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Prof. Dr. Ernst Hany
Entwicklung und Förderung hochbegabter Schüler aus psychologischer Sicht

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt
"Herausforderungen der Bildungsgesellschaft", 11. 6. 2002


Fachgebiet Psychologie, Universität Erfurt
Erfurt 2002

1. Leistungsunterschiede zwischen Menschen

Julian Stanley, der Nestor der amerikanischen Hochbegabungsforschung, beschreibt in einem Aufsatz 1997 einige der erstaunlichsten jungen Menschen, denen er in seiner Laufbahn begegnet ist. Stanley hatte in den 70-er Jahren die Idee, einen schulbezogenen Fähigkeitstest, den Scholastic Aptitude Test, zur Identifikation begabter Schüler einzusetzen. Dieser Test wird normalerweise von 16-jährigen bearbeitet, wenn sie sich nach dem Schulabschluss auf einen Studienplatz an der Universität bewerben. Der typische 16-jährige erzielt 500 Punkte in diesem Test, die meisten Schüler erreichen zwischen 400 und 600 Punkten.

Stanley setzte die Mathematikaufgaben aus diesem Test bei 12-jährigen und noch jüngeren Kindern ein. Man hielt ihn für verrückt und warf ihm, vor die Kinder damit zu überfordern. Aber Stanley hatte Erfolg. Er fand eine Reihe von 12-jährigen, die die volle Punktzahl, nämlich 800, bei diesem Test erzielten. Der jüngste Schüler, der die vollen 800 Punkte erreichte, war erst 9 Jahre alt. Er übersprang später mehrere Schuljahre und schloss mit 20 Jahren sein Doktorat in Mathematik ab. Selbst eine Reihe von 7-jährigen Kindern wurde gefunden, die mehr als 500 Punkte erzielten, d. h. die es in ihrer mathematischen Kompetenz mit durchschnittlichen 16-jährigen aufnehmen konnten.

Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, mit diesen Zahlen vor Augen führen, wie groß die individuellen Unterschiede zwischen jungen Menschen und somit auch zwischen unseren Schülern sind. Mit ausreichend Talent und früher intensiver Förderung können bereits 10-jährige in bestimmten Wissensgebieten den Leistungsstand von 20-jährigen erreichen. Und damit meine ich nicht so exotische Gebiete wie das Wissen über Dinosaurier oder Pokémon-Figuren, sondern Wissensbereiche, die in unserer Kultur und unseren Lehrplänen einen großen Stellenwert einnehmen.

Um die Leistungen dieser hochbegabten Kinder richtig würdigen zu können, will ich sie in die Ergebnisse der TIMS-Studie einordnen, jener großen internationalen Vergleichsstudie in Mathematik und Naturwissenschaften, die in den letzten Jahren so viel Aufsehen erregte. Auch die dort vorgenommenen Messungen sind so normiert, dass der durchschnittliche Schüler 500 Punkte erzielt und etwa 70% aller Schüler Werte zwischen 400 und 600 erzielen. Die deutschen Schüler der 8. Klassenstufe erzielten im Mittel ungefähr 500 Punkte, das beste Land – Singapur – erzielte 640 und das schwächste Land – Südafrika – etwa 350 Punkte. Auch in diesem Vergleich wird deutlich, dass Schüler, die 800 Punkte erzielen, ihre Altersgenossen extrem überragen – und solche Schüler finden sich in jedem Land.

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2. Begründung der Hochbegabtenförderung

Dass sich Schüler in ihren Leistungen und Leistungsvoraussetzungen deutlich unterscheiden, ist demnach unbestritten. Über die Art und Weise, wie man diese Kinder in der Schule behandeln soll, wird jedoch heftig gestritten – und dieser Streit hat seine Wurzeln in den unterschiedlichen Auffassungen darüber, wie Begabungen zustande kommen, wie sich Leistungen entwickeln und wie wichtig Begabung und Begabtenförderung für das Zustandekommen von Leistungen und Lebenserfolg sind. Ich will im folgenden verschiedene Positionen dazu darstellen und damit deutlich machen, welche Auffassungen zur Entwicklung von Hochbegabung vertreten werden und wie diese die diskutierten Konzepte zur Begabtenförderung begründen helfen.

2.1 Intelligenz als Garant des Lebenserfolgs?

Blickt man zurück in die Geschichte der Begabungs- und Intelligenzforschung, so war es Sir Francis Galton, der die Hypothese von der Vererbung menschlicher Eigenschaften von seinem Cousin Charles Darwin übernahm und auf das menschliche Denken übertrug. Unterschiede in den Denkfähigkeiten seien demnach Ausdruck genetischer Unterschiede. Dafür verwendete Galton den Begriff der Intelligenz, zeigte, dass Intelligenzunterschiede einer Normalverteilung folgten, und zog daraus den Schluss, dass viele einzelne Gene für die beobachtbaren Unterschiede im Denkvermögen verantwortlich seien. Lewis Terman begann in den 20-er Jahren des letzten Jahrhunderts, diese Hypothese zu überprüfen, suchte sich eine große Gruppe hochintelligenter Kinder und startete ein Forschungsprojekt, mit dem er die Entwicklung dieser Kinder über viele Jahrzehnte hinweg untersuchte. Er fand, dass hochintelligente Kinder nicht nur sehr gute Schulleistungen erbrachten, sondern auch gesünder, zielstrebiger und psychisch stabiler waren als Kinder mit geringeren Intelligenzwerten.

Seine Schülerin Catherine Cox versuchte den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Leistung von der anderen Seite her zu analysieren. Sie wählte aus Lexika und Biographien Dutzende erfolgreicher Menschen aus, unter anderem Schriftsteller, Künstler, Erfinder und Feldherren, und versuchte, durch Analyse von Biographien den Intelligenzquotienten dieser Personen im Nachhinein festzustellen. Wen wundert es, dass Cox – ganz im Sinne ihres Meisters Terman – fand, dass alle Geistesgrößen bereits in ihrer Kindheit über hervorragende Denkfähigkeiten verfügt hatten?

Wir wollen über die völlig unbefriedigende Methodik dieser Studien nicht lange diskutieren. Uns soll hier nur die Konsequenz interessieren, die man aus solchen Untersuchungen abgeleitet hat: Wenn hohe Begabung angeboren ist, dann kann man sie früh erkennen und dann sollte man solche Kinder auch in einer besonderen Umgebung erziehen, damit sie ungehindert "Karriere machen" könnten. Diese Forderung nach einer – letztlich biologisch begründeten – Elitebildung bestimmte lange Zeit die Diskussion um die Hochbegabtenförderung.

Auch heute werden immer noch solche Stimmen laut. So lassen sich etwa die Ausführungen des bekannten Gehirnforschers Wolf Singer in diese Richtung interpretieren. In einem Beitrag zum ersten Heft der neuen Zeitschrift bildung! plädiert er für ein sehr differenziertes Bildungssystem, das bereits im Kindergarten dafür sorgen soll, dass Kinder nach ihren Begabungen behandelt werden. Er führt aus: "Um die Erziehung zu optimieren, müsste man die Kinder früh testen, Begabungen identifizieren und dann entsprechend den Begabungsspektren früh kanalisieren. Man muss sich dabei freimachen von der Illusion, dass alle gleich sind und dass aus allen das Gleiche werden kann. Diese Annahme ist unsinnig und widerspricht elementaren biologischen Gesetzen; mein Postulat läuft also auf eine starke Differenzierung hinaus."

Biologische Argumente sind nach meiner Auffassung jedoch völlig ungeeignet, um Begabtenförderung zu begründen. Wir haben unsere Kultur nicht dazu entwickelt, um uns von der Biologie das Gesetz des Stärkeren und das Überleben der Tüchtigsten diktieren zu lassen. Bringt man für die Begabtenförderung biologische Argumente ins Spiel, sind wir nicht weit entfernt von der Eugenik, also der "selektiven Zuchtwahl" geistiger Talente, von denen schon Francis Galton träumte.

Ich will die moralischen Argumente gegen ein biologisch begründete Begabtenförderung hier gar nicht vertiefen. Es genügt nämlich ein Blick in die empirische Forschung, um zu zeigen, dass der beschriebene Ansatz in die falsche Richtung geht. Detlev Rost hat jüngst in einer Längsschnittstudie die Entwicklung hochintelligenter Kinder über sechs Jahre verfolgt. Aus 7000 Schülern suchte er mit mehreren Intelligenztests 145 hochintelligente Grundschulkinder heraus. Alle diese Schüler hatten einen IQ über 130, zählten also zu den 2% der Intelligentesten ihres Jahrgangs. Wenn die These von der Vererbung der besonderen Begabung zuträfe, müssten diese Kinder sechs Jahre später natürlich immer noch hochintelligent sein. Das war jedoch nicht der Fall. Nur die Hälfte der Schüler erzielte nach sechs Jahren wieder einen IQ über 130, während die andere Hälfte geringere Werte, einige sogar unter dem Durchschnitt erzielten. Man kann diese Veränderung der Intelligenzwerte nicht einmal den Testverfahren anlasten, da jeweils die Ergebnisse mehrerer Messungen zusammengefasst wurden.

Wieso verändert sich die Intelligenz im Kindesalter noch spürbar? Weitere Befunde aus der Grundschulstudie von Kollegen Rost weisen darauf hin, dass die Interessen der Kinder eine wichtige Rolle spielen. Vergleicht man diejenigen Schüler, deren Intelligenz nach sechs Jahren gestiegen war, mit denen, deren Intelligenz sich verringert hatte, so findet man, dass sich die "Aufsteiger" wesentlich mehr mit Fremdsprachen, Lesen, Mathematik und Technik – also auch mit dem Computer – befasst hatten. Man muss seine Intelligenz demnach trainieren, um fit zu bleiben – das gilt nicht nur für ältere Erwachsene, sondern auch bereits für Kinder.

Nun könnte man einwenden, dass die hochintelligenten Schüler zu wenig in der Schule gefördert worden seien und dass sie deshalb in ihren Denk- und Lernleistungen nachgelassen hätten. Wenn man sie nur richtig gefördert hätte, so die These, hätten sie sich schon zu herausragenden Leistungsträgern entwickelt. Auch zur Überprüfung dieser These können wir auf eine Längsschnittstudie zurückgreifen. Rena Subotnik und ihre Kollegen aus New York haben vor einigen Jahren die Absolventen einer berühmten New Yorker Grundschule befragt, der Hunter College Elementary School. Diese Schule widmete sich ausdrücklich der Eliteförderung. Aufgenommen wurde nur Kinder mit einem extrem hohen Intelligenzquotienten und mit gebildeten Eltern, die sich auch die hohen Schulgebühren leisten konnten. Dafür wurde diesen Kindern Pädagogik "vom Feinsten" gegönnt: hoch motivierte Lehrer, eine üppige Schulausstattung, neueste Unterrichtsmethoden – ein ideales Lernumfeld also. 25 Jahre später untersuchte Rena Subotnik, was denn aus den Absolventen dieser Schule geworden war. Die Ergebnisse können sich sehen lassen: 80% der Schüler hatten später einen Hochschulabschluss erzielt, 60% sogar einen Doktortitel erworben, viele hatten akademische Preise und Auszeichnungen erhalten. Und dennoch muss man fragen: War das alles? Keiner dieser Schüler, so beklagten die Forscher, hatte wirklich herausragende Leistungen zu verzeichnen, keiner hatte eine führende Rolle in Wissenschaft oder Gesellschaft eingenommen. Die Schüler, argwöhnten die Forscher, seien vielleicht zu sehr verwöhnt worden, hätten mehr nach Wohlstand und Freunden gesucht als nach Ruhm und Ehre. Hohe Intelligenz, so lernen wir daraus, ist – selbst gepaart mit hervorragender Schulbildung – kein Garant für Spitzenleistung. Eliteförderung für alle, die einen hohen IQ vorzuweisen haben, ist damit pädagogisch nicht zu rechtfertigen. Somit sind auch Schulversuche wie in Meißen, für die man vor allem einen hohen IQ als Eintrittskarte benötigt, fragwürdig.

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2.2 Sind Hochbegabte besonders gefährdet?

Aber wie kann man Hochbegabtenförderung noch – und vielleicht besser – rechtfertigen? Vor allem Elternverbände bringen das Argument ins Spiel, dass hochbegabte Kinder in der Schule viel zu leiden hätten. Die Lehrer würden ihre Begabungen nicht erkennen, ihren Lerneifer missachten und diese Kinder somit durch ständige Unterforderung quälen, die nicht selten zu Verhaltensstörungen führen würde. Hochbegabte müssten deshalb besondere Förderung erhalten, damit sie nicht psychisch geschädigt und jede Lust am Lernen verlieren würden.

Vorhaltungen dieser Art sind ernst zu nehmen. Es gibt wirklich ärgerliche Berichte über Lehrer, die jedes Talent im Keim ersticken.

So beklagt sich eine Medizinstudentin, die seit ihrer Schulzeit an der Münchner Längsschnittstudie zur Hochbegabung teilnimmt, bitter über ihren früheren Physiklehrer. Mit Sprüchen wie "Den Otto-Motor müssen Sie als Hausfrau nichts verstehen" oder "Was wollen denn die Mädchen hier, die gehören doch hinter den Kochtopf" habe er ihr nicht nur jede naturwissenschaftliche Begabung abgesprochen, sondern auch Frauen generell verunglimpft. Nehmen wir eine andere Episode: Eine Spitzenschülerin des Carl-Zeiss-Gymnasiums Jena erklärt, sie sei vor allem deshalb auf die Spezialschule gewechselt, weil der Physiklehrer ihrer früheren Schule ihr verboten habe, sich im Unterricht zu melden. Sie hatte sich Physik im Selbststudium beigebracht und wusste damit fast mehr als ihr Lehrer.

So betrüblich solche Beobachtungen sind, sie scheinen nicht symptomatisch für unsere Schullandschaft zu sein, wie dies Elternverbände immer wieder behaupten. Groß angelegte Untersuchungen haben ergeben, dass die meisten hochbegabten Schüler gut in ihre Klassen integriert sind, angemessene Leistungen erbringen und neben der Schule noch ausreichend Zeit für ihre Interessen und für Freizeit haben. Leistungsversagen oder Verhaltensstörungen treten zwar auch bei hochbegabten Schülern auf, aber nicht in größerem Umfang als bei durchschnittlichen Schülern.

Daraus ergeben sich zweierlei Konsequenzen: Erstens kann man für den Großteil der hochbegabten Schüler nicht rechtfertigen, dass sie besonders gefördert werden müssten, um zu verhindern, dass sie verhaltensauffällig würden. Zweitens gibt es aber hochbegabte Schüler, die eine besondere Förderung benötigen, weil sie aufgrund einer labilen Persönlichkeit oder einer schwierigen Umgebung von Entwicklungsproblemen bedroht sind. Dieser Schüler fallen dann in den Zuständigkeitsbereich der Sonderpädagogik. So stellt Ursula Hoyningen-Süess vom Institut für Sonderpädagogik der Universität Zürich fest: "Die Entwicklung hochbegabter Kinder ist unter bestimmten Umständen gefährdet und ihre Erziehung verläuft unter bestimmten Umständen unter erschwerten Bedingungen." Daraus folgert sie: "Der sonderpädagogische Förderbedarf bestimmt sich aus diagnostizierten oder prognostizierbaren Entwicklungsbeeinträchtigungen oder Entwicklungserschwernissen."

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2.3 Der lange Weg zur Spitze

Wir suchen also immer noch nach einem überzeugenden Argument für die besondere Förderung Hochbegabter. Hohe Intelligenz ist kein Grund für eine spezielle Förderung und psychische Anfälligkeit scheint nur bei einem kleinen Teil der hochbegabten Schüler gegeben, die selbstverständlich schulpsychologischer Unterstützung bedürfen. Wir finden das nötige Argument, wenn wir die Leistungsentwicklung wieder vom Ende her betrachten, ähnlich wie es Catherine Cox versucht hatte, die ich eingangs zitierte. Die modernen Untersuchungen dazu stammen von Anders Ericsson und seinen Kollegen vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung.
Berlin hat viele klassische Orchester und entsprechend gute Musikschulen. Ericsson nahm Kontakt zu diesen Einrichtungen auf und versuchte dort, möglichst viele Geigenspielerinnen für eine Befragung zu gewinnen. Er teilte die jungen Violinistinnen in drei Gruppen ein, in solche mit nachgewiesenen Spitzenleistungen (d. h. solche, die in großen Orchestern bereits die Erste Geige spielten), in solche mit sehr guten Leistungen und in solche, die sich darauf beschränkten, Musiklehrerinnen zu werden. Als weitere Gruppe nahm er erfahrene, professionelle Geigenspielerinnen mit dazu. Durch seine Befragung wollte Ericsson herausfinden, welche Faktoren dazu führten, dass eine junge Frau im Geigenspiel Spitzenleistungen erzielte oder nur ein durchschnittliches Niveau erreichte. Die Ergebnisse dieser Studie entsprachen nicht den üblichen Denkmustern, denn es war vor allem das Ausmaß an Zeit, das die Violinistinnen in das Üben mit ihrem Instrument investiert hatten, nach dem sich die Gruppen unterschieden.
Ein genauer Blick in die Daten zeigt, dass die später erfolgreichen Musikerinnen bereits im Alter von 8 Jahren doppelt so lange Violine übten (nämlich 4 Stunden pro Woche) als die später weniger erfolgreichen. Im Alter von 10 Jahren übten die erfolgreichen Musikerinnen bereits 8 Stunden pro Woche, ebenfalls doppelt so viel wie die anderen. Und im Alter von 14 Jahren hatten die Erfolgreichen ihr Übungspensum bereits auf 16 Stunden gesteigert, wieder doppelt so viel wie die späteren Musiklehrerinnen. Die Spitzenmusikerinnen hatten somit bis zum Alter von 20 Jahren bereits mehr als 10.000 Stunden mit ihrem Instrument gespielt, während es die Musiklehrerinnen nicht einmal auf 5000 Stunden brachten. Erfolg, so Ericsson, sei also vor allem abhängig von Arbeit und Anstrengung, und diese wiederum seien nur dann ergiebig, wenn sie von guten Lehrern und Ausbildern angeregt und gesteuert werden.

Diese Befunde beschränken sich nicht auf den Bereich der Musik. Wie Kristine Heilmann in einer Untersuchung der erfolgreichsten Teilnehmer des Bundeswettbewerbs Mathematik zeigen konnte, waren auch hier frühes Interesse an Mathematik, persönliche Faszination von der Mathematik, lang andauernde Beschäftigung mit mathematischen und physikalischen Themen, Wahl entsprechender Leistungskurse und freiwilliger Arbeitsgemeinschaften sowie Motivation durch die Aussicht, bei einem Wettbewerbserfolg ein Studienstipendium zu erhalten, für den Erfolg besonders wichtig. Auch bei diesen Schülern war ein mathematisch-naturwissenschaftliches Arbeitspensum von 20 Wochenstunden nicht ungewöhnlich.

Spitzenleistungen erfordern also die frühe und lang anhaltende Beschäftigung mit einem Interessengebiet. Begabte junge Menschen befassen sich in der Regel freiwillig und mit großer Ausdauer mit ihrem Spezialgebiet. Dennoch benötigen sie hierbei fachkundige Anregung und Anleitung, wie sie nur durch ausgebildete Lehrer erfolgen kann. Was wir im Sport und in der Musik bejahen und bewundern, nämlich die frühe Förderung von Talenten, darf bei geistigen Talenten kein Tabu sein, zumal auch hier die frühe Förderung notwendig ist.
Lassen Sie mich dafür noch einmal drei Argumente anführen: Erstens ist – wie Wolf Singer zurecht vermerkt – in frühen Lebensjahren die Lernfähigkeit am größten, vor allem in grundlegenden kognitiven Bereichen wie der Sprache, dem räumlichen Denken und dem musikalischen Empfinden. Deshalb muss diese Zeit optimal genutzt werden. Zweitens sind die komplexen Wissensgebiete unserer Kultur so umfangreich und vielschichtig, dass man viele Jahre braucht, um in sie einzudringen und "darin heimisch zu werden", wie Heinrich Roth es formuliert hat. Und drittens machen es uns andere Länder vor, dass die Kindheit nicht für Fernsehen, Computerspiele und Straßenfußball reserviert sein muss. Wo wir mit unseren pädagogischen Anstrengungen oft schon aufhören, beginnt für viele Schüler in Japan, Korea oder Singapur erst der Lernalltag. Natürlich sollen wir die fragwürdigen Drillpraktiken anderer Länder nicht nachvollziehen, aber wenn unsere jungen Leute im internationalen Vergleich bestehen wollen, dürfen wir wenigstens die fähigsten unter ihnen, die leicht lernen und die dazu motiviert sind, an die Spitze zu kommen, nicht unnötig bremsen.

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3. Wie findet man hochbegabte Kinder?

Ich habe Ihnen bislang Argumente ausgeführt, mit denen die Förderung besonders begabter Schüler begründet werden kann. Dabei haben wir auch eine ganze Reihe von Erkenntnissen über die Entwicklung von Begabungen und Leistungen behandelt. Um hochbegabte Schüler aber gezielt fördern zu können, muss man sie erst einmal gefunden haben. Wie man hochbegabte Kinder findet, ist deshalb unser nächstes Thema.

3.1 Definition von Hochbegabung

Bevor man versucht, mit Tests und anderen Instrumentarien hochbegabte Personen zu identifizieren, muss man sich über den Begabungsbegriff Klarheit verschaffen. Mit dem Begriff Begabung bezeichnet man in der Pädagogischen Psychologie das Insgesamt der individuellen Leistungsvoraussetzungen. Begabung definiert sich also durch einen Bezug zur Leistung. Da in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen historischen Zeiten jeweils unterschiedliche Leistungen als wertvoll betrachtet werden, ist auch die inhaltliche Präzisierung des Begabungsbegriff von wechselnden gesellschaftlichen Wertungen abhängig.

Seit etwa 70 bis 80 Jahren wird Intelligenz als wesentliche Komponente von Begabung betrachtet. Intelligenz bezeichnet die allgemeine Fähigkeit, auf neuartige geistige Anforderungen durch rasches Erkennen, logisches Schlussfolgern und schnelles Lernen effektiv zu reagieren. Der Umgang mit den großen Symbolsystemen unserer Kultur (Sprache, Mathematik, figurale Gebilde, Musik, körperlicher Ausdruck) erfordert jedoch zusätzlich spezifische kognitive Fähigkeiten. Deshalb gehen moderne Intelligenzmodelle – in Übereinstimmung mit der Gehirnforschung – davon aus, dass neben der allgemeinen Intelligenz (die sich neben logischem Denken auch aus Wahrnehmungs- und Gedächtnisfähigkeiten konstituiert) noch spezifische kognitive Fähigkeiten (wie sprachliche Intelligenz, rechnerische Intelligenz, räumliche Intelligenz u. ä.) existieren. Die Einteilung dieser Fähigkeiten erfolgt aufgrund der Beobachtung, dass junge Menschen nicht in allen schulischen Leistungsbereichen (selbst wenn sie alle denselben Unterricht erhalten) dasselbe Leistungsniveau erreichen.

Alle neueren Forschungsarbeiten zu den Voraussetzungen für Höchstleistungen belegen jedoch, dass neben kognitiven Fähigkeiten auch noch Interessen, Arbeitsdisziplin, Leistungsmotivation und eine kreative Haltung erforderlich sind, damit eine Person besondere Leistungen erbringt. Aber diese Erkenntnisse sind nicht sonderlich neu.

Sander fasst in einem Aufsatz 1967 die Konzepte der frühen deutschen Begabungsforschung in der Trias "Intelligenz – Wille – Interesse" zusammen. Begabung ist demnach mehr als Intelligenz, und Hochbegabung mehr als hohe Intelligenz. Ernst Meumann kam schon 1913 in seiner Analyse der Charakteristika von Hochbegabten – die er in klassischer Tradition noch als "Genies" bezeichnete – zu dem Schluss, "1. dass Genie nicht bloß auf intellektueller genialer Begabungsanlage beruht, sondern, dass es Willens- und Gefühlsmächte, insbesondere Intensität und Ausdauer, Tiefe und Nachhaltigkeit der Gefühlsreaktionen sind, welche zur intellektuell-genialen Anlage hinzukommen müssen, damit diese zu großen Leistungen gelangt; und 2. dass wir unter einer genialen Anlage, die nicht zur Entfaltung kommt, die intellektuelle Anlage zur geistigen Produktivität verstehen müssen. Sie kommt nicht zur Entfaltung, weil ihr nicht die geeigneten Gefühls- und Willensmächte beigesellt sind".

William Stern, der in den zwanziger Jahren Begabtenauslese und Begabtenförderung im Hamburg maßgeblich vorantrieb, war ebenfalls der Überzeugung, dass die geistige Begabung allein – die vor allem als vererbte Leistungsdisposition angesehen wurde – nur dann zur Leistungsentfaltung komme, wenn sie durch entsprechende Motivation realisiert werde.

Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich, dass die Bezeichnung hochbegabt verschiedene Bedeutungen haben kann. In Wissenschaft und Praxis gibt es dazu keine eindeutigen, unumstrittenen Festlegungen. Mit "hochbegabt" wird wahlweise bezeichnet

  1. eine Person mit hoher allgemeiner Intelligenz,
  2. eine Person mit einer hoch ausgeprägten spezifischen kognitiven Fähigkeit (z. B. "sprachlich hochbegabt", "Musiktalent"),
  3. eine Person mit hoher allgemeiner Intelligenz und guten weiteren Leistungsvoraussetzungen (gute Arbeitshaltung, ausgeprägte Lern- und Leistungsmotivation, ausgeprägte Interessen etc.),
  4. eine Person mit einer hoch ausgeprägten spezifischen kognitiven Fähigkeit und guten weiteren Leistungsvoraussetzungen.

Da sich spezifische Fähigkeiten, Interessen und Arbeitshaltung häufig erst im Jugendalter herausbilden, neigt man dazu, im Vor- und Grundschulalter die erste Definition (a), im höheren Schulalter jedoch zunehmend die letzte Definition (d) anzuwenden.

Der gegenwärtige Forschungsstand erlaubt auch keine einfache Festlegung von Häufigkeiten. Fähigkeiten und Begabungen werden als kontinuierlich variierende Merkmale aufgefasst, so dass jede klassifikatorische Trennung in "begabte", "hochbegabte" oder "minderbegabte" Individuen willkürlich ist. Angaben dazu, dass ein, zwei oder drei Prozent der Bevölkerung hochbegabt seien, sind nur pragmatisch zu rechtfertigen und erfordern den Konsens der Beteiligten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in jedem Begabungsbereich unterschiedliche Individuen die Spitzenplätze einnehmen können. Würde man also beispielsweise aus praktischen Gründen drei bis sieben zentrale Begabungsbereiche unterscheiden, so würden sich die bereichsspezifisch Hochbegabten zu mindestens 10 Prozent der Bevölkerung aufsummieren. Aber auch diese Zahl ergibt sich nur aufgrund der vorangehenden willkürlichen Entscheidungen.

Deshalb ist es ergiebiger, Hochbegabung nicht über eine Bevölkerungsquote, sondern durch ein Förderungsdefizit zu definieren. So könnte man fragen, wie viele Schüler derzeit Spitzenleistungen erbringen oder erbringen würden, wenn sie nur angemessen gefördert würden. Auch hier sind Abschätzungen schwierig, da systematisch erhobene empirische Daten fehlen. Dennoch lehrt die Erfahrung, dass man etwa für 5% jedes Schülerjahrgangs besondere Angebote zur Begabtenförderung bereitstellen sollte und dass etwa 0,1% der Kinder und Jugendlichen wegen ihrer extremen Begabung in der Schule überhaupt nicht angemessen gefördert werden können.

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3.2 Identifikation durch Lernerfolge

"Begabungen" sind abstrakte Begriffe, die von Forschern erfunden wurden. Sie lassen sich nicht schnell erfassen und einfach beobachten. Deshalb kann man zur Erfassung von Begabungen verschiedene Wege gehen, die alle ihre Vor- und Nachteile aufweisen. Der sicherste Weg besteht darin, Begabungen über bereits erbrachte Leistungen zu ermitteln. "Früheres Verhalten erlaubt die beste Voraussage von künftigem Verhalten", lautet die Erkenntnis nicht nur von Personalchefs. Wer bereits gute Leistungen erbracht hat, ist der sicherste Kandidat für künftige Spitzenleistungen. Diesen Weg gehen beispielsweise Spezialschulen wie das Carl-Zeiss-Gynasium in Jena, das ab der 9. Jahrgangsstufe einen mathematisch-naturwissenschaftlichen Spezialschulteil aufweist. Für die Aufnahme müssen die Schüler anspruchsvolle Mathematik- und Physikaufgaben bearbeiten, und nur die besten werden in die Schule aufgenommen.

Das Verfahren hat sich weitgehend bewährt, wie die wissenschaftliche Begleitung unter meiner Leitung bestätigt hat: Betrachtet man diejenigen Schüler, die nach ein bis zwei Schuljahren am Carl-Zeiss-Gymnasium Preise in regionalen und überregionalen Wettbewerben erhalten haben, so sind das auch diejenigen, die im Aufnahmeverfahren sehr gute Mathematik- und Physikleistungen erzielt haben. Es hätte auch gar keinen Sinn, Schüler, die zwar hochintelligent sind, sich bislang aber nur wenig mit Mathematik befasst haben, in die 9. Klasse einer mathematischen Spezialschule aufzunehmen. Zu anspruchsvoll ist die Mathematik, als dass man in wenigen Jahren herausragende Leistungen erzielen könnte.

Dennoch sind nachgewiesene Lernerfolge nicht immer der beste Weg, um Begabungen ausfindig zu machen. Dies gilt einerseits für den Vor- und Grundschulbereich, in dem die Kinder noch gar keine Leistungen erbringen konnten, aufgrund deren man sie dann fördern könnte. Ferner gibt es immer wieder Schüler, die aus ihren Fähigkeiten nicht das machen, was sie eigentlich daraus machen könnten. Die Psychologie spricht vom "Underachiever", dessen schwache Leistungen im Gegensatz zur guten Begabung stehen. Solche Schüler kann man auch an besagtem Carl-Zeiss-Gymnasium finden. Vergleicht man die Intelligenzwerte der dortigen Spezialschüler mit ihren mathematischen Leistungen, so gibt es eine Gruppe von Schülern, die schwächere Leistungen erbringt als man ihnen zutrauen würde. Ein genauer Blick zeigt, dass diese Schüler nicht besonders zum Lernen motiviert sind, wohl deshalb, weil sie bereits bei der Aufnahme an die Schule gewisse Wissensdefizite zeigten und diese nicht mehr aufholen konnten.

3.3 Identifikation durch Lernbereitschaft

Als weitere Möglichkeit, Begabungen zu erkennen, bietet sich die genaue Beobachtung der Schüler an. Begabung ist nämlich nichts Statisches, sondern ein dynamischer Prozess, glaubt jedenfalls der amerikanische Begabungsforscher Joseph Renzulli. Junge Menschen verfügen zwar oft über hinreichend Talent, Kreativität und Motivation, aber setzen sie für ganze verschiedene Zwecke ein. Das hat auch schon der Chicagoer Professor Czikszentmihalyi beobachtet. Er schloss aufgrund von Tagebuchaufzeichnungen junger Leute, dass diese aufgrund ihrer konfusen Lebensführung oftmals gar nicht in der Lage wären, ihre Fähigkeiten auf einen Leistungsbereich zu konzentrieren. Manchmal, so Renzulli, zeigt sich aber eine günstige Phase, eine besondere Konstellation, in der Talent, Kreativität und Motivation zur Deckung kommen und auf einen Interessenbereich konvergieren. Dann wird die Begabung auf diesem Feld sichtbar und die Lehrerin müsse die Gelegenheit beim Schopf packen und dem jungen Menschen gleich eine Aufgabe stellen, ein Projekt bearbeiten lassen, in dem die eigenen Talente nutzbar gemacht werden. Renzulli hat dazu das sogenannte "Drehtür-Modell" der Begabtenförderung entwickelt: Wenn ein Schüler Anzeichen einer aufkeimenden Begabung aufweist, kommt er in die Intensivförderung, wenn die kreative Phase vorbei ist, verlässt er die Förderung wieder.

Auch dieser Ansatz hat Vor- und Nachteile. Günstig ist es, dass Schüler nicht ein für allemal als hochbegabt oder nicht-hochbegabt eingeschätzt werden, sondern dass die Annahme der Entwicklungsfähigkeit kontinuierliche förderdiagnostische Maßnahmen nahelegen. Ungünstig ist aber, dass die Erkennung von aktualisierten Talenten allein den Lehrkräften überlassen wird. Denn diese tun sich bekanntermaßen nicht leicht mit der Identifikation besonderer Fähigkeiten, vor allem, wenn es sich um kreative Talente handelt, die sich notwendigerweise über die Konventionen von Anstand und Gewohnheit hinwegsetzen.

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3.4 Identifikation durch Tests

Deshalb greift man in Zweifelsfällen doch auf Tests zurück, die vor allem für den Bereich der Intelligenz vorliegen. Diese erlauben eine präzise Abschätzung des kognitiven Leistungsniveaus und erfassen mit einer Vielzahl an Aufgaben und Untertests auch spezielle Denkfähigkeiten. Im Zentrum der Intelligenzdiagnostik steht das schlussfolgernde Denken, also die Fähigkeit, einzelne Informationen logisch zu verknüpfen. Allerdings ist die Aussagekraft solcher allgemeiner Tests erwartungsgemäß begrenzt: Spezielle Leistungen auf anspruchsvollen Gebieten erfordern viel Wissen, ein gut sortiertes Gedächtnis sowie spezielle Problemlösestrategien, die – weil sie für jedes Fachgebiet und jeden Problemtyp spezifisch entwickelt werden – mit einem allgemeinen Test nicht erfassbar sind.

Ferner sind auch mit besten Intelligenztests mit Messfehlern behaftet: Von 100 Kindern, die in einem IQ-Test einen Wert von 130 oder höher erreichen, haben tatsächlich nur 70, also zwei Drittel, einen so hohen IQ. Die restlichen 30 Kinder liegen eigentlich darunter, erhalten aber fälschlich einen so hohen Wert zugeschrieben. Erfahrene Psychologen kennen jedoch die Möglichkeiten und Grenzen von Intelligenztests und wissen sie verantwortlich einzusetzen.

Daraus ergibt sich für die besonnene Identifikation hochbegabter Kinder vor allem die Empfehlung, Kinder genau zu beobachten. Wesentlich wichtiger als die Zuschreibung eines Testwertes oder eines Etiketts ("hochbegabt") ist es, die Lernentwicklung von Kindern täglich zu verfolgen und ihnen viele passende Lernangebote zu machen, über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen und behutsam Leistungsansprüche zu stellen. Fast schlimmer als den unterforderten Hochbegabten geht es nämlich den überforderten nicht-hochbegabten Kindern, deren Eltern aus reinem Wunschdenken oder aufgrund eines fahrlässig ermittelten Testwertes glauben, ein kleines Genie vor sich zu haben, und die dann sich, ihren Kindern und deren Lehrern das Leben schwer machen, weil sich die erhoffte Genialität in den Sprösslingen so gar nicht zeigen will.

4. Förderung begabter Schüler

Wenden wir uns nun der letzten, aber entscheidenden Frage zu: Wie kann man begabte, hochbegabte Schüler angemessen fördern? Offensichtlich reicht der normale Unterricht an regulären Schulen dafür oft nicht aus. Denn wenn sich eine Schulklasse aus zu vielen unterschiedlich begabten Kinder zusammensetzt, hat dies erhebliche Konsequenzen.

(1) Die Lehrer bewältigen diese Unterschiedlichkeit nicht. Sie orientieren sich an einer kleinen Gruppe überdurchschnittlicher Schüler und gestalten ihren Unterricht nach deren Lernbedürfnissen. Störungen im Unterrichtsablauf, die durch die anderen Gruppen entstehen, werden ad hoc und mit minimalem Aufwand unterbunden.

(2) Gleich welcher Gruppe sich der Lehrer zuwendet, ein bis zwei Drittel der Klasse werden dabei nicht optimal lernen. Die fortgeschrittenen Lerner sind unterfordert, die schwachen Lerner überfordert. Wissenserwerb und Unterrichtsfortschritt verlaufen in keinem Fall effizient.

(3) Die mangelnde Passung des Unterrichts für viele Schüler führt dazu, dass immer wieder ein Teil der Schüler nicht am Unterrichtsgeschehen aktiv teilnimmt. Die lernrelevante "time on task" ist deutlich geringer als die Brutto-Unterrichtszeit. Durch diesen Stop-and-go-Unterricht leidet die Motivation vieler Schüler, ferner ihr Verständnis des Unterrichtsthemas und die Konzentration. Dadurch ist ein weiteres Absinken der Lernleistung vorprogrammiert.

(4) Schwächere Schüler erleben die Spitzenschüler als unerreichbare Ideale, retten ihr Selbstbild dadurch, dass sie diese als Streber etikettieren, halten aber auf lange Sicht das Lernen für aussichtslos. Sie sinken vielleicht noch mehr in ihren Leistungen ab; der soziale Friede in der Klasse ist beeinträchtigt.

Was also ist zu tun, was hat sich bewährt?

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4.1 Förderung durch Verbesserung der Schulqualität

Vieles würde in der Schule für die hochbegabten Schüler leichter werden, wenn sich die Qualität von Schule insgesamt verbessern würde. Man muss sogar so weit gehen und behaupten, dass die allgemeine Verbesserung von Schule wesentlich wirksamer für die Begabtenförderung ist als die Durchführung vereinzelter Maßnahmen, wenn diese wie ein Feigenblatt den misslichen Zustand des allgemeinen Schulwesens verdecken.

Folgt man den internationalen Studien zur Erforschung der Schulqualität, so sind es vor allem vier Faktoren, die guten Unterricht ausmachen:

(1) Die Instruktion, d. h. die konkreten Informationen und Anweisungen im Unterricht, muss von hoher Qualität sein. Das bedeutet, dass guter Unterricht fachlich gediegen und für Begabte anspruchsvoll ist und dass auch didaktische Planung sowie methodische Umsetzung professionell erfolgen. Wie der Lehrer Problemstellungen und Wissen anbietet, ist entscheidend für den Aufbau einer soliden Wissensbasis und fachspezifischer Problemlösekompetenz bei den Schülern.
Mein verehrter akademischer Lehrer Franz Emanuel Weinert hat in seinen Vorträgen häufig noch ein weiteres Phänomen angesprochen, das guten Unterricht ausmacht. Es geht um den Gegensatz von Lern- und Leistungsorientierung. Schüler sollten immer wieder das Gefühl haben, dass sie in der Schule lernen können, also Einsichten erwerben, Fragen klären und Probleme lösen. Demgegenüber muss der Leistungsaspekt, also das Demonstrieren des Gelernten, das Sich-Prüfen-Lassen, die Bewertung zurücktreten. Denn wenn Schüler nur lernen, um bei Leistungsprüfungen zu bestehen, anstatt aus Interesse an der Sache selbst, können sich komplett andere, und zwar ineffektive Wissensstrukturen ergeben (Dweck & Leggett, 1988; Krapp, 1999).
Ich habe noch lebhaft einen Klassenkameraden vor Augen, der mir in der Abiturklasse das Geheimnis seiner guten Schulleistungen verriet: Er würde gerade in den Lernfächern wie Erdkunde und Geschichte die Lehrbücher einfach auswendig lernen. Denn nur das, was in den Büchern stünde, würde von den Lehrern in den Klassenarbeiten honoriert werden. Unter diesen Umständen lernte mein Schulfreund also nicht, um zu verstehen, sondern nur, um gute Noten zu erhalten. Und seine Strategie bewährte sich: Durch Auswendiglernen erzielte er das beste Abitur unseres Jahrgangs. Aber was konnte er mit seinem hölzernen Wissen später anfangen? Wissenschaftler werden oder praktische Probleme lösen als Freiberufler? Nein: Mit diesem Wissen blieb ihm nur übrig, wieder Lehrer zu werden.

(2) Der Unterricht muss sich anpassen an die Lernbedürfnisse und Lernkapazitäten der Schüler. Damit sind nicht nur Unterrichtskonzepte gemeint, die unter den Begriffen "interessegeleitetes Lernen" und "entdeckendes Lernen" bekannt geworden sind. Es geht dabei auch die Differenzierung im Unterricht, so dass jede Schülerin, jeder Schüler auf die ihm gerechte Weise angesprochen wird.

(3) Zum guten Unterricht zählen auch angemessene Lernanreize, die in den Lerntätigkeiten selbst und in ihren Konsequenzen angelegt sein müssen. Auch begabte Schüler müssen das Gefühl haben, mit ihren ungewöhnlichen Fragen und ihren Spezialinteressen ernst genommen zu werden, anstatt zu erkennen, dass sie nur als unbequeme Störenfriede für den gemächlichen Versuch ihrer Lehrer gelten, die lästige Zeit zwischen den Ferien zu überbrücken.

(4) Neben der Qualität des Unterrichts ist auch seine Quantität nicht zu unterschätzen, die im internationalen Vergleich erheblich für Unterschiede in den Schülerleistungen verantwortlich ist. Die Unterrichtszeit bemisst sich nicht nur nach der Stundentafel, sondern mehr noch danach, wie gut die verfügbare Zeit gefüllt wird. Ständige Unterrichtsausfälle und unnötige Organisationsmaßnahmen in den Schulstunden können die aktive Lernzeit der Schüler beträchtlich verringern.
Ein Negativbeispiel: Der Kunsterzieher meines Sohnes lässt derzeit im Unterricht das Fernsehgerät laufen, während die Kinder ihre Skizzen anfertigen. Er macht dies wegen der Fußballweltmeisterschaft, vermittelt aber den Kinder unweigerlich das Gefühl, dass künstlerisches Arbeiten weniger wichtig sei als der passive Konsum des Balltretens.

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4.2 Förderung durch Verbesserung der Lehrerausbildung

Mit der allgemeinen Steigerung der Unterrichtsqualität würden alle Kinder, auch die Hochbegabten, besser gefördert als dies bislang häufig der Fall ist. Unterrichtsqualität lässt sich aber nicht verordnen, sie lässt sich nur durch gute Ausbildung der Lehrkräfte und durch lebenslange Supervision und Fortbildung sicherstellen. Fach- und Methodenwissen muss die Universität vermitteln, aber sie muss auch prüfen, ob die künftigen Lehrerinnen und Lehrer die Lernbedürfnisse und Lernkompetenzen ihrer Schüler richtig einzuschätzen und aus dieser Kenntnis heraus differenzierten Unterricht zu gestalten vermögen. Befragt man Erwachsene mit besonderen Leistungen nach denjenigen Faktoren, die in ihrer Jugendzeit für ihre Leistungsentwicklung besonders verantwortlich waren, so wird neben einem offenen und anregenden Elternhaus immer auch die ermutigende Lehrerin und der begeisternde Lehrer genannt.
Junge Menschen für eine Wissenschaft oder eine künstlerische Perspektive begeistern, ihnen diese Gebiete öffnen können und dabei als persönliches Beispiel für eine gelungene Lebensbewältigung zu imponieren – das zeichnet den guten Lehrer, die gute Lehrerin aus. Klassengemeinschaft und Bürgergesellschaft, Schulkultur und Geisteskultur dürfen dabei keine Gegensätze bilden, sondern müssen das Große im Kleinen abbilden. Ob man diese Ziele für die Lehrerbildung an der Universität Erfurt mit dem undefinierten Schlagwort "Vermittlungskompetenz" erreichen kann? Ich habe meine Zweifel.

4.3 Förderung durch spezielle Maßnahmen

Für die Förderung besonders befähigter Kinder und Jugendlicher haben sich auch ganz spezielle Maßnahmen bewährt, die ich kurz vorstellen möchte:

  1. Differenzierung im regulären Unterricht erreicht man durch individuelle Lernaufgaben oder (zeitweilige) Gruppenbildung. Diese an sich sehr effektive Maßnahme ist besonders aufwändig und deshalb bei Lehrkräften nicht beliebt.
  2. Mit Enrichment bezeichnet man die Anreicherung des regulären Curriculums durch Zusatzangebote. Dies wird meist in Form von Arbeitsgemeinschaften, Sommerkursen oder Projekten durchgeführt. Eine Förderung dieser Art eignet sich für viele Schüler, öffnet Horizonte, weckt Lernfreude, hat aber oft keine nachhaltige Wirkung. Vor allem lässt sie den regulären Unterricht unangetastet und führt bei manchen Schülern oft zu unangenehmen Kontrasterlebnissen zwischen den anregenden Spezialkursen und dem langweiligen Regelunterricht. Dennoch sollten Enrichment-Maßnahmen zum pädagogischen Repertoire jeder Schule gehören. Auch Schulen, die ein verstärktes Angebot im sprachlichen oder mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich anbieten, praktizieren das Enrichment-Prinzip, d. h. sie nutzen die erhöhte Aufnahmebereitschaft und Lernkapazität begabter Schüler für eine breitere und vertieftere Ausbildung aus. Das Sprachengymnasium in Schnepfenthal ist ein sehr schönes Beispiel dafür.
  3. Das beschleunigte Durchlaufen der Schullaufbahn nennt man Akzeleration. Häufig praktizierte Formen der Begabtenförderung sind vorgezogene Einschulung, Überspringen von Klassenstufen oder die Einrichtung von Klassen mit verkürztem Ausbildungsgang. Akzeleration eignet sich für gleichmäßig leistungsstarke Schüler mit ausgewogenem Begabungsprofil, sie beseitigt (beim Überspringen: zumindest vorübergehend) die Unterforderung, birgt aber auch die Gefahr der sozialen Ausgrenzung, wenn ein Schüler allein eine Klasse überspringt.
  4. Daneben gibt es noch Mischformen von Enrichment und Akzeleration, die bislang in Deutschland selten praktiziert werden: Der Stoff eines Schuljahres wird dabei in verkürzter Zeit (z. B. in sechs Monaten) absolviert, der Rest des Schuljahres wird zur Vertiefung oder zur Durchführung von Individualprojekten genutzt. Diese Maßnahme würde personalintensive Planung und Betreuung erfordern. Dazu sind die deutschen Schulen kaum in der Lage.
  5. Fachspezifische Akzeleration wird bislang in Deutschland ebenfalls nur in Ausnahmefällen praktiziert: Der Unterrichtsstoff wird nur in einem oder einigen Fächern beschleunigt durchlaufen, die restlichen Schulfächer bleiben unangetastet. Dies kann zu einem fachspezifisch vorgezogenen Schulabschluss führen, der bereits zum Einstieg in einen weiteren Ausbildungsgang genutzt werden kann, bevor der vollständige Schulabschluss erworben ist. Im Kölner Raum gibt es dazu einen etwas modifizierten Versuch: Schüler besuchen Sommerakademien, die von Hochschullehrern veranstaltet werden. Bei entsprechender Eignung besuchen sie begleitend zum normalen Schulbesuch Proseminare an der Universität, die ihnen nach dem Abitur als vorgezogene Studienleistung anerkannt werden.

Alle genannten Maßnahmen haben, wie Evaluationsstudien zeigen, positive Auswirkungen auf die Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung Hochbegabter, sofern sie professionell durchgeführt werden. Die personale Ausstattung von Schulen und die begrenzte lokale Verfügbarkeit geeigneter Schüler für die Bildung von Lerngruppen führen bei der Umsetzung der Maßnahmen jedoch immer wieder zu Kompromissen, die zwangsläufig den Ertrag schmälern.

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4.4 Schulübergreifende Maßnahmen

Weil eine einzelne Schule oft nicht über genügend hochbegabte Schüler verfügt, um spezielle Kurse oder Klassen einzurichten, erhalten schulübergreifende Maßnahmen einen besonderen Stellenwert. Bewährt haben sich zum einen vorübergehende Enrichmentmaßnahmen wie Sommerkurse oder Leistungswettbewerbe. Sie führen besonders motivierte Schüler zusammen, vertiefen interessante Fachgebiete und öffnen manchem begabten Schüler den Weg in ein ertragreiches Studien- und Berufsfeld.
Zu den langfristigen schulübergreifenden Fördermaßnahmen zählen die Spezialschulen, die oft – wie beispielsweise das Carl-Zeiss-Gymnasium in Jena – eine überregionale Wirksamkeit entfalten. Sicherlich sind Spezialschulen nicht die erste Maßnahme, an die man bei der Begabtenförderung denken sollte. Ein abgestimmtes Sortiment an Spezialklassen sollte jedoch in keinem Bundesland fehlen, wenn man auch systematische Spitzenförderung betreiben will.

4.5 Die "begabungsfreundliche Gemeinde"

Lassen Sie mich zum Schluss meines Vortrags anstelle eines integrativen Schlusswortes das Idealbild einer begabungsfreundlichen Gemeinde skizzieren. Denn dieser Vortrag richtet sich vornehmlich an die Bürger von Erfurt und erst nachrangig an das wissenschaftliche Kollegium. Nehmen Sie die folgende Aufstellung als persönlich gefärbte Checkliste ohne Anspruch auf Vollständigkeit, mit der man prüfen könnte, inwieweit eine Stadt, eine Gemeinde genügend für begabte Kinder tut.

  1. Die Jugendabteilungen von Vereinen mit Leistungsprofil (Sportvereine, Schachclub, Literaturclub) sind gut bestückt, verfügen über pädagogisch ausgebildete Trainer und betreiben erfolgreiche Nachwuchsarbeit. Sportliche Aktivitäten fördern Ehrgeiz und Ausdauer auch bei solchen jungen Menschen, die ihre eigentlichen Stärken in geistigen Bereichen aufweisen.
  2. Kulturelle Einrichtungen (Museen, Theater etc.) bieten immer wieder Veranstaltungen und Aktionstage für Kinder und Jugendliche an und gewähren familienfreundliche Eintrittspreise.
  3. Musikalische Aktivitäten junger Menschen werden, sofern sie auf Professionalität gerichtet sind und kreativ betrieben werden, auch unabhängig von traditionellen Musikstilen gefördert. Die Münchner Hochbegabungsstudie hat gezeigt, dass musikalische Selbstverwirklichung einen wichtigen Entwicklungsschritt im Leben besonders begabter Jugendlicher darstellt.
  4. Schulen und Geldinstitute beteiligen sich engagiert an regionalen und überregionalen Leistungswettbewerben; Teilnehmer und Sieger werden in der Presse bekannt gegeben und vom Bürgermeister empfangen.
  5. Jede Schule versucht durch ein gut sortiertes Angebot an Zusatzfächern oder Arbeitsgemeinschaften das schulische Curriculum zu erweitern, jahrgangsstufenübergreifende Kooperation zu fördern und Lernen ohne unmittelbaren Leistungsdruck zu realisieren. Eine städtische Kinder- und Jugendakademie unterstützt die schulübergreifende Organisation von anspruchsvollen Wochenend- und Ferienkursen.
  6. An jeder Schule gibt es eine Lehrkraft, die sich besonders um die Förderung der begabten Schüler kümmert, diese ihr ganzes Schulleben lang begleitet und auf Wunsch der Eltern begabungsbezogene Informationen an die Anschlusseinrichtung weitergibt.
  7. Das Überspringen von Klassenstufen und die vorzeitige Einschulung werden unterstützt. Kindergärten bieten ein kognitiv anspruchsvolles Programm an, das den Wissenserwerb nicht auf die Natur und den Heiligenkalender beschränkt, sondern das Hineinwachsen in die moderne Informationsgesellschaft fördert.
  8. Die Nutzung moderner Kommunikationstechniken sollte für Projektarbeit und Informationsbeschaffung im Unterricht selbstverständlich sein. Dabei gilt es, Information nicht mit Wissen zu verwechseln und Internetkompetenz nicht für Bildung zu halten, sondern dafür zu sorgen, dass technische Hilfsmittel die persönliche Kommunikationskompetenz unterstützen statt ersetzen.
  9. Schulen versuchen, ihre besten Schüler möglichst früh in Kontakt zu Hochschulen, zu Firmen und zu Führungspersönlichkeiten zu bringen. Schüler werden in Städtepartnerschaften mit Schüleraustauschprogrammen eingebunden.
  10. Eine Beratungsstelle mit spezieller schulpsychologischer Kompetenz bietet diagnostische und interventive Hilfestellungen bei Lern- und Entwicklungsproblemen an und nutzt ein eigenes Netzwerk, d. h. die Zusammenarbeit mit Schulen und therapeutischen Einrichtungen, für die Gestaltung einer optimalen Bildungskarriere für jedes begabte Kind.

Im Bereich der Begabtenförderung haben sich in den letzten Jahren erstaunliche Veränderungen vollzogen. Vor 15 Jahren noch ideologisch verfemt, ist die Hochbegabtenförderung heutzutage salonfähig geworden und findet sich in den Wahlprogrammen sämtlicher Parteien. Vieles ist erreicht worden und Thüringen braucht sich im Ländervergleich nicht zu verstecken. Mit Ausnahme einer landesweiten Anlaufstelle für Hochbegabtenfragen hat Thüringen die bewährten Maßnahmen verwirklicht oder trägt sie mit, anknüpfend an eigene pädagogische Traditionen und mit je eigener Handschrift. Wenn jedoch der nach dem neuseeländischen Politologen James Flynn benannte und in vielen Ländern nachgewiesene Effekt zutrifft, dass jede Schülergeneration etwas intelligenter ist als die vorhergehende und dass jede Kindergeneration deutlich intelligenter ist als ihre Eltern, bleibt die Begabtenförderung eine niemals endende Aufgabe, die immer wieder neu und in neuen Formen in Angriff genommen werden will.

6. Literaturempfehlungen

Für Eltern und Einsteiger: Müller, T.
Für Lehrkräfte und Fortgeschrittene: Feger, B. & Prado, T.
Für Fachleute: Heller, K. J.

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Stand: 03.07.2002