mit Bezug auf das laizistische Frankreich hebt er das christliche Prinzip der Solidarität hervor, welches dort auch noch in der dritten Republik als säkularisierte Variante fortlebe<963>. Nicht zuletzt repräsentieren auch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts, wie Nationalsozialismus und Kommunismus, den Typus einer innerweltlichen Ekklesia<964>.
Eine der Voraussetzungen für die Entstehung der innerweltlichen Ekklesia war die Herausbildung der dialektischen Kategorien von „spiritual“ und „temporal“. Diese Kategorisierung sieht Voegelin in der Ideengeschichte erstmals bei Augustinus realisiert. Hiermit werden noch nicht etwa Institutionen wie Kirche und Staat angesprochen, wohl aber bezeichne die „civitas Dei“ bei Augustinus das Reich und die Gefolgschaft Christi, während unter die „civitas terrena“ das Reich des Bösen und die Feinde Christi gefaßt werden. Die Kirche vertritt zwar die civitas Dei, jedoch gehören zur Kirche auch Mitglieder der civitas terrena, so wie es auch Mitglieder der civitas Dei gebe, die nicht der Kirche angehören<965>.
Die vierte Kategorie, die den Werdegang der „politischen Religion“ im Mittelalter mitbestimmt, ist die „Apokalypse“. Voegelin erkennt in den im Mittelalter aufkommenden apokalyptischen Geschichtsdeutungen ein Symbol der „Trinität“<966>. Hierbei greift er im besonderen die Geschichtsspekulation des Joachim von Floris (Flora; de Fiore) heraus:

„Joachim hat die Formel für eine Seelen- und Denkrichtung gefunden, die schon länger zur Öffentlichkeit und Geltung drängte, nach der das Reich Christi nicht, wie in der älteren Einteilung, das letzte irdische Reich ist, sondern ihm noch ein drittes zu folgen hat. Das erste ist in dieser Zählung das göttliche des Alten Bundes, das zweite das christliche, das dritte das der dritten göttlichen Person, des Heiligen Geistes, das zusammenfällt mit dem siebenten Weltalter, worauf erst der ewige Sabbat des Endreiches folgt.“<967>

Für Voegelin hat das apokalyptische Symbol der Trinität noch weitergehende Bedeutung in der Entwicklung der „politischen Religion“ im Verlaufe der Neuzeit. Es lebt fort in den drei Reichen der marxistischen Geschichtsteleologie, im dritten Reich des Nationalsozialismus, aber auch im auf das antike und das christliche Rom folgenden dritten Rom des italienischen Faschismus<968>.


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4.4.2 Thomas Hobbes und die „politische Religion“ in der Neuzeit

Den Entwicklungen der Moderne geht ein Prozeß voran, in welchem sich die Einheit der abendländischen Ekklesia in eine Vielzahl von Territorial- und später Nationalstaaten auflöst. Die Entwicklung bestimmt den Verlauf des späten Mittelalters sowie der frühen Neuzeit und gipfelt im Zeitalter des Absolutismus. Für die theoretische Grundlegung dieser partikulären Gemeinschaften zeichnet Thomas Hobbes verantwortlich. Entscheidend ist hierbei die Schaffung des Leviathansymbols. Der Leviathan, der in der Bibel als mächtiges Ungeheuer beschrieben wird, symbolisiert den modernen Staat. Dieser ist das Ergebnis eines Vertrages, den die Untertanen untereinander geschlossen haben, durch welchen sie sämtliche Gewalt an einen übergeordneten Souverän übertragen. Der moderne Staat verfügt somit über das Gewaltmonopol in der Gesellschaft. Die Theorie Hobbes’ ist nach Voegelins Auffassung für die Entwicklung der innerweltlichen „politischen Religion“ bedeutsam:

„Wir sagten schon, daß die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung der innerweltlichen Gemeinschaftsreligion das Selbstverständnis einer Gemeinschaft als in sich zentrierter Einheit sei. Das Leviathansymbol des Hobbes tut einen entscheidenden Schritt in dieser Richtung; es erreicht zwar nicht die kugelhafte kosmos-analoge Geschlossenheit des aristotelischen Polissymbols, aber die offene Gliederung der christlichen Ekklesia ist zum größten Teil aufgehoben.“<969>

In der offenen Struktur der christlichen Ekklesia des Mittelalters gab es eine Hierarchie, die von Gott bis zu den verschiedensten Positionen innerhalb der Hierarchie herunterreichte. Diese offene Struktur wird bei Hobbes jedoch aufgehoben. Das Leviathansymbol repräsentiert insoweit eine geschlossene Struktur der staatlichen Gemeinschaft, des Commonwealth, als welches die Hierarchie von Gott nur bis zum Staat als Gesamtperson hinunterrreicht. Der Staat selbst gewinnt die Rolle eines irdischen Gottes über seine Untertanenschaft. Das heißt Voegelin zufolge:

„Der Souverän des christlichen Commonwealth habe die gleiche Stellung wie Abraham zu seiner Familie; nur zu ihm spricht Gott, er allein kennt seinen Willen, und er allein ist berechtigt, Wort und Willen Gottes zu interpretieren. Nach dem Vorbild der jüdisch-theokratischen Idee gewinnt das Symbol des Leviathan Züge, die denen der Reichsreligion des Echnaton verwandt sind. Wieder wird der Herrscher zum Gottesmittler; ihm allein offenbart sich Gott; er allein vermittelt den Willen Gottes an das Volk“<970>.

Die partikuläre Ekklesia in Gestalt des modernen Staates ist zwar noch keine vollendete, innerweltliche „politische Religion“, aber sie ist eine Vorstufe auf dem Wege dorthin<971>.

4.5 Die innerweltliche Gemeinschaft - Gipfelpunkt des Phänomens der „politischen Religion“

Die von Hobbes vorgezeichnete Entwicklung schreitet fort, in dem die hierarchische Spitze des transzendenten Gottes, die der Ekklesia bis dato vorstand, zunehmend abgeschnitten wird und an deren Stelle die Selbstvergottung der nunmehr geschlossenen Ekklesia tritt. Die Vergottung innerweltlicher Phänomene ist für Voegelin die zwangsläufige Konsequenz, die eine Verschließung der Seele gegenüber dem transzendenten Bereich der Seinsordnung mit sich bringt, denn die Frage nach seiner eigenen Existenz stellt sich für den Menschen immer und drängt nach einer Lösung. Diese Lösung ist stets religiöser Natur.
Der Aufstieg der modernen Naturwissenschaften mit ihren an Exaktheit ausgerichteten Methoden haben diesen Prozeß vorangetrieben. Hiermit eng verbunden ist das Attribut der Wissenschaftlichkeit, daß die Moderne gern für sich in Anspruch nimmt. Dieses stellt für Voegelin jedoch auch nur eine religiöse Symbolschöpfung dar, nunmehr ein Symbol der innerweltlichen Religion des Positivismus’.


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Hierbei sieht Voegelin deutlich die Parallelen, die zwischen der innerweltlichen Apokalypse und etwa der trinitarischen Eschatologie des Joachim von Floris bestehen:

„Die innerweltliche Apokalypse braucht nur das überweltliche Endreich, den ewigen Sabbat, das Jenseits zu entfernen, um über die der Innerwelt angemessene Symbolsprache zu verfügen. Das Endreich ist nicht mehr eine überirdische Gemeinschaft des Geistes, sondern ein irdischer Zustand vollkommener Menschheit.“<972>

Diese Ausgerichtetheit erblickt Voegelin zum Beispiel im spekulativen Denken Immanuel Kants. Bei Kant habe der Mensch sich am Konzept einer Vernunft zu orientieren und auf das Ziel einer weltbürgerlichen Gesellschaft hinzuarbeiten. Diese weltbürgerliche Gesellschaft der Zukunft ist ein Kollektivum, für welches sich das menschliche Individuum der Gegenwart aufzuopfern habe. Während sich Kants innerweltlich-apokalyptisches Konzept auf die Menschheit an sich bezieht, sieht Voegelin bei anderen Denkern Ansätze, die eine partikuläre Gemeinschaft vor Augen haben.
Bei Fichte könne das irdische Endreich Gottes nur unter Führung des Urvolkes der Deutschen zustande kommen. Das Urvolk der Deutschen stellt hier eine partikuläre Gemeinschaft dar, der eine heilsgeschichtliche, apokalyptisch geprägte Mission zukommt. Im Kommunismus finde sich die trinitarisch-apokalyptische Vision der Abfolge der Geschichte über die Phasen vom Urkommunismus über die verschiedenen Formen der Klassengesellschaft hin zum Endkommunismus als vollendeter irdischer Gesellschaftsordnung. Hierbei kommt dem Proletariat die Rolle der aktiven, die Entwicklung voran treibenden partikulären Gemeinschaft zu<973>.
Ein weiteres Beispiel, welches Voegelin anführt, entstammt dem Themenkreis, mit welchem er sich bereits in Rasse und Staat beschäftigt hat. So verweist er auf jene Ansätze, die das Wesen der Geschichte als Kampf zwischen den Rassen und die germanische oder nordische Rasse dabei als die überlegene interpretieren. Alle diese Apokalypsen haben jedoch nicht nur Symbole für den innerweltlichen Gott, sondern auch für einen innerweltlichen Teufel geschaffen. Diesen stellt im Leviathan Hobbes’ die katholische Kirche, bei Kant die Triebhaftigkeit des Menschen dar. Bei Fichte repräsentiert Napoleon den Teufel, im wissenschaftlichen Positivismus sind es Religion und Metaphysik, und in den nordischen Rassenideen steht der überlegenen nordisch-germanischen Rasse das Judentum als minderwertige Rasse gegenüber. Als das allen diesen neuartigen Symbolen gemeinsame Merkmal unterstreicht Voegelin den Charakter der „Wissenschaftlichkeit“. Die wissenschaftlichen Apokalypsen treten mit dem Anspruch auf, die jeweils anderen Apokalypsen als unwissenschaftlich zu entlarven. Das heißt, zunächst wird die Unwissenschaftlichkeit der Symbole erkannt, diese werden dann jedoch nicht fallen gelassen, sondern aufrechterhalten, da sie als „politische Religion“ ihre massenbindende Wirkung dennoch nicht verfehlen. Es wird somit ein Mythus erzeugt, in welchem sich innerweltliche Erfahrung und transzendentes Erlebnis vereinigen<974>.
Voegelin kommt nun auf die Symbolik an sich zu sprechen. Dabei erwähnt er noch einmal das Leviathansymbol des Hobbes, welches den Ausgangspunkt der Entwicklung zur innerweltlich geschlossenen politischen Gemeinschaft darstellt:

„Die Symbolik der vollständig geschlossenen innerweltlichen Ekklesia brauchte über das Leviathansymbol nur wenig hinauszugehen - der entscheidende Schritt war die Dekapitierung Gottes. In der Symbolik des Hobbes schloß sich die Vielzahl der Menschen zu der Einheit des Commonwealth nach den Regeln gottgewollten Rechtes zusammen; und das christliche Commonwealth unterstand als Kollektivperson Gott mit dem Souverän als Gottesmittler. [...] In der vollendet innerweltlichen Symbolik wird nun die Verbindung zu Gott durchschnitten, und an seine Stelle tritt als Legitimierungsquelle der Gemeinschaftsperson die Gemeinschaft selbst.“<975>

Es wird Bezug genommen auf die innerweltlich-religiösen Konzepte des deutschen Nationalsozialismus und des italienischen Faschismus. In beiden Fällen wird die religiöse Substanz der Gemeinschaft in einem objektiven Volksgeist erblickt, eine Symbolik somit herangezogen, die dem Sprachgebrauch der Romantik entlehnt ist. Es wird eine Beziehung zwischen den Volksgenossen und dem Volksgeist hergestellt. Jedoch ist diese Beziehung zum Volksgeist nicht für alle Volksgenossen gleich intensiv. Nur wenige Menschen sind von einem starken Volksgeist erfüllt, und nur einer ist es,


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der ihn vollkommen auszudrücken vermag, der Führer.
Ein Unterschied im Verständnis der Beziehung zwischen Führer und Volksgeist besteht bei einem Vergleich von deutschem Nationalsozialismus und italienischem Faschismus lediglich darin, daß der faschistische Volksgeist spirituellen Charakters, der nationalsozialistische hingegen rassischen Charakters ist. Die Volksgenossen stehen mit dem Volksgeist einerseits durch die Vermittlung des Führers in Verbindung. Insoweit besteht eine Analogie zur Reichsreligion des Echnaton, wo der Pharao ebenfalls eine Vermittlung zwischen Gott und Volk wahrnimmt. Andererseits stehen im Faschismus und Nationalsozialismus die Volksgenossen auch in einem unmittelbaren Verhältnis zum Volksgeist, als diese vom Volksgeist durchdrungen werden und sie somit Glieder des Volkes sind. Der Volksgeist drückt sich in der Kultur eines Volkes aus, nicht jedoch etwa in einer politischen Willensbildung durch das Volk. Der Wille des Volkes wird im Nationalsozialismus durch den Führer repräsentiert, die Volksabstimmung wird hingegen als Bekenntnis zum Führer interpretiert. „Nach dieser Konstruktion“, so Voegelin, „nähert sich die Symbolik sehr stark der ägyptischen; nur zum Führer spricht der Gott, das Volk erfährt seinen Willen nur durch die Vermittler des Führers.“<976>
Voegelin geht desweiteren noch auf die Glaubensproblematik ein und zitiert hierzu verschiedene Beispiele von Dichtungen. Als Dichterautor wird hier etwa Gerhard Schumann genannt. In dessen Versen sieht Voegelin Erregungen politisch-religiöser Natur ausgedrückt<977>. Voegelin schließt seine Politischen Religionen mit einem Epilog ab, in welchem der Autor ein Fazit wiedergibt:

„Das Leben der Menschen in politischer Gemeinschaft kann nicht als ein profaner Bezirk abgegrenzt werden, in dem wir es nur mit Fragen der Rechts- und Machtorganisation zu tun haben. Die Gemeinschaft ist auch ein Bereich religiöser Ordnung, und die Erkenntnis eines politischen Zustandes ist in einem entscheidenden Punkt unvollständig, wenn sie nicht die religiösen Kräfte der Gemeinschaft und die Symbole, in denen sie Ausdruck finden, mitumfaßt, oder sie zwar umfaßt, aber nicht als solche erkennt, sondern in a-religiöse Kategorien übersetzt. In der politischen Gemeinschaft lebt der Mensch mit allen Zügen seines Wesens von den leiblichen bis zu den geistigen und religiösen.“<978>

Dies ist die allgemeine These, die Voegelin für das Phänomen der „politischen Religionen“ entwirft. Gewonnen ist sie zwar an Beispielen politischer Ordnungen Westeuropas und des Mittelmeerraumes, erhebt jedoch allgemeinen Geltungsanspruch. Denn

„(i)mmer ist auch die Sprache der Politik durchweht von Erregungen der Religiosität und wird dadurch zur Symbolik in dem prägnanten Sinn der Durchdringung der weltinhaltlichen mit transzendent-göttlicher Erfahrung.“<979>

Die hierbei hervortretenden Elemente sind immer wieder dieselben und in jeder Hochkultur zu finden. Gemeint sind hiermit die „Hierarchie“ der sakralen Substanz, die sich vom transzendenten Gott zu allen Gliedern der Gemeinschaft erstreckt, welche wiederum in ihrer Gesamtheit die „Ekklesia“ darstellt, die „Apokalypse“ als eschatologische Offenbarung sowie die Mittlerrolle der Herrscher in der Beziehung zwischen Gott und Untertanen. Besondere Bedeutung kommt hierbei der innerweltlichen Religiosität zu, welche eine Variante des Phänomens politischer Religionen darstellt:

„Die innerweltliche Religiosität, die das Kollektivum, sei es die Menschheit, das Volk, die Klasse, die Rasse, oder den Staat, als Realissimum erlebt, ist Abfall von Gott [...]. Der Glaube an den Menschen als Quelle des Guten und der Verbesserung der Welt, wie er die Aufklärung beherrscht, und der Glaube an das Kollektivum als geheimnisvoll göttliche Substanz, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert ausbreitet, ist antichristlich [...], ist Abkehr.“<980>

Der deutsche Nationalsozialismus, der italienische Faschismus und der sowjetische Kommunismus sind Musterbeispiele dieser Entwicklung. Das, was Ulrich Hausmann 1993 in seiner Rezension zur Neuausgabe der Politischen Religionen schrieb, könnte auch auf Voegelins späteres Werk zutreffen:


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„Der Versuch, den Verlust der säkularisierten Werte durch eine weltliche Symbolik, sprich Utopie, wettzumachen, untergräbt unweigerlich das Individuum. Es gibt keinen Weg zurück hinter die Moderne. Dennoch bleibt Voegelins Kritik wichtig: als ein Stolperstein für jeden Versuch, allzu rasch eine Versöhnung der Moral mit der Welt zu finden.“<981>

4.6 Zusammenfassung zu den Politischen Religionen

Ausgangspunkt der Betrachtungen Voegelins in den Politischen Religionen ist das Problem der Termini „Staat“ und „Religion“. Als inhaltsverschiedene Begriffe sind sie Sprachsymbole, die sich auf eine bestimmte historische Situation beziehen, aber bis in unsere Gegenwart hinübergerettet worden sind. Stattdessen entwickelt Voegelin unter Bezugnahme auf Hegel die These, daß der Staat den Geist eines Volkes repräsentiert. Ähnlich stellt Voegelin bei einer entsprechenden Durchforstung des Religionsbegriffes auch weltliche Bezüge fest. Unter Religionen faßt er nicht nur die gemeinhin bekannten Weltreligionen, die sich bewußt zu einem transzendenten Gott bekennen, unter sich. An die Seite dieser Geistreligionen gesellen sich die „politischen“ Religionen, deren transzendenter Bezug zwar weniger äußerlich ausdrücklich, im Sinne des religiösen Erlebnisses jedoch gleichermaßen vorhanden ist.
Voegelin geht dann über in einen metahistorischen Exkurs, beginnend mit der nach seiner Auffassung ältesten „politischen Religion“ - der Echnaton im alten Ägypten. Im Anschluß an diese Darstellung vollzieht Voegelin einen großen Zeitsprung, um den Werdegang des Phänomens der „politischen Religion“ im Mittelalter zu skizzieren. Dabei kristallisieren sich vier Termini zur Bezeichnung sakraler Symbole heraus: „Hierarchie“, „Ekklesia“, die Kategorien „spiritual“ und „temporal“ sowie das Symbol der „Apokalypse“.
Den Entwicklungen der Moderne geht ein Prozeß voran, in welchem sich die Einheit der abendländischen Ekklesia in eine Vielzahl von Territorial- und später Nationalstaaten auflöst. Die Entwicklung bestimmt den Verlauf des späten Mittelalters sowie der frühen Neuzeit und gipfelt im Zeitalter des Absolutismus. Für die theoretische Grundlegung dieser partikulären Gemeinschaften zeichnet Thomas Hobbes verantwortlich. Entscheidend ist hierbei die Schaffung des Leviathansymbols. Dieses tut einen entscheidenden Schritt in die Richtung einer innerweltlichen politischen Religion. Der Staat als Leviathan gewinnt die Rolle eines irdischen Gottes über seine Untertanenschaft.
Die von Hobbes vorgezeichnete Entwicklung schreitet fort, indem die hierarchische Spitze des transzendenten Gottes, die der Ekklesia bis dato vorstand, zunehmend abgeschnitten wird und an deren Stelle die Selbstvergottung der nunmehr geschlossenen Ekklesia tritt. Die Vergottung innerweltlicher Phänomene ist für Voegelin die zwangsläufige Konsequenz, die eine Verschließung der Seele gegenüber dem transzendenten Bereich der Seinsordnung mit sich bringt, denn die Frage nach seiner eigenen Existenz stellt sich für den Menschen immer und drängt nach einer Lösung. Diese Lösung ist stets religiöser Natur.

4.7 Das „Gnosis“-Problem als Fazit der Politischen Religionen

Wenn Voegelin in den 1950er Jahren in seiner Neuen Wissenschaft der Politik eine Erneuerung der Politischen Wissenschaft postuliert, spielt die Kritik und die Suche nach den Ursachen für die ideologischen Verwerfungen der Neuzeit, insbesondere der des 19. und 20. Jahrhunderts, des Positivismus’ in der Wissenschaft sowie der politisch-totalitären Regime des Nationalsozialismus’ und des Kommunismus’, eine Schlüsselrolle in seinem Ansatz. Im folgenden sind daher, abschließend zu seinen Politischen Religionen, Bezüge dieses Werkes zu Voegelins späteren Schriften herzustellen<982>.
In seiner in den 1940er Jahren entstandenen History of Political Ideas, konkret in der dieser als Bestandteil angehörenden Abhandlung Das Volk Gottes, befaßt sich Voegelin mit den


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Sektenbewegungen, die sich seit der Spätantike, im Mittelalter und in der Neuzeit entwickelt haben. Ausgangspunkt der von ihm beschriebenen Entwicklung seien zwei Ebenen der Gesellschaft, eine „obere“ Ebene der Institutionen und eine „untere“ Ebene von Bewegungen, die permanent gegen die Institutionen revoltieren. Es etabliert sich ein Gegensatz zwischen der Institution „Kirche“ und gegen diese revoltierenden Sektenbewegungen. Die Entwicklungen, die schließlich das Wesen der Moderne konstituieren, seien durch die Auflösung des Führungsanspruches der Kirche durch die diese paralysierenden Sektenbewegungen gekennzeichnet, die dann in der Neuzeit säkulare Züge annehmen<983>. Diese Entwicklung korrespondiert mit dem, was bei Voegelin 1938 als innerweltliche „politische Religionen“ und später, in den 1950er Jahren, als „Gnostizismus“ etikettiert wird<984>.
In der Neuen Wissenschaft der Politik stellt Voegelin den Gnostizismus, das Problem der „Gnosis“, als ein Wesensmerkmal der Moderne heraus, wobei hier eben jene Entwicklung des Phänomens „politischer Religion“ angesprochen wird, die bereits im frühen Mittelalter ihren Anfang nahm. Sowohl dabei als auch überhaupt wird die Analyse und Interpretation mythopoetischer Spekulationen zu einem charakteristischen Element in der wissenschaftlichen Methodik Voegelins. Diese sind es auch, anhand derer Voegelin jenen Erlebnistypus im Ordnungsdenken des Menschen nachzuweisen versucht, welchen er als gnostisch bezeichnet, und demzufolge in seiner Theorie der Geschichte und Politik der Gnostizismus das Wesen der Modernität ausmacht<985>.
Was jedoch genau ist die Gnosis? Auf den Begriff kommt Voegelin in der Schrift Wissenschaft, Politik und Gnosis<986> von 1959 zu sprechen. Das Gnosis-Problem gab es demnach bereits im Altertum, sein Entstehen hängt mit dem Zusammenbruch der frühen kosmologischen Reiche zusammen (z. B. das alte Ägypten in der Abfolge dreier Reiche).
Ein Kennzeichen des menschlichen Erlebens ist die Erfahrung von Ordnung. Im Falle der frühen kosmologischen Reiche ist es zunächst einmal die Ordnung der Natur, der „Kosmos“<987>, dem eine vorbildlich-modellhafte Funktion zukommt, als die politische Ordnung dieser Reiche sich in Analogie zur kosmischen Ordnung strukturiert. So sind es gewisse Regelmäßigkeiten in der Stellung der Gestirne, im Ablauf der Jahreszeiten und topographische Gegebenheiten, welche zunächst einmal als simple normative Grundlage dienen können, an welcher sich das Zusammenleben von Menschen in politischer Gemeinschaft ausrichtet. Die somit als „kosmisches Analogon“<988> begriffene politische Ordnung, für die Voegelin den Begriff „Kosmion“<989> einführt, ist somit ein Repräsentant des „Kosmos“.
Der Zusammenbruch der Reiche führt jedoch zu einer Katastrophe in der Ordnungserfahrung des Menschen, was diesen dazu veranlassen muß, Versuche anzustrengen, um „den Sinn des menschlichen Daseins neu zu verstehen, den Sinn der Existenz unter den gegebenen Bedingungen der Welt wiederzufinden.“<990> Die kosmische Ordnung als alleinige normative Grundlage für die Gestaltung politischer Ordnung als „kosmisches Analogon“ hatte ihre Überzeugungskraft verloren, da die Ausrichtung auf diese „kosmologische Wahrheit“<991> den politischen Untergang der Reiche nicht aufhalten konnte. Somit ergibt sich die Frage nach einer neuen normativen Grundlage, mit welcher die politische Ordnung wiederum als „Repräsentant einer transzendenten Wahrheit“<992> die Ordnungserfahrung des Menschen bestimmt.

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Ein solcher Versuch ist die „Gnosis“, was zunächst einmal mit „Wissen“ oder „Erkenntnis“ zu übersetzen ist. Dieses „Wissen“ ist jedoch zu präzisieren als bezogen auf die gesamte Seinsordnung, die sich jedoch nicht in jenem „immanenten“ Bereich erschöpft, der den herkömmlichen Methoden der (Natur-)Wissenschaft zugänglich ist, sondern auch einen deren Zugänglichkeit übersteigenden weltjenseitigen, göttlichen Bereich, also einen transzendenten Seinsbereich, umfaßt.
Letztere Einsicht entspricht einem signifikanten Postulat Voegelins: die Wiederherstellung der Ontologie in der klassischen Metaphysiktradition des Sokrates, Platon und Aristoteles, einer Seinslehre, die von der Annahme der Existenz eines solchen transzendenten Seinsbereiches ausgeht. Was nun die Gnosis betrifft, das Wissen über die gesamte Seinsordnung, so erhebt diese den Anspruch, den Menschen, wenn er über die Gnosis verfügt, befähigen zu können, den Weg seiner eigenen Erlösung zu erkennen, seiner Erlösung aus der Krise der politischen Ordnung, in welcher er lebt<993>. Unter Wiedergabe eines Zitates Clemens’ von Alexandrien nennt Voegelin die „Programmformel der Gnosis“<994>:

„Die Gnosis ist ,die Erkenntnis, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren und wohinein wir geworfen wurden, wohin wir eilen, woraus wir erlöst werden; was Geburt ist und was Wiedergeburt’.“<995>

Die Gnosis kennzeichnet damit jedoch nicht etwa den subjektiven Wissensbestand von Menschen, sondern stellt den objektiv existierenden Wissensbestand in seiner Gänze dar. Nach Voegelin ist es jedoch dem Menschen unmöglich, über diesen Wissensbestand in Gänze, also über die Gnosis, verfügen zu können. Derjenige, der dennoch für sich den Anspruch erhebt, die Gnosis zu beherrschen, ist ein „Gnostiker“, jene Geistesbewegungen, die bewußt oder unbewußt diesen gnostischen Anspruch teilen, sind als „Gnostizismus“ zu bezeichnen. In Anknüpfung an Hegel unternimmt Voegelin eine Unterscheidung von „Philosophie“ als „Liebe zum Wissen“ und „Gnosis“ als „wirkliches Wissen“<996>. In diesem Sinne findet jedoch ein Voranschreiten der Philosophie zur Gnosis statt, ohne daß jedoch erstere die letztere zu erreichen imstande ist<997>.
Diese letztgenannte Auffassung macht für Voegelin den wahren Menschen aus. Das heißt, der wahre Mensch ist ein (im Sinne eines nach dem „wirklichen Wissen“ strebender, jedoch sich dessen Unerreichbarkeit bewußt seiender) Philosoph, während der Gnostiker, in der Annahme, über das gesamte Wissen, einschließlich des Wissens über die Transzendenz, zu verfügen, einem Irrglauben folgt. Auf dieser Einsicht baut Voegelins Theorie der Geschichte und Politik auf, welche sich nunmehr anschickt, eine Erklärung insbesondere für die wissenschaftlich-theoretischen und die politisch-totalitären Verwerfungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu liefern. Wenn Voegelin mit der Erneuerung der Politischen Wissenschaft eine ontologische Betrachtungsweise in der Tradition der klassischen, sokratisch-platonischen Metaphysik, die Akzeptanz eines transzendenten Seinsbereiches, einfordert, die jedoch eine Öffnung der Seele, „des Sensoriums der Transzendenz“<998>, voraussetzt, so heißt das im Umkehrschluß, daß die Entwicklung der Moderne durch eine Verschließung der Seele gekennzeichnet ist.
Die Verschließung der Seele führt zwangsläufig dazu, daß der Bereich des Göttlichen, also die Transzendenz, als nicht relevant oder gar als nicht existent begriffen wird. Diese Mentalität legt nunmehr die Annahme nahe, daß sich die Gnosis, das Wissen über die Seinsordnung, im immanenten Seinsbereich erschöpfen muß, wenn es denn keine Transzendenz gebe. Darüber hinaus zieht die Negation eines transzendenten Gottes die Suche nach weltimmanenten Göttern nach sich, weshalb Voegelin von einer „Re-Divinisation“<999> als spezifischem Kennzeichen des modernen Gnostizismus spricht.
Zu diesen weltimmanenten Göttern werden in der Neuzeit etwa die Wissenschaft, die Geschichte und die Rasse, aber auch die Idee der Menschenrechte als Produkt des politischen Liberalismus. In


187

diesen immanenten Göttern sieht der Mensch der Neuzeit den Weg zu seiner Erlösung. Wenn Voegelin die Erfahrung von Ordnung im Erlebnis des Menschen als einen der Dreh- und Angelpunkte seiner Theorie sieht, so kann in diesem konkreten Fall von einem „soteriologischen“ Typus der Ordnungserfahrung gesprochen werden, eine „soteriologische Wahrheit“<1000>, welche die auf eine innerweltliche Erlösung abzielenden, modernen Varianten des Gnostizismus repräsentieren.
Was die Beispiele gnostischer Bewegungen betrifft, so findet sich die immanente Vergottung der Wissenschaft im Positivismus und Szientismus, die der Geschichte in der marxistisch-leninistischen Geschichtsteleologie, die der Rasse im Nationalsozialismus und schließlich die Vergottung von Naturrecht und insbesondere Menschenrechten im Liberalismus westlicher Prägung. Die genannten, allesamt dem soteriologischen Typus von Ordnungserfahrung entsprechenden Varianten des Gnostizismus sind für Voegelin ein Kennzeichen der Zivilisationsform in Europa und Amerika. Zugleich wird deutlich, daß der Gnostizismus inhaltlich dem entspricht, was Voegelin in seiner Frühschrift als „politische Religionen“ etikettiert hat.
Dieser Verweis führt zu der Fragestellung, worauf die durch den soteriologischen Typus gekennzeichnete Zivilisationsform der westlichen Welt, die sich in den hier wiedergegebenen Varianten des modernen Gnostizismus ausdrückt, gründet. Die Antwort darauf ist im Werdegang menschlicher Ordnungserfahrung zu suchen, die mit der oben schon dargestellten „kosmologischen“ Variante ihren Ausgangspunkt nahm.
Die kosmologische Wahrheit herausfordernd, wonach die als kosmisches Analogon begriffene politische Ordnung eine Symbolisierung der kosmischen Ordnung, also einen „Mikrokosmos“, darstellt, entwickeln Sokrates und Platon im antiken Griechenland die Idee einer politischen Ordnung , die sich als „Makroanthropos“ begreift<1001>. Die Polis sei der großgeschriebene Mensch. Die Idee des Menschen, der seine eigene Bestimmung dadurch erfährt, daß er an der Vernunft eines transzendenten Gottes teil hat, wird zur Grundlage des von Sokrates und Platon entworfenen Konzeptes politischer Ordnung, die sich auf eine nunmehr „anthropologische Wahrheit“<1002> und Ordnungserfahrung gründet. Allerdings kennt diese Variante noch nicht die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen Mensch und Gott, eines Gottes also, der den Menschen erlösen möge.
Erst das Christentum ist die Bewegung, welche die Ordnungserfahrung der westlichen Welt um eine „soteriologische“ Komponente erweitert hat, eine dritte Form transzendenter Wahrheit also, die auf dem Wege einer Freundschaft zwischen Mensch und Gott, wie sie das Christentum repräsentiert, auf eine göttliche Erlösung des Menschen abzielt<1003>.
Dies ist um so bedeutsamer, als das Christentum in der Neuzeit durch die genannten gnostischen Bewegungen Positivismus, Marxismus, Nationalsozialismus und Liberalismus zwar in Frage gestellt, wenn nicht sogar negiert worden ist, der spezifische Typus der Ordnungserfahrung und damit die westliche Zivilisationsform jedoch erhalten geblieben sind. Denn auch die modernen gnostischen Bewegungen repräsentieren die soteriologisch geprägte Erfahrung von Ordnung in der Gesellschaft, da sie ein Erlösungskonzept beinhalten. Daß dieses Erlösungskonzept im Gegensatz zum Christentum innerweltlich ausgerichtet ist, spielt für die Konstanz der Zivilisationsform keine Rolle.
Von Interesse kann hierbei lediglich der von Voegelin dargestellte Entwicklungsprozeß sein, wonach das Christentum der Ausgangspunkt ist, der zu den gnostischen Bewegungen der Neuzeit geführt hat. Im Zentrum von Voegelins Interpretation steht in diesem Zusammenhang die aus dem Mittelalter stammende mythopoetische Spekulation des Joachim von Flora. Diese kennzeichnete sich durch den Versuch, das Wirken des transzendenten Gottes im Ablauf der Menschheitsgeschichte zu symbolisieren, dem Ablauf der Geschichte also einen Sinn zu geben. Ziel der Menschheitsgeschichte sei die Erlösung.
Die joachitische Spekulation ist somit ebenso teleologisch und soteriologisch wie im 20. Jahrhundert die marxistisch-leninistische Lehre, jedoch mit dem Unterschied, daß erstere immer noch von einem transzendenten Gott ausgeht, während letztere das Göttliche immanentisiert (d. h. dem weltimmanenten Phänomen der Menschheitsgeschichte durch dessen teleologische Betrachtung im Kommunismus einen transzendenten Sinn gegeben) hat. Die joachitische Spekulation repräsentiert somit eine zunächst noch weniger radikale Variante des Gnostizismus, während hingegen die radikalen gnostischen Bewegungen unserer Zeit, wie Kommunismus, Nationalsozialismus,

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Liberalismus, Positivismus und Szientismus eben, wie gesagt, durch die Immanentisierung des Göttlichen charakterisiert sind, die Vergottung weltimmanenter Phänomene wie etwa Geschichte, Rasse, Individuum und Wissenschaft.
Voegelin liefert eine Theorie der Geschichte und Politik, die im Gefolge ihrer Ausführungen auch das Entstehen der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts theoretisch zu erklären versucht. Er warnt zugleich vor einer Überhöhung des Selbstverständnisses, der auch die freiheitlichen Demokratien des Westens unterliegen. Insoweit entwirft er eine „Relativitätstheorie“, die den Absolutsheitsanspruch aller innerweltlichen politischen Ideen relativiert und nivelliert. Politische Ideen sind für Voegelin nicht mehr als Meinungen („doxai“).
Diese Einsicht von der Relativität aller innerweltlichen Konzepte hat einen hohen wissenschaftlichen Erkenntniswert nicht nur für die Totalitarismusforschung<1004>. Ziel der Wissenschaft sind nicht Meinungen, das Ziel der Wissenschaft ist Wissen („episteme“). Dieses setzt jedoch theoretische Begründbarkeit und dieses wiederum eine umfassende ontologische Betrachtung voraus<1005>. Davon sind jedoch für Voegelin die gnostischen Bewegungen der Moderne alle gleichweit entfernt. Voegelins Postulat, die platonisch-aristotelische „episteme politike“ als eine kritische „Ordnungswissenschaft“<1006> wiederzubeleben, ist insoweit gleichbedeutend mit einer „Wiederherstellung des Sinnes von Wissenschaft (episteme) im Gegensatz zu Meinungen (doxai).“<1007>
Die Bedeutung der 1938 erschienenen Politischen Religionen als Wendepunkt zu Voegelins metahistorischem Denken, wie es dessen späteres Werk charakterisiert, dürfte deutlich sein<1008>. Gleichzeitig ist festzustellen, daß Voegelins Rasse und Staat und Rassenidee in der Geistesgeschichte von 1933 sowie Der autoritäre Staat von 1936, die den Politischen Religionen vorangingen, in jeweils eigenen inhaltlichen Zusammenhängen stehen und zu Voegelins späterem Werk kaum inhaltliche Bezüge aufweisen. Die in den Politischen Religionen angesprochenen Inhalte hingegen gewinnen für Voegelins Schaffen in den folgenden Jahren, ab 1939 in den Vereinigten Staaten von Amerika, an Gewicht<1009>.

Fußnoten:

<934>

Vgl. Opitz, Peter J.: Nachwort zu: Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, 2. Auflage, München 1996, S. 69 - 84 (S. 72) sowie Henkel, Michael: Zum 100. Geburtstag von Eric Voegelin, S. 755 ff.

<935>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 5.

<936>

Ebd. S. 5 f. Vgl. auch Kaube, Jürgen: Eingriff in die Thesenkiste. Die religiösen Wurzeln der Politik: Eric Voegelin kannte die Feinde der guten Ordnung ganz genau, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. 1. 2001, Nr. 2, S. 43.

<937>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 11.

<938>

Vgl. ebd. S. 11 f.

<939>

Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, S. 180 f.

<940>

Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 12 ff.

<941>

Ebd. S. 15.

<942>

Ebd. Grundlegend hierzu Przywara S. J., Erich: Religionsphilosophie katholischer Theologie (Sonderausgabe aus dem Handbuch der Philosophie), München - Berlin 1926, besonders S. 4 ff.

<943>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 17.

<944>

Vgl. ebd. S. 15 ff. Siehe zu dieser Problematik der bereits zitierte Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, sowie James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Olten - Freiburg im Breisgau 1979.

<945>

Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 5.

<946>

Ebd. S. 7, vgl. ebd. S. 5 ff. sowie insgesamt Chignola, Sandro: „Fetishism with the Norm“ and Symbols of Politics, S. 66 ff., ferner als Rezension Meyer, Martin: Das Politische und das Religiöse. Eine frühe Schrift von Eric Voegelin, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. November 1993, Nr. 255, S. 23 sowie ohne Autornennung: Wenn die Politik zur politischen Religion wird, in: Die Welt vom 1. Juli 1994, S. 8.

<947>

Vgl. Breasted, J(ames). H(enry).: Geschichte Ägyptens, 2. Auflage, Berlin 1911, S. 25 ff.

<948>

Vgl. ebd. S. 51 ff. sowie S. 44: „Horus war, wie unter den vordynastischen Königen, auch des geeinigten Reiches größter Gott und nahm die Stellung ein, die später Re innehatte.“

<949>

Vgl. ebd. S. 139 ff. und S. 147 ff.

<950>

Siehe hierzu ebd. S. 193 ff.

<951>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 22.

<952>

Ebd., vgl. Breasted, J. H.: Geschichte Ägyptens, S. 298.

<953>

Vgl. Breasted, J. H.: Geschichte Ägyptens, S. 293 ff.

<954>

Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 26.

<955>

Vgl. ebd. S. 19 ff.

<956>

Siehe ebd. die Überschriften der Abschnitte S. 29 ff.

<957>

Ebd. S. 29.

<958>

Vgl. ebd. S. 29 ff.

<959>

Ebd. 31.

<960>

Ebd. S. 31.

<961>

Ebd. S. 32.

<962>

Ebd.

<963>

Vgl. ebd. S. 34.

<964>

Vgl. ebd. S. 31 ff.

<965>

Vgl. ebd. S. 35 f.

<966>

Ebd. S. 39.

<967>

Ebd.

<968>

Vgl. ebd. S. 38 ff. Zu verweisen ist hier auf das bereits zitierte Werk von Dempf, Alois: Sacrum Imperium, sowie von Kantorowicz, Ernst: Kaiser Friedrich der Zweite, Düsseldorf und München 1963, besonders im Hauptband das Kapitel „VIII. Dominus Mundi“, S. 471 ff.

<969>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 44.

<970>

Ebd. S. 47.

<971>

Vgl. ebd. S. 43 ff. sowie natürlich Hobbes, Thomas: Leviathan, Stuttgart 1970, besonders II. Teil, Kapitel XVII, S. 151 ff.

<972>

Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 51.

<973>

Auf Kant und Fichte ist in dieser Arbeit bereits im Zusammenhang mit Voegelins Abhandlungen zur Rassenproblematik eingegangen worden.

<974>

Vgl. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 49 ff.

<975>

Ebd. S. 55 f.

<976>

Ebd. S. 58, vgl. ebd. S. 55 ff.

<977>

Vgl. hierzu ebd. S. 58 ff. sowie Petropulos, William: The Person as ‚Imago Dei’, S. 46 ff.

<978>

Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, S. 63.

<979>

Ebd.

<980>

Ebd. S. 64, vgl. ebd. S. 63 f.

<981>

Hausmann, Ulrich: Gut und Böse in der Moderne. Tzvetan Todorov und Eric Voegelin über menschliche Grunderfahrungen, in: Beilage der Süddeutschen Zeitung Nr. 231 vom 6. 10. 1993, S. L22. Siehe auch Sattler, Stephan: Ein Zertrümmerer des Übermenschen. Eric Voegelin, deutsch-amerikanischer Philosoph, erfährt eine Renaissance seiner Werke, in: Focus, Nr. 1 vom 3. Januar 1994, S. 66 - 67.

<982>

Vgl. hierzu Gebhardt, Jürgen: Wie vorpolitisch ist „Religion“?, besonders. S. 96 ff.

<983>

Vgl. Voegelin, Eric: Das Volk Gottes. Sektenbewegungen und der Geist der Moderne, München 1994, S. 18 ff.

<984>

Vgl. zu den folgenden Ausführungen Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik. Relevant ist die Schrift in ihrer Gesamtheit, besonders ab S. 81 ff. und S. 153 ff.

<985>

Vgl. Herz, Dietmar: Der Begriff der „politischen Religionen“ im Denken Eric Voegelins, S. 191 ff.

<986>

Voegelin, Eric: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959.

<987>

Ders.: Die neue Wissenschaft der Politik, S. 83.

<988>

Ebd. S. 84.

<989>

Z. B. ebd. S. 49 sowie an weiteren Stellen. Siehe desweiteren ders.: Introduction zur „History of Political Ideas“, in: Opitz, Peter J. (Hrsg.): Zwischen Evokation und Kontemplation. Eric Voegelins „Introduction“ zur „History of Political Ideas“ (Occasional Papers. Eric-Voegelin-Archiv, Ludwig-Maximilians-Universität München; XI), 2. Auflage, München 2002, S. 13 - 59, besonders S. 13 ff.

<990>

Ders.: Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 14 f.

<991>

Ders.: Die neue Wissenschaft der Politik, S. 113.

<992>

Ebd. S. 112.

<993>

Vgl. ders.: Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 14 ff.

<994>

Ebd. S. 16.

<995>

Ebd.

<996>

Zitate nach Hegel bei Voegelin, Eric: The World of the Polis, S. 17 sowie ders.: Wissenschaft, Politik und Gnosis, S. 52 (Anmerkung 23 ebd. S. 90), vgl. ebd. S. 51 ff.

<997>

Vgl. Voegelin, Eric: The World of the Polis, S. 16 ff.

<998>

Ders.: Die neue Wissenschaft der Politik, S. 111.

<999>

Ebd. S. 152.

<1000>

Ebd. S. 113.

<1001>

Vgl., auch als Nachweis der Begriffe, ebd. S. 93 sowie ders.: Israel and Revelation, Introduction, S. 5 f.

<1002>

Ders.: Die neue Wissenschaft der Politik, S. 113.

<1003>

Vgl. auch Laufer, Heinz: Homo homini homo, S. 334.

<1004>

Vgl. Jesse, Eckhard: Die Totalitarismusforschung und ihre Repräsentanten. Konzeptionen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt, Eric Voegelin, Ernst Nolte und Karl Dietrich Bracher, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 20/98, S. 3 - 18, siehe zu Voegelin ebd. S. 12 f.

<1005>

Siehe hierzu auch Nida-Rümelin, Julian: Das Begründungsproblem bei Eric Voegelin, in: Zeitschrift für Politik, Bd. 36 (1989), S. 382 - 392.

<1006>

Voegelin, Eric: Die neue Wissenschaft der Politik, S. 7.

<1007>

Ebd. S. 13.

<1008>

Vgl. auch Henkel, Michael: Eric Voegelin zur Einführung, die Kapitel S. 75 ff. und S. 92 ff.

<1009>

Siehe auch Webb, Eugene: Eric Voegelin. Philosopher of History, Seattle - London 1981 und vor allem Cooper, Barry: Eric Voegelin and the Foundations of Modern Political Science, Columbia - London 1999. Auf Voegelins Schriften der 1930er Jahre kommt Cooper hierbei nur kurz auf den ersten Seiten zu sprechen.


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