1 Der Wandel des Institutionenauftrages

1.1 Historischer Exkurs

1.1.1 Die Gründung des Museums

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Da die Zeit von der Gründung des Angermuseums in Erfurt bis zum Verlust seiner Sammlung der klassischen Moderne 1937 in mehreren Aufsätzen und Textsammlungen ausführlich beschrieben wurde und die Direktorate von Edwin Redslob (1884–1973) und Walter Kaesbach (1879–1961), unter besonderer Berücksichtigung ihrer Verdienste um den Expressionismus in Deutschland, ebenso erforscht worden sind, soll in gebotener Kürze auf die Geschichte des städtischen Museums während dieser Jahre eingegangen werden.5

Das Erfurter Angermuseum verdankt seine Gründung dem Nachlass des in Erfurt geborenen Malers Friedrich Nerly d. Ä. (1807–1878), dessen Zeichnungen, Studien und Gemälde 1886 den Grundstock für eine Bildergalerie schufen. Der Maler Eduard von Hagen (1834–1909) war maßgeblich daran beteiligt, dass ein großer Teil vom Lebenswerk des in Venedig 1878 verstorbenen Künstlers Friedrich Nerly in dessen Geburtsstadt als Basis für ein zu schaffendes Kunstmuseum dienen konnte.

Anders als in den Städten der unmittelbaren Umgebung, deren urbane und kulturelle Strukturen durch die Herzogtümer Sachsen-Coburg und Gotha, Sachsen-Meiningen oder Sachsen-Altenburg geprägt wurden, existierte in der Bürgerstadt Erfurt keine fürstliche Sammlung, wie sie in den Residenzstädten als Voraussetzung für die Konzeption eines modernen Museums diente (Horn 1996). Es gab aber auch in dieser Stadt neben der Nerly-Schenkung historisch gewachsene Sammlungen, die als Fundament eines bürgerlichen Museums genutzt werden konnten. So besaß das „Evangelische Waisenhaus“ eine barocke Kunst- und Kuriositätensammlung, deren Bestand jedoch 1872 bei einem Brand stark dezimiert worden war. Insgesamt hatten von 122 Bildern dieser Sammlung 52 Gemälde die Katastrophe überstanden. Herausragende Kunstwerke, wie beispielsweise „Christus als guter Hirt“ aus der Cranach-Werkstatt oder der Augustiner-Altar übernahm man in das neu gegründete Museum. Sie gehören noch heute zum Bestand der Mittelaltersammlung des Angermuseums (Schwarz 1999). Zusätzlich hatte der „Verein für Geschichte und Altertumskunde“ der Stadt Erfurt Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen, historisch und künstlerisch relevante Objekte zu einer eigenständigen Sammlung zusammenzutragen. Der Verein verfügte allerdings über keinerlei Räumlichkeiten, in denen eine angemessene Präsentation der bewahrten Objekte möglich gewesen wäre.

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So wurde am 27. Juni 1886 in Erfurt ein städtisches Museum gegründet. Als erste Möglichkeit der Unterbringung der Sammlungsgegenstände nutzte man das barocke Gebäude des ehemaligen kurmainzerischen Pack- und Waagehofes auf dem Anger. Da der Nachlass des Malers Friedrich Nerly d. Ä. als Schenkung des Sohnes für die Stadt Erfurt an die Bedingung geknüpft war, die Bilder des Vaters der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurden in der ersten Etage des Hauses dessen Arbeiten ausgestellt. Zusätzlich hatte man sich um Leihgaben aus den Königlichen Museen in Berlin bemüht. 1887 gründete sich in der Stadt der „Verein für Kunst und Gewerbe“, dessen Ziel es war, die Einwohner Erfurts mit Kunst und Gewerbe im Allgemeinen, insbesondere des heimatlichen Umfeldes, vertraut zu machen. Die meisten Bürger der Stadt waren jedoch weniger an einem Kunstmuseum, als an einem historischen Museum interessiert, welches eher ihrem Bedürfnis entsprach, sich mit der Geschichte der Stadt zu beschäftigen (Schubart 1999).

Die ehrenamtliche Leitung des städtischen Museums übernahm zunächst Eduard von Hagen, der 1901 von Alfred Overmann (1866–1946), dem neu ernannten Stadtarchivar, abgelöst wurde. Dieser erarbeitete zwei Jahre später eine Museumskonzeption, die vier unterschiedliche Sammlungsbereiche differenzierte: Neben der Sammlung von Gemälden und Skulpturen sollten Kunstgewerbe, Geschichte und Naturwissenschaften unter besonderer Berücksichtigung des heimatkundlichen Aspekts die Grundpfeiler des städtischen Museums bilden (Horn 1996). Die Leitung des Hauses hatte als ideale Lösung geplant, die verschiedenen Bereiche in einem Gebäude zu vereinen, denn inzwischen waren die Bestände so weit angewachsen, dass die Räumlichkeiten des Pack- und Waagehofes auf dem Anger nicht mehr genügten und man Sammlungsbestände im Haus „Zum Stockfisch“ und dem Steinhaus des „Großen Hospitals“ unterbringen musste. Noch heute befinden sich dort das Stadtmuseum und das Museum für Thüringer Volkskunde.

In vielen Städten entstanden zum Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Bürgerschaft initiierte und meist durch gestiftete Sammlungen getragene Museen. Das Kestner-Museum in Hannover eröffnete beispielsweise, als erste städtische Museumsgründung in dieser Stadt, am 10. November 1889 und verdeutlicht, dass die Gründung des Angermuseums zu diesem Zeitpunkt kein Einzelfall war (Heese o. J.).

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Gleichzeitig begannen diese Museen tendenziell die eigenen Sammlungen mit Kunst ihrer unmittelbaren Gegenwart anzureichern. In einem „Sonderbeiblatt“ des in Erfurt erschienenen „Allgemeinen Anzeigers“ vom 20. Februar 1904 wurden konkrete Vorstellungen darüber geäußert, welche Ausrichtung dem Museum zugedacht war: Ein Erfurter Museum muß in der Hauptsache sich der Pflege der Heimatkunde und des Kunstgewerbes angelegen sein lassen. Bei dem Alter der Stadt und ihrer so überaus abwechslungsreichen Vergangenheit könnte gerade auf diese Weise ein so vollständiges und eigenartiges Kulturbild geschaffen werden , wie es nur wenige Städte würden bieten können.“

1.1.2 Förderer und Mäzene

Sowohl Eduard von Hagen als auch Alfred Overmann leiteten das Museum ehrenamtlich. Als erster hauptamtlicher Direktor trat, relativ spät im Vergleich zu anderen städtischen Museen, wie dem Kestner-Museum in Hannover, der Kunsthistoriker Edwin Redslob sein Amt 1913 an.

Overmann hatte 1903 mit seiner Museumskonzeption ein Programm entwickelt, das von Redslob unterstützt und erweitert wurde. Zugleich wurde darin jene Richtung des Museums vorgegeben, die den Sammlungen bis in die Gegenwart prägenden Charakter verleihen sollte.

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Overmann hatte für die Erfurter Museumsarbeit vier Schwerpunkte benannt: „(…) das geschichtliche, das kunstgewerbliche Museum, die Gemälde- und Skulpturensammlung, das naturwissenschaftliche Museum; ihnen angefügt als eine abgeschlossene , nicht weiter auszubauende Abteilung die ethnographische Sammlung; in den Hauptabteilungen der Heimatcharakter aufs strengste betont. Zu sammeln und auszustellen wäre alles, was an geschichtlichen Denkmälern, kunstgewerblichen Gegenständen, Naturalien, Gemälden und Plastik von Erfurt und Thüringer Herkunft irgend vorhanden sei. Bei Neuanschaffung müsse planmäßig nach diesem Programm verfahren werden.“(zitiert nach Horn 1996, S. 8)

Das Erfurter Kunstmuseum sollte kurz gefasst gemeinsam mit den anderen Abteilungen vor allem den heimatkundlichen Charakter pflegen.

Um das museale Sammlungsgut, das auf verschiedene Gebäude in der Stadt verteilt war, als einen geschlossenen Komplex in einem Haus vorführen zu können, plante Edwin Redslob ein neues Museum in Erfurt zu errichten. Als Standort hatte er die „Daberstedter Schanze“, von der Stadtseite aus unmittelbar hinter dem Bahnhof gelegen, vorgesehen. Die Entwürfe für das Konzept fertigte der in Weimar ansässige Architekt Henry van de Velde (1863–1957) an. Das Projekt musste bedauerlicherweise mit Beginn des Ersten Weltkrieges aufgegeben werden. Die unterschiedlichen Gebäude für die jeweiligen Sammlungsschwerpunkte wurden beibehalten. Sie prägten im weiteren Verlauf die museale Landschaft der Stadt Erfurt bis in die heutige Zeit. Das Modell des Entwurfes von van de Velde gilt als verschollen, sodass nur noch die einst davon angefertigten Fotografien Aufschluss über die Gestalt des Gebäudes geben können.6 Das bauliche Projekt war gleichzeitig mit dem inhaltlichen Konzept eines ‚modernen Museums‘ verbunden:

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„(…) Es soll zu dem Museum werden, in dem man sich den Begriff von Thüringer Kunst und Kultur bildet, denn es liegt in der größten Stadt Thüringens und hat eine alte, weit zurückgreifende Kultur zu vertreten. Es soll auch wichtige Anregungen für die moderne Zeit geben, denn es befindet sich in einer Stadt, die in regem Aufschwung ist und künstlerisches Leben verlangt.“ (Städt. Museum zu Erfurt. Veröffentlichung Nr. 2, Jahresbericht 1912/1913)

Edwin Redslob ist es zu verdanken, dass man die Gemäldegalerie in der oberen Etage des Angermuseums weiter ausbaute. Er vergrößerte die Kunstsammlung um Stillleben und Landschaftsgemälde von Künstlern, die national und sogar international angesehen waren und versuchte so, die Konzeption seines Vorgängers Overmann zu erweitern (Horn 1996, S. 8). Redslob erwarb neben graphischen Arbeiten des Expressionismus, Gemälde von Max Pechstein (1881–1955) oder Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) und sammelte die Meister der „Weimarer Malerschule“. Redslob hatte sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und unter dem Eindruck der Novemberrevolution für die Idee begeistert, in Erfurt die Hauptstadt eines ‚kulturell geeinigten Thüringens‘ entstehen zu lassen.7

Redslob verließ die Stadt 1920, weil er zunächst die Direktion der Württembergischen Staatlichen Kunstsammlungen übernahm und von dort unmittelbar zum Reichskunstwart berufen wurde. Seine Nachfolge trat Walter Kaesbach an, der bis zu diesem Zeitpunkt in Berlin als Kunsthistoriker in der Nationalgalerie tätig war. Mechthild Lucke und Andreas Hüneke beschreiben als eine herausragende Leistung Kaesbachs in seiner Zeit als Direktor des Erfurter städtischen Museums dessen Fähigkeit, Künstler derart zu inspirieren, dass sich diese expressiv mit der Architektur Erfurts auseinandersetzten. So schuf Lyonel Feininger (1871–1956) seine Gemälde und Aquarelle zur Barfüßerkirche und Reglerkirche und Christian Rohlfs (1849–1938) aquarellierte in 14 Variationen die Silhouette von Dom und Severikirche (Lucke / Hüneke 1992, S. 10f.).

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Die konservativen Kräfte in der Stadt bemühten sich jedoch, durch lautstarke Kritik den Geist der Moderne zu vertreiben; die Museumskommission der Stadt weigerte sich beispielsweise, expressionistische Kunst für das Museum anzukaufen. Kaesbach war auf Stiftungen und Spenden angewiesen. Er versuchte, die Zahl der Mitglieder in der Vereinigung der Erfurter Museumsfreunde zu erhöhen, um so über einen soliden finanziellen Etat verfügen zu können. Die Kommune musste ihm wenigstens jenes Geld zur Verfügung stellen, das als Zinsen aus den Stiftungen reicher Erfurter Familien eingenommen wurde.

Die größte finanzielle Hilfe erhielt der Direktor durch den Erfurter Schuhfabrikanten Alfred Hess (1879–1931). Das private Gästebuch des Mäzens gibt Aufschluss über die große Anzahl von Künstlern und Intellektuellen, die im Haus des jüdischen Industriellen zu Besuch waren und Inspiration oder auch finanzielle Unterstützung durch die Familie Hess und deren Freundeskreis erfuhren. Neben den bereits genannten Lyonel Feininger und Christian Rohlfs, sind dort weitere Künstler, wie beispielsweise Otto Mueller (1874–1930), Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein (1881–1955), Wassilij Kandinsky (1866–1944), Paul Klee (1879–1940) oder Erich Heckel (1883–1970) vertreten. Hans Hess (1908–1975) weist auf die enge Beziehung zwischen seinem Vater, Alfred Hess, und den beiden Museumsdirektoren Edwin Redslob und dessen Nachfolger Walter Kaesbach hin. Man besuchte die Künstler in ihren Ateliers, diskutierte über Expressionismus und suchte gemeinsam Bilder aus, die nicht zuletzt als Leihgabe oder Schenkung einen Platz in der Galerie des Erfurter Museums fanden.

„Zu Hause saß man abends meist im Herrenzimmer um einen runden Tisch. Dr. Kaesbach, der neue Museumsdirektor und ein guter Freund des Hauses, las aus Jean Paul oder Heine vor. Waren mehr Besucher da, so wurden oft Zeichnungen und Graphik gezeigt.“ (Hess 1992, S. 43)

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Im Kunstverein, dessen Mitglieder sich in einem Anbau im Südflügel des Angermuseums trafen, wurden ebenfalls expressionistische Künstler ausgestellt. Kaesbach übte auch hier in seiner Funktion als Sekretär des Vereins entscheidenden Einfluss auf die Ausstellungen aus. So gab es Personalausstellungen von Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Wilhelm Lehmbruck (1881–1919), August Macke (1887–1914), Otto Mueller, Heinrich Nauen (1880–1941) und Emil Nolde (1867–1956). Lucke und Hüneke weisen darauf hin, dass bedeutende Kunsthistoriker und andere Geisteswissenschaftler die Ausstellungen mit Vorträgen begleiteten und besonders über den Expressionismus diskutierten. Ludwig Curtius (1874–1954), Paul Frankl (1878–1962), Adolph Goldschmidt (1863–1944), Richard Hamann (1879–1961), Wilhelm Pinder (1878–1947), Max Sauerlandt (1880–1934), Walter Gropius (1883–1969) und Wilhelm Worringer (1881–1965) gehörten dabei zu jenen Referenten, die vor den kunstinteressierten Mitgliedern des Vereins zumeist die Kunsttheorien der Gegenwart erläuterten und auf diese Weise versuchten, dem Zeitgeist der Moderne zu begegnen, der sich nicht nur mit Widerständen innerhalb breiter Kreise des Bürgertums und des Kunstvereins auseinanderzusetzen hatte, sondern auch zwischen den Referenten für heftige Meinungsverschiedenheiten sorgte.8 Wilhelm Worringer beispielsweise war ein entschiedener Gegner des Expressionismus; während Walter Passarge diesen in einem Vortrag, ebenfalls im Kunstverein gehalten, und als persönliches Mitglied der Künstlergruppe „Jung Erfurt“, vehement verteidigte (Lucke 1996).

Zeitgleich mit dem konsequenten Ausbau einer Sammlung der Moderne versuchte Kaesbach, Gemälde des 18. und 19. Jahrhunderts zu erwerben und die mittelalterliche Sammlung zu erweitern. Er kaufte daher Bilder der Weimarer Malerschule, von Paul Baum, Theodor Hagen und Christian Rohlfs sowie Zeichnungen von Caspar David Friedrich und graphische Arbeiten von Hans Thoma (1839–1924) (Ebenda).

Durch die enge Verbundenheit zwischen Hess als Mäzen und Kaesbach als Direktor entstand in den Jahren 1923/24 außerdem das expressionistische Wandgemälde „Lebensstufen“ von Erich Heckel. Initiiert wurde das Projekt von Kaesbach, die Finanzierung übernahm wiederum Alfred Hess. Es handelt sich dabei um eine Arbeit, die abgesehen von ihrem ästhetischen Wert, als eine der wenigen erhalten gebliebenen expressionistischen Wandmalereien überhaupt gewürdigt werden kann.

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Trotz aller Verbundenheit und Orientierung an der Moderne blieb Walter Kaesbach der Tradition seines Vorgängers Redslob eng verbunden. In der 1920 erschienenen „Denkschrift zum Ausbau des Städtischen Museums“ spricht er sich ausdrücklich für den Ausbau des Gebäudekomplexes am Anger aus und betonte dabei, dass die Grundsätze, die Redslob und van de Velde für das Projekt an der „Daberstedter Schanze“ proklamiert hatten, weiter Geltung besaßen:

  1. Das Museum soll sich darstellen als eine geschlossene Einheit und dadurch repräsentative Kraft bekunden.
  2. Der Besucher soll so durch das Museum gehen können, daß ihn ein Rundgang zu allen Räumen führt.
  3. Er soll aber nicht genötigt sein, unbedingt durch alle Räume zu müssen, weil dadurch der ermüdet und abgelenkt wird, der nur zu einem bestimmten Sammlungsteil will.
  4. Das Museum soll seinem Inhalt nach räumlich klar gegliedert sein.
  5. Das Museum muß so angelegt sein, daß einige Räume veränderlich sind; vor allem aber muß ein Anbau ohne Zerstörung des Organismus möglich sein.
  6. Die Ausstellungsräume sollen nahe der Haupttreppe liegen.
  7. Die Direktionszimmer sollen eine besondere Treppe haben; ein besonderer Eingang soll den Abendbesuch der Bibliothek ermöglichen. Auch soll von den Büro- und Arbeitsräumen eine nahe Verbindung zur Sammlung und Bibliothek sein.

Am 1. Dezember 1925 trat Herbert Kunze (1895–1975) die Stelle als Direktor des Erfurter Angermuseums an, weil Kaesbach die Leitung der Düsseldorfer Kunstakademie übernahm. Kunze hatte Kunstwissenschaften an den Universitäten München, Leipzig und Berlin studiert und in Halle promoviert. Danach war er bis Juli 1924 als Assistent am Landesmuseum Oldenburg tätig und beschäftigte sich ein weiteres Jahr mit der Inventarisierung der Kunstdenkmäler der Kirchenprovinz Sachsen, bevor er Direktor des Angermuseums wurde. Zu seinen Fachgebieten zählten die deutsche Plastik des Mittelalters und das Kunsthandwerk (Stadtarchiv, 1-2/034-721/3).9

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Unter Kunzes Direktorat mussten schon zwei Jahre später, also 1927, die ersten Restaurierungsarbeiten an der Sockelzone des Raumes mit den expressionistischen Wandgemälden Erich Heckels durchgeführt werden, da dieser Teil des Gebäudes nicht unterkellert ist und die Feuchtigkeit ein bis heute bestehendes, enormes konservatorisches Problem darstellt. Heckel selbst besserte aus diesem Grund die Sockelzone aus, weil schon nach dieser kurzen Zeit die Feuchtigkeit seine ursprüngliche Arbeit stark angegriffen hatte.

1935 wurde im Obergeschoss des Angermuseums ein Fayencensaal eingerichtet, da es Kunze gelungen war, 300 Fayencen aus dem Besitz von Paul Heiland, einem Sammler aus Potsdam, zu erwerben. So wurde die Sammlung um einen weiteren Schwerpunkt im Kunsthandwerk erweitert. Die gezielte Bestandserweiterung macht deutlich, dass auch dieser Direktor der ursprünglichen Verpflichtung, sich besonders der Kunst Thüringens zu widmen, treu blieb.

Wie seine beiden Vorgänger war Kunze auch für den Verein der Erfurter Museumsfreunde verantwortlich und führte entsprechende Ausstellungen und Veranstaltungen in bewährter Tradition fort. So fanden auch unter seiner Leitung die beim Magistrat und Teilen der Erfurter Bürgerschaft ‚umstrittenen‘ Personalausstellungen expressiver Künstler statt. Gerhard Marcks (1889–1981), George Grosz (1893–1959) oder Otto Dix (1891–1969), deren Werke zu diesem Zeitpunkt bereits unter heftiger Kritik standen und wenig später öffentlich verboten wurden, gehörten zu den im Museumsverein noch immer gezeigten Künstlern. Kunze gelang es bis 1937 weitgehend unbehelligt, die Geschicke des Museums und des Kunstvereins mit seiner Ausstellungs- und Vortragstätigkeit im Sinne seiner Vorgänger weiter zu führen.

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„Es gehörte Mut dazu, die verkannten Künstler seine Freunde zu nennen. Die Anfeindungen der modernen Kunst wurden immer stärker, je mehr sich die Kunst selbst durchsetzte. Diese Anfeindungen nahmen schließlich politischen Charakter an und wurden in der Stadt sogar zum Teil des Wahlpro gramms einer lokalen ‚völkischen‘ Partei“. (Hess 1992, S. 47)

Mit dem Tod von Alfred Hess im Jahr 1931 zog dessen Familie ihre Leihgaben aus dem Museum zurück und emigrierte zwei Jahre später nach England. Die herausragende Stellung, die das Erfurter Kunstmuseum bis zu diesem Zeitpunkt besonders auf dem Gebiet der Gegenwartskunst eingenommen hatte, fand damit ein unwiederbringliches Ende.

1.1.3 Das Angermuseum in der Zeit des Nationalsozialismus

Wie ein Telegramm an den Oberbürgermeister der Stadt Erfurt beweist, sollte Kunze im Juni 1937 fristlos aus seinem Amt als Direktor des Museums entfernt werden. Dieser weigerte sich jedoch, seine Tätigkeit als Beamter der Kommune einzustellen:

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„Da ich nicht auf Kuendigung angestellt bin duerfte nach Mitteilung meines Anwalts Meinhardt diese unwirksam sein. Ich wiederhole dass ich freiwillig nicht bereit bin, die Rechtsstellung als Beamter aufzugeben und das Museum als Angestellter zu leiten.“ (StAE 1-2/034–721/3)

Auf diese Forderung ließ sich der Magistrat nicht ein, Kunze wurde zunächst beurlaubt und zu Beginn des Jahres 1938 entlassen. Gleichzeitig erhielt er Hausverbot und durfte das Museum nicht mehr betreten.

Der Prozess der Gleichschaltung führte an etlichen Museen in Deutschland bereits 1933/34 zu ähnlichen Vorkommnissen, wie sie sich Jahre später auch in Erfurt ereigneten. Ernst Gosebruch (1872–1953), Direktor des Folkwang-Museum Essen, warf man „Franzosensucht“ und Kulturbolschewismus vor, da er mit seiner Ausrichtung der musealen Sammlung impressionistische Kunstwerke favorisierte. Gosebruchs Nachfolge trat Klaus Graf von Baudissin (1891–1961) an, der später als Ministerialdirektor des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin maßgeblich an der Entfernung der als entartet bezeichneten Kunstwerke aus dem Erfurter Museum beteiligt war. Ebenso wurde Carl Georg Heise (1890–1979), Direktor des Lübecker Museums, mit der Begründung pensioniert, sich zu sehr für deutsche Künstler wie Ernst Barlach eingesetzt zu haben (Wulf 1989).

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Herbert Kunze hatte 1935 die Aufnahme in die NSdAP beabsichtigt, weil er vermutlich hoffte, eine stille Mitgliedschaft könnte genügen, um unbehelligt mit den eigenen kunsttheoretischen Konzepten und dem daraus resultierenden, aufgeschlossenen Umgang mit den verschiedenen Strömungen moderner Gegenwartskunst das Museum weiter leiten zu können. Doch weil er in den Jahren zuvor bereits mit stillem aber beißendem Humor zivilen Ungehorsam übte und somit verdeutlicht hatte, dass er nicht gewillt war sich ‚nationalsozialistischen Gepflogenheiten‘ anzupassen, verweigerte man ihm die Aufnahme in die NSdAP. Besonders unbeliebt hatte er sich bei den neuen Machthabern schon 1934 dadurch gemacht, dass er an einer großen und ansonsten leeren Wand des Museums eine Tafel hatte anbringen lassen, auf der mit großen Lettern folgender Text stand: „Der kommenden Kunst vorbehalten.“ Damit gab er vor, die von den Machthabern bevorzugte Kunst weder zu kennen noch zu schätzen. Herbert Kunze verhehlte außerdem nicht, Literaten und Schriftsteller wie Erich Kästner zu verehren, dessen Werke bekanntermaßen zu denen gehörten, die verachtet und vernichtet wurden (Ebenda).

Im Januar 1939 verklagte Kunze die Stadt Erfurt aufgrund der Kündigung, die sich nach seiner Rechtsauffassung nicht mit dem ihm vertraglich zugesicherten Beamtenstatus vereinbaren ließ. Der Rechtsstreit wurde zugunsten des Klägers entschieden, doch weil die Stadt Berufung einlegte, einigte man sich erst im Juli 1940 in zweiter Instanz auf einen Vergleich. Kunze wurde in diesen Verhandlungen insbesondere vorgeworfen, ein „Vertreter der jüdisch-bolschewistischen Kunstrichtung in Erfurt“ zu sein, die notwendige Entlassung wurde dadurch begründet, dass sich Künstler der Stadt, namentlich Carlos Goetjes (1905–1963), Wolfgang Taubert (1905–1990) und Robert Sandrock (1897–1956) weigerten, ihre Bilder im Erfurter Museum auszustellen, solange dieses von Kunze geleitet würde (Ebenda).

Am 3. September 1937 beschlagnahmte man im Angermuseum 765 Werke der klassischen Moderne als ‚entartete Kunst‘. Damit war das Museum der Einmaligkeit seiner ungewöhnlich vollständigen Sammlung an moderner Kunst für immer enthoben. Die exakten Zahlen, die den Verlust beziffern, können nicht mehr angegeben werden wie Ruth Menzel in einem Aufsatz nachweist.10

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Während des Krieges wurde das Angermuseum kommissarisch von der Kunsthistorikerin Magdalene Rudolph (1901–1992), der späteren Ehefrau von Herbert Kunze, geleitet. Sie arbeitete, nach einem Studium der Kunstgeschichte bei Wilhelm Pinder in München, seit 1934 im Museum. Ihr ist es zu verdanken, dass der Heckel-Raum durch eine provisorische Wand verschlossen wurde, als der braune Mob und eine große Zahl Erfurter Mitläufer in selbstgerechter Haltung und moralischer Entrüstung gegen die „Schreckenskammer“ wetterten (Lucke / Hüneke 1992). Magdalene Rudolph positionierte eine Plastik vom Heiligen Gabriel, dem Überbringer göttlicher Botschaften, unmittelbar vor der verschlossenen Tür und ließ den Raum so in Vergessenheit geraten. Diesem Umstand ähnelt eine Passage aus Lion Feuchtwangers Roman „Erfolg“, der 1930 am Schicksal des Museumsdirektors Krüger eine ebensolche kulturpolitische Justizposse, dort allerdings den Gegenstand eines Bildes betreffend, inszeniert: „Aber dann verstummten die Zeitungen, allmählich verstummten auch die Fragen der Besucher, und das Bild wurde wie sein Maler vergessen.“

Dem Raum erging es ebenso und wenn auch aus konservatorischer Sicht in bedenklichem Zustand, so blieb die Sekko-Malerei dennoch für die Nachwelt erhalten.

Als wegen der Luftangriffe die Kunstgegenstände ausgelagert werden mussten, war Magdalene Rudolph dafür verantwortlich, die Objekte an sicheren Orten zu verwahren. Es ist außerdem überliefert, dass sie nachts Kunze heimlich in das Museum ‚schmuggelte‘, damit dieser seinen Einfluss auf wichtige Bereiche innerhalb der nur unter Zwang aufgegebenen Wirkungsstätte eben doch nicht gänzlich einbüßte.11

1.1.4 Zur allgemeinen Situation 1945

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Von April bis Juli 1945 stand Thüringen unter amerikanischer Besatzung. Anfang Juli wechselte die Besatzungsmacht, die amerikanischen Truppen zogen sich nach Hessen und Bayern zurück und die sowjetische Armee rückte nach. Am 3. Juli erreichte die 8. Gardearmee unter Generaloberst Wassilij Iwanowitsch Tschuikow (1900–1982) Erfurt. Sechs Tage später übernahm die sowjetische Militäradministration die Kontrolle über die zivile Verwaltung des Landes.

Der Krieg war endgültig beendet, die Behörden der Stadt Erfurt begannen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen und es galt wie überall in Deutschland, sich des geistigen und materiellen Schadens, der durch die Herrschaft der Machthaber des viel beschworenen „Dritten Reichs“ verursacht worden war, bewusst zu werden.

Durch den anglo-amerikanischen Bombenangriff vom 19. Februar 1945 war das Angermuseum schwer beschädigt worden. Die Ausstellungsräume im hinteren Flügel des Gebäudes, Büro- und Speicherräume, Werkstätten und das Innere des Vordergebäudes lagen zum großen Teil in Trümmern (StAE 1-5/3813-7955).

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Nach der Kapitulation und dem Ende des Krieges, in der Stunde Null, wurde Herbert Kunze erneut in das Amt des Direktors der Erfurter Museen berufen. In den ersten Nachkriegsmonaten verlangte der Oberbürgermeister Hermann Jahn (1894–1946) alle 14 Tage einen kurz gefassten Tätigkeitsbericht von allen kommunalen Einrichtungen, sodass der Zustand des Museums gut dokumentiert ist. Walter Kießling (1892–1966), Mitglied der NSdAP und Bürgermeister während der NS-Diktatur, wurde vom parteilosen Otto Gerber (1884–1961) abgelöst, ab Juli 1945 übernahm Hermann Jahn, der in Buchenwald inhaftiert gewesen war, dieses Amt bis zu seinem Tod ein Jahr später. Im Mai 1946 wurde Georg Boock (1891–1961), Mitglied der SED, Oberbürgermeister der Stadt Erfurt (Raßloff 2004).

Erfurt, den 15. 8. 1945

An den Oberbürgermeister

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Betr. Tätigkeitsbericht Nr. 2

Die Aufräumarbeiten wurden fortgesetzt.

Das Dach des östlichen Seitenflügels ist wiederhergestellt und bis auf einen kleinen Restteil, an dem noch gearbeitet wird, mit Ziegeln einfach eingedeckt worden. Am D ach d e s Hauptgebäudes, das nach dem Museumshof zu stark beschädigt ist, arbeiten jetzt die Zimmerleute.

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Die Regenfälle haben fast alle Decken durchweicht. Sie senken sich und die Holzfussböden, auf denen sich das Wasser sammelt, beginnen sich zu heben. Infolge dessen war die Haupttätigkeit aller Museumsangestellten (werktags und sonntags) die Wassermengen auszuschöpfen und aufzuwischen. Es muss verhindert werden, daß sie auch die steiner nen Gewölbe über dem Erdgeschoß durchdringen und die Kunstgegenstände, die dort zur Zeit stehen, beschädigen. Es soll auch versucht werden, den Schaden für das wertvolle und schöne Gebäude gering zu halten. Aber nur wenn sein Hauptdach bis zum Beginn des Frostes mit Ziegeln oder Brettern abgedeckt wird, wird die Erhaltung des Hauses möglich s ein.

Der Rücktransport der verlagerten Sammlungsgegenstände ist aus Mangel an Lastwagen in den letzten zwei Wochen unterbrochen worden. (StAE 1-5/3813-7954)

In der steinernen Gewölbehalle des Erdgeschosses standen jene Kunstgegenstände, die entweder gar nicht ausgelagert oder bereits aus den Depots zurückgeholt worden waren. Ein Teil der Objekte lag während des Krieges im Erfurter Domkeller verborgen, den größten Teil deponierte man außerhalb der Stadt, zumeist in Kirchen und Pfarreien. Zu den Verlagerungsorten gehörten: Bechstedt-Wagd, Kirchheim, Nottleben, Freudenthal, Walschleben, Werningsleben, Alach und Ermstedt. Die meisten Sammlungsgegenstände blieben erhalten und überstanden diese Zeit weitestgehend unbeschadet. Einzig die in Schloss Molsdorf und Werningsleben befindlichen Teile der Münzsammlung, Gemälde, Teile der Graphik-Sammlung und Teile der Sammlung von Silbergegenständen wurden als vermisst angegeben. Vorerst galt die größte Sorge jedoch dem beschädigten Gebäude und den während des Krieges im Hause verbliebenen Gegenständen wie Bilderrahmen oder Vitrinen, die in Folge der Beschädigungen größtenteils unbrauchbar waren (StAE 1-5/3813-8030).

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Am 2. Oktober 1945 proklamierte der Befehl Nr. 85 vom Obersten Befehlshaber der Sowjetischen Militäradministration unter dem Titel „Erfassung und Schutz der Museumswerte und Wiedereröffnung und Tätigkeit der Museen“ ausdrücklich, dass Museen die vornehmliche Funktion zu erfüllen haben, „(…) die Entlarvung des Faschismus und der faschistischen Entstellungen auf dem Gebiet der Kultur und der Aufklärung zu unterstützen (Dietrich 1983, S. 91).

1.2 Ideengeschichtliche Grundlagen

1.2.1 Akteure und ihre Konzepte

Das Museum ist ein Ort, an dem die drei kunsthistorisch relevanten Komponenten Künstler, Kunstwerk und Rezipient idealtypisch aufeinander treffen. Alle drei Domänen weisen aus wissenschaftlicher Sicht unterschiedliche Charakteristika auf, die sich besonders im musealen Umfeld in ihren Wechselwirkungen differenzieren lassen.

Der Aufgabenkomplex eines Kunstmuseums umfasst vier Bereiche: Sammeln, Bewahren, Forschen und Vermitteln. Letzteres, die Popularisierung von musealen Inhalten und Werten, vollzog sich als „Institutionenauftrag“ seit Beginn der Jahrhundertwende (Kirchberg 2005). Das Bürgertum spielte dabei bekanntermaßen eine herausragende Rolle. Besonders in den ästhetischen Abläufen eines Museums ist ein dialektischer Prozess erkennbar, dem sowohl vergangene als auch zukünftige Handlungsweisen zugrunde liegen, die in enger Verbundenheit mit den Rezipienten gedacht werden müssen.

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Eine ästhetische Dimension ergibt sich aus der Arbeit mit dem Kunstwerk an sich; während prozedurale Abläufe organisatorische und verwaltungstechnische Strategien voraussetzen. Die Grundlage beider Formen zielgerichteter Arbeit im Museum bildet die Kommunikation.

Es scheint für jedes Kunstmuseum im Sinne einer aufgeschlossenen Rezeption und einer kritischen Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit von Interesse zu sein, dass die ästhetische Kommunikation zwischen dem Kunstwerk und dessen Betrachtern als Aufgabe der Vermittlung mittels der Begriffe Etablierung, Neuerung und erneuter Etablierung in seiner Gestalt als dialektischer Vorgang erkannt wird. Damit ist gemeint, dass eine Neuerung, die gleichermaßen ein neues kunsttheoretisches Konzept, das Projekt einer Ausstellung, den Aufbau einer Sammlung oder die Anschaffung neuer Kunstobjekte umfassen kann, innerhalb der Kommunikation einen Prozess durchlaufen muss, an dessen Ende die Etablierung der entsprechenden Idee steht. An diesem Punkt haben die konventionellen Sehgewohnheiten des Rezipienten eine geschmacksbildende Wandlung erfahren. Das ästhetisch Neue hat sich – quasi im Prozess der Synthese –durch die Akzeptanz des Publikums etabliert, während die nächste Generation potentieller Avantgardekünstler bereits sensibel daran arbeitet, neue Themen des Zeitgeistes zur Anschauung zu bringen. Das Museum ist somit eine „Stätte der Bildung des Urteilsvermögens“ (Hünnekens 2002, S. 14).12

Der Begriff der Avantgarde soll dabei definiert werden anhand der Kreativitätsmerkmale von Martin Schuster. Demzufolge soll als Avantgarde-Künstler derjenige Kunstschaffende der unmittelbaren Gegenwart gelten, dessen Ausdrucksvermögen die gesellschaftliche Verfasstheit seiner Umgebung zu einem sehr frühen Zeitpunkt erkennt und als solche zum Ausdruck bringt. (Schuster 2002, S. 147)

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Wenn man die historischen Ereignisse seit den Anfangsjahren des Angermuseums betrachtet, können die Phasen Gründung, Etablierung, Neuerung und erneute Etablierung, wie in jedem anderen Kunstmuseum, ebenfalls nachvollzogen werden. Die Zeitspanne der Gründung wurde größtenteils geprägt durch Alfred Overmann, der zunächst versuchte, die Sammlungen zu ordnen und zu systematisieren. Edwin Redslob festigte das Museumskonzept von Overmann besonders in der Auseinandersetzung mit der Stadt und erweiterte die vorhandene Sammlung um Landschaftsgemälde, Stillleben und Porträts vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Seine Vorstellung von Präsentation der Gegenwartskunst beschränkte sich allerdings, anders als von Overmann vorgeschlagen, nicht ausschließlich auf regionale, zeitgenössische Künstler, was ihm unverzüglich entschiedene Abwehr durch den Magistrat und Teile der Erfurter Bürgerschaft bescherte.13 Der Erneuerer Edwin Redslob beschrieb sein Konzept und die heftigen Proteste der konservativen Bürgerschar folgendermaßen:

„Ich sammelte Erfurter und Thüringer Meister des 18. und 19. Jahrhunderts und betonte als Motiv, so wie es Thüringen entsprach, die deutsche Landschaft. Immerhin endete die Reihe, über das Thema hinausgreifend, das Meister wie Rohlfs, Buchholz und Hagen in Hauptwerken zeigte, mit einem schönen Dreiklang von Bildern aus der Hand von Max Liebermanns, Slevogts und Corinths. Und bald wurde mit Schmidt-Rottluff und anderen Meistern der Brücke die Verbindung zur Gegenwart geschaffen. Meine Pläne wurden sehr bekämpft, und ich wurde wegen Mißbrauchs von Steuergeldern zu einer Sitzung der Abgeordneten zitiert. Ich erklärte, daß ich kein einziges Bild aus der Zeit nach 1888 aus öffentlichen Mitteln erworben, sondern die Möglichkeit zur Erwerbung von Stiftern erhalten habe. Was den Mißbrauch des Geldes von Steuerzahlern anginge, so könnte ich allerdings einen Fall zugeben: Ich habe dem Museum ein großes Ölbild von Christian Rohlfs und eine Landschaft des durch seine Herkunft mit Thüringen verbundenen Alexander Kan oldt geschenkt und insofern Miß brauch mit Vermögenswerten eines Steuerzahlers getrieben , nämlich meiner selbst.“(Raabe 1998, S. 102 f.)

Die öffentliche Kritik an der von Redslob favorisierten Gegenwartskunst war groß. Die kleinbürgerlichen Kräfte der Stadt versuchten, eine Etablierung der Avantgarde im musealen Kontext dadurch zu verhindern, dass man Neuerungen in der Sammlungs-strategie nicht akzeptierte. Außerdem versuchten die magistralen Kritiker dessen kuratorisches Handeln zu beeinflussen, indem sie den finanziellen Etat des Angermuseums kürzten. Zusätzlich kritisierte man Redslobs Sammlungstätigkeit in den Medien, um seine gesellschaftliche und wissenschaftliche Autorität in Frage zu stellen (Raabe 1998). Ein Vorgang, der sich nicht zuletzt bis in das Jahr 1962, bewiesen durch den Artikel „Dornröschenschlaf im Angermuseum“, regelmäßig wiederholte (Vgl. Kapitel 2.1.4.). Trotzdem hatte Redslob für das städtische Museum ein klar umrissenes Ziel vor Augen, das er bereits im „Jahresbericht: Oktober 1912 bis Dezember 1913“ eindeutig formulierte: (…) Wenn also schon jetzt eine Einwirkung des Museums und der von ihm vertretenen künstlerischen Interessen auf weite Kreise der Stadt möglich war, so wird für die Zukunft erwartet werden können, dass das Museum immer mehr zu ei ner lebensvollen Macht wird. (… ) Es soll zu einem Museum werden, in dem man sich den Begriff von Thüringer Kunst und Kultur bildet, denn es liegt in de r größten Stadt Thüringens und hat eine alte, weit zurückgreifende Kultur zu vertreten. E s soll aber auch wichtige Anregungen für die moderne Zeit geben, denn es befindet sich in einer Stadt, die in regem Aufschwung ist und künstlerisches Leben verlangt. (…) Es soll endlich über diese an Thüringen gebundenen Aufgaben hinausgreifen und durch seinen Neubau den Typus eines modernen Museums finden helfen, nachdem unsere Zeit verlangt.“

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Die Aufgaben des städtischen Museums, begründet in seiner Heimatbezogenheit auf Erfurt und Thüringen, lagen für Redslob nicht nur im Bereich der Pflege und Vervollkommnung historischer Sammlungen, sondern auch in der Vermittlung zwischen zeitgenössischen, avantgardistischen Künstlern und dem Publikum in einer Zeit, die nach den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges eine völlige Neuorientierung der Gesellschaft hinsichtlich ihrer ideellen Werte benötigte. Es ist davon auszugehen, dass geistige Impulse aus der zeitgenössischen Kunst gesellschaftliche Phänomene nicht nur beschreiben, indem ein Künstler sie in seinen Arbeiten thematisiert, sondern umgekehrt rezeptionsästhetisches Verhalten im Prozess zwischen Neuerung und Etablierung unmittelbare Auswirkungen auf das Ausstellungsgeschehen bedingt, besonders wenn der Kurator sich gezwungen sieht, dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben. Obwohl eine Phase der Etablierung von Gegenwartskunst entgegen aller Widerstände gesetzmäßig ist, bleibt der zeitliche Abstand zwischen der erbrachten Leistung des avantgardistischen Künstlers und einer unmissverständlichen Akzeptanz der Rezipienten entscheidend für eine fruchtbare Wechselwirkung, die maßgeblich dazu beiträgt, dass aus den einzelnen Domänen Künstler, Kunstwerk und Rezipient ein kommunikatives Miteinander entsteht. Es handelt sich bei diesem Vorgang häufig um Jahrzehnte, denn erst wenn diese ‚moderne‛ Kunst eigentlich schon wieder ‚unzeitgemäß‘ ist, dieser Vorgang bedarf häufig mehrerer Jahrzehnte, wird sie vom überwiegenden Teil des Publikums im ästhetischen Sinne als ‚schön‘ und verständlich wahrgenommen. Die jeweilige avantgardistische Kunst ist dann längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Während der ‚durchschnittliche‛ Rezipient anfängt, die nicht mehr gegenwärtige, ‚post-avantgardistische‘ Kunst zu verstehen und zu akzeptieren, begegnet er der unmittelbar zeitgenössischen Kunst verschiedener Stilrichtungen weiter mit der gleichen Intoleranz wie Jahrzehnte früher der inzwischen etablierten Kunst. Als Beispiel mag jenes Publikum gelten, das im 19. Jahrhundert in Ausstellungen der Impressionisten deren Arbeiten mit Regenschirmen attackierte, um die unverstandenen Kunstwerke anzugreifen. Begonnen hat diese Distanz zwischen Publikum und Künstler allerdings eher, sie setzte zur Zeit der Romantiker ein, deren dargestellte Gefühlswelt bereits für Irritationen bei den Rezipienten sorgte. Der Kunstpsychologe Martin Schuster weist im Zusammenhang mit der Frage „wie Kunst wirkt“ auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen „wahrgenommener Bedeutung“ und dem gespeicherten „visuellen Konzept“ hin (Schuster 2002, S. 139).

So bleibt das Dilemma von Neuerung, Etablierung und anschließender Neuerung innerhalb der Präsentation von Gegenwartskunst zeitlos und bei fehlender kunsttheoretischer Aneignung, der zentralen Aufgabe von Präsentationen zeitgenössischer Kunst, als ewiges Paradoxon zu beobachten.14

Daraus folgen zwei Dinge: Erstens: Kein Museumsdirektor, der zeitgenössische Kunst verschiedenster stilistischer Richtungen ausstellt, kann sich auf einen breiten Konsens innerhalb seines Publikums verlassen. Zweitens: Ohne kunsttheoretische Erklärungen als Möglichkeit der Annäherung wird sich die Diskrepanz im Verständnis zwischen breitem Publikum und Avantgarde-Künstlern nicht verkleinern, ein Umstand, der sich besonders in den Besucherzahlen widerspiegelt.

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Für Walter Kaesbach, der bei den konservativen Bürgern der Stadt gegen ähnliche Schwierigkeiten wie sein Amtsvorgänger Edwin Redslob kämpfte, gingen Etablierung und Neuerung, wie bereits dargestellt, gleichermaßen Hand in Hand. Wie schwierig die Arbeit für Kaesbach und zukunftsweisend für die späteren Nachfolger war, verdeutlicht Alfred Overmann, der beflissen versuchte, die Wogen zu glätten: „Sodann – es wäre geradezu lächerlich, wenn unser Museum sich als Hauptaufgabe gestellt hätte oder stellen würde, expressionistische Kunst zu sammeln. Niemand denkt daran, am wenigsten die Museumsleitung und der aus Vertretern des Magistrats, der Stadtverordnetenversammlung und aus kunstverständigen Bürgern zusammengesetzte städtische Museumsausschuß, ohne dessen Zustimmung kein wesentliches Stück für unsere Sammlung erworben werden darf.“ (Stadt- und Regionalbibliothek, Sonderdruck der „Thüringer Allgemeinen Zeitung“, o. J.)

Harry Graf Kessler (1868–1937), Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst- und Kunstgewerbe in Weimar, beschreibt in seinem Tagebuch ein Treffen mit Kaesbach und anderen Kunsthistorikern, das Aufschluss über deren kunsttheoretische Ansichten gibt:

„Abends gegessen beim heute zurückgetretenen Unabhängigen-Finanzminister Simon in Zehlendorf mit seinem Kollegen Südekum, dazu dem Direktor der Nationalgalerie Justi, Dr. Kaesbach und Dr. Hübner. Wenig von Politik, viel von Kunst die Rede. Allgemeine Übereinstimmung, daß in der deutschen Kunst eine Wandlung vom Bürgerlichen zum Volkstümlichen b ereits der Revolution vorausgeg angen sei. Wandlung vom Impressionismus, der in Tafelbildern intime, bürgerliche Kunst bietet, zum Expressionismus, der Öffentlichkeit, große Räume, monumentale Aufträge, Wirkung auf breite Massen, Pathos und Rhetorik will. (Pfeiffer-Belli 1961, S. 91)

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Die Legitimation ihres fachspezifischen Selbstverständnisses wird von den Direktoren nicht innerhalb der breiten Bürgerschaft gesucht, die wohl ein Interesse an musealen Inhalten vorgibt, wie beispielsweise in Museumsvereinen, aber häufig in tradierten, konservativen Normen gefangen bleibt. Die Diskrepanz zwischen einer am Publikum orientierten Ausstellungspraxis bei gleichzeitiger Ignoranz des Geschmacks der ‚Massen‘ verweist auf einen ungeheuren Spannungsbogen, der vom jeweiligen Direktor hinsichtlich eines eigenverantwortlichen Handelns ausgehalten werden musste.

Allerdings verlangte die Auseinandersetzung mit kritischer Avantgardekunst in den Zwanziger Jahren den Sammlern und Mäzenen aus dem Bürgertum mehr als jemals zuvor die Bereitschaft ab, die eigene Position in der Gesellschaft zu hinterfragen. Fortan war es nicht mehr so leicht möglich, aus Gründen der Statusrepräsentation gesellschaftskonforme Kun st zu sammeln und gleichzeitig ‚modern‘ zu sein. (Frey 1999, S.133)

Bemerkenswert in diesem Kontext ist die entschiedene Identifikation der Direktoren mit dem Museum und ihr Einsatz für die jeweils unverstandene Gegenwartskunst. Diese Hingabe ermöglichte den Aufbau einer Sammlung und die Präsentation von Sonderausstellungen, die Besuchern Gelegenheit bot, Kunst mit der erläuterten zeitlichen Verzögerung wertschätzen zu lernen. Es liegt in der besonderen Verantwortung entsprechender Persönlichkeiten, die aus dem dialektischen Prozess zwischen Neuerung und Etablierung resultierende Spannung bewusst zu provozieren, um als idealtypisches Resultat eine Synthese zu erzielen, die im günstigsten Fall bei den Rezipienten zu einer zeitlich nahen Identifikation mit dem avantgardistischen Kunstwerk führen kann. So betont Edwin Redslob in seinen „Erinnerungen“ mehrfach, wie er diese Aufgabe im Zusammenhang mit seinem Amt als Direktor des Angermuseums verstand. Diese lässt sich als Dokumentation der „Entwicklung der deutschen Kunst unseres Jahrhunderts“ (Raabe 1998, S. 179) benennen.

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Sein Nachfolger im Amt, Walter Kaesbach, war von der gleichen Idee beseelt wie Redslob im gleichen Dokument bestätigt: „Mein Nachfolger und Heidelberger Universitätsfreund Walter Kaesbach setzte das der zeitgenössischen Kunst gewidmete Bestreben meiner Erfurter Tätigkeit fort, ehe er nach Düsseldorf als Direktor der dortigen Kunstakademie berufen wurde.“ (Ebenda, S.124)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dem Angermuseum in diesen Jahren Direktoren beschieden waren, die übereinstimmende Positionen hinsichtlich der grundlegenden Konzepte des Angermuseums vertraten. Sie konzentrierten sich auf regionale Kunst, sammelten Arbeiten zeitgenössischer Künstler und vergrößerten die Sammlungen bei schmalem Etat durch die Hilfe interessierter Mäzene. Entscheidend für ihre Tätigkeit blieb aber stets das Bemühen, gleichzeitig die Kommunikation des Publikums mit den Künstlern der Gegenwart durch Ausstellungen zu fördern. Selbst gegen entschiedenen Widerstand und in Abhängigkeit von magistralen Befindlichkeiten versuchten besonders Kaesbach und Redslob das Angermuseum öffentlichkeitswirksam zu etablieren. Das Angermuseum war seit seiner Gründung ein Haus mit aufgeschlossenen Direktoren, deren wissenschaftlich begründeter Führungsstil die Grundlage dafür bildete, dass der Ruf des Hauses, besonders als ein Ort der zeitgenössischen Kunst, weit über die Grenzen Thüringens reichte.15

1.2.2 Herbert Kunze nach 1945

Für Herbert Kunze sollte im Angermuseum nach 1945, dem tradierten Verständnis gemäß, vor allem wieder die Gegenwartskunst thematisiert werden. Neben dem Aufbau und der Neuorganisation der bestehenden Sammlungen, deren Aufgabe in der Pflege und Präsentation von historischen Objekten lag, galt es außerdem, die unmittelbare Vergangenheit und den Verlust der expressionistischen Kunstwerke aufzuarbeiten. Der Schwerpunkt der unmittelbaren Arbeit lag jedoch in den zu konzipierenden Sonderschauen von zeitgenössischen Künstlern, deren ästhetische Konzepte den Blick auf ein ‚besseres Morgen‘ ermöglichen sollten. Mit diesem besonderen Gestus der Orientiertheit an Zukünftigem übernahm Herbert Kunze eine Aufgabe, die ihrem Charakter gemäß abhängig war von der aktuellen gesellschaftlichen Kommunikation über Kunst. Unabhängig von dem Selbstverständnis der Künstler änderte sich mit der zunehmend politischen Inanspruchnahme von Kunst in der DDR, durch die Funktionäre der SED und anderer Verantwortlicher, die visionäre Aufbruchstimmung der ersten Jahre nach dem Krieg. Herbert Kunze versuchte, dieser Inanspruchnahme auf vielfältige Art entgegenzuwirken.

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Im Verlauf der Arbeit wird daher zu untersuchen sein, auf welche Weise es dem Direktor des Angermuseums gelang, durch eine große Zahl an Wechselausstellungen einen regen Austausch zwischen Publikum und Künstlern zu erzielen.

Eine Möglichkeit, diese Kommunikation zwischen avantgardistischen Künstlern und Rezipienten zu fördern, sah Kunze in der Aufklärung des Publikums, beispielsweise durch Vorträge, in denen er sich dafür einsetzte, dass auch die abstrakte Kunst im Museum vertreten sein muss und man ihr mit Toleranz zu begegnen habe:

Die Einführung in die moderne Kunst, die Museumsdirektor Dr. Kunze an einem Vortragsabend des Erfurter Kulturbundes gab, zeichnete sich durch phrasenlose Klarheit und von pädagogischen Absichten geleitete Allgemeinverständlichkeit aus. Indem Dr. Kunze in historischer Darstellung von den Tierzeichnungen der Steinzeit und der abstrakten Ornamentik der Völkerwanderungszeit an durch das Mittelalter bis in die Neuzeit zeigte, wie wirklichkeitsnahe und wirklichkeitsferne Gestaltung einander ablösen, gab er der Erörterung über die Probleme der zeitgenössischen Kunst eine sichere Grundlage und führte sie aus den Niederungen polemischen Tagesstreits auf die Ebene sachgerechter Diskussion. Die Feststellung, dass in einer Zeit gewaltiger politischer und sozialer Handlungen und einer Neuformung des wissenschaftlichen Weltbildes auch die Kunst neue Wege sucht und neue Ziele ansteuert, half wesentlich, die Problematik der vielfältigen und widerspruchsvollen bildnerischen Bemühungen d er Gegenwart zu entschlüsseln. ‚ Auch wo wir sie nicht v erstehen, wollen wir sie achten‛ lautete die Mahnung zu toleranter Haltung, mit der Dr. Kunze seine instruktive Darlegung schloß.(Abendpost, - st.-, 20. Oktober 1948)

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Neben diesem Bekenntnis zu einem vernunftbetonten Umgang mit sämtlichen Spielarten gegenwartsbezogener Kunst war Kunze außerdem der Tradition des Mäzenatentums verpflichtet, wie sie in besonderem Maße in Gestalt des Sammlers Alfred Hess dem Angermuseum zu außerordentlicher Bedeutung verholfen hatte (Kapitel 1.1.2.).

Proportional mit dem Entstehen neuer politischer Strukturen nach 1945 in der SBZ wurde die Tradition des Mäzenatentums im Sinne eines Paradigmenwechsels aufgegeben. Neuerungen sollten nicht mehr durch Direktor und Kurator und eine kleine Schar von Mäzenen die Ausstellungslandschaft prägen, sondern das Volk selbst wurde zu derartiger Einflussnahme angeregt. Dieses Problem eines geänderten Auftraggebers besitzt mehrere ästhetische Dimensionen, die alle gegenwartsbezogenen Dauerausstellungen und Galerien der Museen in der SBZ/DDR gleichermaßen betrafen. Aus den Positionen der Betriebe und Werke heraus vergaben die Rezipienten Aufträge an jene Künstler, durch die sie sich vertreten fühlten. Diese künstlich erzeugte Gleichstellung zwischen ‚Mäzen‘ und Rezipient im musealen Kontext birgt die Gefahr in sich, dass durch mangelnde Vielfalt des ästhetischen Urteils im Kollektiv der Prozess von Erneuerung und Etablierung an emotionaler und intellektueller Zündkraft verlieren kann. Wenn ausschließlich das Volk als ästhetischer Souverän entscheidet und es kaum Möglichkeiten für experimentell arbeitende Künstler gibt, sich an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen, läuft man Gefahr, keine Avantgarde mehr zu haben, deren ‚unverstandene‘ aber gesellschaftskritische Kunst in Museen und Galerien bis zur Durchsetzung der ästhetischen Akzeptanz provoziert. Dieser dialektische Prozess wird als solcher von Ernst Fischer, einem Theoretiker des Marxismus, insofern begründet, als er darauf hinweist, dass es intellektuellen Künstlern eben nicht gelänge, die Arbeiterklasse in ihrer entscheidenden Rolle innerhalb der sozialistischen Gesellschaft in der Kunst oder in der Literatur darzustellen (Fischer 1961, S. 178). Besinnt man sich auf die Triade Künstler, Kunstwerk, Rezipient, so muss festgehalten werden, dass nicht nur der bürgerliche Mäzen seiner Aufgabe enthoben wurde, nicht nur das Kunstwerk inhaltlich eine Aufgabe zu erfüllen hatte, sondern demgemäß auch der Künstler versuchen musste, sich mit der Arbeiterklasse zu identifizieren. Alle drei Komponenten der Triade waren daher politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Veränderungen unterworfen, die von Kunstinteressierten wie Herbert Kunze als hemmend empfunden werden mussten.

Ohne den dialektischen Prozess der ästhetischen Bildung bleibt eine entscheidende Möglichkeit der kulturellen Entwicklung, nämlich die provozierende Auseinandersetzung mit einer zunächst unverstandenen und ungewollten Avantgarde, gerade innerhalb jener breiten Schichten der Gesellschaft aus, der man eine intensive Beschäftigung mit Kunst ermöglichen wollte. Das Kunstmuseum der DDR verlor somit den entscheidenden Anspruch, geschmacksbildend zwischen sämtlichen zeitgenössischen Künstlern und ihren Rezipienten zu vermitteln.

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Diese Stagnation wurde durch Nischen, kleine Galerien und wenigstens im kleinen Kreis bekannten Ausstellungen aufgefangen, in denen sich avantgardistische Kunst wieder etablieren konnte.

Trotzdem verließen viele namhafte Künstler wie Theo Kellner (1899–1969), Franz Lenk (1898–1968), Charles Crodel (1894–1973) oder Otto Hofmann (1907–1994) das Land in Folge der strengen Reglementierung, die Kunst bedingt durch eine normative Aufgabenstellung in der DDR erfüllen sollte. Eine fruchtbare Reibung mit Ideen zeitgenössischer Kunst, im Sinne einer Auseinandersetzung um die ‚Etablierung‘, wie sie in den früheren Jahrzehnten notwendigerweise zwischen dem Erfurter Publikum und den in ihren Ausstellungen proklamierten Thesen der Künstler stattfand, war daher spätestens ab 1951 nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht möglich. Finanziell allerdings verfügte das Angermuseum, verglichen mit anderen Museen des Bezirks, über einen soliden Etat.16

Zusammenfassend kann man festhalten, dass prozedurale Abläufe am Angermuseum, wie das Neuordnen einer um ihre schönsten Werke der Gegenwart beraubten Sammlung oder der Wiederaufbau zerstörter Teile des Museumsgebäudes zu den dringenden Aufgaben nach 1945 gehörten. Daneben führte eine Vielzahl ästhetischer Abläufe, wie der Bruch mit der Tradition der Mäzene oder der staatliche Versuch inhaltliche Aussagen in Kunstwerken vorzuschreiben, zu einer mangelhaften Wechselwirkung von Neuerung und Etablierung und damit zu einer zwangsläufig eingeschränkten Möglichkeit der Rezipienten, ästhetische Kompetenzen umfangreich zu erweitern.

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Am Angermuseum musste nach 1945 aber zunächst nicht nur die Aufgabe gelöst werden, den Rezipienten zeitgenössische Kunst näher zu bringen, sondern gleichzeitig galt es, den ungeheuren Verlust einer über die Stadt hinaus bekannten Sammlung expressionistischer Kunst auszugleichen. Dabei konnte man zunächst nicht davon ausgehen, dass die Bürger eine Sammlung vermissten, deren hoher kunsthistorischer Wert ihnen in den ersten Jahren ihrer Existenz nicht bewusst war, weil sie als Rezipienten die expressionistische Avantgarde zunächst kaum verstanden und diese zusätzlich im Dritten Reich unsäglich herabgewürdigt wurde. Der Verlust der Sammlung wurde öffentlich als solcher erst in einem Zeitungsartikel in der „Abendpost“ am 30. Mai 1947 problematisiert (Artikel: Siehe Kapitel 2.1.1.).

Anlässlich der 1. Internationalen Gartenbauausstellung (IGA) in Erfurt und vor allem zu Ehren des 75jährigen Bestehens des Angermuseums wurde im Jahr 1961 ein Katalog über die Gemälde, Aquarelle und Plastiken vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart publiziert. Herbert Kunze schrieb dazu das Vorwort, in dem sein persönliches Selbstverständnis über die bis zu diesem Zeitpunkt geleistete Arbeit seinen Ausdruck fand. Dieser Katalog kann als letztes wissenschaftliches Dokument gelten, das den Direktor Herbert Kunze mit dem Angermuseum verbindet, da er wenig später sein Amt aufgab. Im Ausstellungskatalog äußerte er sich:

„(…) Die heutige Gemäldegalerie des Angermuseums hat einen anderen Charakter als das im Jahre 1886 gegründete Museum; sie konzentriert sich auf die deutsche Kunst und pflegt vorwiegend die deutsche Kunst Mitteldeutschlands. In den Jahren 1912 bis 1919 ist die Galerie von Edwin Redslob, 1920 bis 1925 zu einer kleinen in sich geschlossenen Gemäldegalerie deutscher Landschaftskunst des 18. bis 20. Jahrhunderts ausgebaut wo rden. (…) Der vorliegende Katalog (…) soll eine Vorstellung geben von der eigentümlichen Art und von der konsequenten Entwicklung der deutschen Malerei in den letzten 200 Jahren; er soll die Kenntnis unserer Kunst erweitern und vertiefen helfen.

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Dieser Idee verpflichtet, die Kenntnis über Kunst zu erweitern, gab Herbert Kunze im Namen des Angermuseums vermutlich seit 1948 regelmäßig Kunstkalender heraus. In ihnen stellte er neben ausgewählten Stillleben vorwiegend Landschaften Thüringer Künstler vor. Das Medium des Kunstkalenders war erstens geeignet, einem breiten Publikum die Teilhabe an Kunst zu ermöglichen, auch wenn sie nicht den Weg ins Museum fanden. Zweitens bot die Präsentation der Werke im Kunstkalender die Möglichkeit, Arbeiten aus dem Depot des Angermuseums oder Leihgaben von bevorzugten Künstlern, die sich in Privatbesitz befanden, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.


Fußnoten und Endnoten

5  Vgl. hierzu: Angermuseum Erfurt (Hrsg.) 1996, Lucke/Hüneke 1992, Menzel 2004, Nowak/Schierz/Ulbricht (Hrsg.) 1999.

6  Diesen Hinweis verdanke ich Frau Cornelia Nowak, Angermuseum.

7  Diese politische Vision deckt sich mit den Ideen von Redslob, die er in seiner Erzählung „Die neue Stadt“ beschreibt. Vgl. dazu Nowak 1999, S. 311.

8  Mit den genannten Referenten waren die bedeutendsten Geisteswissenschaftler der Zeit in Erfurt vertreten. Die Debatten um die zeitgenössische Kunstgeschichte bereicherten diese Wissenschaftler mit Publikationen, so z.B. P. Frank (1938): Das System der Kunstwissenschaft, Leipzig. Der wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus in der Gegenwart kritisierte W. Pinder publizierte 1926: Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin. W. Worringer hatte 1908: „Abstraktion und Einfühlung“ publiziert; in dieser Schrift charakterisierte er das „Kunstwollen“, den „Drang zur Gestaltung“ als ausschlaggebend für die künstlerische Qualität.

9  Zugunsten einer besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf der Darstellung für die Archivalien des Stadtarchivs Erfurt folgendes Kürzel (StAE) mit Angabe der Aktennummer verwendet.

10  Ruth Menzel bemerkt: „Herbert Schönemann nennt 1988 die Gesamtzahl von 591 Werken, darunter 13 Gemälde, 7 Plastiken sowie 571 Zeichnungen, Aquarelle und Grafiken. Sie seien mit dem Stempeldruck: ‚3.9.1937 beschlagnahmt‘ auf Karteikarten gekennzeichnet worden. Andreas Hüneke erwähnt 1999 rund 800 Werke aufgrund eines Beschlagnahme-Inventars in London.“ Menzel 2004, S. 12.

11  Diesen Hinweis verdanke ich Frau Ilse Franke.

12  Annette Hünnekens verweist auf die Publikation „Museums and the Shaping of Knowledge“, London 1992, von Eilean Hooper-Greenhill, die den Zusammenhang zwischen dem Museum als Ort der Wissensbildung und der „Reorganisation von Wissen“ untersucht.

13  Ein kurzer Abriss zum historischen Selbstverständnis des Angermuseums veröffentlichte Nowak 2004, sie betont das bürgerliche Selbstbewusstsein der Museumsdirektoren bis zu Herbert Kunze.

14  Hans Belting betont: „Unser Blick auf Kunst ist stark an die Sehkonventionen der eigenen Zeit (das der ‚period eye‛) gebunden, also an solche Vorgaben, die mit dem physiologischen Sehvermögen allein nicht zu erklären sind.“ Belting 2002, S. 151.

15  So besuchte der irische Dramatiker Samuel Beckett das Angermuseum beispielsweise noch 1937, um sich die Sammlung expressionistischer Kunst anzusehen. Vgl. dazu Lucke 1999, S. 22.

16  Walther Scheidig, Direktor der Kunstsammlungen zu Weimar, bat 1963 den Rat des Bezirkes um zusätzliche Mittel, um die Kunstsammlungen seines Hauses erweitern zu können: „Hierauf antwortete der zuständige Abteilungsleiter, dass die wenigen vorhandenen Mittel zum Aufbau der Galerie ‚Sozialistische Kunst im Bezirksmuseum‘, d.h. dem Angermuseum in Erfurt, eingesetzt werden müssten.“ In: Wendermann 2003, S. 201f.



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28.01.2009