6. Zwei Wege zur Erforschung von Alltagshandeln

6.1. Go-Alongs: Eine mobile Methode

▼ 107 (fortgesetzt)

Um eine externe und interne Sicht auf Handeln in einem mobilen Alltag methodisch in Einklang zu bringen, habe ich als Einstieg in die Feldforschung ein empirisches Vorgehen gewählt, das zum einen Beobachtungen und Befragungen kombiniert und variiert und zum anderen der Forderung Urrys nach methodischer Mobilität (vgl. ders. 2008: 39), gerecht wird. In diesem Sinne habe ich mich unmittelbar in den Kontext des Untersuchungsgegenstandes selbst, also in den Alltag der teilnehmenden Personen, begeben. Der Idee ethnographischer Forschung folgend wurde damit eine dichte, umfassende Lebensweltanalyse zu dem Zeitpunkt und an dem Ort des Geschehens selber ermöglicht (vgl. etwa Honer 2009). So ergänzten Befragungen in ihrem jeweiligen Kontext die Beobachtungen. Dieser Ansatz findet sich auch in der von Berndt vorgeschlagenen Methode des beobachtenden Interviews wieder. Es „integriert im Sinne eines Kontextbezugs forschungsrelevante Beobachtungen, diese verbalisierend, in das Interview“ (ders. 2008: 367, Hervorhebung im Original).

Diesem Gedanken grundsätzlich folgend, war für mich jedoch der methodische Ausgangspunkt der gegenüberliegende: Während es Berndt um die Kontext-Erweiterung des Interviews geht, stand bei mir zunächst die Ergänzung des Beobachtungskontextes um Befragungen im Vordergrund. Begleitendes Befragen wird als Methode aktuell vor allem bei der Erforschung des Verhaltens von Kindern eingesetzt (vgl. Mey 2005), wobei diese durch eine bestimmte Phase des Tages oder durch bestimmte Orte begleitet und dabei befragt werden. Allerdings ist diese Methode bisher nur auf wenige und zudem spezielle Themenfelder angewandt worden, etwa als „Interviewstreifzüge“, um Lebensräume von Kindern in der Stadt zu erforschen (Schröder/Houben/Traub 1993). Auch wird die Grundlegung dieser Methode oder ihre Anwendung nicht systematisch erörtert. Urry wiederum beschreibt Mobilitätsstudien, die das Mitgehen und das gemeinsame Begehen als zentralen methodischen Aspekt beobachtender Forschung hervorheben (vgl. ders. 2008: 39f). Beispielhaft ist hier eine Studie, bei der Farmer in Peru durch ihre Lebenswelt begleitet wurden (Cass/Shove/Urry 2003). Und so sieht er „»walking with« or travelling with people, as a form of sustained engagement within their worldview“ (Urry 2008: 40). Zudem verweist Urry auf den Ansatz, begleitende Beobachtungen mit anschließenden Befragungen zu verbinden (vgl. Bærenholdt et al. 2004).

▼ 108 

Das gleichzeitige wissenschaftliche Begleiten, Beobachten und Befragen einer Person in ihrem Alltag als systematische Methode wird nach eigenen Angaben von Kusenbach erst mit dem „Go-Along as an ethnographic research tool“ eingeführt (vgl. dies. 2003)31. Hierzu merkt sie an, dass das Begleiten von Personen etwa in der Ethnographie zwar keine Seltenheit sei, ihr aber keine Studien bekannt seien, die systematisch eine Methode im Sinne des Go-Alongs anwenden würden (vgl. ebd.: 463).

Wie beschrieben werden bei der Methode des Go-Along Personen von einem Forscher durch ihren Alltag begleitet und in bestimmten Handlungssituationen befragt. Während die befragte Person ihre Eindrücke, Vorstellungen und Bedeutungszuweisungen in der Situation schildert, können weitere Handlungen, die von der Person selbst ausgehen und die dieser daher unter Umständen verschlossen bleiben, ebenso durch Beobachtungen aufgedeckt werden, wie äußere Vorgaben und Anforderungen an die Person. Mit dieser Methode werden in der Lebenswelt selbst zum einen Strukturierungen des Alltages beobachtet. Zum anderen zielt dieses Vorgehen in seiner phänomenologischen Begründung darauf ab, das Handeln aus der Sicht und der Erkenntnis der Person selbst zu verstehen (Kusenbach 2003: 469f). Das Beobachten in situ verbunden mit der gleichzeitigen Möglichkeit, Einblick in die Erfahrungen und Ansichten der Person zu nehmen, ist folglich das, was Kusenbach als einzigartig („unique“) in diesem Verfahren ausmacht (vgl. ebd.: 463).

Kusenbach sieht Go-Alongs insbesondere für die Untersuchung von Raumverhalten, Umweltwahrnehmung und biographischen Bezügen geeignet (vgl. ebd.: 466ff). Daher bot sich dieser Ansatz an, räumliche Mobilität im Alltag zu untersuchen und ermöglichte zugleich durch retrospektive Befragungen eine Einordnung des Handelns in einen längerfristigen Kontext, etwa bezogen auf außeralltägliche Mobilität, vorzunehmen. Dadurch, dass die Personen über den Zeitraum eines Tages begleitet wurden, konnte situatives Handeln in diesen größeren Zusammenhang gestellt werden. Eine Triangulation in Bezug auf die Art der Daten – neben unterschiedlichen Textsorten wurde auch Bildmaterial erhoben – und auf die verwendeten Methoden innerhalb der Go-Alongs ermöglichte es dabei, Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten (vgl. etwa Flick 2009a: 311ff).

Feldforschung

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Die Teilnehmer der Go-Alongs habe ich den Tag über im Schnitt jeweils zehn Stunden begleitet, beobachtet und befragt. Zur Erfassung der Beobachtung setzte ich keine strukturierten Beobachtungsbögen ein, sondern notierte und skizzierte frei. Die grundsätzliche Offenheit teilnehmender Beobachtungen, die darauf beruht, dass „spontane Äußerungen und plötzliche Reaktionen im beobachteten Feld ebenso wie unvorhergesehene Situationsveränderungen eine flexible Reaktion als Umlenkung des Augenmerks auf solches Geschehen ermöglichen“ (Lamnek 2005: 571), sollte nicht mit dem Forschungsinstrument eingeschränkt werden. Zudem wurden in den Go-Alongs Fotos aufgenommen. Diese dienten vor allem als Gedächtnisstützen für die Aufzeichnungen beziehungsweise für die räumliche Einordnung der Stationen des Alltages.

Die gewählte Methode des Go-Alongs bedurfte zudem einer intensiven Phase der Vorbereitung, insbesondere um ein belastbares Vertrauensverhältnis herzustellen. Führt man sich das Ziel meines Vorgehens vor Augen, eine Person möglichst uneingeschränkt in ihrem gesamten Alltag zu begleiten, so wird deutlich, dass ein besonderes Feingefühl in der Vorbereitung notwendig war, um eine Person zu der Teilnahme an diesem sehr persönlichen Verfahren zu bewegen. Denn die Einwilligung einer Person, ihren persönlichen Alltag zu teilen und offen zu legen, ist alles andere als selbstverständlich. Diese Bereitschaft der Teilnehmer „ungewohnte Zumutungen in Kauf zu nehmen“ (Wolff 2009: 335, Hervorhebung im Original) ist somit als ein besonderer Wert zu betrachten, der das eigene Forschen erst ermöglicht. Sich für diese Person ausreichend Zeit zu nehmen, damit gegenseitiges Vertrauen entsteht, ist vor diesem Hintergrund besonders wichtig gewesen – zum einen als Zeichen der Wertschätzung, zum anderen natürlich auch als Grundlage für einen erfolgreichen Forschungsprozess.

Die Vorbereitung bestand jeweils aus zwei Vorgesprächen, wobei nach dem ersten Gespräch ein Brief mit einer Zusammenfassung des Anliegens an die potentiellen Teilnehmer gesandt wurde, so dass diese vor ihrer Einwilligung umfassend über die Studie informiert wurden (vgl. Flick 2007: 64). Die Gespräche wurden offen gehalten und waren nicht explizit auf die Studie hin ausgerichtet. Die ersten Gespräche dauerten etwa eine Stunde und wurden an einem für die Personen vertrauten Ort geführt. Die zweiten Gespräche fanden jeweils eine Woche später statt und dauerten etwa 30 Minuten. Hierbei ging es um organisatorische Absprachen und natürlich darum, einen vertrauten Umgang zu vertiefen. Zudem konnte ich prüfen, ob weiterhin die Bereitschaft zur Teilnahme bestand. (vgl. Mey/Mruck 2007b: 258ff)

Möglichkeiten und Grenzen der Go-Alongs

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Während der Forschung wurden die Vorteile der Go-Alongs gegenüber situativen, nichtteilnehmenden Beobachtungen bald deutlich: Vor allen Dingen die Unmittelbarkeit dieser Methode ist positiv hervorzuheben. So konnte alltägliches Handeln zum einen in seinem Entstehungs- und Wirkungskontext erhoben und gleichzeitig der längerfristige Zusammenhang des Handelns einer Person über den Tag hinweg verfolgt werden. Zudem hatte ich die Möglichkeit zur direkten Nachfrage und konnte somit subjektive Schilderungen in der Handlungssituation selbst erfassen (vgl. Honer 2009; Kusenbach 2008).

An diesem Punkt wird allerdings auch eine Schwierigkeit des methodischen Vorgehens deutlich: So war ich den Tag über in allen Situationen mit anwesend, habe aber zugleich im Feld die Rolle eines „Beobachters als Teilnehmer“ eingenommen, um möglichst wenig Einfluss auf den Verlauf des Alltagshandelns zu nehmen (vgl. Lamnek 2005: 575 ff). Durch klärendes Nachfragen bestand immer die Gefahr, den Fluss der Handlungen zu unterbrechen. Daher habe ich solche Befragungsteile entweder in Phasen verschoben, in denen die Person weniger in eine Situation involviert erschien (vgl. auch Kusenbach 2003: 465) oder die Fragen in ein bestehendes Gespräch integriert. Ich bin mir bewusst, dass dies (ebenso wie meine Anwesenheit überhaupt) eine Einflussnahme auf den Handlungskontext der Teilnehmer war. Um diese methodischen Besonderheiten nicht noch zu verstärken, habe ich daher zum einen sehr genau darauf geachtet, ob eine Befragung den augenblicklichen Fluss der Handlungen unterbricht, und zum zweiten auf eine technische Aufnahme der Befragungen verzichtet. So komfortabel Letzteres gewesen wäre, so sehr zeigte es sich doch bald, dass das Verwenden des Aufnahmegerätes unverzüglich eine künstliche Atmosphäre schuf. Darüber hinaus provozierten Befragungen, wenn sie über kurze, beiläufige Einwürfe hinausgingen, regelrechte Handlungsunterbrechungen in den Go-Alongs. Der Vorschlag Kusenbachs, Interviews technisch aufzuzeichnen, erscheint rückblickend eher für Varianten kurzer, situativer Go-Alongs praktikabel. In dieser Form wird eine Person – etwa ein Passant – ein kurzes Stück des Weges begleitet und zu der augenblicklichen Situation befragt. (vgl. dies. 2003: 464) Diese Person wird also aus ihrer aktuellen Handlung herausgenommen, die sie für die Dauer der Befragung teilweise verlässt und reflektiert. Sie kehrt dann nach dieser kurzen Unterbrechung wieder in ihre Abläufe zurück.

Bei einer längeren Begleitung, wie in meiner Studie, strapazierte das wiederholte Unterbrechen der Handlungen für eine Befragung den alltäglichen Ablauf zu sehr. Frau Schmitz, die Teilnehmerin des ersten Go-Alongs, verließ beispielsweise bei intensiveren Befragungen die Situation zumindest teilweise und bezog hierbei auch andere mit ein. Es entstand eine „merkwürdige Situation“ (so ein Forschungsmemo), die sich „von dem beobachteten Handeln entfernt, aber zugleich keine gemeinsame, betrachtende (Meta-) Perspektive“ erlaubte (Memo: „Unterbrechungen“/Go-Along I). Frau Schmitz blieb so zum einen in der Handlung verankert, indem sie weiterhin mit den anderen in der Situation anwesenden Personen interagierte, stellte sich aber zugleich über die Situation, indem sie über andere Anwesende in deren Gegenwart zu berichten begann und Vermutungen über sie anstellte. Auch in den anderen Go-Alongs wurde deutlich, dass längere Befragungen Handlungsabläufe störten. Im Falle der Kellnerin Beate, die ihre Aufmerksamkeit den Gästen widmen muss, machte sich dies etwa dadurch bemerkbar, dass sie entweder ihre Arbeit kurzzeitig vernachlässigte oder nur teilweise auf die Befragung eingehen konnte.

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Es entstand ein Dilemma: Befragungen boten sich immer besonders in dynamischen Phasen an. Und gerade hier wurden die geschilderten Folgen besonders deutlich. Es blieben kürzere Nachfragen und das retrospektive Notieren in ruhigeren Phasen. Ein Verfahren, das auch Kusenbach als Alternative zum technischen Aufzeichnen sieht: „Jotting down key phrases and facts on the spot turned out to be quite helpful, as long as it did not interfere with the original pace or the nature of the outing” (dies. 2003: 465; s. auch Girtler 2001: 142ff). Auch Mayring führt an, dass Feldnotizen in Unterbrechungen, vorzugsweise sogar gänzlich außerhalb des Feldkontaktes stattfinden sollten, um die Beobachtungssituation nicht zu stören (vgl. ders. 2002: 82).

Insgesamt wurde der von Kusenbach hervorgehobene methodische Vorteil „to observe […] informants’ spatial practices in situ while accessing their experiences and interpretations at the same time“ (dies. 2003: 463, Hervorhebung im Original) durch meine Erfahrungen im Feld also relativiert. Befragungen waren während der begleitenden Beobachtung zwar durchaus möglich und erkenntnisfördernd. Eine systematische Befragung der Teilnehmer während der Go-Alongs – wie sie Kusenbach offenbar anstrebt – brachte jedoch Störungen im Forschungsablauf mit sich.

Eine weitere Begrenzung, die mit der Methode einherging, war das Ausklammern des Alltagshandelns zuhause. Während sich in den ersten Befragungen abzeichnete, dass das Zuhause-Sein eine große Rolle in der Alltagsgestaltung spielte, wurde diese Zeit bei den Go-Alongs von den Teilnehmern ausgespart.34 In der Methode der Reflexiven Fotografie, die im Folgenden als anschließende Methode vorgestellt wird, wurden private Elemente hingegen in allen Interviews von den Teilnehmern selbst als Fotos eingebracht. Hierzu führt Dirksmeier die Besonderheit von Fotografien an,

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„als »Stellvertreter« des wissenschaftlichen Beobachters in Exklusionsbereichen zu fungieren und auf diese Weise Daten in physischen Räumen zu erheben, die ansonsten dem Forscher verschlossen bleiben würden.“ (ders. 2007a: 8)

Wie weit der Einblick in das Private reichen konnte, illustrieren die folgenden Fotografien des morgendlichen Badbesuches von Herrn Eberle:

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Abb. 3: Einblick in den Bereich des Zuhauses: Die Reichweite der Reflexiven Fotografie

Während in der begleitenden Forschung private Einblicke deutlich begrenzt wurden, zeigten sich die Teilnehmer im Rahmen der Reflexiven Fotografie hinsichtlich dieses Themas erstaunlich auskunftsfreudig. Das Alltagshandeln zuhause wurde für die Interviews umfangreich dokumentiert. Die Schilderungen hierzu waren daher umfassender als in den Go-Alongs.

Trotz der genannten methodischen Grenzen ziehe ich ein positives Fazit hinsichtlich der Verwendung von Go-Alongs, da sie eine sehr intensive Erfahrung von räumlicher Mobilität und der Alltagsgestaltung der Personen ermöglicht haben. Sie eröffneten eine Sicht auf den Alltag, wie ihn andere Methoden nicht hätten bieten können. Im Zuge methodischer Offenheit (vgl. Flick 2009b: 257f; Krotz 2005: 131) habe ich jedoch, wie bereits angeführt, den empirischen Prozess angepasst, um die genannten Punkte in einem weiteren methodischen Schritt berücksichtigen zu können.

6.2. Reflexive Fotografie: Integration von Alltagsleben in Befragungen

Visuelle Elemente in der Forschung

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Das Sichtbare ist ein ganz selbstverständlicher Teil des Lebens. Menschen orientieren sich in ihrem Alltag an visuellen Eindrücken. Der Wissenssoziologe Soeffner schreibt hierzu:

„Das Sehen, als natürliche Anlage und Modalität des Menschen, ist direkt verbunden mit seinen Möglichkeiten, sich in der Lebenswelt zu orientieren, diese zu ordnen und zu verstehen“ (ders. 2004: 254). 

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Sein Kollege Knoblauch nimmt die Entwicklung einer „visuellen Kultur“ (ders. 2005: 332) durch die Verbreitung visueller Medien an und erläutert: „Damit sind die im Alltag und in der Populärkultur üblichen Formen der visuellen Präsentation gemeint“ (ebd.). Kondor sieht mit der Nutzung des Mobiltelefons noch eine weitere Steigerung der Bedeutung des Visuellen im Alltag einhergehen: 

„As visuality is an important part of everyday practice, pictorial representation is also an essential element in everyday communication. McLuhan’s famous aphorism that »the medium is the message« has long been discussed within the paradigm of orality vs. literacy. Nowadays, when within the practice of everyday telecommunications in the narrow sense, images are gaining ground.“ (dies. 2007: 25) 

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In den Sozialwissenschaften werden Bildaufzeichnungen verwendet, um Erforschtes zu illustrieren und die Aufnahmen als (weitere) Daten etwa unter semiotischen Gesichtspunkten auszuwerten. Darüber hinaus werden sie auch als Teil des methodischen Vorgehens in Interviews eingesetzt. (vgl. Collier/Collier 2004; Harper 1988, 2009; Raab 2008) Am Beispiel einer Studie von Collier (1957) erläutert Harper die grundlegende Veränderung einer Interviewsituation durch das Verwenden von Fotografien: Mitglieder der gleichen Familien wurden zu dem gleichen Thema mit und ohne den Einsatz von Fotos als Gesprächsstimulus befragt. Die Forscher empfanden, dass die Fotografien zum einen dazu beigetragen hätten, dass sich die Befragten besser erinnerten. Zum anderen seien Missverständnisse zwischen Forscher und Teilnehmer seltener gewesen. (vgl. ders. 2002: 14) Collier schildert, dass die „photointerviews” zwar umfangreicher und weiter gefasst gewesen seien, als die zum Vergleich angestellten konventionellen Interviews, dass die Teilnehmer trotzdem weniger erschöpft erschienen und sich zudem auch weniger in ihren Aussagen wiederholten. Die Ergebnisse der anderen Interviews wären hingegen sehr viel stärker von der Laune der Teilnehmer abhängig gewesen. (vgl. ders. 1957: 856ff) Fotografien tragen so zu einer lebendigeren und für beide Seiten produktiveren Interviewatmosphäre bei.

Doch was ist das Besondere visueller Daten im Vergleich zu anderen Formen? Die oft bemühte Aussage „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ beinhaltet die Erkenntnis, dass beschreibender Text nur unzureichend an die Aussagekraft eines Bildes heranreicht. Ein solches beinhaltet „eine schier unglaubliche Menge von Informationen“ (Harper 2009: 403). Daher eignet sich ein Bild, Kontextinformationen in den Forschungsprozess zu bringen, die in Textform zu umfangreich wären und ermöglicht somit in Form von Fotografien den sozialen Kontext auch außerhalb der direkten Beobachtung in die Methode einzuschließen. In meiner Studie haben die Teilnehmer durch ihre Fotodokumentationen so den Kontext ihres Alltages in die Interviews getragen.

Das Verfahren der Photoelizitation (Collier/Collier 2004: 176ff, vgl. auch Harper 2000: 726f) – in der deutschen Übersetzung „fotogeleitete Hervorlockung“ (ders. 2009: 414) – verdeutlicht die Verbindung von Fotografien und Befragungen: Es werden visuelle Diskussionsstimuli geboten, die einen konzentrierteren Interviewablauf ermöglichen. Die visuellen Elemente ersetzen so eine umfangreiche verbale Kontextualisierung der Fragen. Es liegt beim Forscher, Texte und Bilder sich nicht überlagern, sondern ergänzen zu lassen, damit Fotografien nicht zu „redundanten Doppelgängern bestimmter Textpassagen“ (ebd.: 404) werden.

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Dieses Vorgehen bindet den Befragten als Erzähler intensiv ein. Einer stärkeren subjektiven Perspektive auf das eigene Alltagshandeln steht jedoch entgegen, dass der Forscher und nicht der Befragte die Auswahl der Motive und somit der relevant erscheinenden Punkte in der sozialen Wirklichkeit vornimmt. Dirksmeier macht innerhalb der visuellen Soziologie neben anderen Verfahren einen weiteren konventionellen visuellen Ansatz aus, der Fotografie und Interviewverfahren vereint und der ganz explizit eine subjektive, phänomenologische Perspektive einschließt (vgl. ders. 2009: 166). Dieser als Reflexive Fotografie bezeichnete Ansatz erschien mir besonders für das Anliegen meiner Studie geeignet.

Hierbei werden Teilnehmer gebeten, im Vorfeld der Interviews Fotografien aufzunehmen, die anhand von Situationen, Personen oder Gegenstände die persönliche Sicht auf das Befragungsthema zeigen. Die Reflexive Fotografie geht grundsätzlich ebenso wie die Photoelizitation von dem Ansatz aus, Interviews an visuellen Elementen auszurichten, um eine gegenstandsbezogene Befragung durchführen zu können. Die Auswahl des Bildmaterials und in der Folge auch dessen Rolle im Interview sind jedoch grundlegend unterschiedlich: Während der Forscher im ersten Fall gezielt Fotografien auswählt und durch die Verwendung der gleichen Bilder in allen Interviews eine gewisse Standardisierung einführt, ist es in der Reflexiven Fotografie der Teilnehmer selbst, der das visuelle Material erstellt: 

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„Im Gegensatz zu vielen textuellen Methoden der qualitativen Forschung ist also die Entscheidung, was Gegenstand des Forschungsdialogs ist, allein auf Seiten der Probanden.“ (Dirksmeier 2009: 176)

Gegenstand meiner Interviews sind also jeweils ganz persönliche Darstellungen des Alltages gewesen. Rahmen und Verlauf der Befragung waren daher von Interview zu Interview unterschiedlich, wodurch eine offene, weniger voreingenommene Näherung an den Forschungsgegenstand möglich war. Durch dieses Auswahlverfahren wird also im besonderen Maße die subjektive Perspektive des Teilnehmers betont, da jedes Foto Ausdruck der Einstellungen und sozialen Bezüge einer Person ist (vgl. Dirksmeier 2007b: 87). Auch langfristige Einstellungen drücken sich in solch einem Bild aus, denn „im Akt des Fotografierens artikuliert sich letztlich der Habitus eines Akteurs in dem zum Ausdruck gebrachten Relevanzurteil bezüglich der ausgewählten Sujets“ (ebd.). 

Bei meinen Interviews traten die Befragten so in zweifacher Hinsicht als Experten auf: Zum einen in Bezug auf den Forschungsgegenstand im Verständnis der qualitativen Forschung (vgl. Krotz 2005: 99) und darauf begründet zum anderen in ihrer Rolle als Vermittler der Informationen des von ihnen ausgewählten Bildmaterials (Harper 2009: 415). Die befragten Experten nahmen so eine besondere Position in den Interviews ein: „Die Methode der reflexiven Fotografie vertauscht die klassischen Rollen von ProbandIn und wissenschaftlicher BeobachterIn im Forschungsprozess“ (Dirksmeier 2007b: 79). 

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Wie zuvor in der Methode der Go-Alongs war auch in dieser Befragungsmethode die Verbindung eines übersituativen, objektivierten Blickes mit der Erfassung der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung möglich. Diesen Aspekt sieht auch Dirksmeier als Besonderheit der Methode,

„da sie zum einen die Interpretationsleistung der Subjekte sowie ihre Auswahlentscheidungen unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter betont, zum anderen gleichzeitig den Forscher über die Auswertung der qualitativen Interviews in den Interpretationsprozess zurückholt.“ (ders. 2009: 168f)

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Eine weitere Beziehung der beiden von mir verwendeten Methoden ist der Aspekt, dass jeweils ein Alltag der Person den Untersuchungsrahmen bildete. In beiden Verfahren ist so die Betonung des Kontextes des alltäglichen Handelns zentral gewesen (vgl. Berndt 2008). In diesem Sinne kann die Reflexive Fotografie als ein beobachtendes Interview (ebd.) gesehen werden, da sie den Entstehungskontext des Interviewinhaltes in die Interviewsituation einbringt. Dank dieser Verbindungspunkte konnte die Reflexive Fotografie als ergänzende und weiterführende Methode erfolgreich an die Methode der Go-Alongs anknüpfen.

Urrys zuvor genannte Forderung nach Mobilität in der Datenerhebung bezieht sich besonders auf die Umsetzung der Methode. Der Forscher selbst muss hierzu nicht zwangsläufig mobil sein (vgl. ders. 2008: 40). Während der Go-Alongs im Sinne eines „walking with“ (ebd.) war ich als Beobachter selbst im Feld mobil. Die für die reflexiven Interviews grundlegenden Daten im Sinne eines fotografischen „time-space diary“ wurden hingegen von den Teilnehmern selbst in ihrer alltäglichen Mobilität erfasst (vgl. ebd.: 39f).

Gemeinsames Nachzeichnen des Alltages

Die Teilnehmer meiner Befragungen brachten die digitalen Fotografien als Dateien mit zu den Interviewterminen. Die Wahl des Interview-Ortes stellte ich den Teilnehmern frei, um ihnen eine möglichst unbeschwerte Befragungssituation bieten zu können (vgl. Mey/Mruck 2007b: 265). Nur eine Teilnehmerin kam auf mein Angebot zurück, einen Arbeitsraum der Universität Bonn zu nutzen, zwei Teilnehmer schlugen ein Bistro beziehungsweise eine Cafeteria vor und die restlichen Teilnehmer luden mich für die Befragung zu sich nach Hause beziehungsweise in ihr Büro ein. Letztere waren diejenigen Personen, die über gemeinsam bekannte Kontaktpersonen angesprochen, also über das Schneeballverfahren erreicht wurden. Das Vertrauen in diese Verbindung schien also groß genug, um mich in diese eher persönlichen Bereiche zu bitten (vgl. Lamnek 2005: 574).

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Die Fotografien konnten auf einem digitalen Bilderrahmen während der Befragung präsentiert werden. Zum Einstieg in das Interview wurde eine offene Frage gestellt, die sich darauf bezog, was Alltag grundsätzlich für die jeweilige Person bedeutet. So wurde ein Erzähleinstieg geboten und zugleich eine erste Einschätzung der subjektiven Relevanz des Themas für den Teilnehmer ermöglicht (vgl. Mayring 2002: 70). Im Anschluss wurden die Teilnehmer gebeten, ihre Fotografien vorzustellen, einzuordnen und zu beschreiben. Dabei konnten sie die Geschwindigkeit des Vorgehens und so auch die thematische Gewichtung in dem Interview selbst bestimmen. Hierdurch ergab sich eine Interviewsituation, in der Harper die Rollenverteilung folgendermaßen beschreibt: „Die untersuchte Person wird zum Lehrer, und die forschende Person lernt“ (ders. 2009: 415). Dieser Perspektivwechsel ist eine mögliche Antwort darauf, wie Kommunikationsanteile in einem qualitativen Interview verteilt werden können, damit eine produktive, an das Alltagsgespräch angelehnte Situation entsteht. Denn im qualitativen Interview wird angestrebt, die Asymmetrie zwischen Fragendem und Antwortenden auszugleichen (vgl. Lamnek 2005: 335). Dies betont auch Girtler, wenn er anführt, ein 

„Prinzip der Feldforschung ist das des »gegenseitigen Lernens« oder das der »Kommunikation«. Das heißt, daß sowohl der Forscher, als auch der, von dem man etwas im Gespräch erfahren will, Lernende sind, denn auch der Forscher bringt sich ein.“ (ders. 2001: 56)

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Die visuellen Elemente in der Reflexiven Fotografie sieht Dirksmeier in diesem Sinne als Mittel, um in dem kommunikativen Prozess die Erzählbereitschaft zu erhöhen (vgl. ders. 2007b: 87f; vgl. auch Collier 1957: 858). So konnte in den Interviews festgestellt werden, dass die Teilnehmer in der Tat ihre Fotografien sehr ausführlich beschrieben. Die durch die Bilder initiierten Erzählungen machten oft genug ein Nachfragen überflüssig. So trugen die Fotografien zu der Überwindung einiger durch Asymmetrie möglicher „»Kunstfehler« beim Interviewen“ (Hopf 2009a: 358), wie etwa die Dominanz des Interviewers oder der Vorgaben eines Leitfadens, bei (vgl. ebd.: 358f). Ich konnte mich oft weit zurücknehmen und darauf beschränken, die Erzählungen durch bestätigende Gesten oder Ausdrücke weiterzubringen, denn „[d]as zu erkennen gegebene Interesse ist für den Erzählenden eine positive Sanktion, die er willkommen als Stimulans für deren Fortsetzung betrachtet“ (Lamnek 2005: 355; vgl. auch Mey/Mruck 2007b: 261). Dass die Befragten in meiner Studie keine fremden Situationen gezeigt bekamen, sondern ihren eigenen Alltag betrachten und beschreiben konnten, hat sicherlich zu den ausführlichen Schilderungen beigetragen. Durch die Bilder hatte ich wiederum eine sehr gute Orientierungshilfe, die bei einer reinen Befragung gefehlt hätte (vgl. Harper 2009: 415f). Somit fiel es leichter, das Geschilderte nachzuvollziehen und konkrete Fragen zu stellen.

Einordnung der Methode

Die Interviews folgten auch in ihrer speziellen Form der Reflexiven Fotografie als offene, halbstrukturierte Befragung den Maßgaben qualitativer Interviews (vgl. etwa Mayring 2002: 66). Ihre Offenheit geht auf die Verwendung der Bilder zurück: Da es den Teilnehmern innerhalb der weiten Vorgabe, einen ihrer Tage zu dokumentieren, frei stand, was sie fotografierten, konnte sich jedes Interview in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Die Fotografien gaben eine gewisse Struktur vor, ohne jedoch die Interviews zu standardisieren, da die abgebildeten Situationen jeweils variierten. Durch die Einbeziehung vorab bekannter visueller Elemente weist die Befragung Bezüge zu dem Verfahren des fokussierten Interviews auf (vgl. Merton/Fiske/Kendall 1956). Hierbei wird der Blick auf einen vorher festgelegten und bekannten Themenbereich beschränkt, dieser aber zugleich offen behandelt, um auch zuvor nicht angenommene Aspekte zur Geltung kommen zu lassen. Den Teilnehmern werden hierzu Filme gezeigt oder Lektüren zur Verfügung gestellt (vgl. Hopf 2009a: 353f). Auch persönliche Dokumente oder „Aufzeichnungen des Tagesablaufes“ (ebd.: 354) können wie in meiner Studie als Gesprächsgegenstand verwendet werden. Durch das Anfertigen der Bilder in der Reflexiven Fotografie wurde der Erzählanreiz von den Teilnehmern selbst hergestellt. So konnten zwei methodische Vorteile verbunden werden: Eine möglichst geringe Lenkung und Begrenzung des Erzählens und eine gleichzeitige Fokussierung auf das Thema. Auch die Kriterien der Reichweite, Spezifität, Tiefe und des persönlichen Kontextes, die die Grundlage des fokussierten Interviews bilden (ebd.), wurden bei der Studie eingehalten.

In der Reflexiven Fotografie entwickelte sich das Gesamtbild eines Tages Schritt für Schritt anhand der Fotografien. Dabei folgte das Verfahren der Wahrnehmung der Handelnden: Im Alltag als „Bereich der primären Wirklichkeitserfahrung“ (Hepp 2008: 80) ist für den Handelnden das Augenblickliche in Abgrenzung zu anderen, räumlich und zeitlich entfernten Situationen relevant (vgl. Voß 2000: 35). Aus den Erzählungen zu den einzelnen konkreten Situationen der Fotografien wurden durch Rückbezüge und gegenseitige Verknüpfungen mit der Zeit übersituative Zusammenhänge deutlich.

6.3. Vergleichendes Kodieren als Auswertungsstrategie 

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Die Datenauswertung setzte bereits während der Feldforschung ein: Das Finden von theoretischen Konzepten und die Auswahl neuer Fälle aus diesen heraus bildeten in meinem Vorgehen einen zirkulären Zusammenhang, in dem die Analyse der Daten parallel zu der Feldforschung stattfand.

In den Beobachtungsprotokollen und den Interviewtranskripten ließ sich eine große Anzahl einzelner Handlungen oder Aussagen ausmachen, die sich auf die Integration von Mobilität bezogen. Solche Sequenzen wurden sowohl innerhalb der einzelnen Fälle, als auch fallübergreifend verglichen, kontrastiert und auf Gemeinsames hin überprüft. Ziel war es, Handlungen oder Zusammenhänge aufzudecken, die jenseits der Unterschiedlichkeit der einzelnen Situationen verdeutlichen können, wie Mobilität in das alltägliche Handeln integriert, also wie Ortsgebundenheit und die Notwendigkeit zu Mobilität im Alltag miteinander einhergehen und welche Rolle die alltägliche Mediennutzung in solchen Aushandlungsprozessen einnimmt.

Das Strukturieren und Auswerten der Daten folgte dem Konzept des mehrfachen Kodierens, das in seiner grundsätzlichen Ausrichtung und Ausgestaltung auf das Verfahren des ständigen Vergleichens nach Glaser/Strauss zurückgeht (vgl. dies. 2008: 107ff). Es ging darum, aus den Daten selbst Konzepte und Kategorien zu bilden. Diese wurden untereinander und mit neu hinzukommenden Daten verglichen und trugen zunehmend zur Bildung verallgemeinerter Aussagen über Zusammenhänge und Prozesse bei.

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Strauss/Corbin merken an, dass „nicht jeder Anwender von Vorgehensweisen der Grounded Theory das Ziel hat, eine dicht konzeptualisierte Theorie oder überhaupt eine Theorie zu erstellen“ (dies. 1996: 17). Die unterschiedlichen methodologischen Schritte, die mit der Grounded Theory verbunden sind, sich aber durchaus auch in anderen qualitativen Ansätzen wiederfinden (vgl. Flick 2007), werden, so Strauss/Corbin weiter, „oft benutzt für das was wir »konzeptuelles Ordnen« unterschiedlicher Art nennen“ (ebd.). So ist mein Vorgehen bei der Datenauswertung als ein mehrstufiges Ordnungs- und Analyseverfahren zu verstehen.

Das offene, axiale und selektive Kodieren beschreibt dabei Analyseschritte, in denen ich mich den Daten auf unterschiedliche Weise genähert habe (vgl. Strauss 2007: 94ff; Strauss/Corbin 1996: 43ff). Strauss/Corbin sehen das offene Kodieren als Verfahren, um aus den Daten selbst zunächst Konzepte zu finden, mit denen Kategorien gebildet werden können. Diese wiederum setzt der Forscher im axialen Kodieren in Verhältnis zueinander und vergleicht sie, wodurch erste theoretische Aussagen entstehen können. Schließlich werden sich für die Forschungsfrage besonders relevante Kategorien im selektiven Kodieren herausbilden. Solche Schlüsselkategorien bilden die Grundlage für allgemeinere theoretische Aussagen, da sie für alle untersuchten Fälle gelten und sich als besonders aussagekräftig für den Untersuchungsgegenstand erwiesen haben (vgl. ebd.).

Allgemein gesprochen ist mit Kodieren gemeint, „dass Sinneinheiten aus den Interviews oder aus den Beobachtungsdaten in allgemeiner, abstrahierender Weise katalogisiert werden“ (Krotz 2005: 180). Dies wird besonders in dem ersten Schritt des offenen Kodierens deutlich: Die Chronologie der Beobachtungs- und Interviewtranskripte wurde aufgebrochen und der Text hinsichtlich des Forschungsgegenstandes neu angeordnet, wodurch neue Sinneinheiten entstanden. Durch die Prozesse des Neustrukturierens, des Vergleichens der Kodierungen und des Aufdeckens von Zusammenhängen kristallisierten sich theoretische Aussagen heraus, die sich durch immer neues Prüfen weiter verdichteten (vgl. Berg/Milmeister 2007).

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Das offene Kodieren war der Prozess, bei dem ich mich am nächsten an den Daten ausrichtete. Dieser Schritt „findet prinzipiell immer und zu jedem Zeitpunkt der Analyse statt, weil es der Prozess ist, wo man direkt aus den Daten herausholt, was im Hinblick auf die Forschungsfrage in ihnen zu stecken scheint“ (Krotz 2005: 185). Wörtliche Aussagen meines Datenmaterials habe ich hierbei in Sinneinheiten zusammengefasst. Der Bezug solcher Kodes zu den Daten war dabei ganz unterschiedlich. Einzelne Kodes bezeichneten Wörter, Satzteile, Sätze, Absätze oder auch ganze Fälle. Böhm etwa empfiehlt bei Passagen, die als besonders interessant und relevant für die Fragestellung erscheinen, beim Kodieren zunächst ein Vorgehen Zeile für Zeile. Da dies bei größeren Datenmengen nahezu zwangsläufig zu unübersichtlichen Kode-Mengen führt, war im weiteren Vorgehen ein Abwägen der Bedeutung der unterschiedlichen Textpassagen nötig. (vgl. ders. 2009: 477f) Solche Textteile, die keinen Bezug zu der Gestaltung eines mobilen, mediatisierten Alltages zeigten, wurden daher nicht oder weniger nah am Text kodiert. Ein Beispiel hierfür ist das Interview mit dem pensionierten Arzt Herrn Dr. Kraus. Bei der Beschreibung seines Tagesablaufes nimmt unter anderem die Pflege seiner Koi-Karpfen einen gewissen Raum ein. Als tagtäglich wiederkehrendes Element in der persönlichen Alltagsgestaltung und in seiner Bedeutung als Ruhepol und Rückzug von den übrigen Anforderungen des Alltages, wurden die Aussagen hierzu systematisch und dicht kodiert. Der daran anschließende Vortrag über chinesischen Reisanbau und die Kultivierung von Karpfen dort, wurde, da er das Forschungsinteresse nicht direkt betraf, nur oberflächlich kodiert. So wurde hier angemerkt, dass die Wahl der Entspannungsmomente offensichtlich auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesem Thema zurückgeht. Außerdem notierte ich, dass der intensiven Beschäftigung wohl ein großzügiges Zeitbudget zugrunde liege. Diese Annahme fand sich in späteren Passagen des Interviews wieder, als Herr Dr. Kraus schilderte, dass er jetzt nach der Pensionierung seine Zeit anders einteilen könne als zuvor, was sich selbstverständlich auf seinen Tagesablauf auswirke.

Nach dem offenen Kodieren der Transkripte lieferten die Daten eine Sammlung von 49 Konzepten. Beispielhaft sind oft sehr spezifische Kodes, wie Humor als Kommunikationsstrategie oder Wetter als Kriterium für Transportmittel, die zwar zeigen, wodurch alltägliche Kommunikation und Bewegung im Raum geprägt sein kann, häufig allerdings nur für eine oder wenige der Fallstudien galten. 

Doch bereits in einem ersten Durchgang des axialen Kodierens zeigten sich Konzepte, die über die einzelnen Fallstudien hinaus Gleiches oder zumindest Ähnliches beschrieben. Hierbei standen das Vergleichen der bisherigen Kodes und das Zusammenfassen dieser zu Konzepten im Vordergrund. Dies geschah auch fallweise, insbesondere aber fallübergreifend. So wurden allgemeinere Zusammenhänge aufgedeckt, die an Achsenkategorien als offensichtliche Bedeutungsträger ausgerichtet wurden. Diese beschreiben so ein den Daten zugrundeliegendes Phänomen, wie Böhm anführt: 

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„Das durch die Achsenkategorie umschriebene Phänomen ist z.B. ein Ereignis oder Sachverhalt. Handlungen des Einzelnen wie auch Interaktionen zwischen Personen drehen sich um das Phänomen.“ (ders. 2009: 479f, Hervorhebung im Original)

Die offensichtlichste Achsenkategorie, um die sich andere Konzepte gruppierten, ist in meinen Daten die tiefgreifende äußere Strukturierung des Alltages durch physische Mobilität gewesen. Ein Großteil aller Handlungen– auch in den Phasen, in denen der Handelnde nicht mobil war – ließ sich hierauf beziehen. Eine weitere Kategorie, die sich quer durch meine Daten zog, war das Empfinde n und Beschreiben von Mobilität als gesellschaftliche   Normalität. Hieran wurde das eigene Handeln gemessen, beurteilt und ausgerichtet sowie Vermutungen über das Handeln anderer aufgestellt. In Hinblick auf die Mediatisierung der Alltagswelt, ließen sich Kodes und Konzepte auf die axialen Kategorien Mediennutzung als Ausdruck und Spiegel von Alltag gestaltung und Medien als Mittel zur Konstitution und Bewältigung des Alltages beziehen, denn das alltägliche Handeln war vielfach auf Medien bezogen oder medial vermittelt.

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Selektives Kodieren bedeutete, die zentralen Kategorien zu bestimmen, genauer, diese sich entwickeln zu lassen. Flick spricht beim selektiven Kodieren davon, „das axiale Kodieren auf einem höheren Abstraktionsniveau fortzusetzen“ (vgl. ders. 2007: 396). Das Prinzip, Kodes und Konzepte miteinander zu vergleichen, wird auch hier beibehalten. Allerdings entfernt sich der Forscher weiter von der konkreten Aussage und dem einzelnen Fall. Durch diese Abstraktion können allgemeinere Zusammenhänge, die nicht von einzelnen Personen abhängen, offensichtlich werden. Hierbei entwickeln sich sogenannte Schlüsselkategorien, die sich durch ihre besondere Aussagekraft von den vorherigen Kodes und Kategorien abheben. Solche zentralen Kategorien bilden sich entweder aus dem Fundus der Achsenkategorien oder aus deren Zusammenspiel heraus (vgl. Böhm 2009: 482f).

Zwei (mediale) Aushandlungsprozesse zur Gestaltung des Alltages fielen in meinem Datenmaterial über die einzelnen Kodierschritte hinweg besonders auf: Zum einen der Versuch, Mobilität in den Alltag zu integrieren und so verlässlich zu machen. Zum anderen das Bestreben nach persönlicher Ausgestaltung des Alltages trotz oder auch wegen der strukturierenden Vorgaben durch die notwendige Mobilität. Als dritte zentrale Kategorie, die quer zu den beiden genannten liegt, wurde die Rolle der Medien deutlich, die zum einen selbst Strukturen des Alltages begünstigten oder stützten, zum anderen aber auch zur Überwindung, Veränderung und persönlichen Gestaltung von Alltagsstrukturen verwendet wurden. Die vielfältigen Prozesse innerhalb dieser zentralen strukturierenden Kategorien des Alltages der Teilnehmer (Beständigkeit durch Mobilität – Mobilisierung der BeständigkeitenIndividualisierung innerhalb der Alltagsstrukturen und Medien im Alltagsfluss – zwischen Ortsbezug und Mobilität) werden in den Kapiteln 8 und 9 erörtert.


Fußnoten und Endnoten

31  Zu der methodologischen Einordnung ihres Ansatzes stellt Kusenbach fest: „Der Begriff der »Ethnographie« wird hier im amerikanischen Sprachgebrauch verwendet und bezeichnet die Verwendung verschiedener qualitativer Untersuchungsmethoden“ (dies. 2008: 1).

34  Die Teilnehmer selbst bestanden in allen Fällen auf einen Beginn der Beobachtung erst nach Verlassen des Hauses und auf eine Beendigung, bevor sie wieder nachhause kommen.



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