Zeugnisse jüdischen Lebens in Flurnamen aus dem Gesamtbestand des Thüringischen Flurnamenarchivs

Während der Rintfleisch-Verfolgung von 1298 ließen etwa unzählige Juden ihr Leben oder wurden aus ihren Heimatdörfern vertrieben. Auch im Zuge der Pestpogrome zwischen 1348 und 1351 entluden sich Hass und Unwissenheit einer meist christlichen Mehrheit in grausamer Weise. Wohl kaum eine der größeren Städte Deutschlands kann von sich behaupten, während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit durchgängig Juden beherbergt zu haben. Zu verbreitet waren Hetzjagden auf und Verbannungen von ansässigen jüdischen Gemeinden. Religiös bedingter Antijudaismus und später auch der rassistisch motivierte Antisemitismus festigten sich mit der Zeit zu einem scheinbaren – wie es die Historikerin Shulamit Volkov einst kontrovers formulierte – kulturellem Code der Deutschen. 1 Im 20. Jahrhundert erreichte dieser tiefverwurzelte Judenhass durch den Völkermord an sechs Millionen europäischen Juden – dem Holocaust bzw. der Shoa – seinen traurigen Höhepunkt. Doch auch heute noch scheint das alte Gedankengut nicht vollständig aus allen Teilen und Schichten der Bevölkerung verbannt, wie etwa der versuchte Massenmord an Juden in Halle im Jahr 2019 beweist. Bedingt durch die frequenten historischen und moderneren Erfahrungen von Gewalt und Ausgrenzung, ist der Kampf gegen das Vergessen daher seit jeher ein wichtiger Bestandteil der Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in der Bundesrepublik und damit auch in Mitteldeutschland. Das genannte Themenjahr, welches von der jüdischen Landesgemeinde und den beiden großen christlichen Kirchen in Zusammenarbeit mit der Thüringischen Staatskanzlei initiiert und organisiert wurde, hat es sich daher zum Ziel gesetzt, „den Blick auf die fruchtbaren historischen Kapitel jüdischen Lebens hierzulande [zu] lenken“. Im Vordergrund stehen damit in erster Linie nicht die jahrhundertelangen Gewalterfahrungen, sondern jene häufig vergessenen Einflüsse, die jüdisches Leben seit jeher – trotz aller Widerstände – auch auf Kultur, Gesellschaft und die nicht-jüdischen Mitbürger hatte. Auch darin sieht Reinhard Schramm, Vorsitzender der jüdischen Landesgemeinde Thüringens, eine Notwendigkeit, die sich ganz unmittelbar aus der jüngeren Geschichte ergibt: „Die Nazis haben ganze Arbeit geleistet, und die Erinnerung an die Juden in Politik, Kunst und Wissenschaft in Deutschland fast völlig ausgelöscht“. Auch diese Arbeit möchte einen kleinen Teil dazu beitragen, jene Erinnerungskultur wieder zu stärken und dabei zu helfen, die vielfältigen Spuren jüdischen Lebens zu bewahren. Für dieses Vorhaben wurde auf sprachliche Zeugnisse zurückgegriffen, deren Bedeutung hinsichtlich der jüdisch-deutschen Geschichte Mitteldeutschlands bisher noch nicht in größeren Arbeiten wissenschaftlich untersucht worden ist: den Flurnamen. Mit diesem, heute aus verschiedenen Gründen oftmals bedrohtem Sprachgut, verwiesen die ansässigen Bewohner einer Region einst zu Orientierungszwecken auf kleinere geographische Einheiten in ihrer näheren Umgebung. Die dafür gewählten Namen spiegeln somit in besonderem Maße die Erfahrungswelt, Geisteshaltung und natürlich auch die Sprache ihrer Sprecher wider. In den Flurnamen bleiben damit grundlegende Denkweisen und Vorstellungen der namensgebenden Landbevölkerung für lange Zeit konserviert. Sowohl für Laien als auch für Wissenschaftler bieten sie ein spannendes Forschungsfeld, das es in besondere Weise ermöglicht, die Vergangenheit einer Region und ihrer dort ansässigen Bewohner zu ergründen. Aus diesem Grund wurde ein beträchtlicher Teil dieser Namensschätze über die Jahre hinweg im Thüringer Flurnamenarchiv gesammelt und dort auch archiviert. Rund 150.000 Belege aus Thüringen und dem südlichen Sachsen-Anhalt bleiben so für die Nachwelt erhalten.

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