4 Zusammenfassung

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Wie jedes Museum kann auch das Angermuseum als Ort verstanden werden, an dem die drei kunsthistorisch relevanten Komponenten Künstler, Kunstwerk und Rezipient idealtypisch aufeinander treffen. Prozessorientiert können außerdem zwei Arten von Aufgaben unterschieden werden. Während die prozeduralen Tätigkeiten die Summe aller ordnungsgebenden Verrichtungen innerhalb des regelrechten Museumsbetriebes bezeichnen, umfassen die ästhetischen Abläufe alle Dinge, die in enger Beziehung zum Künstler, seinem Werk und dem Publikum stehen. Schnell wechselnde Sonderausstellungen zeigen diesen Zusammenhang besonders deutlich auf. Aus diesem Grund sollten sie, trotz ihres ephemeren Charakters, auch in ihrer historischen Dimension begriffen werden. Darüber hinaus ging es in der vorliegenden Untersuchung darum, die Konzeptionen der Ausstellungen, die Auswahl der Exponate und die Häufigkeit der Ausstellungen in ihrer Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Gegebenheiten aufzuzeigen.

Die Gründungszeit des Museums 1886 wurde maßgeblich durch Alfred Overmann geprägt, dessen Ideen, getragen von besonderem Interesse an heimatbezogener Kunst, den Stil des Hauses bis in die Gegenwart beeinflussen. Ausschlaggebend für diese Konzeption waren zwei Gründe: Erstens entsprach eine Orientierung an Künstlern der Umgebung dem traditionellen Verständnis der Rezipienten, zweitens ging man davon aus, den Ankauf von Kunstwerken bedeutender überregionaler Künstler nicht finanzieren zu können. Beim Aufbau der Sammlung war der Focus somit auf den Erwerb von Kunstwerken, in der Malerei zumeist Landschaftsdarstellungen, die von Thüringer Künstlern geschaffen worden waren, gerichtet.

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Edwin Redslob und Walter Kaesbach knüpften in ihren Direktoraten an dieses Konzept an. Sie begründeten darüber hinaus ein neues Selbstverständnis des Angermuseums als Ort der Gegenwartskunst, indem sie sich unter anderem entschieden für expressionistische Künstler einsetzten, deren Arbeiten ausstellten und die Sammlungen des Hauses in besonderem Maße um expressionistische Druckgraphik erweiterten. Ein Umstand, der zu harscher Kritik durch den Erfurter Magistrat und besorgter Bürger führte.

Herbert Kunze übernahm 1925 das Amt des Direktors und erweiterte vor allem die Sammlungen des Kunsthandwerks, wie der Aufbau der Thüringer Fayenceabteilung beweist. Dennoch bekannte er sich zu den gleichen konzeptionellen Ideen wie seine Amtsvorgänger und führte das Haus in diesem Sinne weiter, bis er 1937 seines Amtes enthoben wurde und das Angermuseum durch die Beschlagnahme um sämtliche expressionistische Kunstwerke beraubt wurde. Nach 1945, mit dem Ende des Dritten Reiches, übernahm Herbert Kunze das Amt erneut. Obwohl man sicher nicht von ‚creatio ex nihilo’ sprechen kann, kommt diese Zeit einem musealen Neuanfang gleich. Das zerstörte Gebäude musste wieder aufgebaut und die Sammlungen aus den Verlagerungsorten zurückgeholt werden. Bereits im Oktober 1945 fand die erste Ausstellung „500 Jahre Kultur in Erfurt“ statt. Sie kann als programmatisch für die konzeptionelle Ausstellungsstruktur der Nachkriegsjahre gelten. Überblicksausstellungen entsprachen dem Bedürfnis des Publikums nach Orientierung und fanden in der medialen Berichterstattung entsprechend Resonanz.

Rezeptionsästhetisch implizieren alle Ausstellungen, sowohl Dauerausstellungen als auch Sonderschauen, eine bestimmte Folge von Abläufen, die sich zwischen den Polen Etablierung und Neuerung bewegen. Dieser dialektische Prozess trägt der Tatsache Rechnung, dass avantgardistische Ideen in zeitgenössischen Kunstwerken ihren Ausdruck finden, obwohl das potentielle Publikum mit seinen konventionellen Sehgewohnheiten einer derartigen Neuerung erst durch eine geschmacksbildende Wandlung innerhalb eines zeitaufwendigen Prozesses zustimmen kann. An diesem Punkt vollzieht sich, im Sinne einer Syntheseleistung, eine ästhetische Etablierung. In einem progressiv geführten Kunstmuseum würde zu dem Zeitpunkt der Etablierung, durch eine entsprechende Neuerung also, die ‚nächste Generation der Avantgarde‛ erneut für unkonventionelle Sehgewohnheiten und somit für streitbare Diskussionen und mediale Präsenz sorgen. Keiner der Direktoren, weder Redslob, noch Kaesbach, noch Kunze, würden heute in Sonderausstellungen ausschließlich Kunst der Vergangenheit präsentieren. Es gäbe eben nicht nur Landschaftsgemälde von Friedrich Nerly, auch nicht ausschließlich die klassische Moderne: Sie würden, ihrem konzeptionellen Ansatz verpflichtet, streitbare, zeitgenössische Künstler ausstellen.

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Besonders nach 1952 gestaltete sich der Spannungsbogen zwischen Neuerung und Etablierung, bedingt durch den Ausschluss jeglicher als formalistisch disqualifizierter Kunst, eher gering. Trotzdem hatte sich das Angermuseum zu diesem Zeitpunkt bereits durch eine Vielzahl von Sonderausstellungen etabliert. Ein Schwerpunkt lag dabei immer auf der Begegnung des Publikums mit zeitgenössischen Künstlern. Ab Mitte der 1950er Jahre war Herbert Kunze zunehmend in die politischen Institutionen des Magistrats eingebunden. Der dem Magistrat untergeordneten Kommission für Kultur hatte er im Voraus die Planung für Sonderschauen vorzulegen. Zum endgültigen Bruch mit den Funktionären der Stadt kam es Ende 1962, als man Kunzes bürgerliches Selbstverständnis in der Zeitung „Das Volk“ für unzeitgemäß und gesellschaftlich überholt erklärte. Herbert Kunze gab daraufhin das Amt des Direktors auf. Es ist davon auszugehen, dass Herbert Kunze sich als Direktor eines Kunstmuseums verstand, der das Publikum, weit mehr als es ihm unter den gegebenen politischen Umständen möglich war, zur dialektischen Auseinandersetzung mit entsprechender zeitgenössischer Kunst und somit einer Erweiterung von Sehgewohnheiten angespornt hätte. Die geplante Personalausstellung des konstruktivistisch arbeitenden Künstlers Hermann Glöckner mag als ein Beispiel gelten; sie konnte, bedingt durch die politischen Gegebenheiten zu Kunzes Amtszeit, nicht realisiert werden. Somit war jener dialektische Prozess, der publikumsorientiert eine ästhetische Weiterentwicklung nicht nur im Bereich des Rezipienten ermöglicht, nur in abgeschwächter Form vorhanden. Herbert Kunze versuchte diesen Mangel durch eine hohe Ausstellungsfrequenz zu kompensieren.

Der Begriff des Rezipienten unterliegt einer ambivalenten Deutung. Zunächst bezeichnet er die Gesamtheit aller Museumsbesucher, die – bezogen auf die DDR – die Rolle des bürgerlichen Mäzens zu ersetzen hatten. Andererseits umfasst er die Summe aller Museumsbesucher mit individuellen Sehgewohnheiten, einem eigenen Geschmack und einer persönlichen Wahrnehmung. Die kunsthistorisch relevante Bezugsgröße des Rezipienten bildet gemeinsam mit den beiden anderen Elementen Künstler und Kunstwerk eine Triade, deren komplexes Miteinander im Kunstmuseum besonders zu untersuchen ist.

Herbert Kunze war es nicht zuletzt durch die beschriebene große Vielzahl der Sonderausstellungen gelungen, dem Museum ungeachtet des großen Verlustes sämtlicher expressionistischer Kunstwerke nach 1945 zu einem Neuanfang zu verhelfen. Dieses Prinzip sicherte dem Angermuseum über die Grenzen Thüringens hinaus einen Platz in der Museumslandschaft und durch die Rezensionen in den regionalen Printmedien, besonders in den ersten Jahren nach dem Krieg, die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit. Der Museumsdirektor Herbert Kunze erfüllte damit Auftrag und Aufgabe des Museums, die Max Sauerland trefflich beschreibt: „Sie (die Museen, Anm. d. Verf.)müssen nicht nur Kunstwerke beherbergen, sondern in sich selbst den Charakter des Kunstwerkes darstellen.“ (Sauerlandt 1927)


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28.01.2009