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Christoph Liell

Musik und Gewalt in Jugendkulturen

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt "Gewalt und Terror", 10.12.2002

Erfurt 2002

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  1. Einleitung
  2. Quantitative Medienwirkungs-, Jugend- und Gewaltforschung
    1. Die Ursache (Musik)
    2. Die Wirkung (Gewalt)
    3. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung
  3. Qualitative, ethnografische Forschungen zu Jugend, Musik und Gewalt
    1. Popkulturelle Inszenierungen von Gewalt
    2. Eigensinn und "positive" Bedeutungen von Gewalt
    3. Die soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns
  4. Musik, Gewalt, Zensur

1. Einleitung

Fast immer wenn Gewalttaten Jugendlicher die Öffentlichkeit erschüttern und die Suche nach Ursachen einsetzt, dann gelangt schnell auch der Musikkonsum und die jugendkulturelle Einbindung der Täter in den Blick. Und tatsächlich scheinen die folgenden Phänomene es nahezulegen, von dem Konsum dieser Musik auf das Gewalthandeln ihrer jugendlichen Hörer zu schließen:

Aber wie sieht dieser Zusammenhang aus? Bewirkt das regelmäßige Hören dieser Musikrichtungen oder die Identifikation mit diesen Musikszenen und Jugendkulturen Gewalt? Ist Musik die oder zu-mindest eine wesentliche Ursache für Gewalthandeln? Muss man bestimmte Musik indizieren oder zensieren?
Vielfach findet man in den Medien entsprechende Forschungen zitiert, die diesen Zusammenhang zu stützen scheinen. Im ersten Teil meines Vortrages werde ich entsprechende Untersuchungen skizzieren, die diesem Zusammenhang im Rahmen quantitativer, also statistisch orientierter Analy-sen nachgehen. Die dabei zu Tage tretenden Probleme und Unschärfen, die sowohl die angebliche Ursache (Musik) als auch deren Wirkung (Gewalt) betreffen, wurzeln teilweise in alltäglichen common sense Vorstellungen über Gewalt und Jugend. Dies ist wohl nicht zuletzt ein Grund, warum sich derartige Forschungen in den Medien und der Öffentlichkeit trotz ihrer Mängel großer Beliebtheit erfreuen.
In einem zweiten Teil führen dann die Kritik an solchen Medien- und Jugendforschungen zu einer Umformulierung der Frage: Statt "bewirkt ein bestimmter Musikstil Gewalt?", lautet sie dann: "welche Rolle spielen Musik und Gewalt in bestimmten Jugendkulturen?". Diese Problematik kann dann anhand qualitativer, also z.B. ethnographisch orientierter Arbeiten zu Jugendkulturen für verschiedene Musikstile bzw. Szenen erörtert werden. Inszeniertheit, Eigensinn und soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns bilden dabei die Schwerpunkte meiner Ausführungen.

2. Quantitative Medienwirkungs-, Jugend- und Gewaltforschung

In diversen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie der Kommunikationswissenschaft, der Psychologie, der Soziologie und der Pädagogik wird das Verhältnis von Musik und Gewalt im Rahmen unterschiedlicher Themen (z.B. Jugend und Medien, Gewalt und Jugendkulturen) erforscht. In der Vielzahl dieser Studien lassen sich zunächst zwei gängige Forschungsstrategien unterscheiden: einerseits Umfragen, die man in allen diesen Disziplinen findet und andererseits Experimentstudien, die vor allem im Bereich der Medienforschung und der Psychologie angewandt werden.
Im Falle von Umfragen werden innerhalb meist umfangreicherer Fragebögen (zumeist Schülerbefragungen) auch die Musikpräferenzen und stilistischen Selbstzuordnungen der Befragten sowie Einstellungen und Orientierungen zu Gewalt erhoben. In der Auswertung lassen sich dann statistische Zusammenhänge ermitteln, etwa in der Form, daß diejenigen Befragten, die einen bestimmten Musikstil präferieren, signifikant höhere Werte der Gewaltakzeptanz, Gewaltbereitschaft oder Aggressivität aufweisen. Ungeklärt bleibt dabei (weil es sich um einmalige Befragungen handelt), ob spezifische musikalische Präferenzen tatsächlich eine höhere Gewaltaffinität verursachen, oder ob umgekehrt nicht Befragte mit schon bestehenden ausgeprägteren Gewaltneigungen bestimmte Musikstile bevorzugt hören.
Erscheint im ersten Fall Musik als die Ursache von Gewalt, ist Musik im zweiten Fall lediglich Ausdruck einer unabhängig und vorgängig bestehenden Gewaltaffinität. Der Aufweis eines statistischen Zusammenhangs zwischen Musikpräferenz und Gewalt sagt also nichts über die Richtung der kausalen Verknüpfung, nichts über Ursache und Wirkung aus.
Dieses Manko versuchen verschiedene Experimentalstudien zu beheben. Dabei werden Versuchspersonen in Labors eingeladen oder hospitalisierte Personen in ihren Einrichtungen aufgesucht. Zunächst wird deren jeweiliges Niveau an Aggressivität, Gewaltakzeptanz und -bereitschaft durch Fragebögen, seltener auch wiederum durch Experimente gemessen (z.B. durch gezieltes Hervorrufen von Stress-, Konkurrenz- oder asymmetrischen Machtsituationen). Anschließend werden die Versuchspersonen bestimmten musikalischen Reizen ausgesetzt, also Musikstücken und Musikstilen, die im Verdacht einer gewaltinduzierenden Wirkung stehen. In einem dritten Schritt wird dann noch einmal das Aggressionsniveau der Versuchspersonen nach dem Musikkonsum gemessen. Ein statistisch signifikantes Ansteigen der Aggressionswerte nach dem Hören der Musik wird dann als Beleg für die gewaltverursachende Wirkung dieser Musik herangezogen.
Indem hier für das Aggressionsniveau jeder einzelnen Versuchsperson ein Vergleichswert vor und einer nach dem Hören der Musik vorliegt, scheint die Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Musik und Gewalt besser analysierbar zu sein. Problematisch bleibt jedoch an diesen Untersuchungen, daß sie die Rezeption der Musik in gänzlich künstlichen Situationen eben im Experiment untersuchen. In diesen, von der alltäglichen Rezeptionssituation (zu Hause, in Discos, Clubs und auf Konzerten, alleine, mit Freunden, in der Menge) völlig abgehobenen Situationen ist nicht nachvollziehbar, inwieweit die Reaktion der Versuchspersonen von diesem "setting" beeinflußt wird. Das Labor und das Experiment sind jedenfalls keine neutralen Räume, in denen die Wirkung von Reizen objektiv gemessen werden kann, sondern erzeugen soziale Interaktionen mit eigenen Dynamiken, deren Effekte kaum zu kontrollieren sind.
Beide Formen der Analyse des Zusammenhangs von Musik und Gewalt - Umfragen und Experimente - haben jedoch eine Reihe an weiteren Problemen gemeinsam, die nicht zuletzt deshalb bedeutsam sind, weil sie durchaus auf bestimmte alltägliche Umgangsweisen mit den Themen Jugend, Musik und Gewalt zurückzuführen sind. D.h. diese Kritikpunkte sind keine wissenschaftsinternen Spitzfindigkeiten, sondern können zugleich als Kristallisationspunkte des gesellschaftlichen Umgangs mit sozialen Problemen angesehen werden.

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2.1. Die Ursache (Musik)

Um die Frage "bewirkt ein bestimmter Musikstil Gewalt?" empirisch überprüfen zu können, müssen die Ursache (also Musik), die Wirkung (also Gewalt) und schließlich die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung geklärt werden. Genau an diesen Stellen liegen systematische Schwachstellen quantitativer Umfragen und experimenteller Forschungen. Zunächst zur vermuteten Ursache Musik, der man sich in diesen Forschungen auf zwei Wegen analytisch annähert:
Der erste, meist in Umfragen beschrittene Weg besteht darin, die Musikpräferenzen bzw. Stilzugehörigkeiten der jugendlichen Befragten zu erheben. Was zunächst als unproblematische Frage "welcher der folgenden Jugend-Szenen fühlen Sie sich zugehörig?" in eine Befragung umsetzbar erscheint, erweist sich bei näherer Betrachtung als recht unscharfes Unterfangen. Denn schon die beiden Begriffe Musikpräferenzen und Stilzugehörigkeiten deuten auf zwei unterschiedliche Bezüge zu Musik hin.
Während der Begriff "Musikpräferenz" auf so etwas wie Lieblingsmusik hindeutet, Musik meint, die von den Befragten am häufigsten gehört wird, ist der Bezug zur Musik bei Stilzugehörigkeiten ein anderer: hier - aber das betrifft bei weitem nicht alle Jugendlichen - ist die ganze Lebensführung und die der Freunde um den Musikstil organisiert. Was meint man aber mit Musik als Ursache: einfach häufiges Hören oder aber die Strukturierung von Kleidung, Symbolen, ritualisiertem Handeln und der sozialen Kontakte durch einen Musikstil, oder eine der zahlreichen Formen zwischen diesen beiden Extremen?
Statt die vielfältigen Formen der Bezugnahme Jugendlicher auf Musik und Musikstile zu berücksichtigen, gerinnen Musikpräferenzen und Stilzugehörigkeiten zu statischen Persönlichkeitseigenschaften der Jugendlichen. Aus der Zuordnung mehrerer Befragter zu einer Musikpräferenz oder einer Stilzugehörigkeit wird fragwürdigerweise geschlossen, daß diese Befragten gleiche oder ähnliche Bedeutungen mit dieser Musik verbinden und ähnliche Einstellungen und Verhaltensweisen zeigen. Unscharf wird das Abfragen scheinbar objektiver Musikaffinitäten zudem dadurch, daß die Auswahl, Anzahl und Ausdifferenzierung der genannten Musikstile, und vor allem die Möglichkeit von Mehrfachnennungen, also Stilmischungen und -kombinationen von Studie zu Studie komplett andere Verteilungen der Musikvorlieben liefern.
Je differenzierter aber Stilmischungen und ausdifferenzierten Unterstilen nachgegangen wird, desto zahlenmäßig unbedeutender werden die jeweiligen Stilgruppen, und desto unmöglicher werden statistische Auswertungen. Dies führt in den meisten Studien zu Homogenisierungen weniger Stile als objektive, statische Größen, denen festgelegte Eigenschaften auf Seiten der "Fans" entsprechen, wie auch die unterschiedlichen Aneignungsformen von Musik durch Jugendliche unberücksichtigt bleiben.
Die zweite Strategie "Musik" als Ursache für Gewalthandeln in eine empirisch überprüfbare Größe zu verwandeln, besteht in der Inhaltsanalyse der Musik, vor allem ihrer Texte. Denn die Entscheidung, eine bestimmte Musik als Ursache für ein bestimmtes Verhalten zu vermuten, beruht immer auf der Interpretation und Deutung einzelner Songs oder der Symbolik des Musikstils. Während diese Deutungen bei Umfragen eher implizit bleiben (denn hier wird die Ursache ja als Präferenz oder Zugehörigkeit erhoben), wird der Interpretationsaspekt bei experimentellen Forschungen offensichtlicher. Denn hier beruht ja die Auswahl des Ton- oder Bildmaterials für die Versuchsperso-nen auf einer inhaltlichen Analyse und Beurteilung der Musik. Bei zahllosen mehr oder weniger wissenschaftlich erscheinenenden Expertenäußerungen in den Medien bildet die Inhaltsanalyse gar das einzige Fundament des Urteils. An dieser Stelle taucht jedoch das Problem des Fremdverstehens und der Perspektivität auf.
Jugendszenen und Jugendkulturen müssen insofern zunächst als "fremde Welten" gelten, als dass Außenstehenden nicht unmittelbar die Bedeutung und Handhabung der Symbole und Codes in Sprache, Kleidung und Accessoires bekannt und ersichtlich ist. So wenig mir die Bedeutung der hier in diesem Saal hängenden Bilder noch unmittelbar zugänglich ist, weil mir der entsprechende kulturelle und Bildungshintergrund fehlt, ich also einen Stadtführer, Kunsthistoriker oder ähnliches als Übersetzer benötige, so wenig sind mir auch die Symbole, Rituale und Texte z.B. in der Gothic/Dark-Wave-Szene zunächst verständlich.
Lese ich entsprechende Songtexte und entdecke, welche zentrale Stelle das Thema Tod dort einnimmt, dann bemerke ich zwar, dass diese Texte (und die begleitende Symbolik in Kleidung und Accessoires) nicht mein Lebensgefühl treffen. Aus meiner zunächst distanzierten, fremden und uninformierten Lektüre aber zu schließen, dass die Mitglieder dieser Szene besonders todessehnsüchtig, satanistisch, suizidgefährdet oder gar mordlüstern sind, wäre eine vorschnelle und falsche Deutung dieser Szene.
Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man eigene Gespräche und Interviews mit Szenemitgliedern führt oder szeneeigene Medien (Zeitschriften, Internet) oder schließlich differenziertere Forschungen zu dieser Szene zur Kenntnis nimmt. Die Interpretation von jugendkulturellen Texten und Symbolen muss diese Perspektivendifferenz zwischen Mitgliedern und zunächst uninformierten Aussenstehenden berücksichtigen. Ohne ein Wissen um szenespezifische Kontexte und Bedeutungen bleibt die Interpretati-on und Inhaltsanalyse bloße Spekulation.

2.2. Die Wirkung (Gewalt)

Aber nicht nur die vermutete Ursache "Musik", auch die Wirkung "Gewalt" erscheint nur auf den ersten Blick eine unproblematisch zu messende Größe in der fragebogen- oder experimentgestützten Ursachenforschung.
Denn schon der Begriffsgehalt von Gewalt ist alles andere als eindeutig: Die Betrachtung von Gewaltbegriffen führt zunächst zu einer unüberschaubaren Vielfalt, die nicht abschließend systematisierbar ist: physische, psychische, strukturelle, kulturelle, legitime, legale, offene, verdeckte, stille, soziale, politische Gewalt, gegen Personen, gegen Sachen sind nur einige Begriffe aus dieser Fülle. Dabei läßt sich ein Bedeutungskern von Gewalt in der "physische[n] Zwangseinwirkung von Personen mit physischen Folgen für Personen" ausmachen, an den sich dann zahlreiche Begriffsausweitungen anlagern, so z.B. Gewalt gegen Sachen oder strukturelle Gewalt. Diese Ausweitung und Entgrenzung des Gewaltbegriffs kann, wie im Fall der strukturellen Gewalt sehr weit gehen. Gewalt wird dabei definiert "als etwas Vermeidbares, das der menschlichen Selbstverwirklichung im Weg steht" und gerät so zu einem beliebigen, ununterscheidbaren Phänomen, das alle Übel dieser Welt differenzenlos erfassen soll.
Gegen diese Aufweichung des Gewaltbegriffs und seine ausufernde Verwendung ist es angebracht, einen restriktiven auf die Zufügung einer physischen Verletzung beschränkten Begriff von Gewalt zu verwenden. Aber auch eine solche enge Gewaltdefinition trifft immer wieder an ihre Grenzen, denn auch die Anbindung an die Körperlichkeit von Gewalt, an die Materialität von Schmerz und Verletzung vermag die Einschreibung sozialen Handelns (eben auch Gewalthandelns) in sozial, kulturell und historisch verschiedene Kontexte nicht aufzuheben. Wie richtig der Hinweis auf die Körperlichkeit von Gewalt und das Festhalten an einem engen, restriktiven Gewaltbegriff auch ist, so wenig kann er die Unschärfe des Gewaltbegriffs definitorisch ungeschehen machen. Welche Ereignisse jeweils als Gewalt thematisiert werden, hängt von den sozialen, kulturellen und historischen Kontexten dieser Ereignisse ab, dafür sensibilisieren sowohl historische als auch kulturanthropologische Studien.
Ein aktuelles Phänomen, das die Schwierigkeiten einer abschließenden Definition aufzeigt, ist Gewalt in der Familie. Sowohl überzogene bzw. jegliche körperliche Züchtigung von Kindern, als auch Vergewaltigung in der Ehe lassen sich unter einen restriktiven, physischen Gewaltbegriff subsumieren. Beides sind Praktiken mit einer langen Geschichte und dennoch werden sie erst in den vergangenen Jahrzehnten als Gewaltphänomene diskutiert, finden Opfer eine Sprache, um ihre Erfahrungen zu artikulieren, setzen politische Diskussionen und schließlich die strafrechtliche Sanktionierung ein. Offenbar bedarf es erst sozialer, kultureller und politischer Bewegungen, bis das Phänomen Gewalt in der Familie aus der Normalität autoritärer Familienstrukturen herausgeholt und zu einem Gewaltphänomen gemacht wird.
Wenn also die unterschiedslose Ausweitung des Gewaltbegriffes nicht attraktiv erscheint, dann bietet es sich an, einen auf physische Gewalt begrenzten Begriff zu verwenden. Zugleich muß aber klar bleiben, daß sich damit keine objektive Definition aus der ‚Natur der Sache' heraus gewinnen läßt. Was jeweils Gewalt ist, bleibt von Kontexten abhängig und damit variabel. In Fragebögen muss aber immer schon vorausgesetzt werden, daß Gewalt eine einheitliche objektiv messbare Größe ist und alle Befragten unter "absichtsvoll geschlagen oder verprügelt" das gleiche verstehen. Kontexte, Situationen, Intensitäten, Verläufe und Folgen von Gewaltereignissen und Gewalthandeln spielen dann keine Rolle. Damit bleibt aber unklar, was genau gemessen wird (z.B. Rauferei auf dem Schulhof oder Messerstecherei, rassistische Menschenjagd, Schlägereien von Jugendgruppen gegen einander oder Mord).
Da sich das tatsächliche Handeln der Befragten nur schwer in Fragebögen dokumentieren läßt, werden vor allem Einstellungs- und Orientierungsmuster der Interviewten erfragt und analysiert. Die Erforschung von Gewalthandeln tritt in den Studien zugunsten der aufwändigen Erforschung von individuellen Einstellungen wie "Gewaltakzeptanz" und "Gewaltbereitschaft" zurück. Die wenigen Fragen, die dem eigenen Gewalthandeln gelten, sind in stereotypen "um zu"-Formulierungen gehalten, die zweckorientierte, instrumentalistische Motive für Gewalthandeln immer schon alternativlos voraussetzen. Als Dramatisierung von Gewalt erweist sich diese Ausblendung von Gewalthandeln, weil das Merkmal "Gewaltbefürwortung" immer wesentlich häufiger verbreitet ist, als das Merkmal "Gewaltttätigkeit".
So äußern (je nach Formulierung der Frage) bis zu 60% der Befragten gewaltakzeptierende Haltungen, dagegen geben ca. 12% an, im letzten Jahr körperliche Gewalt angewandt zu haben. Entsprechend der variierenden Frageformulierungen verändert sich auch der Anteil der "Gewaltbefürworter" z.T. drastisch und wird zu einer beliebigen Zahl. Methodisch unzulässigerweise wird der Unterschied zwischen Einstellungen und Verhalten der Individuen verwischt: die Zustimmung zu Aussagen über die Normalität von Gewalt wird schlicht als Gewaltbefürwortung und gänzlich irreführend sogar als Gewalttätigkeit interpretiert. Gewalt wird auf diese Weise von einem Handeln zu einer individuellen Einstellung, zu einer statischen Persönlichkeitseigenschaft der Befragten transformiert. Ihre Verbreitung wird dramatisiert, von kollektiven Gruppen- und Interaktionskontexten gelöst und zweckrational vereinseitigt.
Meist werden in soziologischen Forschungen zu Jugend und Gewalt Musik und die jugendkulturelle Einbindung der Akteure als Vermittlungen zwischen einer ‚eigentlichen' Ursache und dem Gewalthandeln konzipiert. Als eine solche hinter jugendkulturellen Einbindungen stehende Ursache für Gewalt werden häufig gesellschaftliche Desintegrationsprozesse und damit allgemeine gesamtgesellschaftliche Strukturveränderungen angenommen.
Unklar bleibt dabei jedoch erstens, inwiefern die kulturpessimistisch gefärbte Diagnose "Desintegration" überhaupt haltbar ist, und zweitens, auf welche Weise sich solche makrostrukturellen Ursachen auf der Ebene der Akteure auswirken. Denn häufig hat es den Anschein, als verschwinde Gewalthandeln bei diesen Erklärungen in der Lücke zwischen individuellen Einstellungen und gesamtgesellschaftlichen Strukturen ohne Vermittlung. Indem für jegliches Gewalthandeln ein diffuses Ensemble allgemeiner sozialer Strukturprobleme (eben Desintegration) als Ursache angenommen wird, erscheinen gewaltförmig Handelnde immer als passive Opfer sozialstruktureller Prozesse.
Desintegrationstheorien basieren auf dem idealisierten Normalzustand einer wohlgeordneten, homogenen, durch gemeinsam geteilte Normen integrierten Gesellschaft, die einer Art Gleichgewichtszustand verharrt. Jede Form sozialer Wandlungs- und Pluralisierungsprozesse erscheint als Gefahr, als drohende Auflösung und Zerfall sozialer Ordnung und als Anerkennungszerfall. Abgesehen von der Frage, wie (nicht zuletzt historisch) realistisch dieses Idealbild einer "integrierten Gesellschaft" ist, verstellt sich diese Perspektive systematisch den Blick für die Analyse sozialer Wandlungsprozesse, die ja nicht nur in der Auflösung sozialer Ordnung bestehen, sondern auch in deren Umformung und Neubildung.
Diese Ausblendung von Reintegrationsphänomenen wird am Beispiel der Analyse von Jugendkulturen besonders deutlich: "Es findet nach wie vor eine rapide Flucht aus den Institutionen, zumal den Organisationen statt: seien es Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Jugendverbände etc. [...] Der größte Teil etwa der Jugendlichen demonstriert es beispielhaft: Ihr Agieren, gleich welcher Art, findet zunehmend jenseits (verbindlicher) Institutionen in (unverbindlichen, fluiden) Szenen statt. Damit wird ein Kohäsionsproblem als Variante mangelnder Integration sichtbar."
Jugendszenen derart unvermittelt und einseitig als "Variante mangelnder Integration" zu bezeichnen, ist wenig plausibel. Die gemeinschafts- und milieustiftende, also (re)integrierende "Wirkung" von Jugendszenen kommt der Desintegrationstheorie und ihrer Defizitperspektive aber gar nicht erst in den Blick.
"Die Modelle haben deswegen pseudohaften Charakter, weil sie [...] nicht tatsächlich integrieren - nationalistische, rassistische, fundamentalistische oder gewalttätige Jugendliche können sich nur um den Preis einer allgemeinen Stigmatisierung ihre soziale Heimat schaffen." Daß diese Jugendlichen zumeist in Gruppen durchaus mittels Gewalt soziale Zugehörigkeit schaffen - sei es gerade auch in der Provokation der (stigmatisierenden) Öffentlichkeit, sei es sogar durch eine Öffentlichkeit vor Ort geduldet -, bleibt verborgen. Genau in dieser (Re-)Integrationsleistung könnte aber gerade ein Grund für die Attraktivität gewaltaffiner Jugendszenen liegen.

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2.3. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung

Die Schwierigkeiten schließlich, den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, also Musik und Gewalt nachvollziehbar zu analysieren, offenbaren sich dann in zwei systematischen Aspekten:
Aus statistischen Zusammenhängen wie Korrelationen und Mittelwertabweichungen lassen sich nicht Kausalitäten, also Ursache-Wirkungs-Beziehungen ableiten. Gleichgültig ob der Musikkonsum und die Stilzugehörigkeit von Jugendlichen als direkte Ursache für Gewalt gesehen wird oder ob Musik nur als Vermittlung tiefer liegender Ursachen für Gewalt wie sozialer Lage, individueller Dispositionen, falsche Erziehung o.ä. angenommen wird - immer weisen wesentlich mehr Befragte das Ursachen-Merkmal auf, als der Anteil derjenigen ist, der Gewalt ausübt. Dies gilt selbst für so prominente Erklärungsansätze wie das eben genannte Desintegrationstheorem: Der Anteil der "Desintegrierten" unter den Befragten ist immer weitaus höher (etwa sechs von zehn Befragten), als der Anteil der "Gewalttätigen" und "Gewaltbefürwortenden" (etwa einer von zehn Befragten). Warum dann aber nur einige "Desintegrierte" Gewalt ausüben oder sich dazu bereit erklären, der Großteil der "Desintegrierten" (wie auch die Nicht-Desintegrierten) dies nicht tun, bleibt unerklärt. So ist aber trotz gegenteiliger Beteuerungen kein Erklärungszusammenhang zu gewinnen.
Der zweite problematische Aspekt stellt der Begriff der "Wirkung" dar. Es dominiert dabei die Vorstellung, dass der Konsum von Musik und ihren Songtexten eine Botschaft vom Sender (der Musikgruppe) zum Empfänger (den Jugendlichen) überträgt. Diese Botschaft (deren gewaltverherrlichenden Sinn die Inhaltsanalyse feststellt) wird dann umstandslos zur Handlungsanleitung und führt zum Gewalthandeln der Rezipienten. Musikhören wird zum passiven Konsum ohnmächtiger Individuen, deren Handeln durch die Botschaft manipuliert wird.
Dass die Rezeption auch popkultureller Produkte ein aktiver Prozess ist, der nicht gleichförmig, automatisch und manipulativ funktioniert, bleibt der von links und rechts geäußerten kulturpessimistischen Medienkritik verborgen. Auch hier bleibt der Umstand ungeklärt, dass viele Jugendlichen Affinitäten zu einem bestimmten Musikstil haben, aber nur eine geringe Minderheit davon gewaltförmig handelt. Ebenso fehlt eien Differenzierung der verschiedenen Arten von Wechselwirkungen zwischen Musik und Gewalt: etwa kurzfristige Nachahmungstaten oder Stimulationen im Unterschied zu langfristigen Gewöhnungs- und Desensibilisierungsprozessen oder vielleicht auch gewaltmindernde und befriedende "Wirkungen" von Musik.
War es die Absicht meiner bisherigen Ausführungen, ein gewisses Misstrauen gegenüber Forschungen zu Musik und Gewalt zu wecken, die ähnlich wie manche Alltagsvorstellungen zu diesen Phänomenen vorschnell vereinfachen, so soll es im nun folgenden zweiten Teil meines Vortrages um alternative Forschungsansätze und ihre Ergebnisse gehen.

3. Qualitative, ethnografische Forschungen zu Jugend, Musik und Gewalt

Gegenüber Umfragen und Experimenten nehmen ethnografische, qualitative Forschungen eine alternative methodologische und theoretische Haltung ein: wenn die interessierenden Phänomene Musik und Gewalt wesentlich kollektive Formen des Handelns darstellen, dann gilt es, dieses Handeln zu beobachten und dessen Sinn aus den Erzählungen der Akteure zu rekonstruieren. Methodologisch wird das bloße Abfragen von Orientierungen im Fragebogen oder das künstliche Herbeiführen der zu Reiz-/Reaktionssequenzen reduzierten Handlungen abgelöst u.a. durch teilnehmende Beobachtung, Interviews und Gruppendiskussionen. Die erkenntnisleitende Frage erfährt dabei ebenfalls eine wichtige Veränderung.
Statt der Analyse der "Wirkung" (von Musik) steht dann die Erforschung der Aneignung von Musikstilen durch jugendliche Akteure und ihre Gruppen an theoretisch zentraler Stelle. Nicht die Frage "bewirkt ein bestimmter Musikstil Gewalt?", sondern die Frage, welche Rolle Musik und Gewalt in Jugendkulturen und Jugendgruppen spielen, bildet den Ausgangspunkt.
Im Gegensatz zu Umfragen mit einer großen Anzahl von Befragten, deren Ergebnisse als repräsentativ gelten, zugleich aber mit den eben diskutierten Schwierigkeiten und Unschärfen behaftet sind, analyisieren ethnografische Forschungen zwar intensiver und zeitaufwändiger. Der Preis dafür ist häufig jedoch eine Konzentrierung auf Einzelfälle, deren Allgemeingültigkeit fraglich bleibt. In den letzten Jahren wird diese Schwäche qualitativer, ethnografischer Einzelfall-Analysen vermehrt durch vergleichende Forschungen überwunden. Indem innerhalb eines Forschungsrahmens mehrere Jugendgruppen eines Stils und verschiedene Gruppen unterschiedlicher Stile mit einander verglichen werden, können die fallspezifischen Besonderheiten von den stilspezifischen Eigenarten und jugendkulturellen Gemeinsamkeiten unterschieden werden.
Zunächst zu einigen allgemeinen Befunden, die in vielen dieser Studien und in den meisten Szenen gleichermaßen auftauchen, bevor mit der Inszeniertheit, dem Eigensinn und der sozialen Einbettung von Gewalthandeln drei wichtige Aspekte vertieft werden: Im Gegensatz zu Kommunikations- und Wirkungsmodellen, die von einer Art Reiz-Reaktionsvorstellung ausgehen, bei der der Inhalt des Mediums (in unserem Fall Musik) auf passive Rezipienten trifft und bei ihnen eine Wirkung auslöst, wird in ethnografischen Studien deutlich, dass die Rezeption jugendkultureller Stile und Produkte differenziert und aktiv durch die Jugendlichen erfolgt. Typisch für die Aneignung der medial konsumierten Stile sind Prozesse der Kreativität, bei denen von der Nachahmung zentraler Stilelemente ausgehend nach und nach ein eigenes Können und Wissen ausgebildet wird, das schließlich zur Entwicklung eines eigenen persönlichen bzw. gruppenspezifischen Stils führt. Dieser eigene Stil ist weder mit der medialen Vorlage identisch noch völlig von ihr abtrennbar, seine Herausbildung wird häufig in Metaphern des Bastelns und Puzzlens beschrieben.
Zweitens erfolgt die Rezeption der Stile in den seltensten Fällen individuell und isoliert, sondern ist ein kollektiver Prozess. In den Cliquen und Gruppen wird über Symbole und Handlungsweisen kommuniziert und diese werden kollektiv, in der Gruppe in Szene gesetzt. Über die Aneignung der Stile konstituieren sich kollektive Zusammenhänge, die einen Raum zur Erprobung von Identitäten und gemeinschaftlichen Bindungen schaffen.
Drittens verläuft die Einbindung Jugendlicher in Musikszenen häufig in karriereförmigen Mustern. Dabei variieren die Art und Intensität der jugendkulturellen Einbindung, die zentralen Handlungsweisen, nicht selten auch die komplette stilistische Ausrichtung. Insbesondere Gewalthandeln ist zumeist eine episodal abgegrenzte Aktivität, deren Schwerpunkt im Alter zwischen 15 und 17 Jahren liegt. Genau dieser Umstand, dass Gewalthandeln in der Mehrzahl der Fälle auf eine bestimmte Lebensphase zeitlich begrenzt bleibt, stellt die Rede über festsitzende, tiefliegende und stabile Per-sönlichkeitseigenschaften als Ursache von Gewalt in Frage.
Schon diese ersten Befunde zeigen, dass zentrale Voraussetzungen quantitativer Studien diese Charakteristika von Jugendkulturen ausblenden. Anhand einiger Beispiele werde ich im folgenden drei weitere zentrale Einsichten ethnografisch orientierter Jugendforschungen ausführlicher darstellen, die Inszeniertheit, den Eigensinn und die soziale Einbettung jugendkultureller Praktiken, die zu einem differenzierteren Verständnis des Verhältnisses von Musik und Gewalt in Jugendkulturen beitragen sollen.

3.1. Popkulturelle Inszenierungen von Gewalt

Die Inszeniertheit jugendkultureller Praktiken macht sich zunächst an den medial vermittelten Produkten eines popkulturellen Stils (Musikstück, Video, Film etc.) fest, das als fiktionales, inszeniertes, künstlerisches Erzeugnis bestimmte soziale Erfahrungen symbolisch verdichtet, vielfältige Bezüge zu anderen bereits vorhandenen solchen Stilisierungen (z.B. in Form von Zitaten) unterhält und nicht zuletzt ein marktförmiges Produkt darstellt.
Das Beispiel der Entwicklung von HipHop in den USA und der bald einsetzenden Gewaltdiskussion um bestimmte Gruppen macht die Bedeutung von Inszenierungen und Fiktionalisierungen deutlich: stellten Rap und Breakdance der sog. Old school Anfang der Mitte/Ende der 1970er Jahre eine sozialkritische message in den Vordergrund, in der Afroamerikaner ihre Erfahrungen des Rassismus, der sozialen Marginalisierung und der alltäglichen Gewalt in us-amerikanischen Großstädten Ausdruck verliehen und darüber neue Formen der Identität und Gemeinschaft ausbildeten - so setzt spätestens mit dem Erfolg der Gruppe "NWA" (Niggers with Attitude) Mitte der 1980er Jahre die Gewaltdiskussion ein.
Während sich die Gruppe selbst als "Reporter" verstand, die vom Leben und der Realität im Ghetto von Compton, Los Angeles, den Schießereien, Vergewaltigungen und dem Drogenhandel dort berichten, wurde dieser "O-Ton" von einem großen Teil der amerikanischen Öffentlichkeit als Verherrlichung von und Aufruf zu Gewalt skandalisiert. Die Songs wurden von einem "authentischen" Ausdruck der Lebensbedingungen und Gewalt im Ghetto nun zur angeblichen Ursache genau dieser Gewalt. Die Morde an zwei erfolgreichen Rappern (Tupac Shakur und Notorious BIG) in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schienen die These von Rap als Ursache von Gewalt nur zu bestätigen, indem jede der beiden hinter den Rappern stehenden Platten-Firmen für den Tod des jeweils anderen Rappers verantwortlich gemacht wurde.
Die popkulturellen Texte als direkte Handlungsvorbilder und Handlungsanweisungen zu lesen übersieht jedoch, dass Ironie, Provokation, Übertreibung, Schock und Überbietung neben Authentizitätsversprechen wesentliche Elemente in ihnen bilden. So taucht das Tragen von Hakenkreuzen und SS-Runen im pop- und jugendkulturellen Rahmen Mitte der 1970er Jahre im britischen Punk mit der Gruppe "Sex Pistols" auf - für die einen ein unverständlicher Tabubruch, für die anderen eine ironische, eben popkulturelle Kritik am naiven Humanismus linker Hippies und der Perspektivlosigkeit linker Positionen. Zur gleichen Zeit verstören die Ex-Apo-Aktivisten der Musik-Gruppe "Kraftwerk" in den USA mit Interviews, in denen sie stark den deutschen Hintergrund ihrer Maschinenmusik betonen und zumindest so ihre Titel wie "Autobahn" implizit zweideutig erscheinen lassen. Explizite verbale Anleihen an den Faschismus finden sich in der "Neuen Deutschen Welle" der 1980er Jahre mit Liedern wie "Tanz den Mussolini, tanz den Adolf Hitler" von DAF, und die slowenische Gruppe Laibach inszeniert seit dieser Zeit martialische Bühnenauftritte komplett in faschistischer (und stalinistischer) Militärästhetik, in deren Rahmen sich die Besucher der NSKP, der "Neuen Slowenischen Kunst Partei" per Antrag anschließen können.
Während diese Provokationen in der weiteren Öffentlichkeit (soweit von dieser überhaupt wahrgenommen) scharfe Kritik hervorrufen und als Identifizierung mit und Propagierung von faschistischen Haltungen verstanden werden, interpretieren die entsprechenden Künstler und eine Phalanx von Popintellektuellen diese Anleihen an eine faschistoide (und stalinistische) Ästhetik als subversive und avantgardistische Kritik an Totalitarismen von links und rechts und als ironische Überbietung von eingefahrenen und zugleich überholten politischen Positionierungen.
Diese Tabubrüche funktionieren nicht nur auf der Ebene popkultureller Avantgarden, wo sie eine öffentliche Kontroverse hervorrufen, aber auch die Umsätze steigern. Sie funktionieren auch im Alltag Jugendlicher, z.T. allerdings mit ganz anderen Konsequenzen.
An der ersten Generation rechter Hooligans des Ostberliner BFC konnte die Forschergruppe um Ralf Bohnsack zeigen, wie die politisch zunächst unbedarfte, provokative Übernahme eines Skinheads-Outfits schnell als gegen den Staat gerichtete Uniformierung wahrgenommen wurde und als politisches Delikt durch Polizei, Justiz und Staatssicherheit geahndet wurde. Stand anfangs das Spiel mit Provokationen und Zuschreibungen (Fan des als Stasi-Verein verschrienen Fußball-Clubs zu sein und als Skinheads aufzutreten und gewaltförmige Randale zu machen) im Vordergrund, führten erst Verhöre und mehrjährige schwere Haftstrafen bei den Jugendlichen zu einer Identifizierung als "rechts". Die Provokation führte hier also zur Fremdstigmatisierung durch Behörden und Öffentlichkeit und schließlich zur Übernahme eines Selbstbildes, zur Selbststigmatisierung als "national" und "rechts", die sich im Laufe mehrjähriger Gefängnisaufenthalte schließlich immer stärker ideologisierte.
Ein anderes Beispiel bildet die Gothic-, Dark-Wave oder Gruftie-Szene: hier ist es nicht das Spiel mit politisch belasteten Symbolen, sondern die Provokation durch die permanente Konfrontation mit den Themen Tod und Melancholie durch Kleidung, Symbole und Musik. Während in der Szene die Fokussierung auf diese Symbolwelt in Abgrenzung zu tatsächlichen nekrophilen Aktivitäten, Suizid oder gar Mord geschieht, droht die symbolische Provokation durch das sonst ausgeblendete Thema Tod den Akteuren zeitweise zu entgleiten. Denn immer wieder werden in unprofessionellen Medienberichten aktuelle Gewalttaten umstandslos mit der ganzen Szene und ihren Eigenschaften in Verbindung gebracht. Dort und im alltäglichen Kontakt mit einem sozialen Umfeld, das solche Klischees über Satanismus, Ritualmorde und Leichenschänderei gerne aufgreift, sehen sich Jugendliche der Gothic-Szene häufig massiven Anfeindungen ausgesetzt. Die erwünschte Provokation führt hier zur unerwünschten Stigmatisierung.
Ein letztes Beispiel für die Bedeutung von Inszenierung und Provokation in jugendkulturellen Praktiken bilden schließlich die Fälle, in denen Print- und TV-Medien die jugendkulturellen Provokationen durch Jugendliche gegen Bezahlung erst inszenieren lassen, um dann das Dargestellte zu skandalisieren. Mitte der 1990er Jahre scheint ein solches Posieren gegen Bares nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, um an gefährliche Bilder waffenstarrender Gangs jugendlicher Migranten oder hitlergrüßender Skinheads heranzukommen.
Diese Betrachtungen zur Inszeniertheit von Musik und Gewalt in Jugendkulturen sind nun nicht erfolgt, um das Gewalt-Problem als "bloß" inszeniert zu bagatellisieren und zu verharmlosen oder gar als nicht real zu erklären. Die Beispiele können jedoch als Warnungen gelten, einfach und unvermittelt von Symbolen und Inhalten jugend- und popkultureller Äußerungen auf bestimmte Wirkungen und Handlungen wie Gewalt zu schließen. Im besten Falle ein Missverständnis, entwickeln solche Kurzschlüsse vom Inhalt auf die Wirkung nicht selten eine Eigendynamik der Stigmatisierung und können wie im Falle der rechten Hooligans langfristig zu einer self-fulfilling prophecy geraten.

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3.2. Eigensinn und "positive" Bedeutungen von Gewalt

Nach der Inszeniertheit jugendkultureller Praktiken bildet der Eigensinn dieser Praktiken, also die Rekonstruktion des tatsächlichen Handelns den zweiten Schwerpunkt meiner Darstellung der Ergebnisse qualitativer, ethnografischer Forschungen. In Bezug auf jugendliches Gewalthandeln legen verschiedene Forschungen es nahe, zunächst zwischen zwei Typen von Tätern zu unterscheiden, auch wenn sie sich in der Realität nicht immer als trennscharf erweisen: den Intensivtäter, der häufig auch alleine, ohne Gruppenbezug gewaltauffällig wird, fast immer schon Erfahrungen mit Polizei, Justiz und Strafvollzug gemacht hat und nicht selten ein Selbstbild als Schläger ausgebildet hat. Dieser erste Typus ist in langandauernden Gewaltkarrieren verwickelt, die mit frühen und anhaltenden Erfahrungen als Opfer von Gewalt und Missachtung in der Familie beginnen und im Jugendalter zu einer starken Verstrickung als Täter führen. Hier sind noch die gewaltförmigen Praktiken in der Adoleszenz derart stark von den früheren Erfahrungen familialer Gewalt geprägt, dass hinter dieser Genese von Gewalt in der Familie eventuelle Einbindungen der Jugendlichen in Jugendkulturen und Anbindungen an Musik als sekundär zurücktreten.
Beim zweiten, häufiger auftauchenden Typus gewaltförmig handelnder Jugendliche ist die pop- und jugendkulturelle Einbindung dagegen zentral. Die Gewalthandlungen sind weniger intensiv und meist in Gruppen begangen, nur wenige Täter diesen Typs sind polizeilich auffällig geworden. Bei diesem Typus ist Gewalthandeln eine abgegrenzte Phase in einer oft langandauernden jugendkulturellen Karriere, die u.U. verschiedene Stilwelten, immer aber wechselnde Handlungsmuster, Gesellungsformen und Intensitäten umfaßt. Als desintegriert können sie meist nicht gelten: Das Verhältnis dieser Jugendlichen zu den Eltern ist nicht auffällig schlecht, wird häufig sogar explizit als gut beschreiben. Auch wenn niedrige Bildungsabschlüsse oder Schullaufbahnen unter diesen Jugendlichen dominieren, finden sich immer auch Gymnasiasten und Abiturienten darunter. Der Berufsstatus und die Berufe der Eltern streuen weit von arbeitlos über prekäre Beschäftigungsverhältnisse bis zu ungelernten Arbeitern, Facharbeitern, Angestellten und Kleinunternehmern, ohne dass ein Schwerpunkt bei sozial oder ökonomisch Deklassierten erkennbar wäre.
Welche Rolle spielen nun Gewalt und Musik bei diesem zweiten Typ des popkulturell eingebundenen Täters, auf den ich hier den Schwerpunkt lege?
Forschungen zu einer Vielzahl an Jugendszenen (u.a. zu Hooligans, rechten Jugendcliquen, Hardcore, Migrantenjugendliche aus der HipHop-Szene, Jugendgruppen aus der Rockszene und Technoszene) lassen eine diese Szenen übergreifende Struktur sowohl der musikalischen als auch der gewaltförmigen Handlungsmuster erkennen. Musik erleben auf Parties, Konzerten, in Clubs und Diskotheken, tänzerische Aktivitäten aber auch die gewaltsamen Praktiken von Hooligans, von rechten Jugendlichen oder in sog. "Gangs" werden von den Jugendlichen fast immer mit Metaphern des Kicks, des Rausches, der Ekstase, des Aus-flippens beschrieben.
Aus teilnehmenden Beobachtungen und aus der Struktur ihrer Erzählungen über ihr Handeln lassen sich diese Metaphern analytisch rekonstruieren: diese Handlungsformen sind dadurch gekennzeichnet, dass erstens die Akteure während dieser Situationen fast völlig in der Gegenwart und Eigendynamik ihres Handelns aufgehen. Zweitens erfahren die Akteure in diesen Situationen einen besonders intensiven Bezug zu ihrem Körper und seinen physischen Grenzen und ihrer Manipulation und drittens schließlich werden diese Handlungen nicht nur kollektiv mit anderen in einer Gruppe oder Menge ausgeführt, sondern Gemeinschaftlichkeit wird in diesen Situationen erzeugt und erfahren. Aus diesen drei Strukturmerkmalen jugendkultureller Praktiken, also Gegenwartsfixierung, Körperzentrierung und Kollektivität, erschließt sich dann der Eigensinn oder die "positiven" Funktionen von Musik, aber auch von gewaltförmigem Handeln: die Erprobung und Herstellung von Identitäten und kollektiver Zugehörigkeit in der Adoleszenz, vor allem in Abgrenzung zu Herkunftsfamilie, Schule und anderen Institutionen. Vor allem zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund, erstens die Spannung zwischen Stilisierung des Individuellen und Suche nach Gemeinsamkeit und zweitens die Ausbildung einer männlichen Identität.
An vier empirischen Beispielen will ich dies kurz verdeutlichen: Das erste Beispiel entstammt meiner eigenen Forschung zu Jugendlichen aus zumeist türkischen und arabischen Familien in der HipHop-Szene in Berlin, von denen einige sich im Rahmen ihrer Karrieren in der HipHop-Szene phasenweise als "Gang" zusammenschlossen und in gewaltförmige Aktivitäten wie Körperverletzungen und Raub verwickelt waren.
Typischer Rahmen für gewaltförmiges Handeln sind sog. Rituale der Anmache: Ein Akteur bzw. eine Gruppe fordert durch Beleidigungen und Provokationen einen anderen Akteur bzw. eine andere Gruppe heraus oder unterstellt eine solche Herausforderung durch die Anderen. In den dann einsetzenden Prozessen wechselseitiger Steigerung können diese Interaktionen (u.U. auch durch den Einsatz von Waffen) gewaltförmig eskalieren. Entscheidend dabei ist, dass die initiale Provokation nicht ignoriert wird, sondern die provozierten Akteure sich darauf einlassen und, dass die Akteure die Anlässe solcher Auseinandersetzungen selbst als "erfunden", als "nichts Ernstes so im Grunde", als Inszenierungen mit geradezu spielerischem Charakter schildern. Zwar wird in den Ritualen der Anmache zumeist ein Vokabular der Missachtung verwendet ("was guckst Du so?") - ob diese Unterstellungen von Missachtung jedoch faktisch zutreffen, also intendiert sind, ist für keinen der beteiligten Akteure von Bedeutung. Nicht ein vorgängig existierender Konflikt findet keine andere als eine eskalierende, gewaltförmige Lösung. Sondern ein Konflikt wird erst inszeniert, um Prozesse der Eskalation und potentiell Gewalthandeln in Gang zu setzen.
Inszeniert wird in diesen Ritualen der Anmache ein "Habitus der Härte", der den Akteur als männlich, erwachsen, durchsetzungsbereit und unverletzbar präsentiert, während ‚schwache', emotionale Seiten des Selbst verhüllt werden. Aufgrund dieser Verhüllung als hart, unverletzbar bleibt der Habitus der Härte immer unsicher, muss sich immer wieder auf's Neue handlungspraktisch bewähren, denn immer besteht der Verdacht, daß die "Härte" des Anderen nur ein Image ist. Durch diese konstitutive Unsicherheit des Habitus der Härte ist er auf seine ständige Reproduktion in Ritualen der Anmache angewiesen, die auch zufällige Begegnungen im sozialen Raum zur Probe der Härte werden lassen. Deren letzter Maßstab bildet die Unverletzlichkeit der physischen Integrität der Akteure. "Hart" zu sein bedeutet, eine stark auf Selbstdurchsetzung abzielende Individualität auszubilden, die aber dennoch auf kollektive, gemeinschaftliche Einbindungen in die "Gang" angewiesen bleibt.
Auf ähnliche Weise wie hier die Eigendynamik des Handelns, die Bedeutung der Körpergrenzen und die Kollektivität des Handelns den Eigensinn des Gewalthandelns in der "Gang" bestimmen, finden sich diese Elemente auch bei den nicht gewaltförmigen Praktiken innerhalb des HipHop Stils, Rap und Breakdance, meinem zweiten Beispiel.
In den Texten der Rap-Musik und der Choreographie von Breakdance werden häufig Rituale der Anmache, Erprobungen der Härte und die wechselseitige Steigerung von Beleidigungen und Verletzungen dargestellt. Während der Habitus der Härte auch bei diesen künstlerischen Praktiken zentral bleibt, wird er hier zu einem gewaltlosen Ethos der Leistung, der Perfektionierung des eigenen tänzerischen und musikalischen Könnens transformiert, das sich in wettkampfähnlichen Performances mehrerer Künstler bewähren muss. Rap und Breakdance schaffen bei gelungenen, nicht zufällig auch als rauschhaft beschriebenen Aufführungen und Parties kollektive Bindungen, und zwar innerhalb der Rap- und Breakdance-Crew, innerhalb des untereinander anonymen Publikums und in der Verschmelzung von Publikum und Crew.
Die beiden folgenden Beispiele, die fights der Hooligans und die Parties der Technoszene, deuten ähnlich wie die "Gang" bzw. Rap und Breakdance auf rauschhafte, eigendynamische Praktiken hin, ebenfalls in einer gewaltförmigen und in einer gewaltlosen Variante. Bei Hooligans und in der Technoszene scheint aber die Erprobung von Identitäten in der Spannung zwischen Kollektivität und Individualität nun stärker die Form gemeinschaftlicher Verschmelzungserfahrungen anzunehmen im Gegensatz zur der an Selbstdurchsetzung orientierten Individualität in Gangs und bei Rap und Breakdance.
Bei den von Bohnsack u.a. interviewten Hooligans konstituiert sich im fight eine "episodale Schicksalsgemeinschaft", bei der die Biographie und Individualität der Akteure zurücktritt gegenüber der Verstrickung in die Eigendynamik des Kampfes. Das Aufeinander-Angewiesen-Sein in diesen Situationen, die gezielt herbeigeführt werden, konstituiert eine neue Gruppenidentität, erst die Bewährung im Kampf schafft "Kameradschaft" und damit Zugehörigkeit. Die Parties der Techno-Szene können in dieser Perspektive als gewaltloses Gegenstück dazu gesehen werden. Auch hier konstituiert sich das Zusammengehörigkeitsgefühl, die "unity", durch kollektive, rauschhafte Praktiken des gemeinsamen Tanzens. Und auch hier setzt die Vergemeinschaftung meist im biographisch Voraussetzungslosen an, die Identitäten der Einzelnen treten zugunsten des gemeinsamen Machens und Tanzens zurück und ermöglichen intensive, verschmelzungsähnliche Erfahrungen der Kollektivität.

3.3. Die soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns

2.3. Die soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns Neben der Inszeniertheit und neben dem Eigensinn jugendkultureller Praktiken stellt deren soziale Einbettung einen dritten zentralen Aspekt qualitativer Forschungen zu Jugend, Musik und Gewalt dar. Denn Jugendkulturen und jugendkulturell orientierte Gruppen sind keine isolierten Phänomene im sozialen Raum. Die soziale Einbettung jugendkulturellen Handelns besonders Gewalthandelns läßt sich mindestens in dreierlei Hinsicht präzisieren:
Der erste Aspekt betrifft die Duldung teilweise auch Akzeptanz gegenüber problematischen jugendkulturellen Einstellungs- und Verhaltensmustern durch die Erwachsenengesellschaft. Die massive Ausbildung rechter Jugendszenen ist nicht unabhängig von der seit Ende der 1980er Jahren zunehmend geführten Diskussion um Migration und der damit einhergehenden Ethnisierung sozialer und politischer Konflikte zu verstehen. Wie zahlreiche qualitative Studien zu rechten Jugendlichen zeigen, stehen nicht eine ernsthafte Identifizierung mit dem Nationalsozialismus, keine rassebiologischen Vorstellungen und keine Wünsche nach politischen Strukturen von Führer und Gefolgschaft im Vordergrund.
Den inhaltlichen Fokus in diesen Szenen bilden überwiegend ethnisierende Deutungen alltäglicher und politischer Konflikte, die Berufung auf nationalstaatlich verfaßte Rechte bzw. auf Anciennitätsrechte verbunden mit traditionellen Maskulinitätsvorstellungen und territorialem Besitzdenken.
Mit diesen Vorstellungen aber bewegen sich die Jugendlichen durchaus nicht am Rande der Gesellschaft - lediglich ein gewaltsames Durchsetzen dieser Einstellungen stößt gemeinhin auf Ablehnung. Wie stark selbst dies bagatellisiert und verharmlost wird, zeigen Reaktionen auf den grausamen Mord an einem 16-jährigen Jugendlichen in der Uckermark durch drei rechte Jugendliche, der, im Juli diesen Jahres begangen, erst vergangenen Monat aufgedeckt wurde: Der Bürgermeister der Gemeinde wird mit den Worten zitiert, so etwas komme "in der Großstadt jeden Tag vor" und der Haupttäter habe ein "bißchen rechte Tendenzen", er habe erst jüngst in Prenzlau einen Ausländer "zusammengedonnert". "Zusammendonnern" bezieht sich hier auf das brutale Zusammenschlagen eines Asylbewerbers, das ein Gericht mit drei Jahren Haft geahndet hat, als der bereits vorher begangene Mord noch nicht bekannt war.
Aber auch in Studien zu rechten Jugendlichen in Westdeutschland wird darauf hingewiesen, wie häufig in den Familien rechter Jugendlicher Politik entweder kein Gesprächsthema ist, oder aber die Eltern selbst politische Einstellungen pflegen, die nicht weit entfernt von der ihrer Kinder sind. Die einzige Reaktion der Eltern auf den Konsum von rechter Musik und ihren deutlich vernehmbaren rassistischen und antisemitischen Texten besteht offenbar nicht selten in der Anweisung "Mach leiser, was denken sonst die Nachbarn".
Umgekehrt kann auch die Gewaltaffinität Jugendlicher und nicht ihre symbolisch-politische Unterfütterung Gegenstand der Akzeptanz durch die Erwachsenengesellschaft werden. Ein Beispiel dafür bilden die Hooligans aus Bohnsacks Studie, deren Gewalterprobtheit dann für Türsteherdienste in Anspruch genommen und damit sozial anerkannt wird.
Der zweite Aspekt der Einbettung bezieht sich auf lokal dominierende, hegemoniale Jugendkulturen. Hier ist an Situationen zu denken, in denen eine bestimmte jugendkulturelle Szene die einzige vor Ort ist und somit nicht zuletzt für jüngere Jugendliche die Normalität darstellt. Dies scheint Anfang und Mitte der 1990er Jahre in Stadtvierteln mit einem hohem Anteil an Migranten, etwa in Berlin Kreuzberg oder Wedding der Fall gewesen zu sein, als "Gangs" eine solche dominante jugend-kulturelle Gesellungsform männlicher Jugendlicher war. "Es war die Zeit der Gangs", wie ein von mir interviewter Jugendlicher formulierte, alternative jugendkulturelle Szenen schienen für Migrantenjugendliche in diesen Vierteln kaum zu existieren.
Die zahlenmäßig bedeutendere und vor allem noch andauernde dominante Jugendkultur stellt in einigen Gebieten vor allem Ostdeutschlands die rechte Szene dar, wo das Ausscheren Jugendlicher aus der rechten Normalität nicht nur an mangelnden Gleichgesinnten scheitert, sondern teilweise lebensgefährlich wird, wie zuletzt wiederum der eben genannte Mord in der Uckermark zu zeigen scheint: dem Opfer wurden offenbar seine weiten HipHop-Hosen und blondgefärbten Haarsträhnen zum Verhängnis.
Im Zusammenhang mit der Diskussion solcher hegemonialen Jugendkulturen wird es dann auch Zeit, die Diffusion der rechten Szene in andere Jugendszenen zu untersuchen. Wenn auch bisher Berichte über die "Unterwanderung" der Gothic-, Techno- und jüngst auch HipHop-Szene von rechts das Problem zu überzeichnen und zu dramatisieren neigen, sind Tendenzen in dieser Richtung gleichwohl sichtbar.
Während diese beiden Aspekte der sozialen Einbettung jugendkulturellen Handelns dafür sprechen, stärker als bisher den regionalen und ortsgesellschaftlichen Kontext dieser Jugendgruppen zu untersuchen, liegt der dritte Aspekt auf einer allgemeineren Ebene.
Denn die zentrale für die Akteure "positive" Funktion von jugendkulturellem Handeln, nämlich die Erprobung und Herstellung von Identitäten in Bezug auf Individualität und Kollektivität und im Hinblick auf Maskulinität, ist nicht nur adoleszenzbedingt und damit entwicklungs- und jugendtypisch. Diese, z.T. auch gewaltförmigen Erprobungsprozesse lassen sich auch im Rahmen gesamtgesellschaftlicher, sozialer und kultureller Wandlungsprozesse verstehen, in denen es - Stichwort Individualisierung - um die Ausbildung neuer Formen sozialer Bindungen und neuer Formen der Geschlechterbeziehungen und Geschlechtsidentitäten geht. Diese übergreifenden Wandlungsprozesse lassen sich jedoch nicht einfach als Ursache für besonders problematische Einstellungs- und Verhaltensweisen von Jugendlichen und Jugendgruppen begreifen. Sie bilden vielmehr die gemeinsame Folie, vor der sich gewaltförmige und nicht gewaltförmige jugendkulturelle Praktiken gleichermaßen vollziehen, so dass in dieser Perspektive implizit auch Alternativen für gewaltförmiges Handeln aufscheinen.

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4. Musik, Gewalt, Zensur

Wenn aus guten Gründen die alte Frage "bewirkt eine bestimmte Musik Gewalt?" umgeformt wurde zu der Frage "welche Rolle spielen Musik und Gewalt in Jugendkulturen?", dann verbieten sich offenbar einfache Antworten. Mit Musik und Gewalt verbundene Handlungsformen in Jugendkulturen haben ähnliche Struktureigenschaften, einen ähnlichen Eigensinn im Hinblick auf Prozesse der Vergemeinschaftung und Identitätserprobung. Das Verhältnis, in dem Musik und Gewalt zueinander stehen ist dabei komplex und variationsreich: beim Typus des popkulturell eingebundenen Gewaltaktivisten vollzieht sich das Gewalthandeln meist als vergleichsweise kurze Episode vor dem Hintergrund einer sehr viel länger andauernden jugendkulturellen und musikzentrierten Karriere. Musik spielt dann vor, während und nach der gewaltaffinen Phase ein große Rolle, hat damit als solche aber keine direkte Verbindung zu Gewalt.
Musik kann aber in jugendkulturellen Kontexten zweifellos auch als Auslöser von Gewalttaten in Erscheinung treten. So wird aus der rechten Szene sehr häufig von heftigem, geselligen Konsum von rechter Musik und Alkohol zum Aufputschen unmittelbar vor gewalttätigen Übergriffen berichtet. Aber selbst in diesem Fall scheinen einfache Reiz-Reaktions-Muster weniger erklärungsmächtig als eine Erklärung, die den jugendkulturellen Kontext insgesamt, vor allem kollektive, rauschhafte Prozesse des Musik- und Drogenkonsums und des Gewalthandelns berücksichtigt.
Die verstärkte Hinwendung zu musikorientierten Praktiken kann in jugendkulturellen Kontexten aber auch zur Ablösung von Gewalt führen, bzw. eine Alternative zu Gewalt darstellen. So berichten in mehreren von mir interviewten Gruppen die Jugendlichen von der entscheidenden Rolle, die das Musikmachen bei der Abwendung von Gewalt bei ihnen gespielt hat. Aber nicht zuletzt der basale Umstand, dass der größte Teil der Jugendlichen intensive Bezüge zu Musik, aber - glücklicherwei-se - nur ein kleiner Teil Jugendlicher gewaltförmig agiert, spricht gegen eine unvermittelte Verbindung von Musik und Gewalt.
Beides, systematische Schwierigkeiten in vielen meist quantitativ ausgerichteten Studien zu Jugend, Musik und Gewalt, und die detailgenaueren, differenzierenderen Analysen qualitativer Stu-dien machen also deutlich, dass die Frage "bewirkt Musik Gewalt?" so nicht wirklich sinnvoll zu beantworten ist. Dann stellt sich zum Schluss aber die Frage nach der Indizierung oder Zensierung von Musik, einzelnen Songs, ganzen Gruppen oder Musikstilen. So weit ich sehe, betreffen Indizierungs- und Zensurmaßnahmen in Deutschland gegenüber Musik in nennenswertem Umfang nur die rechte Szene, während in den anderen Musikszenen Zensur nur sehr vereinzelt und meist aufgrund der Verletzung von Persönlichkeitsrechten erfolgt. Meine Ausführungen, in denen die Skepsis gegenüber einfachen Ursache-Wirkungs-Modellen und Reiz-Reaktionschemata zentral war, legen es nahe, in Zensurmaßnahmen nicht das geeignete Mittel zu sehen, um die Ursachen von Gewalt zu bekämpfen. Zu groß ist dabei die Gefahr, die Interpretationskämpfe um die Provokation, Authentizität oder deren ironische Brechung in popkulturellen Texten vorschnell abzuschneiden und Prozesse der Stigmatisierung in Gang zu setzen, die häufig zur Intensivierung des stigmatisierten Verhaltens führen.
Indem allerdings viele Bands des sog. Rechtsrock systematisch und gezielt Straftaten wie Volksverhetzung und Leugnung des nationalsozialistischen Völkermordes in ihren Texten betreiben, mag hier Zensur gerechtfertig sein. Ein Effekt solcher Zensur ist allerdings auch, daß indizierte und zensierte Tonträger in der Szene "Kultstatus" erlangen, unter Freunden herumgereicht werden und den "richtigen" Insider auszeichnen.
Als Reaktionen auf jugendkulturelle Provokationen scheinen vorschnelle Ursachenzuschreibungen, Etikettierungen und Stigmatisierungen nicht geeignet, um das Problem jugendlichen Gewalthandelns anzugehen. Erst recht ist das stillschweigende Ignorieren von nicht akzeptablen, z.B. rassistischen und antisemitischen Formen des Redens und Handelns oder sogar halb offenes Sympathisieren damit kein angemessener Umgang. Stattdessen lohnt sich ein differenzierter Blick in Jugendszenen, sei es in Form von alltäglichen Gesprächen oder in Form wissenschaftlicher Analysen, um der falschen Alternative zwischen Ausblendung und Verharmlosung einerseits und Dramatisierung andererseits entgehen zu können. Zugleich eröffnen die Strukturähnlichkeiten zwischen musikorientiertem und gewaltförmigem Handeln in Jugendkulturen Ansatzpunkte für die Abwendung von Gewalt, die z.T. in den Jugendgruppen selbst entdeckt werden, teilweise in der Jugendarbeit vorsichtig fruchtbar gemacht werden können.

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Stand: 20.12.2002