Der „Fall Max Henkel“ (1870-1941) Das Dienststrafverfahren gegen den Jenaer Ordinarius der Frauenheilkunde und Geburtshilfe (1915-1918) Dissertation Zur Erlangung des akademischen Grades Doctor medicinae (Dr. med.) Vorgelegt dem Rat der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena Von Katrin Ratz Geboren am 23.12.1975 in Merseburg 2002 2 Gliederung 1. Einleitung und Zielstellung....................................................................................................4 2. Zur Biographie Max Henkel..................................................................................................6 3. Das Dienststrafverfahren .......................................................................................................7 3.1. Beschuldigung und Anzeige wegen fahrlässiger Tötung...................................................7 3.2. Das Dienststrafverfahren in erster Instanz .......................................................................15 3.2.1. Anklageschrift und Verhandlungsverlauf ...............................................................................15 3.2.2. Das Urteil im Dienststrafverfahren ...........................................................................................43 3.2.3. Reaktionen auf das Urteil der Dienststrafkammer................................................................49 3.2.3.1. Die Berufungsrechtfertigungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung ........49 3.2.3.2. Die Reaktionen in der Presse...............................................................................50 3.3. Das Berufungsverfahren...................................................................................................54 3.3.1. Verhandlungsverlauf .....................................................................................................................54 3.3.2. Die Reaktionen auf den Freispruch...........................................................................................61 3.3.2.1. Die Haltung der Medizinischen Fakultät Jena.....................................................61 3.3.2.2. Henkels Erwiderung auf die Reaktion der Fakultät.............................................63 3.3.2.3. Reaktionen in der Fach- und Tagespresse auf den Freispruch ............................66 4. Der “Fall Henkel“ und seine Einordnung in die damalige Zeit .......................................69 4.1. Rechtliche Grundlagen der Schwangerschaftsunterbrechung und Sterilisierung ............69 4.2. Wissenschaftliche Stellungnahmen Henkels und seiner Fachkollegen............................71 4.2.1. Ernst Bumm.....71 4.2.2. Georg Winter ...76 4.2.3. Hermann Feh_ann82 4.2.4. Max Henkel......83 4.2.5. Max Hirsch.......89 5. Henkels Wirken in Jena bis zu seinem Tod .......................................................................93 6. Diskussion und Schlußfolgerung.......................................................................................100 6.1. Die Bedeutung des “Falls Max Henkel“ ........................................................................100 6.2. Die Notwendigkeit einer Ärztlichen Ethik.....................................................................103 7. Zusammenfassung ..............................................................................................................108 8. Abkürzungsverzeichnis ......................................................................................................112 9.Quellen-und Literaturverzeichnis......................................................................................114 9.1.ungedruckte Quellen........................................................................................................114 9.2. Literatur ..........................................................................................................................115 10. Anhan117 3 Max Henkel (1870 – 1941) 4 1. Einleitung und Zielstellung Prozesse gegen Ärzte gehören mittlerweile fast zu unserem Alltag. Zu Beginn unseres Jahrhunderts stellte sich die Situation noch etwas anders dar. Zwar gab es Prozesse gegen “Kurpfuscher“ oder gewerbsmäßige “Abtreiber“, gerichtliche Untersuchungen gegen Ärzte in höheren Stellungen waren jedoch selten und standen deshalb rasch im Zentrum des öffentlichen Interesses. Zwischen 1915 und 1918 erregte ein solcher Fall an der Universität Jena die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Ärzteschaft, zumal es sich um einen Hochschullehrer und Direktor einer Universitätsklinik handelte. Gegen den Jenaer Ordinarius für Gynäkologie und Geburtshilfe Professor Max Henkel (1870-1941) war im Februar 1915 Anzeige wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen erstattet worden. Die Anzeige erfolgte auf Initiative des Direktors des Pathologischen Institutes Professor Robert Rössle (1876-1956). Dieser stützte seine Anschuldigungen auf die bei den Sektionen für die Frauenklinik erhobenen Befunde. Die strafrechtliche Untersuchung wegen fahrlässiger Tötung wurde jedoch eingestellt, da ein direktes Verschulden Henkels nicht nachgewiesen werden konnte. Die gerichtliche Voruntersuchung hatte aber weitere Mißstände an der Jenaer Frauenklinik aufgedeckt, die zum Gegenstand eines förmlichen Dienststrafverfahrens gegen Henkel wurden. Dieses endete 1917 zunächst mit einem Schuldspruch und der Verurteilung zur Strafversetzung. In der Berufungsinstanz wurde Henkel ein Jahr später von allen Vorwürfen freigesprochen. Er nahm daraufhin sein Amt wieder auf und blieb bis zu seiner Emeritierung 1935 als Direktor der Jenaer Universitätsfrauenklinik tätig. Dies mag einer der Gründe dafür sein, daß das Disziplinarverfahren gegen Henkel in den Darstellungen zur Jenaer Universitätsgeschichte kaum Erwähnung findet. Zumeist wird nur darauf hingewiesen, daß ein gegen Max Henkel geführtes Disziplinarverfahren mit dessen Freispruch endete.1 Die Umstände, die zu dem gerichtlichen Vorgehen gegen den Universitätsprofessor geführt hatten, werden dagegen nur sehr vage angedeutet. So zum Beispiel die Tatsache, daß das Verfahren gegen Henkel von der Mehrzahl der Mitglieder der Medizinischen Fakultät Jena erwünscht wurde. Dementsprechend fand auch der Freispruch Henkels nicht die Zustimmung der Medizinischen Fakultät, ein Indiz für die nicht unumstrittene Stellung Max Henkels innerhalb der Jenaer Universität. Eine Aufarbeitung der Ereignisse aus ärztlicher Sicht hat bisher nicht stattgefunden. 1 Steinmetz, M. (Hg): Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958, Bd. 1, VEB Gustav Fischer Verlag Jena 1958, S. 487 Möbius, W.: Die historische Entwicklung der Universitäts- Frauenklinik Jena in den 200 Jahren ihres Bestehens, Wiss. Ztschr. FSU Jena, Math. Nat. R. 28. Jg. 1979, H. 5, S. 737-754 5 Das Verfahren gegen Max Henkel berührte vor allem Punkte mit ärztlich-ethischer Dimension, die damals wie heute Aktualität besitzen. So zum Beispiel die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs.2 Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, eine umfassende Darstellung des “Falles Henkel“ im Rahmen der Promotion zu erstellen, um diese Lücke in der Jenaer Universitätsgeschichte zu schließen. Die aktuellen Diskussionen um den ehemaligen Professor der Kinderheilkunde und Ehrenbürger Jenas Professor Jussuf Ibrahim (1877-1953) zeigen, daß Geschichtsaufarbeitung ein wichtiger Bestandteil jeder öffentlichen Institution sein sollte.3 Gerade der ärztliche Beruf ist besonderen ethischen und humanistischen Anforderungen unterworfen. Deshalb sollten Verletzungen dieser Anforderungen, auch wenn sie in der Vergangenheit stattfanden, benannt werden. Nur so wird es möglich sein, Schlußfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen und einen eigenen Standpunkt zu bilden. Zum Dienststrafverfahren gegen Professor Max Henkel liegt ein umfangreiches Aktenmaterial im Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar sowie im Universitätsarchiv Jena vor, welches bis jetzt einmal im Rahmen einer Magisterarbeit im Fach Geschichte bearbeitet worden ist.4 Diese Arbeit kann jedoch die medizinischen und ärztlich-ethischen Aspekte des Falles nur unzureichend darstellen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es: 1. Die Bedeutung des „Fall Henkels“ darzustellen. 2. Den „Fall Henkel“ in die damalige zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion einzuordnen. 3. Im Hinblick auf das 450-jährige Universitätsjubiläum 2008, einen Beitrag zur derzeit neu zu erarbeitenden Universitätsgeschichte zu leisten. 2 Es werden die Begriffe Schwangerschaftsabbruch (Abruptio graviditatis) bzw. künstlicher oder therapeutischer Abort in dieser Arbeit verwendet. Der Begriff der „Schwangerschaftsunterbrechung“ wird nur als Zitat wiedergegeben, da es sich dabei um einen wissenschaftlich nicht gebräuchlichen Terminus handelt. (d. A.) 3 Zeiss, Katrin: Was heißt „Euth.“? Die Jenaer tun sich schwer mit der Wahrheit über ihren Ehrenbürger Ibrahim., Die Zeit, Nr. 12, 16.03.2000, S. 19 FSU Jena, der Rektor (Hg.): Bericht der Kommission der FSU Jena zur Untersuchung der Beteiligung Prof. Dr. Jussuf Ibrahims an der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ während der NS-Zeit, Jena, 2000 Reif-Spirek, P.: Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena, In: Leo, Annette, Reif-Spirek, P. (Hg.): Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 21- 50 4 Weißbrot, Bettina: Der Fall Henkel. Ein Beitrag zur Geschichte der Jenaer Universität während des Ersten Weltkrieges, Magisterarbeit, 10.07.1997 6 2. Zur Biographie Max Henkel Max Henkel wurde am 26.09.1870 als Sohn des Stabsarztes Wilhelm Henkel und Caroline Henkel, geborene Friedrich, in Berlin geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Demmin (Pommern) studierte er Medizin in Würzburg, Greifswald und Freiburg. 1894 erlangte er mit einer Arbeit über die „Histiogenese der Parotisgeschwülste“ die Promotion und legte 1896 die ärztliche Staatsprüfung in Greifswald ab. Bis 1898 arbeitete er als Assistent am Pathologischen Institut in Greifswald und in Hamburg-Eppendorf. Anschließend war er zwei Jahre als Assistent in der Inneren Klinik in Hamburg-Eppendorf tätig. Von 1900 bis 1907 arbeitete Henkel als Assistent und später als Oberarzt an der Universitätsfrauenklinik Berlin, wo er sich 1905 habilitierte.5 1907 erfolgte die Berufung zum ordentlichen Professor für Gynäkologie und Direktor der Universitätsfrauenklinik in Greifswald. 1910 wurde er in gleicher Eigenschaft nach Jena berufen. Zwischen 1915 und 1918 war Henkel auf Grund eines Disziplinarverfahrens gegen ihn, das mit einem Freispruch endete, von seinem Amt als Klinikleiter suspendiert. Während dieser Zeit wurde er 1917 als Arzt zum Kriegsdienst einberufen. Nach der Wiederaufnahme seines Amtes 1918 war Henkel bis zu seiner Emeritierung am 01.10.1935 als Direktor der Universitätsfrauenklinik Jena tätig. In der Amtsperiode 1923/24 wurde er zum Rektor der Universität gewählt. Henkel starb am 09.09.1941 in Jena an den Folgen eines „Herzschlages“. Seit 1903 war er mit Emmy Henkel, geborene Fischer, verheiratet. Zwei Söhne, Joachim, geboren am 10.12.1903, und Hans-Jürgen, geboren am 31.03.1906, gingen aus dieser Ehe hervor. Seit dem 01.05.1933 war Henkel Mitglied der NSDAP. 6 Max Henkel war wissenschaftlich sehr aktiv und publizierte zahlreiche Arbeiten auf dem gesamten Gebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe. Seine Interessen lagen besonders auf dem operativem Gebiet, wie zahlreiche Beiträge in medizinischen Fachschriften belegen.7 In Buchform bzw. als Buchbeitrag veröffentlichte Henkel 1905 “Gynäkologische Diagnostik“ 8, 1913 “Frauenkrankheiten und Geburtshilfe“9, 1908 “Künstliche Fehlgeburt und künst- 5 UA HUB Bst. Med. Fak. Nr. 1350, Henkel. M.: Über die Behandlung der Retroflexio uteri, Berlin 1905 6 ThHStAW Bst. ThVBM Nr. 10712 PA Max Henkel und UAJ Bst. D Nr. 1190 PA Max Henkel Stier, F.: Lebensskizzen der Dozenten und Professoren an der Universität Jena 1548/58-1958, Bd. 2, S. 759 7 Stoeckel, W. (Hg.), Michelsson, F.: Deutsches Gynäkologenverzeichnis, J. A. Barth Verlag Leipzig, 2. Aufl. 1939, S. 176-179 8 Henkel, M.: Gynäkologische Diagnostik, S. Karger, Berlin 1905 9 Henkel, M.: Frauenkrankheiten und Geburtshilfe, In: Lehrbuch der Arbeiterversicherungsmedizin, 1913 7 liche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie“10 und 1921 “Krankheiten der äußeren Geschlechtsteile und der Vagina“.11 Zu Henkels Verdiensten zählt die Einführung der Bestrahlung von gynäkologischen Karzinomen mit Mesothorium in Jena. Zudem hat er als erster die Bedeutung der Kontrastfüllung des Uterus und der Tuben für die Erkennung und Therapie mancher Formen der Unfruchtbarkeit erkannt.12 3. Das Dienststrafverfahren 3.1. Beschuldigung und Anzeige wegen fahrlässiger Tötung Schon bald nach seinem Amtsantritt im April 1910 als Direktor der Großherzoglichen Frauenklinik und Entbindungsanstalt kam es zu Spannungen zwischen Henkel und anderen Fakultätsmitgliedern. Besonders folgenreich waren die Auseinandersetzungen mit dem 1911 nach Jena berufenen Ordinarius für Pathologische Anatomie, Professor Robert Rößle. Nach anfänglich freundschaftlichem Verhältnis entstanden Differenzen, weil Henkel tote Neugeborene nicht zur Sektion übergab, sondern als Lehrmaterial in der Frauenklinik behielt. Im April 1913 kam es deshalb zu offenen Streitigkeiten zwischen beiden Ordinarien. Auslöser war die Nichtauslieferung zweier Kinderleichen durch die Frauenklinik. In einem Schreiben an das Direktorium der Frauenklinik bat Rößle um Klärung der Angelegenheit.13 Die Antwort Henkels erfolgte prompt und fiel durch eine aggressive Wortwahl auf: “In dem Herrn Direktor des Pathologischen Institutes vermag ich nicht diejenige Instanz zu erblicken, welcher ich nach irgend einer Richtung ‚Aufklärungen‘ hinsichtlich meiner direktoralen Entscheidungen schuldig bin. Den Versuch hierzu bezeichne ich als unstatthaften Übergriff und weise ihn entschieden zurück.“14 Rößle berief sich auf eine seit Oktober 1888 geltende Ministerialverfügung, die besagte, daß das gesamte Leichenmaterial aus den staatlichen klinischen und poliklinischen Anstalten dem Pathologischen Institut zuzuführen sei.15 Rößle war jedoch zu einem Entgegenkommen bereit. Er schlug Henkel vor, totgeborene Kinder, die 10 Henkel, M.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie, In: Placzek, S.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit, ihre Indikationen, Technik und Rechtslage, Georg Thieme, Leipzig 1918 11 Henkel, M.: Krankheiten der äußeren Geschlechtsteile und der Vagina, Georg Thieme, Leipzig 1921 12 Giese, E. und von Hagen, B.: Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, VEB Gustav Fischer Verlag Jena 1958, S. 626 13 UAJ Bst. L Nr. 442 b, Schreiben von Robert Rößle an Max Henkel vom 30.04.1913 14 ebenda, Schreiben von Max Henkel an Robert Rößle vom 03.05.1913 15 ebenda, Schreiben von Robert Rößle an Max Henkel vom 07.01.1914 8 nicht zu Kursprüfungen oder wissenschaftlichen Zwecken in der Pathologie benötigt wurden, der Frauenklinik zur Verfügung zu stellen.16 Der Versuch eines vermittelnden Gespräches im Beisein des Chirurgen Professor Erich Lexer (1867-1937) scheiterte jedoch an der Unnachgiebigkeit Henkels. Dieser lehnte den Vorschlag Rößles ab und wandte sich statt dessen an das Staatsministerium in Weimar, um zu erreichen, daß alle Kinderleichen in der Frauenklinik für den Phantomkurs verbleiben konnten.17 In einem Schreiben an den Kurator der Universität führte Rößle offensichtlich gekränkt von dem Verhalten Henkels aus: “Das Pathologische Institut erfährt von keiner Klinik hier soviel Hemmung und Nicht- Beachtungen, als von Seiten der Frauenklinik. Die schöne Redensart vom täglichen Zusammenarbeiten ist unrichtig.“18 Henkel hatte alle Kompromißvorschläge Rößles kategorisch abgelehnt und sich ohne dessen Wissen an das Ministerium gewandt. In einem Brief an die Medizinische Fakultät begründete er sein Vorgehen: “Wenn nun eine Verfügung besteht, wie die aus dem Jahre 1888 und ich dieselbe nicht in den weitgehenden Konsequenzen wie der Herr Direktor des Pathologischen Institutes im Interesse des Unterrichts an meiner Klinik anerkennen kann, so bleibt mir doch gar kein anderer Weg übrig, als meine speziellen Wünsche der vorgesetzten Instanz zu unterbreiten und deren Entscheidung dann das weitere zu überlassen.“19 Henkel hätte jedoch auch einen anderen, kollegialeren Weg beschreiten können, wie die wiederholten Einlenkversuche Rößles zeigten. Dieser hatte mehrmals seine Bereitschaft signalisiert, eine Lösung zu finden, welche die Wünsche beider Seiten berücksichtigte. Die Angelegenheit war im Mai 1914 sogar Gegenstand einer Fakultätssitzung, auf der beschlossen wurde: 1. “Das pathologisch-anatomische Institut erhält wie bei allen anderen Todesfällen einen mit Namen, Alter und Todesursache ausgefüllten Leichenzettel in den Fällen, in denen Kinder bei oder bis 24 Stunden nach der Geburt verstarben. Auf dem Leichenzettel möge dann vermerkt sein, ob die betreffende Leiche für den Phantomkurs gewünscht wird. 2. In diesen Fällen verzichtet das pathologisch-anatomische Institut auf die Auslieferung der Leichen dieser Neugeborenen, wenn nicht (und dies würde nur ganz ausnahmsweise vorkommen) zu Examens- oder Kurszwecken dringend eine Kinderleiche benötigt wird. Von dem Verzicht würde immer am Tage der Meldung des Todesfalles die Frauenklinik noch benachrichtigt werden müssen, damit die Konservierung für den Phantomkurs erfolgen kann. 16 ebenda 17 ebenda, Schreiben von Robert Rößle an die Mitglieder der Med. Fak. vom 27.04.1914 18 ebenda, Schreiben von Robert Rößle an den Kurator Geh. Staatsrat Dr. Vollert vom 30.04.1914 19 ebenda, Schreiben von Max Henkel an die Mitglieder der Med. Fak. vom 05.05.1914 9 3. Auf alle anderen Kinderleichen hat das pathologisch-anatomische Institut unbedingten Anspruch.“20 Dieser Beschluß entsprach exakt dem Vorschlag Rößles, welchen dieser bereits im Januar des Jahres Henkel erfolglos unterbreitet hatte.21 Henkel war das einzige Mitglied der Fakultät, das dem Beschluß nicht zustimmte. Es sollte noch bis zum Mai 1915 dauern, bevor ein von allen Seiten akzeptierter Nachtrag zum Ministerialerlaß vom 30.10.1888 über die Ablieferung der Leichen von in den Großherzoglichen Landesheilanstalten gestorbenen Personen an die pathologisch-anatomische Anstalt vom Großherzoglich Sächsischen Staatsministerium verabschiedet werden konnte.22 Der jahrelange kleinlich geführte Streit zweier angesehener Universitätsprofessoren um das kindliche Leichenmaterial, der immerhin eine ganze Dekanatsakte im Universitätsarchiv füllt, steht beispielhaft für Henkels unnachgiebigen Charakter. Das Verhältnis der beiden Ordinarien sollte bis zum Weggang Rößles von Jena 1922 äußerst gespannt bleiben. Einer der Hauptgründe für die jahrelangen Differenzen ist sicherlich das Dienststrafverfahren gegen Henkel, an dessen Entstehung Rößle maßgeblich beteiligt war. Die Untersuchungsergebnisse des Sektions- und Operationsmaterials aus der Frauenklinik erregten zunehmend Rößles Aufmerksamkeit. Die große Anzahl von postoperativen Infektionen mit letalem Ausgang und die Radikalität der angewandten Operationsmethoden erweckten bei ihm Zweifel an Henkels Auffassung von der ärztlichen Tätigkeit. So seien dem Pathologen bereits ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt in Jena Operationen ohne genügende anatomische Grundlagen aufgefallen, wie “eine Reihe von total mit Adnexen exstirpierten Uteri, an denen entweder nur minimale Veränderungen des Endometriums oder der Eierstöcke vorhanden waren“.23 Weiterhin erschien ihm die Letalität, insbesondere bei den Neugeborenen, ungewöhnlich hoch. Schon der Vorgänger Rößles als Leiter des Pathologischen Institutes Hermann Dürck (1869-1941) hätte bei seiner Sektionstätigkeit für die Frauenklinik einen ähnlichen Eindruck gewonnen. In einem Gespräch habe er gegenüber Rößle geäußert, “daß einer der Gründe für seinen Weggang hier die moralische Unmöglichkeit, für Herrn Henkel weiter zu sezieren“ gewesen sei.24 Dürck hatte im April 1911 sogar einen verschlossenen Brief beim damaligen Dekan, dem Anatom Friedrich Maurer (1859-1936), hinterlegt. 20 ebenda, Schreiben von Wilhelm Biedermann an Max Henkel vom 25.05.1914 21 ebenda, Schreiben von Robert Rößle an den Dekan an Otto Binswanger vom 15.10.1914 22 ebenda, Schreiben des Großh. S. Staatsminist., Dep. d. K., Dep. d. I., Weimar, 10.05.1915 23 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Schreiben von Robert Rößle an den Dekan vom 10.09.1916 24 ebenda 10 Dieser sollte im Falle eines gerichtlichen Vorgehens gegen Henkel als Beweismaterial Verwendung finden. Es handelte sich um den Sektionsbefund einer Patientin Frau F., welcher eine bedeutsame Rolle im späteren Verfahren einnehmen sollte.25 Am 14.02.1915 erstattete Rößle nach Rücksprache mit dem damaligen Dekan, dem Psychiater Professor Otto Binswanger (1852-1929) beim Bezirksarzt und Professor der Gerichtsmedizin Ernst Giese (1865-1956) Anzeige gegen Henkel.26 Der unmittelbare Anlaß waren zwei Todesfälle durch eitrige Meningitis nach Spinalanästhesie. Rößle vermutete in beiden Fällen das Vorliegen eines Kunstfehlers durch mangelhafte Asepsis beim Legen der Spinalnadel. Giese reagierte mit einer Anzeige beim Großherzoglichen Amtsgericht Jena. Die Einleitung einer strafrechtlichen Voruntersuchung wegen fahrlässiger Tötung folgte. Henkel wurde vom Staatsministerium Weimar beurlaubt und der Professor der Augenheilkunde Wolfgang Stock (1910-1956) mit der vorläufigen Stellvertretung für die geschäftlichen Belange der Frauenklinik beauftragt.27 Ein Versuch, die Vorwürfe zunächst innerhalb der Fakultät zu klären, war somit ausgeblieben. Dies verdeutlichte die Außenseiterrolle Henkels innerhalb der Medizinischen Fakultät. Dieser äußerte sich seinerseits in einem Brief an das Staatsministerium in Weimar zu den Vorwürfen Rößles.28 Darin warf er Rößle und der Fakultät unkollegiales Verhalten vor, da sie sofort die Behörde eingeschaltet hatten, ohne ihm die Gelegenheit der Rechtfertigung zu geben. Was den Vorwurf der mangelnden Asepsis in den zwei Fällen von Spinalanästhesie betraf, war sich Henkel keiner Schuld bewußt. Für die Begutachtung der beiden Todesfälle schlug er den Erfinder der Spinalanästhesie vor, den Direktor der Königlichen Chirurgischen Klinik Berlin Professor August Bier (1861-1949).29 Einer der Gründe für das Vorgehen gegen Henkel seitens der Medizinischen Fakultät waren sicher die bestehenden Differenzen mit der Mehrzahl der Fakultätsmitglieder. Diese hatten dazu beigetragen, sein Ansehen unter den Kollegen zu mindern. Neben der Auseinandersetzung mit Rößle um die Kinderleichen, ist das gespannte Verhältnis zwischen Henkel und dem Chirurgen Erich Lexer zu nennen. Dieses war entstanden, weil sich Henkel bei operativen Eingriffen nicht immer an die Grenzen seines Fachgebietes hielt und zum Beispiel auch Magen- und Darmoperationen durchführte. Zwar hätten beide Professoren sich das Versprechen gegeben, die Trennung ihrer Fachgebiete einzuhalten, doch Rößle gewann anhand des 25 UAJ Bst. L Nr. 442, Schreiben von Friedrich Maurer an den Dekan vom 03.08.1915 26 ebenda, Schreiben von Robert Rößle an den Dekan vom 10.09.1915 27 ebenda, Schreiben des Großh. S. Staatsminist., Dep. d. I. u. Ä. an das Ministerialdep. d. K., Weimar, 26.02.1915 28 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9 Bl. 5-8, Schreiben von Max Henkel an das Großh. S. Staatsminist., Dep. d. I., Weimar, 21.02.1915, 29 ebenda, Bl. 7 11 Sektionsmaterials der Frauenklinik den Eindruck, daß sich Henkel nicht an diese Absprache hielt.30 Der Bezirksarzt Ernst Giese beschrieb die Situation derart: “Es ist das erste Mal, dass ich in meiner 26jährigen Tätigkeit als Arzt eine ernstere Differenz mit einem Fachgenossen habe, während es Prof. Henkel gelungen ist, während der Zeit seiner Jenaer Tätigkeit abgesehen von einem abnormen Verbrauch von Assistenten, sich mit fast sämtlichen ordentlichen Professoren der medizinischen Fakultät zu überwerfen.“31 Der von Giese erwähnte häufige Wechsel der Assistenten zeigte, daß Henkel auch innerhalb der Frauenklinik nicht unumstritten war. Im Zeitraum von seinem Amtsantritt im April 1910 bis zur Anzeige im Februar 1915 hatten auf den vier planmäßigen Stellen mehr als 20 verschiedene Assistenten gearbeitet. Tabelle 1: Zusammenstellung der vom 01.04. 1910 bis 15.02.1915 in der Frauenklinik tätigen Assistenzärzte32 Name Eintritt Abgang Dr. Busse, Wilhelm 01.10.1904 29.02.1912 Dr. Hinselmann, Hans 01.04.1910 31.03.1911 Dr. Lehfeldt, Moritz 01.04.1910 10.10.1910 Dr. von der Heide, August 01.04.1910 31.12.1911 Frl. Dr. Schwaan, Johanna 11.10.1910 03.01.1911 Frl. Dr. Krösing, Johanna 04.01.1911 31.12.1911 Dr. Kaufmann, Georg 16.01.1911 31.03.1911 Dr. Teilhaber, Felix 15.04. 1911 30.09.1911 Dr. van de Wüürst de Vries 01.10.1911 01.04.1913 Dr. Lange 03.11.1911 08.04.1912 Dr. Otto, Eduard 05.01.1912 31.03.1913 Dr. Lindig, Paul 05.02.1912 31.03.1913 Dr. Ebeler, Fritz 01.03.1912 23.04.1912 Dr. Klauhammer, Wilhelm 01.07.1912 31.03.1913 Dr. Tschudnowsky 11.01.1913 31.07.1914 Dr. Zweifel, Erwin 01.04.1913 31.03.1914 Dr. Zimmermann, Robert 01.04.1913 02.08.1915 Dr. Bäumer, Waldemar 01.04.1913 15.05.1915 Dr. Zschirpe, Fritz 01.04.1913 15.06.1913 Dr. Baumgarten 01.04.1913 31.05.1913 Dr. Hinrichs, Gustav 01.06.1914 05.11.1914 Frl. Bäumer, cand. med. 03.08.1914 06.05.1915 Rupprecht, Paul, cand. Med. 01.09.1914 28.02.1915 Tauber, Hans, cand. med. 15.11.1914 Zum Zeitpunkt der Anzeige noch in der Frauenklinik 30 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Entgegnung Robert Rößles, Jena, 15.11.1915, Bl. 34: “Das Wildern auf fremden Gebieten“ 31 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9 Bl. 10-11, Schreiben von Ernst Giese an das Großh. S. Staatsminist. Weimar vom 20.04.1915 32 ebenda, Bl. 176 12 Die gerichtliche Voruntersuchung im Sinne des Strafrechts wegen fahrlässiger Tötung in zwei Fällen wurde jedoch am 14.06.1915 auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt.33 Auf Grund der Ergebnisse des Gutachtens des Chirurgen August Bier sei ein Verschulden Henkels an den zwei Fällen von Infektion der Rückenmarkshäute “keinesfalls nachgewiesen“. 34 Bier legte dar, daß eine Infektion nach Lumbalanästhesie auch dann eintreten könne, wenn mit größtmöglicher Sorgfalt und nach den Regeln der Asepsis verfahren worden war. Jeder Chirurg hätte derartige Fälle schon erlebt. Dies sei in der “Unvollkommenheit aller menschlichen Tätigkeit“ begründet.35 Bier zog auch die Möglichkeit einer Infektion ohne Verschulden des Operateurs in Betracht, zum Beispiel durch die bakterielle Verschmutzung der fabrikmäßig hergestellten “angeblich sterilen“ Injektionslösungen.36 Eine weitere mögliche Erklärung war die nach Ansicht Biers allerdings unwahrscheinliche Infektion der Rückenmarkshäute auf dem Blutweg. Nicht auszuschließen sei auch, daß der Eintritt der Erreger nach einer aseptisch ausgeführten Lumbalanästhesie über den Einstichkanal erfolgt war, denn “die Infektionen gehen nicht selten Wege, an die man nach rein theoretischen Erwägungen nicht glauben sollte“.37 Zwar könne auch der erfahrenste Operateur Nachlässigkeiten begehen, die Krankenakten vermittelten Bier jedoch den Eindruck, daß die Technik Henkels tadellos gewesen sei. Den kurzen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Todesfällen wertete Bier nicht als Hinweis auf einen möglichen Fehler des Operateurs, sondern als die von jedem Arzt schon einmal erlebte “berühmte Duplizität der Fälle“.38 Noch bevor die Strafkammer Henkel im Juni 1915 bezüglich der Anzeige wegen fahrlässiger Tötung außer Verfolgung setzte, hatte die Medizinische Fakultät am 10.03.1915 auf einer Sitzung beschlossen, daß sich an das strafrechtliche Verfahren eine Dienstuntersuchung anschließen mußte.39 Diese sollte das Vorliegen weiterer Mißstände in der Frauenklinik und der Privatabteilung klären und Henkels Verhalten als Staatsbeamter beurteilen. Für die Dauer der Dienstuntersuchung beantragte die Fakultät, Henkels bereits bestehende Beurlaubung zu verlängern.40 Am 20.06.1915 erhielt Henkel vom Großherzoglichen Staatsministerium Department des Inneren die Mitteilung über die Einleitung des förmlichen Dienststrafverfahrens nach den 33 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr.14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 2 34 UAJ Bst. BA Nr. 916, Bl. 31-32, Bier, A.: Ärztliches Gutachten, Berlin, 28.04.1915 35 ebenda, Bl. 31 36 ebenda 37 ebenda 38 ebenda, Bl. 32 39 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9, Bl. 9, Beschluß der Med. Fak. vom 10.03.1915 40 ebenda 13 §§ 55, 67 des Staatsbeamtengesetzes. Henkel wurde der Verletzung seiner Dienstverpflichtungen beschuldigt, indem er: 1. bei ärztlichen Eingriffen mit mangelhafter Asepsis verfahren ist, 2. Operationen ohne genügende wissenschaftlich begründete Notwendigkeit und zum Teil unter nicht genügender Schonung keimenden Lebens, und ohne Zustimmung der Leidenden vorgenommen, 3. eine Schwerkranke nachlässig behandelt hat.41 Für den Zeitraum der Voruntersuchung und des sich anschließenden Verfahrens wurde Henkel vom Staatsministerium vom Amt des Direktors der Frauenklinik nach § 99 des Staatsbeamtengesetzes enthoben. Das Staatsbeamtengesetz für das Großherzogtum Sachsen vom 21.06.1909 beinhaltete unter anderem die rechtlichen Grundlagen eines Dienststrafverfahrens. Der § 55 besagte, daß ein Staatsbeamter, der seine Dienstverpflichtungen verletzt, wegen des Dienstvergehens bestraft wird. Der § 67 beinhaltete den formalen Ablauf eines solchen Dienststrafverfahrens, und der § 99 berechtigte das Staatsministerium, einen Staatsbeamten vorläufig seines Amtes zu entheben, wenn gegen diesen öffentliche Klage erhoben oder ein förmliches Dienststrafverfahren eingeleitet worden war.42 Die Medizinische Fakultät Jena beantragte nach der Einleitung des Dienststrafverfahrens gegen Henkel, daß auch die Frage der Säuglingssterblichkeit und die ärztlich-ethische Seite während der Voruntersuchung Beachtung finden sollten.43 Weiterhin machte die Fakultät in einem Schreiben an das Staatsministerium deutlich, daß sie die Ausdehnung der Untersuchung auf die Punkte der unsorgfältigen Ausführung einzelner Handhabungen bei den Operationen, der ungenügenden Pflege Kranker, sowie der Übergriffe auf das chirurgische Fachgebiet wünschte. Betreffendes belastendes Material läge der Fakultät zu diesen Punkten vor.44 Im September 1915 legte Rößle dem Gericht sein anhand des Sektionsmaterials, sowie der beschlagnahmten Operationsbücher und Krankengeschichten erstelltes pathologisches Gutachten vor.45 Darin untermauerte er seine Beobachtungen und Anschuldigungen mit den Obduktionsbefunden und Todesstatistiken der Frauenklinik. Rößle analysierte das ihm vorliegende Material hinsichtlich der Anzahl der Operationen, der Indikationsstellungen, der 41 ebenda, Bl. 1, Schreiben des Großh. S. Staatsminist., Dep. d. I. an Max Henkel vom 20.06.1915 42 Staatsbeamtengesetz für das Großherzogtum Sachsen vom 21.Juni 1909, Druck der Weimarischen Zeitung, Weimar 1909 43 UAJ Bst. L Nr. 442, Schreiben von Friedrich Maurer an das Großh. S. Staatsminist., Dep. d. K., vom 30.06.1915 u. vom 02.07.1915 44 ebenda, Schreiben des Dep. d. K. an das Ministerialdep. d. I. vom 12.08.1915 45 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915 14 Ausführung einzelner operativer Eingriffe und der Mortalitätsrate der Frauenklinik und Entbindungsanstalt während Henkels Tätigkeit vom 01.04.1910 bis 31.12.1914. Er verglich die Operationszahlen mit denen von Henkels Vorgänger Professor Karl Franz (1870-1926). Die Ergebnisse stützten Rößles Anschuldigungen und seine Zweifel gegenüber Henkels ärztlicher Tätigkeit. Sie dienten insbesondere der Staatsanwaltschaft bei der Formulierung der Anklageschrift. (siehe Kapitel 3.2.1.) Die Mitglieder der Medizinischen Fakultät forderten Rößle auf, ihnen seine Untersuchungsergebnisse und Schlußfolgerungen ausführlich darzulegen. Rößle äußerte sich schriftlich auf diese Anfrage.46 Er betonte zunächst, daß keinerlei persönliche Motive als Beweggründe für sein Vorgehen gegen Henkel vorlagen, sondern einzig das Bestreben, “die Fakultät und die Universität vor weiterem Schaden zu bewahren“. 47 Zu Beginn seiner Tätigkeit in Jena hätten die Familien Rößle und Henkel sogar in “fast freundschaftlicher Weise“ miteinander verkehrt. Eine “innerliche Entfremdung“ sei aber nach eineinhalbjähriger Tätigkeit eingetreten, als “die sich mehrenden Beobachtungen am Sektionsmaterial und Operationsmaterial“ Rößle “stutzig“ machten.48 Gegenüber der Medizinischen Fakultät faßte Rößle seine Schlußfolgerungen aus dem Sektionsmaterial dahingehend zusammen, daß es hauptsächlich die Vornahme radikaler, zum Teil verstümmelnder Operationen bei nur geringem klinischen Befund, die gelegentliche ungenügende Sorgfalt bei der Ausführung operativer Eingriffe nebst mangelnder Asepsis, Fehler in der Krankenpflege sowie die hohe Kindersterblichkeit waren, die immer wieder seine Aufmerksamkeit erregt hätten.49 Das Gutachten des Pathologen bildete auch die Grundlage für die Anklagevertretung. Vom Gericht wurden die von der Medizinischen Fakultät vorgeschlagenen gynäkologischen Ordinarien Max Hofmeier (1854-1927) aus Würzburg, Hermann Fehling (1847-1925) aus Straßburg und Georg Winter (1856-1946) aus Königsberg als Sachverständige berufen.50 Ergänzt wurde die Reihe der Gutachter durch die gerichtlichen Mediziner Georg Puppe (1867-1925) aus Königsberg und Otto Beumer (1848-1918) aus Greifswald, sowie den Chirurgen Erich Lexer (1867-1937) und den Psychiater Otto Binswanger (1852-1929) aus Jena. Die Voruntersuchung unter der Leitung des Oberlandesgerichtsrates Dr. Körner aus Jena sollte sich über zwei Jahre erstrecken, da sich die meisten Zeugen und auch der Beschuldigte zwischenzeitlich im Kriegsdienst befanden und ein Großteil der Zeugenaussagen schriftlich vom Gericht angefordert werden mußte. 46 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Schreiben von Robert Rößle an den Dekan vom 10.09. 1915 47 ebenda, Bl. 1 48 ebenda, Bl. 2 49 ebenda, Bl. 11 15 Im April 1915 wurde das Direktorium der Frauenklinik während der Beurlaubung Henkels auf Beschluß der Weimarer Regierung nach Rücksprache mit der Medizinischen Fakultät an den Privatdozenten Ernst Engelhorn (1881-1954) aus Erlangen übertragen.51 Dies schloß auch den Lehrauftrag für Gynäkologie und Geburtshilfe ein, da Henkel auch von der Verpflichtung zum Halten von Vorlesungen entbunden worden war.52 Henkel, gegen den zu diesem Zeitpunkt die gerichtliche Voruntersuchung stattfand, ließ im Juni des Jahres durch seinen Rechtsanwalt Anzeige gegen Engelhorn erstatten.53 Henkel warf Engelhorn vor, seinen Ruf und seine Praxis zu schädigen, indem er als stellvertretender Leiter der Frauenklinik Patientinnen zur Auskunft gab, “Professor Henkel sei nicht mehr Direktor der Frauenklinik, er sei nicht mehr da, weitere Auskunft könne nicht gegeben werden“.54 In einem Schreiben Engelhorns an die Medizinische Fakultät versicherte dieser, solche Äußerungen nie gemacht zu haben.55 Auch wenn nicht zu klären ist, wer in diesem Falle die Wahrheit sagte, zeugt auch diese Episode von Henkels schwieriger Persönlichkeit. Ohne den Versuch einer persönlichen Aussprache, wie Engelhorn gegenüber der Fakultät kritisch bemerkte, hatte er sofort den offiziellen Weg der Anzeige beschritten. 3.2. Das Dienststrafverfahren in erster Instanz 3.2.1. Anklageschrift und Verhandlungsverlauf Nach Abschluß der zweijährigen Voruntersuchung wurde der “Fall Henkel“ im Februar 1917 an die Dienststrafkammer Weimar verwiesen. Die Vorwürfe gegen Max Henkel waren im Rahmen der Voruntersuchung noch in einigen Punkten erweitert und ergänzt worden. Henkel wurde nun beschuldigt, “als Staatsbeamter seine Dienstverpflichtungen dadurch verletzt zu haben, dass er als Direktor der Grossherzoglichen Frauenklinik in Jena in der Zeit von Anfang Mai 1910 bis Anfang 1915: 1. Operationen ohne genügend wissenschaftlich begründete Notwendigkeit vorgenommen hat, 50 UAJ Bst. L Nr. 442, Schreiben von Friedrich Maurer an den Oberlandesgerichtsrat Dr. Körner vom 04.08.1915 51 ebenda, Schreiben von Wolfgang Stock an Ernst Engelhorn vom 17.04.1915 52 ebenda, Schreiben des Großh. S. Staatsminist., Dep. d. K. an den Universitätskurator vom 17.05.1915 53 ebenda, Anzeige von Max Henkel gegen Ernst Engelhorn durch den RA Hermann Jöck an das Grossh. Landgericht, 2. Zivilkammer vom 02.06.1915 54 ebenda 55 ebenda, Schreiben von Ernst Engelhorn an die Med. Fak. vom 08.06.1915 16 2. einzelne Handlungen bei den Operationen nicht sorgfältig ausgeführt, im besonderen Kunstfehler und mangelhafte Asepsis sich schuldig gemacht und dadurch die Gesundheit von Patienten fahrlässiger Weise gefährdet und geschädigt hat, 3. Operationen ohne genügende Schonung keimenden Lebens ausgeführt hat, 4. in einzelnen Fällen Leidende nachlässig behandelt und in ärztlich-ethischer Beziehung tadelnswert gehandelt hat, 5. an genügender Fürsorge für die Säuglinge es hat fehlen lassen“56 Es sollte geprüft werden, ob in diesen Punkten Dienstvergehen im Sinne des § 55 des Staatsbeamtengesetzes vorlagen. Zur Erläuterung und Begründung der Vorwürfe wurden die Zeugenaussagen von Assistenten und Schwestern der Frauenklinik, sowie die Gutachten der Sachverständigen herangezogen, die das Gericht während der Voruntersuchung angefordert hatte. Die öffentlichen Sitzungen der Dienststrafkammer fanden vom 23. bis 30. Oktober 1917 statt. In diesen wurden die geladenen Zeugen und Sachverständigen, sowie der Beschuldigte noch einmal mündlich befragt. Nachfolgend soll auf die einzelnen Anklagepunkte und deren Bedeutung für den Verhandlungsverlauf näher eingegangen werden. • Zu Punkt 1: Operationen ohne genügend wissenschaftlich begründete Notwendigkeit Unter diesen Anklagepunkt fielen die Beurteilung der Operationshäufigkeit des Beschuldigten und seine Indikationsstellungen für einzelne Eingriffe. Wilhelm Busse (1874-1920), der als Assistent bereits unter Bernhard Krönig (1863-1917) und später Karl Franz an der Jenaer Frauenklinik gearbeitet hatte, sagte aus: “Henkel falle ganz aus dem Rahmen der anderen Gynäkologen heraus, dadurch, dass er unendlich mehr operiere wie jeder einzelne.“57 Anhand der Angaben aus Rößles Gutachten wurde die Anzahl der Operationen mit denen von seinem Vorgänger Franz verglichen. 56 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 3 57 ebenda 17 Tabelle 2: Zusammenstellung und Vergleich des in der Anklageschrift angeführten Zahlenmaterials 58 Prof. Franz in 66 Monaten 01.10.1904-31.03.1910 Prof. Henkel in 57 Monaten 01.04.1910-31.12.1914 Aufnahmen in Frauenklinik und Entbindungsanstalt 4828 73/Monat 5574 98/Monat Anzahl der Operationen 2305 35/Monat 48% der Aufnahmen 3796 67/Monat 68% der Aufnahmen Anzahl der Geburten 1540 23/Monat 1760 31/Monat Kaiserschnitte, total Abdominal Vaginal 51 (3,3% d. Geb.) 24 (1,6%) 27 (1,8%) 137 (7,8% d. Geb.) 75 (4,3%) 62 (3,5%) Unter der Leitung Henkels nahm die Anzahl der stationären Aufnahmen von durchschnittlich 73 auf 98 pro Monat zu. Zudem verdoppelte sich unter Henkel die Operationshäufigkeit von 35 auf 67 operative Eingriffe im Monat. Die Zahlen verdeutlichen, daß Henkel einen weitaus höheren Anteil der stationär aufgenommenen Frauen operierte als sein Amtsvorgänger Franz. Bei Henkel betrug dieser Anteil 68%, bei Franz dagegen 48%. Ebenso verdoppelte sich die Zahl der Kaiserschnitte unter Henkel von 3,3% der Geburten auf 7,8%. Ein weiteres eindrucksvolles Ergebnis erbrachte der Vergleich der Häufigkeit der einzelnen Operationen. Tabelle 3: Anzahl der Operationen59 Prof. Franz In 66 Monaten Prof. Henkel In 57 Monaten Vaginale Totalexstirpationenen 423 172 Laparotomien 925 2090 Maligne Tumoren des Uterus 5 174 Gutartige Ovarialtumoren 190 248 Bösartige Ovarialtumoren 38 21 Ventrofixationen und OP nach Alexander Adams 315 510 Ventrofixationen 112 359 Alexander Adams mit Plastik 327 132 Tubargraviditäten 67 103 Entzündliche Adnextumoren 159 609 Dammplastiken 50 223 Kaiserschnitt 51 169 58 ebenda, Bl. 4-5 59 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915, Tab. 2, Bl. 198 18 Auffallend war die große Anzahl der Laparotomien, der Operationen wegen entzündlicher Adnextumoren und der Kaiserschnitte unter Henkels Leitung. Dagegen hatte Franz öfter die vaginale Totalexstirpation durchgeführt. Es ist jedoch anzumerken, daß die verschiedenen Quellen unterschiedliche Zahlenangaben aufweisen. So wurde in der Anklageschrift die Gesamtzahl der unter Henkel durchgeführten Operationen mit 3796 angegeben, während Rößle in seinem Gutachten von 3396 Eingriffen ausging. Die unterschiedlichen Zahlenangaben können in den ungenauen Angaben der Operationsbücher begründet sein. Rößle warf Henkel jedoch auch vor, daß dessen Angaben nicht der Wahrheit entsprachen. Eine Tabelle im Anhang des pathologischen Gutachtens verglich die von Henkel für das Jahr 1914 angegebene Todesstatistik mit den Zahlen aus den Sektionsprotokollen. Henkel hatte neun postoperative Todesfälle angeführt, während Rößle von “mindestens 18“ Todesfällen sprach.60 Bereits im Februar 1915 äußerte sich Rößle in einem Schreiben an das Amtsgericht Jena: “Ein Vergleich der von Professor Henkel angegebenen Zahlen mit den protokollarisch festgelegten Zahlen der Sektionsbefunde ergibt derartige Unterschiede, dass ich mir vorläufig kein Bild darüber machen kann, auf welche Weise Professor Henkel zu seinen zahlenmäßigen Angaben gekommen ist.“61 Für die gynäkologischen Sachverständigen bildeten die Zahlen des pathologischen Gutachtens die Grundlage für ihr Urteil. In ihrem gemeinsamen Gutachten bezeichneten die Ordinarien für Gynäkologie und Geburtshilfe Max Hofmeier und Hermann Fehling den Anteil der abdominalen Kaiserschnitte in Jena mit rund 4% als abnorm hoch.62 In Hofmeiers Klinik in Würzburg betrug der Anteil der Kaiserschnitte in den letzten acht Jahren 1% bei etwa 7000 Geburten, in der Straßburger Klinik von Fehling bei ebenfalls 7000 Entbindungen in sechs Jahren 0,9%. Da in Franken das rachitische Becken sehr häufig vorkam, nahmen die beiden Sachverständigen von sich an, “die Indikation zum Kaiserschnitt recht weit zu stellen.“ 63 Trotzdem lagen ihre Zahlen weit unter denen Henkels. Ähnliches galt für die Anzahl der Zangengeburten. In der Jenaer Frauenklinik wurde die Zange bei 15% der Entbindungen angewendet. In der Privatklinik Henkels lag der Anteil sogar bei 60,6%. Der Durchschnitt in den deutschen Universitätskliniken betrug dagegen zwischen 3 und 5%.64 Dr. Felix Theilhaber, ein Assistent Henkels, beschrieb die Situation auf der Privatabteilung so: “Frauen, die in der Privatklinik entbinden wollten, habe er nie normal niederkommen sehen.“65 Unabhängig vom Geburtsfortschritt seien die Kinder mittels Narkose und Zange entwickelt 60 ebenda, Tab. 7, Bl. 203 61 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Schreiben von Robert Rößle an das Amtsgericht Jena vom 23.02.1915 62 ebenda, Hofmeier,M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 10 63 ebenda 64 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14 Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 5 19 worden. Dadurch sei auch die Zahl der Dammrisse gestiegen. Doch nicht nur die Anzahl der Zangengeburten erschien Theilhaber bedenklich. Er bezeichnete auch die Indikationen für Schwangerschaftsabbrüche in der Privatklinik als „eine sehr weitherzige“.66 Hofmeier und Fehling konnten keine erkennbaren Gründe für die überdurchschnittliche Anwendung der Zange finden. Sie entschuldigten Henkels Vorgehen jedoch damit, “daß hierdurch kein besonderer Schaden für Mutter und Kind verursacht worden ist“.67 Deutlicher fiel ihr Urteil dagegen bei den wegen Metritis und Endometritis durchgeführten Totalexstirpationen des Uterus und der Ovarien, sowie bei den häufigen Adnexoperationen aus. Ebenso wie Rößle erschienen ihnen diese Eingriffe oft als nicht berechtigt, da die Befunde in den Krankengeschichten die Operationen nur unzureichend rechtfertigten. Sie verwiesen auch auf den Einsatz der Röntgentherapie als weniger radikale und ungefährlichere Behandlungsmethode bei diesen Erkrankungen. Hofmeier und Fehling waren nach Durchsicht der Operationsbücher und Sektionsprotokolle zu dem Ergebnis gekommen, “daß Herr Prof. Henkel bei der Indikationsstellung zur operativen Behandlung von Frauenleiden die Grenze des nach unseren jetzigen Anschauungen zulässigen jedenfalls erreicht hat, ja daß er in einzelnen Punkten die übliche Grenze nicht unerheblich überschritten zu haben scheint“.68 Die Aussage erscheint um so schwerwiegender, da es sich um Fachkollegen Henkels handelte. Beide hatten zu Beginn ihrer Ausführungen jedoch auch auf die Schwierigkeiten eines objektiven Urteils hingewiesen, da “die Anschauungen über die Notwendigkeit oder Nützlichkeit operativer Eingriffe bei Frauenleiden sehr auseinander gehen und unwillkürlich von dem mehr optimistischen oder mehr zur Kritik geneigten Temperament des betreffenden Operateurs abhängen werden.“69 Eine Äußerung, welche die zuvor geäußerte Kritik der beiden Gutachter wieder abschwächte. Weiterhin führte die Anklagevertretung die Schwangerschaftsabbrüche an. Diese seien durch ihre Häufigkeit, die Indikationsstellung und die Ausdehnung auf die Totalexstirpation aufgefallen. Auch zu diesem Punkt lagen Zeugenaussagen von Assistenten vor, die Bedenken an Henkels Indikationsstellungen äußerten. Frau Dr. von der Heide, die zunächst darauf hinwies, daß das allgemein übliche Vorgehen bei tuberkulösen Schwangeren in der alleinigen Herausnahme der Frucht bestand, sagte aus: “Der Angeschuldigte habe aber die Gepflogenheit gehabt, in solchen Fällen die Gebärmutter und die Eierstöcke herauszunehmen. 65 ebenda, Bl. 3 66 ebenda 67 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 10 68 ebenda, Bl. 11 69 ebenda, Bl. 8 20 Er habe das auch wissenschaftlich begründet.“70 Dr. Kaufmann, der nach Ablauf seines Probevierteljahres die Jenaer Klinik verließ, kritisierte die Vornahme der Totalexstirpation bei Lungentuberkulose ohne Rücksicht auf die Frucht und die Schwere der tuberkulösen Erkrankung.71 Im untersuchten Zeitraum war in der Frauenklinik und der Privatabteilung vierundfünfzigmal die Schwangerschaft vorzeitig beendet worden, davon in 34 Fällen wegen Tuberkulose. Insgesamt wurden 38 Frauen durch Vornahme der Totalexstirpation oder Tubensterilisation dauerhaft unfruchtbar gemacht. Zum Vergleich führte die Anklagevertretung eine Veröffentlichung von Ernst Bumm (1858-1925), dem Direktor der Universitätsfrauenklinik in Berlin, an.72 Darin betrug die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche wegen Tuberkulose im Zeitraum Oktober 1910 bis Dezember 1915 ebenfalls 34. Die Staatsanwaltschaft gab jedoch zu bedenken, daß das Patientengut in der Großstadt Berlin um einiges größer als in Jena sei. In der Anklageschrift wurden namentlich 14 Fälle aus der staatlichen Klinik Jena aufgeführt, in denen der Angeschuldigte selbst die Beendigung der Schwangerschaft wegen Tuberkulose vorgenommen hatte. Bei vier Frauen war zusätzlich die Tubensterilisation erfolgt. In neun Fällen war die Schwangerschaft mittels Uterusamputation beendet worden. Das Schwangerschaftsalter betrug durchschnittlich drei bis vier Monate. Dreimal war die Schwangerschaft älter als sieben Monate. Darunter befand sich auch der “Fall F.“, dessen umfassende Darstellung unter Punkt drei der Anklage erfolgt. Die Begutachtung ergab in drei Fällen kein Vorliegen einer manifesten Tuberkulose und damit weder die Berechtigung zum Schwangerschaftsabbruch noch zur Unfruchtbarmachung. In allen anderen Fällen hatte die Medizinische Klinik den künstlichen Abort befürwortet. Doch begründete dieser Umstand für die Staatsanwaltschaft keineswegs die Unfruchtbarmachung der Frauen mittels Tubensterilisierung oder Kastration, da keiner der tuberkulösen Prozesse so akut gewesen sei, daß er nicht bis zum Eintreten einer nächsten Schwangerschaft hätte ausheilen können.73 Zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs nahmen auch die Gerichtsmediziner Georg Puppe und Otto Beumer in ihren Gutachten Stellung. Beide äußerten in ihren Urteilen gänzlich verschiedene Meinungen. Während Puppe die Indikationsstellungen für Abtreibung und Unfruchtbarmachung in allen untersuchten Fällen als bedenklich wertete, erklärte Beumer: “der Angeschuldigte habe an tuberkulösen schwangeren Frauen Operationen ohne genügen- 70 ThHStAW Bst. DStKW Nr. SWE 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl.3 71 ebenda 72 ebenda, Bl. 7 73 ebenda, Bl. 8-10 21 de wissenschaftliche Begründung nicht vorgenommen.“74 Beumer sah die Berechtigung für den Eingriff immer dann gegeben, wenn die Zustimmung eines zweiten Sachverständigen, beispielsweise des behandelnden Hausarztes, vorlag. Er befürwortete aber auch den künstlichen Abort in zwei Fällen, in denen die Ablehnung des Eingriffes durch die Medizinische Klinik erfolgt war. Beumer betonte, daß die Gynäkologen und Geburtshelfer über die größte Kompetenz bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs verfügten und deshalb auch die Entscheidung für den Eingriff zu treffen hätten. Inwieweit der Schwangerschaftsabbruch bei tuberkulösen Frauen auf “verstümmelnde Operationen an den Geschlechtsorganen“ erweitert werden dürfe, um dauerhafte Unfruchtbarkeit zu erzielen, war dagegen nach Ansicht Beumers gegenwärtig wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt.75 Hofmeier und Fehling gaben in diesem Zusammenhang zu bedenken: “Eine wissenschaftlich scharfe Grenze, bis zu der man gehen dürfte, gibt es weder zeitlich noch sachlich.“76 Beide betonten die Wichtigkeit der Beobachtung der Patientin durch den behandelnden Hausarzt und das zusätzliche Urteil eines Internisten. Nach ihren Erfahrungen stellten die Praktischen Ärzte die Indikation zur Abtreibung oft zu leichtfertig, da sie den Einfluß der Tuberkulose überschätzten und die Gefahren des operativen Eingriffs unterschätzten. Letztlich müßte deshalb die Entscheidung zur Operation durch den Gynäkologen getroffen werden. Unumstritten sei, daß unter Umständen der Abbruch der Schwangerschaft und die Sterilisierung für die Gesundheit der Frau unumgänglich ist. Die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche wegen Tuberkulose in der Jenaer Frauenklinik erschien beiden Sachverständigen zwar recht hoch, zumeist existierte jedoch ein zustimmendes internistisches Gutachten. Auf Grund der ungenügenden Kenntnis der Krankengeschichten und der einzelnen Lungenbefunde sahen sich Hofmeier und Fehling letztlich außerstande, ein Urteil über die wissenschaftliche Berechtigung der Eingriffe abzugeben.77 Die Art der Argumentation der beiden Gynäkologen läßt eine gewisse Zurückhaltung bei der Bewertung von Henkels Vorgehensweise erkennen. An dieser Stelle sei auf den publizierten Vortrag “Ehe und Vererbung“ von Prof. Fehling verwiesen, gehalten vor dem Deutschen Frauenverein des Roten Kreuzes am 30.11.1912 in Stuttgart.78 Darin betonte er die Wichtigkeit der Prophylaxe und der Therapie von übertragbaren Krankheiten, wobei im Falle der Tuberkulose nicht die Erkrankung selbst, sondern nur die Disposition vererbt würde. Eine intrauterine Infektion der Frucht schätzte Fehling als sehr unwahrscheinlich ein. Eine viel größere Gefahr als für den 74 ebenda, Bl. 8 75 ebenda 76 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl.12 77 ebenda 22 Fetus bestünde jedoch für die an Tuberkulose erkrankte Schwangere: “Entgegen der Anschauung des letzten Jahrhunderts ist nachgewiesen, daß die Tuberkulose in diesem Stadium rascher fortschreitet als sonst, und zwar schon sehr früh, wahrscheinlich infolge chemischer Veränderungen des Blutes“.79 Auch ein Sanatoriumsaufenthalt könne dann nicht mehr zur Besserung des Zustandes beitragen. Da das Leben der Mutter Priorität habe, seien die Frauenärzte schon längst zu der Überzeugung gelangt, nach eingehender Untersuchung und Beobachtung der Frau sowie der Beratung durch einen Internisten den Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Als problematisch bewertete Fehling jedoch das häufige Eintreten einer erneuten Schwangerschaft, denn die mehrmalige Durchführung einer Abtreibung sei medizinisch und ethisch nicht vertretbar. Aus diesem Grund nahm Fehling nur dann den künstlichen Abort vor, wenn die schriftliche Zustimmung der Frau in eine gleichzeitige oder spätere Tubensterilisierung vorlag. Interessanterweise war auch Fehling ein Verfechter der von Henkel praktizierten Totalexstirpation des schwangeren Uterus und der Adnexe: “Als noch zweckmäßiger habe ich das von Bumm inaugurierte Verfahren erkannt, bei zunehmender Tuberkulose einer Gravida den Fruchthalter samt Frucht zu entfernen. Dieser Eingriff wird äußerst gut vertragen; ich habe in den letzten 2 Jahren über 20 Frauen so gerettet, die Frau blüht darnach auf, setzt Fett an und infolge der Ausfallvorgänge gesteigerter Kalkansatz des Körpers trägt zur Ausheilung tuberkulöser Prozesse bei.“80 Diese Aussage entsprach der Argumentation Henkels und zeigt, daß Henkels Vorgehensweise durchaus in der Fachwelt befürwortet und wissenschaftlich begründet wurde. Deutlich äußerten sich Hofmeier und Fehling in ihrem Gutachten jedoch über die “Zwecklosigkeit“ der Vornahme des künstlichen Aborts “nach der Mitte der Schwangerschaft“. Hier sollte aus Rücksicht auf das kindliche Leben der Eingriff unterbleiben oder bis zur Lebensfähigkeit des Kindes aufgeschoben werden.81 Weiterhin sind in der Anklageschrift Beispiele für Schwangerschaftsabbrüche aus psychischen und sozialen Gründen, sowie bei Herzfehlern, unstillbarem Erbrechen oder Nephritis aufgeführt. Was die psychischen Erkrankungen als Begründung für die Vornahme des künstlichen Aborts betraf, so bezeichnete der Direktor der Großherzoglichen Landesirrenheilanstalt und Psychiatrischen Klinik Jena Prof. Otto Binswanger diese Indikationen als “geradezu unge- 78 Fehling, H.: Ehe und Vererbung, Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1913 79 ebenda, S. 29 80 ebenda, S. 30 81 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 13 23 heuerlich.“82 Insgesamt war in der staatlichen Klinik siebenmal der Schwangerschaftsabbruch wegen psychischer Leiden erfolgt. Besonders in den Krankengeschichten der Privatabteilung häuften sich die ungewöhnlichen Indikationsstellungen zum Schwangerschaftsabbruch wie “Psychose“, “Melancholie“, “Hysterie“, “Neurasthenie“ oder “Bleichsucht“.83 Henkel hatte gegen die Verwendung der Fälle aus der Privatklinik Widerspruch eingelegt, da das Dienststrafverfahren lediglich seine Tätigkeit als Direktor der Großherzoglichen Frauenklinik beträfe. Die Staatsanwaltschaft behielt es sich jedoch vor, die Ausdehnung der Untersuchung auf die Privatabteilung in der mündlichen Verhandlung zu beantragen.84 Alle beanstandeten Schwangerschaftsabbrüche wegen psychischer Leiden in der staatlichen Klinik waren durch den Assistenten Wilhelm Busse durchgeführt worden. Auf drei Fälle wurde in der Anklageschrift ausführlicher eingegangen. Es handelte sich um zwei künstliche Aborte wegen epileptischer Anfälle und einen wegen Pyelitis nebst der merkwürdig anmutenden Diagnose “Morbus psychicus“. Zusätzlich war bei diesen Patientinnen auch die Tubensterilisation erfolgt. Keinen dieser Eingriffe hielt der Sachverständige Binswanger für berechtigt. Während der Zeit des stationären Aufenthaltes in der Frauenklinik war bei der Patientin S. kein und bei der Patientin E. ein epileptischer Anfall in den Krankenblättern vermerkt worden. Puppe und Binswanger sahen darin weder für den Schwangerschaftsabbruch noch für die Kastration einen Grund gegeben, da nur bei gehäuftem Auftreten von Anfällen Lebensgefahr für die Schwangere bestanden hätte. Bei einer anderen Patientin Frau W. lag sogar ein den künstlichen Abort ablehnendes psychiatrisches Gutachten vor.85 Nach der Aussage des Operateurs Busse hatte Henkel den Eingriff wegen einer schweren Nierenbeckenentzündung selbst angeordnet. Rechtfertigte dies den Abbruch der Schwangerschaft, so sahen die Sachverständigen in der wissenschaftlich ungebräuchlichen Diagnose “Morbus psychicus“ keinesfalls eine Berechtigung zur Sterilisierung. Henkel lehnte jede Verantwortung für diesen Fall ab, da er zum Zeitpunkt der Indikationsstellung nicht in der Klinik gewesen sei.86 Die Weigerung Henkels, Verantwortung für das Handeln seiner Assistenten zu übernehmen, kann noch an vielen Beispielen im Verlauf des Verfahrens gezeigt werden. Schließlich führte die Anklagevertretung zwei Beispiele für den Schwangerschaftsabbruch aus sozialer sowie eugenischer Indikation an. Der künstliche Abort einschließlich der Tubensterilisation war in beiden Fällen von Assistenten der Klinik vorgenommen worden. Die 82 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 11 83 ebenda, Bl. 11 84 ebenda, Bl. 12 85 ebenda, Bl. 13 86 ebenda, Bl. 14 24 achtundzwanzigjährige Patientin Frau E. befand sich im fünften Schwangerschaftsmonat und hatte bereits zwei geistig und körperlich schwer behinderte Kinder. Ihr Großvater und ihre Schwiegermutter seien Geschwister gewesen. Sie kam mit der Befürchtung in die Frauenklinik, erneut ein krankes Kind zu bekommen. Daraufhin erfolgte der Abbruch der Schwangerschaft nebst Sterilisierung durch den Assistenten Dr. Zweifel. Sowohl der Psychiater Binswanger als auch die Gerichtsmediziner Puppe und Beumer lehnten ein solches Vorgehen entschieden ab, da auch aus Verwandtenehen gesunde Kinder hervorgehen könnten. 87 Die Anklagevertretung verwies in diesem Zusammenhang auf die Leitsätze der Deputation für das Medizinalwesen von 1916: 1. “Der Arzt darf nur aus medizinischer Indikation die Schwangerschaft unterbrechen. 2. Der Arzt ist nicht berechtigt, die Unterbrechung aus sozialen oder rassehygienischen Gründen vorzunehmen.“88 Erneut wies Henkel jegliche Verantwortung von sich. Dr. Zweifel habe eigenmächtig und demzufolge auch eigenverantwortlich gehandelt. Er selbst habe noch nie eine Schwangerschaft aus sozialen Gründen abgebrochen.89 Binswanger gab zu bedenken, daß die Assistenten nicht ohne die Einwilligung des Chefs operieren dürften. Zudem sei der Leiter einer Klinik für seine Assistenten Lehrer und Vorbild für das ärztliche Handeln. Das Verhalten der Assistenten spiegelte letztlich auch die Ansichten ihres Klinikdirektors wieder.90 Bei einer weiteren Patientin Frau M. war der künstliche Abort sowie auch die Sterilisierung während Henkels Abwesenheit von dem Assistenzarzt Dr. Lehfeldt durchgeführt worden. Die achtunddreißigjährige gesunde Frau war bereits elffache Mutter. Der behandelnde Hausarzt hatte sie in die Frauenklinik eingewiesen, um die Indikation zum Schwangerschaftsabbruch prüfen zu lassen. Den nach dreitägiger Beobachtungszeit vorgenommene Eingriff mit zusätzlicher Tubensterilisation bewerteten die Sachverständigen Puppe und Beumer auf Grund des Fehlens einer Erkrankung als unberechtigt.91 Der gynäkologische Gutachter Georg Winter äußerte während der mündlichen Verhandlung am 25.10.1917 zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs bei sozialer und eugenischer Indi- 87 ebenda, Bl. 17 88 ebenda 89 ebenda, Bl. 18 90 ebenda 91 ebenda 25 kation einen gänzlich anderen Standpunkt.92 Er könne Henkel keinen Vorwurf machen, da er selbst früher so gehandelt habe. Speziell bei der Patientin E. “handelt es sich um Indikationen, die darauf basieren, dass Kinder, die voraussichtlich schädliche oder unbrauchbare Mitglieder der Gesellschaft werden, gar nicht zur Welt kommen, um den Staat und die Familie nicht mit Individuen zu belasten, die doch nichts wert sind“.93 Winter befürwortete mit dieser Aussage die eugenische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung. Dies stand allerdings in deutlichem Widerspruch zu der in seinen wissenschaftlichen Publikationen vertretenen Meinung. (siehe Kapitel 4.2.2.) Hinsichtlich der Frau M. sah Winter in der vorzeitigen Beendigung der zwölften Schwangerschaft den Versuch, das Leben der Patientin zu erhalten. Zwar bestünde allgemein der Grundsatz von der Ablehnung der Anwendung jeglicher sozialer Indikationen, doch gäbe es gerade in jüngerer Zeit wissenschaftliche Arbeiten, die diese befürworteten. Als Beispiel führte Winter die Arbeiten von dem “sehr bekannten und auch geschätzten Mediziner Max Hirsch aus Berlin“ an, der “auf das eifrigste für soziale Indikationen eintritt“.94 (siehe Kapitel 4.2.5.) Er selbst lehne ein solches Vorgehen jedoch strikt ab. Erwägungen zur sozialen Lage der Frau dürfen jedoch die medizinische Indikation unterstützen. Beispielsweise könne man bei einer armen tuberkulösen Schwangeren eher geneigt sein, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden, während eine reiche Frau zunächst in ein Sanatorium geschickt würde. Auch bei der Frage, wer die Verantwortung im Falle der Patientin Frau M. zu tragen habe, stellte sich Winter auf Henkels Standpunkt. Er argumentierte: “Ich kann unmöglich für solche Eigenmächtigkeiten meiner Assistenten verantwortlich gemacht werden.“95 Wenn Assistenten in der Abwesenheit ihres Vorgesetzten “wild drauflos“ operierten, um sich zu profilieren, so müssen sie auch die Folgen ihres Handelns tragen. In einigen Punkten seiner Darlegungen erscheinen Winters Aussagen jedoch widersprüchlich. Einerseits sprach er Henkel von jeder Schuld frei, andererseits sah er die Verantwortung eines Klinikdirektors darin, seinen Assistenten richtige Anschauungen beizubringen, um “eine gewisse Tradition“ zu schaffen, die das Verhalten während seiner Abwesenheit bestimmen sollte.96 Dies war aber genau der Punkt, der Henkel zum Vorwurf gemacht wurde. Durch seine Neigung zu radikalen Operationsmethoden und die Art der Indikationsstellungen hatte er den Assistenten ein Verhalten vorgelebt, welches diese dann auch in seiner Abwesenheit in die Tat umsetzten. 92 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 16, Bl. 88-96: Protokoll des mündlich erstatteten Gutachtens von Georg Winter vom 25.10.1917 93 ebenda, Bl. 88 94 ebenda, Bl. 89 95 ebenda, Bl. 90 26 • Zu Punkt 2: Kunstfehler und mangelhafte Asepsis Dieser Anklagepunkt wurde besonders durch die Beobachtungen der beiden Pathologen Dürck und Rößle sowie ihrer Assistenten während der Sektionstätgkeit für die Frauenklinik gestützt. Hermann Dürck, der schon für Karl Franz obduziert hatte, bemerkte eine gravierende Zunahme der postoperativen Bauchfellentzündungen mit dem Amtsantritt Henkels. Er registrierte im Zeitraum April 1910 bis Juni 1911 32 Todesfälle durch eitrige Peritonitis. Auch die Häufung von Schnittverletzungen der Blase und vergessenen Tupfern in der Bauchhöhle stützten seinen Verdacht, “es müsse ein tiefliegender Fehler in dem System der Klinikleitung“ vorliegen.97 Dürcks Nachfolger Rößle war ebenfalls die “qualitativ schlechte Beschaffenheit des Operationsmaterials der Frauenklinik“ aufgefallen.98 In seinem Gutachten zitierte Rößle aus den Sektionsprotokollen drei Fälle von Darmverletzung, sechs Fälle von undichten Darmnähten mit nachfolgender Peritonitis, acht Fälle von tödlicher Nachblutung, drei Fälle von vergessenen Tupfern in der Bauchhöhle, drei Fälle von Harnblasenverletzung und zwei Fälle von versehentlicher Harnleiterunterbindung.99 Die Anklageschrift enthielt die Namen von 12 Patientinnen, die postoperativ auf Grund von Verblutungen, schweren Nebenverletzungen und Infektionen verstorben waren. Sieben der 12 Eingriffe waren von Henkel selbst ausgeführt worden. Die Anklagevertretung sah in dem gespannten Verhältnis zwischen der Jenaer Frauenklinik und der Pathologischen Anatomie einen entscheidenden Faktor für die Entwicklung der Geschehnisse, die schließlich in das Disziplinarverfahren gemündet hatten. Die Obduktion sei ein wichtiges Mittel, um die Diagnose und Therapie des Klinikers zu überprüfen. Ein fachlicher Austausch zwischen Pathologischem Anatom und Operateur trage deshalb dazu bei, die Qualität der Behandlung zu verbessern. Aus diesem Grund war es für die Anklagevertretung unverständlich, warum Henkel ein so geringes Interesse an den Sektionen für die Frauenklinik zeigte und “in unbegreiflicher Selbstüberschätzung auf diese Gelegenheit zu strenger Selbstkritik verzichtet hat“.100 Den regelmäßigen Einladungen zu den Sektionen habe Henkel nur selten Folge geleistet. Auf die Übersendung der Sektionsbefunde durch das 96 ebenda 97 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift ,Weimar, 08.03.1917, Bl. 20 98 ebenda 99 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915, Bl. 8-9 100 ebenda 27 Pathologische Institut hätte er kaum reagiert und selbst bei Diagnosen wie “Tod durch Verblutung“ oder “Darmverletzung“ nicht den fachlichen Dialog gesucht. Als Dürck ihn einmal auf seine Beobachtungen ansprach, habe Henkel erwidert, “dass er nicht für alles verantwortlich gemacht werden könne, was auf seiner Klinik vorgehe.“101 Die Anklage sah in der Gleichgültigkeit Henkels einen weiteren Beweis für den Mangel an Sorgfalt bei der Behandlung Kranker.102 Es waren nicht nur die Direktoren des Pathologischen Institutes Dürck und Rößle, denen die Häufung der unglücklichen Ausgänge von Operationen Anlaß zu ernsten Zweifeln gab. Der Assistent des Pathologischen Institutes Dr. Böhm hatte im Zeitraum von Juni 1911 bis November 1913 Aufzeichnungen über die Sektionen angefertigt. Auch ihm waren die häufigen Infektionen und ärztlichen Kunstfehler am Sektionsmaterial der Frauenklinik aufgefallen. Er sagte während der Verhandlung aus: “Nicht jede Infektion ist Schuld des Operateurs. Allein wenn Infektionen in solcher Menge auftreten, so geht es zu weit bei jeder einen unglücklichen Zufall anzunehmen, namentlich, wenn man in wiederholten Fällen die Infektionen auslösenden Fahrlässigkeiten nachweisen kann.“103 Die Gynäkologen Hofmeier und Fehling vertraten in ihrem Gutachten diesbezüglich einen eindeutigen Standpunkt. Da die Aufgabe des Klinikers in der Behandlung Lebender bestehe, sei sie um vieles schwieriger als die des Pathologen, der den Befund an der Leiche erhebt. Beide Sachverständigen übten Kritik an Rößle, da dieser die technischen Schwierigkeiten der Operationen nicht würdigte und zudem voreingenommen gegenüber Henkel gewesen sei. Wenn sich ein Operateur an komplizierte Fälle wage, müsse er auch einmal mit einem unglücklichen Ausgang des Eingriffs rechnen. Schließlich können dem geübtesten Operateur Fehler unterlaufen. Zwar erschien auch ihnen die Zahl der Fälle von verletzten Darmschlingen, mangelhaften Nähten und zurückgelassenen Tupfern nicht unerheblich hoch, doch seien auch hier Operationen von Assistenten ausgeführt worden und somit Henkel nicht unmittelbar verantwortlich. Hofmeier und Fehling kamen zu dem Schluß: “Wir können dem pathologischen Anatom in solchen Fällen ein Richteramt nicht zuerkennen und dies um so weniger, wenn daraus eventuell die Berechtigung einer Anzeige beim Staatsanwalt abgeleitet werden soll.“104 101 ebenda 102 ebenda 103 ebenda, Bl. 24-25 104 UAJ Bst. L Nr. 442 a , Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 29 28 Zum Vorwurf der mangelhaften Asepsis lagen fast ausschließlich Zeugenaussagen vor, die Henkel ein “günstiges Zeugnis“ ausstellten.105 So hatte der Assistent Dr. Zimmermann, der von April 1913 bis zum Kriegsbeginn in Jena tätig gewesen war, in der mündlichen Anhörung die Asepsis als “tadellos“ und “ständig überwacht“ beschrieben.106 Ebensowenig habe er unnötige Operationen oder gar „Grenzüberschreitungen“ bemerkt. Auch Dr. Bäumer, von März 1913 bis Februar 1915 Assistent in der Frauenklinik, bezeichnete die Asepsis als gut und verneinte es ebenfalls, Operationen ohne begründete Notwendigkeit oder Fehler in der wissenschaftlichen Methode beobachtet zu haben.107 Selbst Dr. Theilhaber, der die Indikationen für die Schwangerschaftsabbrüche scharf kritisiert hatte, stellte Henkel als ausgezeichneten Operateur dar: “Henkels Technik war allerdings glänzend und man konnte sehr viel lernen.“108 Hofmeier und Fehling konnten anhand der Zeugenaussagen und Eintragungen in den Operationsbüchern keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein schuldhaftes Verhalten Henkels bei der Handhabung der Asepsis feststellen. Sie verwiesen auf die unterschiedliche technische Durchführung der Asepsis in den verschiedenen Kliniken, die zum Teil der “Mode“ unterlägen. Die beiden Todesfälle nach Lumbalanästhesie, die zur Anzeige gegen Henkel geführt hatten, beruhten ihrer Meinung nach nicht auf einem Verstoß gegen die Asepsis. Das diesbezügliche Gutachten von Bier fand ihre volle Zustimmung. Sie bezeichneten Rößles Verhalten als ungerecht, bei jeder postoperativen oder postpartalen Infektion, von “offenbarem Kunstfehler“ oder “schuldhafter Fahrlässigkeit“ des Angeschuldigten zu sprechen.109 Die Ursachen für die nachweislich erhöhte Anzahl von postoperativen Infektionen könnten ebensogut bei den Assistenten und Schwestern begründet sein. Um diese Aussage zu stützen, führten sie die von Assistenten ausgeführten Operationen mit tödlichem Ausgang an. 1910 waren es 14 und von 1911 bis Anfang 1912 21 letal endende Eingriffe durch Assistenten gewesen.110 27 dieser insgesamt 35 Eingriffe hatte Wilhelm Busse ausgeführt. In diesen Fällen hätte Henkel als Klinikdirektor allerdings einschreiten müssen, um weitere Operationen seiner Assistenten, insbesondere durch Busse, zu verhindern. Darüber hinaus konnten Hofmeier und Fehling jedoch kein persönliches Verschulden Henkels feststellen. 105 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 26 106 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 2: Öffentliche Sitzung der Dienststrafkammer Weimar am 23.10.1917 107 ebenda 108 ebenda 109 UAJ Bst L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl.4 110 ebenda, Bl. 5-6 29 • Zu Punkt 3: Operationen ohne genügende Schonung keimenden Lebens Unter diesem Anklagepunkt stand der “Fall F.“ im Mittelpunkt der Betrachtungen durch die Staatsanwaltschaft. Die besonderen Umstände dieses Falls hatten schon während der Voruntersuchung für großes Aufsehen gesorgt. Frau F., eine siebenundzwanzigjährige Küchenchefsfrau und zweifache Mutter, war von ihrem Hausarzt Dr. Langhans am 17.03.1911 in die medizinische Poliklinik zur Lungendurchleuchtung geschickt worden. Einweisungsgrund war ihr schlechter Allgemeinzustand bei fortgeschrittener Schwangerschaft im achten Monat. Es sollte geklärt werden, ob eine Tuberkulose vorlag und damit die Indikation zur Einleitung der künstlichen Frühgeburt gegeben war. Das Krankenbuch der Medizinischen Klinik enthielt die Eintragungen “Hämoptoe“ und “sehr abgemagert“.111 Der Lungenbefund ergab keinen eindeutigen Nachweis einer Tuberkulose: “starke Hiluszeichnung, Spitzenaufnahme: Spitzen gleich. Über der rechten Spitze etwas verschärfte Atmung, rechts hinten unten feinblasiges Rasseln“.112 Daraufhin überwies Dr. Langhans Frau F. in die Frauenklinik. In dem beigefügten Brief unterrichtete er Henkel: “Frau F. ist lungenleidend. Starke Hämoptoe! Sowohl Herr Professor Lommel113 wie ich sind der Ansicht, dass die Frühgeburt eingeleitet werden müsse; und zu dem Zwecke erlaube ich mir die Patientin Ihrer Klinik zu überweisen.“114 Bei der stationären Aufnahme in die Frauenklinik am 21.03.1911 wurde Frau F. von dem Assistenten Dr. Kaufmann untersucht. Dieser konnte “keine Anzeichen einer Lungenerkrankung“ feststellen.115 Es wurde der achte Schwangerschaftsmonat angenommen. Die kindlichen Herztöne waren deutlich hörbar. Dr. Kaufmann stellte Henkel die Patientin vor, worauf dieser den künstlichen Abort anordnete. Bereits am folgenden Tag nahm Henkel die Totalexstirpation des Uterus und der Adnexe vor. Den exstirpierten Uterus ließ er ungeöffnet in Formalinlösung legen, um daraus ein anatomisches Präparat zu gewinnen. Wie der Zeuge Dr. Kaufmann später aussagte, geschah dies, obwohl sich die Frucht im Uterus „stark bewegt“ habe.116 Am 12. postoperativen Tag verstarb Frau F. in der Frauenklinik. Die von Dürck ausgeführte Obduktion ergab eine eitrige Peritonitis ausgehend vom Abtragungsstumpf des Uterus mit fortgeleiteter linksseitiger eitriger Pleuritis. Ein tuberkulöser Prozeß war jedoch nicht nachweisbar117. 111 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 26 112 ebenda 113 Felix Lommel (1875-1965), Direktor der Medizinischen Poliklinik 114 ebenda 115 ebenda, Bl. 27 116 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Anlage 4, Zeugenaussage von Dr. Kaufmann, Dresden, 04.03.1915 117 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 27 30 Das Gericht mußte nun klären, ob einerseits der Schwangerschaftsabbruch indiziert und andererseits die Radikalität des Eingriffs berechtigt gewesen war. Die größte Aufmerksamkeit galt allerdings der Frage, warum Henkel den Uterus nicht eröffnet hatte. Henkel sagte aus, er habe das Kind für nicht lebensfähig gehalten. Bei der geringen Größe des Uterus hätte er ein Schwangerschaftsalter von sechs Monaten angenommen. Er selbst könne sich zudem nicht an Bewegungen im Uterus erinnern. Den Entschluß zum Schwangerschaftsabbruch mittels Totalexstirpation, worin er das schonendste und blutärmste Verfahren erblickte, habe er erst nach eingehender Untersuchung der Patientin gefaßt. Dabei habe er sich von der Schwere der Lungenveränderungen überzeugen können. Am Abend vor der Operation seien schließlich erneute Lungenblutungen bei Frau F. aufgetreten, worüber er telefonisch durch Dr. Kaufmann informiert worden sei. Henkel berief sich bei seiner Rechtfertigung auch auf den Brief des Dr. Langhans, in dem die Einleitung der Frühgeburt auf Grund des Lungenleidens und starker Hämoptoe angeraten worden war.118 Das beschlagnahmte Uteruspräperat erhielten die Sachverständigen Hofmeier und Fehling zur Begutachtung. Die Eröffnung der Gebärmutter ergab eine dem Entwicklungsstand nach 32 bis 34 Wochen alte Frucht. Mit der Lebensfähigkeit des Kindes hätte demnach gerechnet werden müssen. Das zusammenfassende Urteil beider Gutachter gab Henkel dahingehend recht, daß er durch den Brief des praktischen Arztes an eine vorhandene Tuberkulose glauben durfte. Auch auf Grund des schlechten Allgemeinzustandes der Frau F. sei die Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch vertretbar gewesen. Die Art des Eingriffs ließ jedoch unterschiedliche Ansichten zu. Der von Dr. Kaufmann festgestellte negative Lungenbefund bei der Patientin hatte jedenfalls keinen Anhalt für eine akute Lebensgefahr gegeben. Henkel hätte vor der Operation die Patientin nochmals selbst untersuchen müssen oder einen Internisten als Berater hinzuziehen. Darüber fand sich aber kein Hinweis in den Akten. “Befremdend“ erschien Hofmeier und Fehling, daß Henkel nicht die von Dr. Langhans und Prof. Lommel vorgeschlagene künstliche Frühgeburt eingeleitet hatte.119 Allgemein anerkannt sei dagegen, so die beiden Sachverständigen, bei Abbruch der Schwangerschaft wegen Tuberkulose durch die gleichzeitige Sterilisierung das Eintreten weiterer Schwangerschaften zu verhindern: “Es wird deswegen also vielfach nicht bloß empfohlen, sondern von manchen Operateuren bei Unterbrechung der Schwangerschaft zur Bedingung gemacht, daß sich die Frauen ent- 118 ebenda 119 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 17 31 weder gleich im Anschluß daran oder einige Zeit nachher einer zweiten Operation unterwerfen, welche dieses Ziel erreicht, daß heißt weitere Conzeption unmöglich macht.“120 Die Entnahme der Eierstöcke sei in bestimmten Fällen zur Ausschaltung der Menstruation und dem damit verbundenen Blutverlust indiziert, jedoch nicht bei jeder Sterilisierung notwendig. Bei Vorliegen einer fortgeschrittenen Schwangerschaft im vierten bis sechsten Monat bei bestehender Tuberkulose erscheine die Amputation des schwangeren Uterus mit und ohne Adnexe durch Bauchschnitt zwar radikal, aber relativ unblutig und vor allem ungefährlicher als ein vaginaler Eingriff. Hofmeier und Fehling räumten deshalb ein, “daß wir den Eingriff der Entfernung des Uterus durch die Laparotomie an sich nicht für unrichtig halten.“121 Hofmeier und Fehling befürworteten die von Henkel angewandte Methode der Totalexstirpation als anerkanntes Operationsverfahren bei tuberkulösen Schwangeren in fortgeschrittenen Schwangerschaftsalter. Große Bedenken äußerten sie jedoch an Henkels Verhalten gegenüber dem ungeborenen Kind: “Auf das Leben des Kindes hätte aber unseres Erachtens durch vorherige Entfernung aus dem Uterus Rücksicht genommen werden sollen.“ 122 Wenn Henkel die Patientin wirklich genau und wiederholt untersucht hätte, wäre ein solch gravierender Fehler bei der Einschätzung des Schwangerschaftsalters nicht möglich gewesen. Gegen das Vorliegen des sechsten Schwangerschaftsmonats sprachen die Anamnese, nach der Frau F. ihre letzte Periode Anfang Juli 1910 hatte, wie auch die Größe des Uterus. Selbst wenn Henkel von der Lebensunfähigkeit des Kindes überzeugt gewesen war, hätte ihm die moralische Pflicht geboten, den Uterus zu eröffnen, um ein eventuell lebendes Kind zu retten oder zumindest den Tod der Frucht zu bestätigen.123 Die Gerichtsmediziner Puppe und Beumer vertraten in ihren Gutachten erneut verschiedene Meinungen. Beumer hielt den operativen Eingriff auf Grund der Krankengeschichte für berechtigt und glaubte dem Angeschuldigten, die Nichteröffnung des Uterus sei allein in der Annahme vom Tod des Kindes begründet gewesen. Puppe hingegen beanstandete, daß die Operation bereits einen Tag nach der stationären Aufnahme erfolgt war. Die Patientin hätte zunächst beobachtet werden müssen, um das Ausmaß der Lungenerkrankung feststellen zu können. Dies wäre um so notwendiger gewesen, da der Assistent Kaufmann bei der Erstuntersuchung keinen Hinweis auf das Vorliegen einer Tuberkulose gefunden hatte und auch die Krankengeschichte keinen Eintrag über eine erneute Hämoptoe enthielt. Zudem sei die 120 ebenda 121 ebenda, Bl. 18 122 ebenda, Bl. 19 123 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar 08.03.1917, Bl. 29 32 Radikalität des Eingriffs nicht indiziert, sondern höchstens die schonende Einleitung der Frühgeburt vertretbar gewesen.124 Die Anklagevertretung verwies auf zwei weitere Patientinnen, bei denen Henkel wegen Tuberkulose die Totalexstirpation des Uterus im siebenten und achten Schwangerschaftsmonat durchgeführt hatte. Beide Frauen verstarben postoperativ an ihrem Lungenleiden. In einem Fall war das Kind aus dem Uterus entwickelt worden und lebte. Bei der anderen Patientin war der exstirpierte Uterus nicht eröffnet worden. Henkel verteidigte sein Vorgehen auch diesmal damit, die Frucht nicht für lebensfähig gehalten zu haben.125 Beumer stimmte Henkel zu, denn das Kind hätte sich zum Zeitpunkt der Operation in der 27. Schwangerschaftswoche befunden, wobei mit Lebensfähigkeit frühestens ab der 28. Woche gerechnet werden könne. Puppe hingegen schloß eine Lebensfähigkeit des Kindes nicht aus, da aus der Krankengeschichte das genaue Alter der Schwangerschaft nicht zu bestimmen sei. Aus diesem Grund hätte Henkel sich auch hier durch Eröffnung des Uterus Gewißheit verschaffen müssen. 126 In seinem Gutachten bezeichnete Rößle den “Fall F.“ als den “weitaus schrecklichsten, der mir je als Opfer ärztlichen Handelns zur Kenntnis gekommen ist“.127 Als Geburtshelfer hätte Henkel wissen müssen, daß ein Kind im achten Schwangerschaftsmonat fast ausgetragen sei. Henkels Verhalten gegenüber dem Kind verdiente deshalb nach Ansicht Rößles eine strafrechtliche Ahndung.128 Zudem hielt der Pathologe die Radikalität des Eingriffs für unberechtigt. Die Einleitung der künstlichen Frühgeburt oder die Vornahme eines Kaiserschnittes hätten als schonendere Methoden in Betracht gezogen werden müssen, zumal der Nachweis einer manifesten Tuberkulose bei der Patientin nicht erbracht war.129 Auch der Sachverständige Winter äußerte sich ausführlich im Rahmen der öffentlichen Verhandlung am 25.10.1917 zum “Fall F.“. Seiner Ansicht nach galt es, folgende Fragen zu klären: o Frage 1: War die Diagnose Lungentuberkulose berechtigt? Winter bejahte dies, denn die Patientin war wegen Tuberkulose durch den behandelnden Arzt eingewiesen worden. Zudem habe ein Telefonat zwischen Dr. Kaufmann und Henkel stattgefunden, bei dem der Assistent über Frau F. berichtete. Dabei entstand auf Grund eines Mißverständnisses bei Henkel der Eindruck, bei Frau F. wären erneut Lungenblutungen 124 ebenda, Bl. 30 125 ebenda, Bl. 31 126 ebenda 127 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915, Bl. 26 128 ebenda, Bl. 24 33 aufgetreten. Dies konnte Henkel ohne eigene Untersuchung der Patientin glauben, da man von einem Assistenten die zweifelsfreie Feststellung eines solchen Befundes erwarten könne. 130 o Frage 2: Berechtigte die angenommene Tuberkulose zum Schwangerschaftsabbruch? Winter bejahte auch dies, da 1911 die verschiedensten Ansichten über die Indikationen des künstlichen Aborts bei Tuberkulose vertreten wurden: “Wenn Professor Henkel damals gesagt hat, dass er in allen Fällen von Lungentuberkulose die Schwangerschaft unterbrechen will, so hat er sich jedenfalls in guter Gesellschaft befunden.“131 Zum jetzigen Zeitpunkt liege auf Grund von Beobachtungen ein gewisser Erfahrungsschatz vor, wonach bei latenter Form der Tuberkulose überhaupt nicht und bei manifester Form nur in schweren Fällen der Abbruch der Schwangerschaft erfolgen sollte. Die Entscheidung, welches Stadium der Erkrankung im Einzelfall vorliege, sei aber schwierig und selbst durch einen Internisten nicht immer zweifelsfrei zu treffen.132 o Frage 3: War die Methode der Totalexstirpation berechtigt? Winter bejahte dies ebenfalls, weil man bei einer Frage, in der die Vorgehensweise wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt ist, dem Arzt keinen Vorwurf aus der von ihm angewandten Methode machen dürfe. Dies träfe ebenso auf die Frage der Sterilisierung bei Tuberkulose zu, die damals von vielen Geburtshelfern befürwortet wurde. Henkel habe sich eben nicht für den “gewöhnlichen Weg der Schwangerschaftsunterbrechung“ entschieden, sondern für die Totalexstirpation, die als unblutiges und schonendes Verfahren galt. Winter stellte fest: “Ob man dann den Uterus im ersten, vierten oder fünften Monat totalexstirpierte, war ganz gleich. Professor Henkel war dann jederzeit dazu berechtigt.“133 o Frage 4: Konnte Henkel die Lebensunfähigkeit des Kindes annehmen? Diese Frage beantwortete Winter nicht eindeutig. Einerseits räumte er ein, jede Hebammenschülerin könne anhand der Uterusgröße entscheiden, ob eine Frucht sechs oder acht Monate alt sei.134 Andererseits verwies er auf die enorme Verantwortung eines Operateurs, dessen Aufmerksamkeit während eines Eingriffs von vielen Dingen in Anspruch genommen wurde, so daß er anderes wie zum Beispiel die Uterusgröße übersehen könne. Aus diesem Grund wäre es die Pflicht der anwesenden Assistenten gewesen, Henkel auf Bewegungen im Ute- 129 ebenda, Bl. 22-23 130 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Protokoll des mündlich erstatteten Gutachtens von Georg Winter am 25.10.1917, Bl. 4 131 ebenda, Bl. 6 132 ebenda, Bl. 5 133 ebenda, Bl. 6 134 ebenda, Bl. 7 34 rus hinzuweisen: “Also die Assistenten hätten es ihm sagen müssen, und ich würde in diesem Fall sogar den Assistenten mehr Schuld geben als dem Operateur selbst.“135 Winter versuchte Henkels Vorgehensweise im “Fall F.“ in allen Punkten zu rechtfertigen. Den Tod der Patientin durch eitrige Peritonitis bezeichnete er als “bedauerlichen Unglücksfall“ 136 Die Frage nach der Schuld des Operateurs war seiner Meinung nach ohne die Kenntnis des genauen Schwangerschaftsalters nicht zu klären. Dieses hatten die Sachverständigen Hofmeier und Fehling aber bei der Untersuchung des Präparates zweifelsfrei festgestellt und in ihrem Gutachten dargelegt. Es scheint, als wollte Winter seinen Amts- und Fachkollegen Henkel von jeglicher Verantwortung im “Fall F.“ freisprechen. Während der öffentlichen Sitzung der Dienststrafkammer wurden neben Winter und dem Assistenten Kaufmann weitere Zeugen zum “Fall F.“ befragt. Dr. v. d. Heyde, der am Tag vor der Operation diensthabende Arzt auf der geburtshilflichen Station, sagte aus: “Das Kind muß schon lebensfähiges Alter gehabt haben. Zum Erstaunen der Anwesenden wurde es nicht aus dem Uterus herausgeschnitten.“137 Der Pathologe Hermann Dürck, der Frau F. obduziert hatte, gab zu Protokoll: “Ich fand keine Spur von Tuberkulose.“138 Im Zusammenhang mit dem “Fall F.“ ist eine Veröffentlichung Henkels aus dem Jahre 1911 mit dem Titel “Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?“ von Interesse.139 Darin vertrat er die Ansicht, daß eine bestehende Tuberkulose durch eine Schwangerschaft meist verschlimmert würde und auch die Mortalität im Wochenbett stark ansteige. Aus diesen Gründen und weil das mütterliche Leben Priorität habe, erklärte Henkel, “daß bei vorhandener Tuberkulose oder bei der bei Schwangerschaft nachweisbar gewordenen Tuberkulose es durchaus richtig ist, die Schwangerschaft zu jeder Zeit zu unterbrechen.“140 Die Art des Eingriffs machte er vom Schweregrad der Erkrankung abhängig. Bei einer Tuberkulose im Anfangsstadium bevorzugte er die Kolpohysterotomie.141 Ob sich daran eine Tubensterilisierung anschließen sollte, überließ Henkel der individuellen Einschätzung des behandelnden Gynäkologen. Henkel selbst stand der anschließenden Sterilisierung eher kritisch gegenüber, da er von der Möglichkeit einer Heilung des Leidens ausging: “Warum soll man bei beginnender Tuberkulose 135 ebenda, Bl. 8 136 ebenda 137 ebenda, Ziff. 2: Protokoll der Öffentlichen Sitzung der Dienststrafkammer Weimar am 23.10.1917 138 ebenda 139 Henkel, M.: Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?, A. f. Gyn. 1911, Bd. 94, S. 580-597 140 ebenda, S. 582-583 141 vaginale Schnittentbindung 35 der Frau für alle Zukunft die Gebärfähigkeit nehmen?“142 Diese Aussage stand allerdings im Widerspruch zu den von Henkel häufig gleichzeitig vorgenommenen Sterilisierungen. Henkel sprach auch der sozialen Situation der Frau eine wichtige Rolle bei der Indikationsstellung zur Sterilisierung zu.143 So räumte er ein, daß bei Frauen der arbeitenden Klasse, die meist schon mehrmals geboren hatten und unter oft schlechten hygienischen Bedingungen lebten, die Tubensterilisation schon bei beginnender Tuberkulose in Betracht gezogen werden könne. Im fortgeschrittenen Stadium des Lungenleidens sollte sich dagegen immer eine Sterilisierung an den Schwangerschaftsabbruch anschließen. Bei schwerer Lungentuberkulose bezeichnete Henkel die abdominale Totalexstirpation von Uterus und Adnexen zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft als die “einzig richtige Behandlung“.144 Dabei sah er in der Ausschaltung der Ovarialfunktion einen entscheidenden Faktor für eine mögliche Heilung der Tuberkulose. 145 Auch würde mit der Entfernung des Uterus der Wochenfluß verhindert, der sonst nach einer Abtreibung reichlich auftrat und die Frauen zusätzlich schwächte. Als weiteren Vorteil des Verfahrens betrachtete er den geringen Blutverlust. Mit der Feststellung “Erst die Mutter, dann das Kind!“ entschuldigte Henkel die Tatsache, daß dieses Vorgehen keine Rücksicht auf das kindliche Leben nahm.146 Seiner Ansicht nach waren die Überlebenschancen von Kindern tuberkulöser Mütter als sehr gering einzuschätzen. Henkel vertrat den Standpunkt, die plazentare Infektion des Fötus geschehe in mehr Fällen, als zum damaligen Zeitpunkt allgemein angenommen wurde.147 Rößle hatte hingegen in seinem Gutachten erklärt, “daß es in der ganzen ungeheuren Tuberkuloseliteratur kaum einen Fall gibt, wo die Tuberkulose durch die Gebärmutter auf das Kind übertragen worden ist“.148 Henkel verwies abschließend in seiner 1911 erschienenen Arbeit auf sechs Fälle, in denen er die Schwangerschaft mittels Totalexstirpation unterbrochen hatte. Die Operationsmethode sei durch ihre Dauer von einer halben Stunde, die angewandte Spinalanästhesie und den minimalen Blutverlust ein sehr schonendes Verfahren. Dies wurde durch die gute Rekonvaleszenz und Wundheilung bestätigt. Nur eine der Frauen war postoperativ an ihrem fortgeschrittenen Lungenleiden verstorben. Zwar sei es in keinem der Fälle zu einer Heilung der 142 ebenda, S. 592 143 ebenda 144 ebenda 145 Die abdominale Exstirpation des graviden Uterus und der Adnexe, auch als Bumm-Martin`sche Radikaloperation bezeichnet, weil als Methode von beiden Gynäkologen eingeführt, sollte durch Wegfall der Hormone die Abheilung von Lungenherden durch Verkalkung fördern. (d. A.) 146 ebenda, S. 594 147 ebenda, S. 594-595 148 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915, Bl. 24 36 Tuberkulose gekommen, wohl aber zu objektiver Besserung des Befindens und zur Gewichtszunahme. Beschwerden auf Grund der fehlenden Ovarialfunktion seien nicht aufgetreten. 149 Die in dieser Arbeit vertretenen Ansichten entsprachen Henkels Vorgehensweise bei der Behandlung von Frau F. Wie auch das Urteil der befragten Sachverständigen zeigte, konnte man Henkel aus der Art des Eingriffs keinen Vorwurf machen, da die Methode der Totalexstirpation des graviden Uterus bei Tuberkulose in Fachkreisen von vielen Gynäkologen, wie Fehling und Winter befürwortet wurde. Zudem erschwerten die fehlenden Richtlinien für die Indikationsstellung bei Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung die Beurteilung. Einstimmigkeit herrschte weitestgehend bei der Verurteilung von Henkels Verhalten gegenüber der Frucht. • Zu Punkt 4: Nachlässige Behandlung Leidender und Verletzung der ärztlichen Ethik Zwar gab es auch zu diesem Anklagepunkt zahlreiche Zeugenaussagen, die Henkel ein diesbezüglich tadelloses Verhalten bescheinigten, doch bedurften einige Krankengeschichten einer kritischen Betrachtung.150 Ausführlich äußerten sich Anklagevertretung und Sachverständige zu den Krankengeschichten zweier Patientinnen. Das Dienstmädchen M.R. wurde von ihrem Arbeitgeber, dem Stabsarzt Dr. Klunker, am Abend des 22.03.1913 kreisend in die Frauenklinik gebracht. Am nächsten Morgen erhielt dieser die Mitteilung, daß die Patientin an Eklampsie verstorben war. Der diensthabende Arzt war Dr. Lindig gewesen. In einem späteren Gespräch mit dem Stabsarzt erhob Lindig schwere Vorwürfe gegen Henkel. Bei rechtzeitigem Einschreiten Henkels hätte nach Ansicht Lindigs das Leben von Frau R. gerettet werden können.151 Gegen Mitternacht war Lindig zu der Patientin gerufen worden, die an eklamptischen Anfällen litt, welche sich auch nach Morphingabe nicht besserten. Daraufhin hatte er Henkel telefonisch über den Zustand der Patientin informiert. Henkel habe geantwortet, er könne nicht zu jedem Fall kommen und die Durchführung einer Venenpunktion empfohlen. Als die Anfälle immer heftiger wurden und der Zustand von Frau R. sich weiter verschlechterte, telefonierte Lindig noch zweimal mit dem Klinikdirektor, erhielt aber nur die Anweisung nicht einzugreifen. In den Morgenstunden verstarb die Patientin. Lindig schloß seinen Bericht gegenüber Dr. Klunker mit den Worten: “Ich bin 149 Henkel, M.: Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Tuberkulose berechtigt?, A. f. Gyn. 1911, Bd. 94, S.596-597 150 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 2: Öffentliche Sitzung der Dienststrafkammer am 23.10.1917, Zeugenaussagen von Dr. Bäumer, Dr. Zimmermann, Dr. de Vries 151 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Bl. 121, Zeugenaussage von Dr. Klunker, Lodz, 26.04.1915 37 geradezu verzweifelt gewesen. An M. R. sind schwere Unterlassungssünden begangen worden. Ihr Tod wurde durch das an der Frauenklinik herrschende System verschuldet.“152 Bei Lindigs gerichtlicher Vernehmung im Juli 1915 schilderte dieser seine Empörung, daß Henkel ihn trotz mehrmaliger telefonischer Anfrage über die Behandlung eines so schweren Falles im Unklaren gelassen hatte.153 Ihm seien die Hände gebunden gewesen, da er befürchten mußte, Henkel würde ihm jedes eigenmächtige Vorgehen zum Vorwurf machen. Als Henkel schließlich in die Klinik kam, versuchte Lindig gerade die sterbende Patientin zu entbinden. Henkel habe ihm die Zange aus der Hand genommen und das tote Kind selbst entwickelt. Wie Lindig vermutet hatte, lehnte Henkel die Verantwortung für die Geschehnisse ab. Lindig führte Henkels Verhalten auf dessen Art der Klinikleitung zurück. Er war zu der Überzeugung gelangt, “dass Professor Henkel, abgesehen von dem rein Medizinischen, nicht das geringste Interesse an den Kassenpatientinnen nehme, zumal von den Assistenten beobachtet worden sei, dass er bei Operationen von Kassenpatientinnen rücksichtslos vorgehe“.154 Henkel erwiderte auf diese Anschuldigungen, er wäre von der Kompetenz Lindigs in diesem Fall ausgegangen. Außerdem sei die Anweisung “Abwarten und nicht Eingreifen“ ein “anerkanntes Prinzip bei der konservativen Behandlung der Eklampsie.“155 Somit habe er Dr. Lindig nicht im Unklaren über das weitere Vorgehen gelassen. Hofmeier und Fehling gaben zu bedenken, daß es keine allgemeingültige Behandlungsmethode für die Therapie der Eklampsie gäbe. Henkel habe eben die abwartende der aktiven Methode vorgezogen. Daraus könne man ihm aber nicht den Vorwurf machen, Schwerkranke nachlässig behandelt zu haben. In ärztlich-ethischer Beziehung erschien den Sachverständigen jedoch Anlaß zur Kritik gegeben. Henkel hätte die Verantwortung in diesem Fall nicht von sich weisen dürfen: “Der Direktor bleibt für die ärztlichen Maßnahmen seiner Klinik verantwortlich.“156 Zwar könne der Leiter einer Klinik nicht jeden Fall persönlich behandeln, doch müsse er dafür Sorge tragen, daß klare Richtlinien für die Behandlung vorliegen und sich ein Assistenzarzt jederzeit an einen älteren und erfahreneren Assistenten wenden könne. Gerade weil diese Voraussetzungen in der Jenaer Klinik nicht gegeben waren, hätte Henkel Lindig nicht im Unklaren über die Behandlung von Frau R. lassen dürfen. Ähnliches galt nach Ansicht der gynäkologischen Gutachter auch für die Indikationsstellung 152 ebenda, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 32 153 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9, Bl.106, Zeugenaussage von Dr. Lindig, Vaux les mouron, 19.07.1915 154 ebenda 155 ebenda, Bl. 163, Henkel, M.: Ausführungen zu den Zeugenaussagen des Herrn Lindig, Jena, 30.07.1915 156 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl.34 38 zum Schwangerschaftsabbruch. Auch dafür existierten keine Anordnungen des Klinikdirektors. 157 Die Krankengeschichte einer zweiten Patientin Frau R. sorgte für Aufsehen, weil während des gynäkologischen Eingriffs ein medizinischer Laie im Operationssaal zugegen war. Es handelte sich um die zweiundfünfzigjährige Landwirtsfrau R., die sich im Juli 1911 wegen Gebärmutterkrebs in der Frauenklinik in Behandlung befand. Zur selben Zeit weilte auch Prinz Bernhard zur Lippe in Jena. Der Prinz hatte Henkel gebeten, ihn bei sehenswerten Operationen als Zuschauer zuzulassen, weil er sich sehr für die operative Medizin interessiere. Am 04.07.1911 war er bei der Entfernung eines 40 Pfund schweren Myoms im Operationssaal anwesend.158 Da an diesem Tag kein weiterer Eingriff vorgesehen war, ordnete Henkel an, Frau R. als nächste zu operieren. Der Patientin mußte zunächst der Magen ausgepumpt werden, da sie nicht für eine Operation vorbereitet war. Nach dem Legen einer Spinalanästhesie führte Henkel die Totalexstirpation des Uterus nebst der Adnexe in Anwesenheit des Prinzen durch. Doch kurz nach der Operation verstarb die Patientin plötzlich. Im Operationssaal waren an diesem Tag der Assistent Theilhaber als Verantwortlicher für die Narkose, Busse als erster Assistent und Dr. Bley als Hospitant zugegen. Busse sagte aus, bei ihm wäre der Eindruck entstanden, Henkel wolle dem Prinzen etwas “voroperieren“. Schließlich sei es unüblich, Patienten zu operieren, die nicht nüchtern waren. Ebenso widerstrebte es Busse, daß der Operationssaal zur “Schaubühne“ für einen medizinischen Laien gemacht worden war.159 Henkel habe die Operation zudem in großer Geschwindigkeit ausgeführt. Der Tod der Frau war nach Ansicht Busses auf Grund ungenügender Unterbindung eines Gefäßes durch den Angeschuldigten verursacht worden.160 Der Dresdener Gynäkologe Dr. Bley war von Mai bis Juli als Gast in der Frauenklinik Jena, um sich über die neuesten Operationstechniken zu informieren. Als Zuschauer habe er keine Ordnungswidrigkeiten bei der Durchführung des Eingriffs wahrnehmen können. Doch auch er habe Mißbehagen durch die Anwesenheit eines medizinischen Laien im Operationssaal empfunden.161 In ihrem Gutachten konnten die Sachverständigen Hofmeier und Fehling “in der Zulassung eines gebildeten Laien, bei dem persönliches Interesse und Verständnis für die Sache vorausgesetzt werden können, nichts erblicken, was gegen die ethische Auffassung des ärztlichen Berufes verstieße“.162 Mehr als die Anwesenheit des Prinzen gab ihnen der Umstand Anlaß zur Kritik, daß eine unvorbereitete Kranke zu Demonstrationszwecken operiert worden war. Der 157 ebenda 158 In der Anklageschrift wird der 04.09.1911 als Datum der Operation angegeben. 159 ebenda, Bl. 35 160 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 11, Bl. 79, Aussage von Wilhelm Busse zum Fall R., Jena, 14.10.1915 161 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 35 39 rasche Entschluß zur Operation und der ebenso schnell eingetretene Tod der Patientin ließen nach Ansicht der beiden Sachverständigen nicht an einem Fehlverhalten des Operateurs zweifeln.163 • Zu Punkt 5: Mangelnde Säuglingsfürsorge Auch dieser Punkt der Anklage stützte sich hauptsächlich auf die Beobachtungen Rößles anhand des kindlichen Sektionsmaterials. Der Pathologe hatte während seiner Sektionstätigkeit eine “geradezu erschreckend“ hohe Säuglingssterblichkeit festgestellt, die er entweder auf grobe Fehler und Unwissenheit in der Pflege oder gar auf die Geringschätzung des kindlichen Lebens in der Frauenklinik zurückführte.164 Seine Ansicht wurde gestützt durch den schlechten Ernährungs- und Pflegezustand der in den Jahren 1913/14 sezierten Neugeborenen. Für den Zeitraum 1911 bis 1912 lag Rößle auf Grund des bereits erwähnten Streits mit Henkel um die Kinderleichen kein Material vor. Rößles Vergleiche mit anderen Kliniken ergaben, daß in der Jenaer Frauenklinik die Anzahl der Perforationen und der Totgeburten sowie die Säuglingssterblichkeit in den ersten zehn Lebenstagen weit über dem allgemeinen Durchschnitt lagen.165 Der Vorwurf der mangelnden Säuglingsfürsorge spielte jedoch während des Verfahrens eine untergeordnete Rolle, da eine unmittelbare Schuld Henkels an der hohen Säuglingssterblichkeit nicht nachgewiesen werden konnte. Als Direktor der Frauenklinik und Entbindungsanstalt trug er allerdings Verantwortung für die Qualität der Säuglingspflege. Henkel gab bei der mündlichen Vernehmung an, daß er nach seinem Amtsantritt einige Verbesserungen auf der Säuglingsstation vorgenommen habe. Dazu gehörten unter anderem die Verlegung der Säuglingsstation in einen “schöner nach Süden gelegenen Raum“, das Anlegen von Gewichtskurven, sowie die gesonderte Unterbringung kranker Säuglinge.166 Die Wöchnerinnen blieben im allgemeinen zehn bis vierzehn Tage nach der Entbindung in der Klinik. Uneheliche Mütter wurden mit ihren Kindern dann meist für vier Wochen im „Säuglingsheim“ untergebracht. Dr. Müller, der Leiter des Säuglingsheims, berichtete, er habe im Zeitraum 1912 bis 1914 des öfteren “schlecht genährte, elende Kinder, die zum Teil stark wund waren“ aus der Frauenklinik übernommen.167 Erst nach einer Rücksprache mit 162 ebenda 163 ebenda 164 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 10, Rößle, R.: Pathologisches Gutachten vom 01.09.1915, Bl. 12 165 ebenda Bl. 14-17 166 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 2, Protokoll der öffentlichen Sitzung der Dienststrafkammer am 23.10.1917, Aussage von Max Henkel 167 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar 08.03.1917, Bl. 39 40 Henkel habe sich der Zustand der Kinder aus der Klinik gebessert. Im Rahmen der Untersuchung wurden verschiedene Ärzte vom Gericht beauftragt, eine Einschätzung über die Verhältnisse auf der Säuglingsstation und im Säuglingsheim abzugeben. Der Oberarzt der Hautklinik Bodo Spiethoff (1875-1948) erhielt den Auftrag, unangemeldet die Säuglingsabteilung zu besichtigen. Diese Inspektion fand am 10.04.1915 statt. Spiethoff konnte dabei keine groben Nachlässigkeiten feststellen. Er beanstandete jedoch die Unterbringung von jeweils zwei Kindern in einem Bett, was die Verbreitung infektiöser Erkrankungen begünstigte. Weiterhin hatte er den Eindruck, dem Pflegepersonal fehle es an pädiatrischer Schulung. Kritikwürdig war für ihn zudem, daß die Wassermann`sche Reaktion auf Lues nicht regelmäßig bei allen Schwangeren durchgeführt wurde.168 Mehr als diese Aussagen stützte allerdings die weit über dem allgemeinen Durchschnitt liegende Säuglingssterblichkeit den Vorwurf der mangelnden Pflege. Tabelle 4: Vergleich der Säuglingssterblichkeit bezogen auf 100 Lebendgeborene169 Totgeburten gestorbene Säuglinge Gesamt Universitätskliniken des Reiches 1908-1910 6,1 3,2 9,1 Bayrische Universitätskliniken 1911-1912 4,58 2,95 7,4 Jenaer Frauenklinik Franz 1907-1909 6,95 3,8 10,7 Jenaer Frauenklinik Henkel 1911-1914 9,03 8,2 16,5 Jenaer Frauenklinik Engelhorn 01.05.1915-31.12.1916 6,37 4,2 10,3 Auffällig war der deutliche Rückgang der Säuglingssterblichkeit unter der Leitung von Engelhorn, der die Frauenklinik während des Disziplinarverfahrens gegen Henkel leitete. Die Sachverständigen Hofmeier und Fehling konnten sich die Unterschiede der statistischen Zahlen nur so erklären, “dass entweder die Grundlagen der Statistiken verschieden sind, oder dass eben in Jena etwas andere Verhältnisse vorgelegen haben müssen, wie anders wo.“170 Hofmeier und Fehling schätzten den Einfluß des Direktors auf die kindliche Mortalität in den ersten Lebenstagen als äußerst fraglich ein. Selten sei die Säuglingssterblichkeit auf Pflegefehler, sondern meist auf Lebensschwäche, Mißbildungen, Lues und schwere Ge- 168 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9, Bl. 53, Schreiben von Bodo Spiethoff an die Verwaltungsdirektion vom 10.04.1915 169 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 41 170 ebenda 41 burtsverläufe zurückzuführen. Sie faßten ihr Urteil folgendermaßen zusammen: “Wenn also auch vielleicht zuzugeben ist, dass zeitweise infolge nicht genügender Achtsamkeit der betreffenden Wärterinnen die Säuglinge etwas weniger gut gepflegt wurden, als wie sie es hätten sein können, so scheint uns der generelle Vorwurf einer Mangelhaftigkeit der Säuglingspflege und einer besonderen dadurch erhöhten Sterblichkeit der Säuglinge in keiner Weise begründet.“171 Der Sachverständige Winter bezeichnete die Säuglingssterblichkeit zwar als ungebührlich hoch und nicht befriedigend, jedoch vertrat auch er den Standpunkt, daß ein direktes Verschulden des Direktors nicht nachzuweisen sei.172 Wenn auch die befragten gynäkologischen Sachverständigen Henkel von einer direkten Verantwortlichkeit freisprachen, so blieb doch die Frage unbeantwortet, ob es nicht seine Aufgabe als Klinikdirektor gewesen sei, die Ursachen der hohen Mortalität zu ermitteln und nach Möglichkeit zu beseitigen. Abschließend zu den Darlegungen zur Anklageschrift sei auf den Nachtrag zum Gutachten von Hofmeier und Fehling verwiesen.173 Dieser befaßte sich nicht unmittelbar mit den zu untersuchenden Vorwürfen, sondern stellte eine allgemeine Bewertung der ärztlichethischen Seite des Verfahrens dar. Das Großherzogliche Staatsministerium hatte um diese Stellungnahme auf Anregung der Medizinische Fakultät gebeten. Hofmeier und Fehling brachten zunächst ihr Unverständnis über die Geschehnisse in Jena zum Ausdruck, die zu dem gerichtlichen Vorgehen gegen Henkel geführt hatten. In Henkels Verhalten konnten sie keinen Verstoß gegen ärztlich-ethische Pflichten erblicken. Auch wenn der Angeschuldigte die Indikationen für operative Eingriffe oft sehr weit faßte, hätte er doch nie aus materiellen Beweggründen gehandelt. Beide beschrieben Henkel als “sanguinischen, lebhaften und strebsamen Charakter“, dessen ehrgeiziges Handeln zum Ziel hatte, seine Klinik zu Anerkennung und Ruhm zu führen.174 Wenn er sich dabei nicht immer an die allgemeingültigen Grenzen gehalten hatte, so entschuldigten sie dies mit seinem “etwas schwierigen Charakter“. 175 Auch die zahlreichen Auseinandersetzungen mit anderen Fakultätsmitgliedern und der häufige Wechsel der Assistenten seien darauf zurückzuführen. Besondere Bedeutung hatte für die Sachverständigen das Verhältnis zwischen Rößle und Henkel: “An einer Hochschule, wo der pathologische Anatom und der Kliniker miteinander persönlich gutstehen 171 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier, M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916, Bl. 37 172 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 43 173 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 13, Hofmeier, M., Fehling, H.: “Prüfung der ärztlich-ethischen Seite der Fragen und zwar vom allgemeinen ärztlichen Standpunkt aus“ 174 ebenda 175 ebenda 42 und wissenschaftlich miteinander zu arbeiten bestrebt sind, wären derartige Dinge, wie in Jena undenkbar.“176 Auch die Kollegialität innerhalb einer Medizinischen Fakultät gehörte ihrer Meinung nach zur ärztlich-ethischen Moral. Deshalb mißbilligten Hofmeier und Fehling die Art und Weise des Vorgehens gegen Henkel durch die Fakultätsmitglieder. Vom Standpunkt der Kollegialität aus ebenfalls verwerflich befanden sie das Verhalten des Pathologen Dürck, bei seinem Weggang von Jena einen Brief mit belastendem Material gegen Henkel zu hinterlegen. Auch die von den Assistenten geäußerte Kritik an Henkel hinsichtlich der Asepsis und Indikationsstellungen zu operativen Eingriffen sei nicht zu billigen, besonders weil sie zum Teil in der gleichen Art und Weise gehandelt hatten, die sie nun ihrem Chef zum Vorwurf machten.177 Engelhorn, dem Vertreter Henkels während seiner Beurlaubung als Direktor der Frauenklinik, hielten Hofmeier und Fehling mangelnde Neutralität in seinem Bericht über die Zustände in der Klinik bei Beginn seiner Tätigkeit vor. Beide Gutachter verurteilten eindeutig die Haltung der Kollegen und Mitarbeiter Henkels, ohne zu berücksichtigen, daß dieser ihr Verhalten provoziert haben könnte. Sie gingen auch nicht auf die Auseinandersetzungen ein, die bereits vor dem Verfahren zwischen Henkel und den Fakultätsmitgliedern bestanden hatten. Bei diesen waren alle Versuche, eine Klärung in persönlichen Gesprächen zu erreichen, an Henkels Unnachgiebigkeit gescheitert. So konnte beispielsweise der Streit mit Rößle über die Auslieferung des kindlichen Leichenmaterials nur durch eine Ministerialverfügung geregelt werden. Bedenklich erscheint die Meinung der Sachverständigen, Verstöße gegen die ärztliche Ethik würden nur dann vorliegen, wenn Henkel aus Gewinnsucht die Operationsindikationen so weit ausgedehnt hätte. Doch auch die Vornahme nicht notwendiger Operationen aus persönlichen Gründen, wie dem Wunsch nach Anerkennung und der Profilierung als Operateur, sind höchst unethisch, da hierbei das Wohl der Patienten in den Hintergrund gestellt wird. Dieses sollte aber das ärztliche Handeln bestimmen. Aus heutiger Sicht ist nicht zu klären, ob auch materielle Gründe eine Rolle für Henkel gespielt haben könnten. Es sei an die Privatabteilung Henkels erinnert, in der Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisierungen sehr häufig waren. Binswanger hatte die angegebenen psychiatrischen Indikationsstellungen zur Abtreibung in der Privatklinik als “geradezu ungeheuerlich“ bezeichnet.178 Die Häufung der seltenen Indikationsstellungen bei der Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen waren auch Hofmeier und 176 ebenda 177 ebenda 178 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14, Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 11 43 Fehling bei der Durchsicht der „Privatjournale“ von 1911 bis 1914 aufgefallen.179 In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage des Assistenten Lindig zu bedenken, Henkel habe nicht das geringste Interesse an den Kassenpatientinnen gezeigt.180 3.2.2. Das Urteil im Dienststrafverfahren Das Urteil der Dienststrafkammer wurde nach der Sitzung vom 23. bis 30. Oktober 1917 gesprochen. Es lautete: “Der Beschuldigte wird zur Strafversetzung verurteilt und hat die durch das Dienststrafverfahren entstandenen Auslagen zu erstatten.“181 Nachfolgend soll auf die Urteilsbegründung der Dienststrafkammer näher eingegangen werden. • Zum 1. Anklagepunkt Der Vorwurf der Vornahme blutiger Eingriffe ohne wissenschaftlich begründete Notwendigkeit wurde für das Gericht besonders durch Henkels Vorgehen bei den Schwangerschaftsabbrüchen bestätigt. Wenn es auch keine gesetzliche Grundlage für das ärztliche Recht zum Schwangerschaftsabbruch gab, so galt doch der Leitsatz, daß eine Abtreibung aus medizinischer Indikation erlaubt sei, wenn eine ernste gesundheitliche Gefahr für die Schwangere nicht anders abzuwenden war. Der Eingriff sollte nur nach vorheriger Beratung durch mehrere Ärzte erfolgen. Der Angeschuldigte hätte aber oft ohne Rücksicht auf das kindliche Leben bei Symptomen wie Neurasthenie, Unterernährung, Melancholie und Bleichsucht die Schwangerschaft vorzeitig beendet. Diese Krankheitszustände bedeuteten jedoch keine unmittelbare Gefahr für die Schwangere und seien somit wissenschaftlich nicht begründet gewesen. Das Gericht verwies auch auf Henkels Privatabteilung, wo die Indikationen “Ohnmachtsanfälle vor früherer Entbindung, Magenbeschwerden, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, allgemeine Mattigkeit und Schmerzen im Unterleib“ noch unberechtigter erschienen als in der staatlichen Klinik.182 Ebenso hätte der Beschuldigte sich oft leichtfertig auf die Diagnosen der behandelnden Hausärzte verlassen, ohne deren Indikationen für den Schwangerschaftsabbruch einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Dadurch sei Henkel “zum Handlanger des oft nur aus Mitleid und Rücksicht auf persönliche Wün- 179 UAJ Bst. L Nr. 442 a, Hofmeier M., Fehling, H.: Gutachten, Würzburg 10.02.1916, Strassburg 11.02.1916, Bl. 20-21 180 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 9, Bl. 106, Zeugenaussage von Dr. Lindig, Vaux les mouron, 19.07.1915 181 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 1: Urteilsbegründung der Dienststrafkammer Weimar vom 13.11.1917, Bl. 1 182 ebenda, Bl. 13 44 sche zum Abortus neigenden Hausarztes“ geworden.183 Selbst bei der anerkannten Indikation Lungentuberkulose hatte Henkel nachweislich in Fällen operiert, in denen die Erkrankung gar nicht vorlag. Zudem wurde in Jena im Gegensatz zu anderen Kliniken die Schwangerschaft häufiger mittels Totalexstirpation abgebrochen. Als unzulässig bewertete das Gericht den Abbruch der Schwangerschaft aus sozialen und eugenischen Gründen, so geschehen in den Fällen von Frau E. und Frau M. Wenn auch der Angeschuldigte zum Zeitpunkt der Operation von Frau M. beurlaubt war, so zeige die Handlungsweise der Assistenten in dessen Abwesenheit, welcher “Geist“ an der Klinik vorherrschte. Ein “Geist“, der durch Henkels “ungehemmte Bevorzugung des blutigen Verfahrens“ und seine “übergreifenden, regellosen Anzeigenstellungen zur Schwangerschaftsunterbrechung und zur Kastration“ charakterisiert sei.184 Die häufigen Totalexstirpationen, Adnexoperationen, abdominalen Kaiserschnitte und Zangengeburten waren für das Gericht der Beweis für Henkels “Leidenschaft für radikale Operationen“. 185 Auch ein anerkannter und geschickter Operateur wie Henkel sei ethischen und wissenschaftlichen Grenzen unterworfen. Die zahlreichen Todesfälle nach operativen Eingriffen hätten es aus Rücksichtnahme auf das Leben seiner Patientinnen geboten, weniger radikale Operationsmethoden zu wählen. Das Gericht kam zu dem Schluß, Henkel habe nachweislich in der staatlichen sowie in der privaten Klinik ungesetzliche Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, indem er “den persönlichen Abtreibungswünschen gebärunlüstiger Mütter von nah und fern nichts weniger als unzugänglich war“.186 Nach Ansicht des Gerichts lag hier ein Vergehen im Sinne des Strafrechts vor: “Diese Mißbilligung fusst nicht auf den strengeren Anschauungen der neusten Zeit, die die Erhaltung des keimenden Lebens zu einer Pflicht gegen die Allgemeinheit und die Zukunft unseres Vaterlandes machen, sondern auf der durch §§ 218, 219, 54 Str.G.B. gegebenen Rechtslage.“187 • Zum 2. Anklagepunkt Der Vorwurf der unsorgfältigen Ausführung einzelner Eingriffe, besonders das Auftreten von Kunstfehlern und mangelhafter Asepsis, war für das Gericht auf Grund des Mangels eindeutiger Beweise nicht aufrecht zu erhalten. Die Beschuldigungen stützten sich fast aus- 183 ebenda 184 ebenda, Bl. 12 185 ebenda, Bl. 5 186 ebenda, Bl. 16 187 ebenda 45 schließlich auf die Darstellungen der Pathologen Dürck und Rößle. Die Sektionsprotokolle zeigten zwar eine erhöhte Sterblichkeit durch postoperative Infektionen, vergessene Tupfer, undichte Nähte und Nebenverletzungen, das Gericht gab jedoch zu bedenken, daß nicht die einzelnen Handlungen, sondern das Gesamtverhalten des Angeschuldigten Gegenstand des Dienststrafverfahrens seien.188 Die Sachverständigen Hofmeier und Fehling hatten in ihrem Gutachten bereits auf die Schwierigkeit einer nachträglichen objektiven Beurteilung der einzelnen Fälle hingewiesen. Zudem waren viele der beanstandeten Operationen von Assistenten Henkels ausgeführt worden. Es sollte einem Klinikdirektor jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn er seinen Assistenten die “Gelegenheit zur operativen Fortbildung gab“.189 Bei den von Henkel selbst vorgenommenen Operationen war nach Ansicht des Gerichts zu berücksichtigen, “dass auch dem gewandtesten Operateur das Missgeschick einer ungewollten Nebenverletzung mit der Folge tödlichen Ausgangs begegnen kann, um so mehr er sich wie hier vielfach auch mit guten Erfolgen - an die schwierigsten Aufgaben wagt.“190 Was die Handhabung der Asepsis durch Henkel betraf, konnte ihm in keinem der Fälle mit hinreichender Sicherheit fahrlässiges Verhalten nachgewiesen werden. Selbst die Assistenten Lindig, Kaufmann, Zweifel und von der Heyde, die Henkels Tätigkeit kritisch gegenüber standen, hatten keine Verstöße gegen die Regeln der Asepsis feststellen können. 191 Das Gericht lehnte es deshalb ab, auf Grund einiger weniger negativer Aussagen von Assistenten sowie den Beobachtungen der Pathologen den Vorwurf der Fahrlässigkeit zu begründen.192 • Zum 3. Anklagepunkt Im “Fall F.“ war für das Gericht das Vorliegen von Pflichtverletzungen durch den Angeschuldigten in mehreren Punkten zweifelsfrei erwiesen. Der radikale operative Eingriff der Totalexstirpation des schwangeren Uterus sei nicht berechtigt gewesen. Henkel hatte auf den bloßen Verdacht einer Tuberkulose operiert, ohne den von Dr. Kaufmann erhobenen negativen Lungenbefund zu berücksichtigen. In seiner Verteidigung hatte Henkel zudem widersprüchliche Aussagen zu Protokoll gegeben. Zunächst gab er an, die Indikationsstellung allein auf den Brief des Dr. Langhans gestützt zu haben. Später sagte er aus, er habe Frau F. vor der Operation mehrmals gründlich untersucht. Die schwerwie- 188 ebenda, Bl. 17 189 ebenda 190 ebenda 191 ebenda, Bl.18 192 ebenda 46 gendste Pflichtverletzung beging Henkel allerdings, als er den ungeöffneten Uterus in Formalinlösung werfen ließ. Als Geburtshelfer hätte er an der Uterusgröße die Lebensfähigkeit der Frucht erkennen müssen. Überdies war zuvor von Dr. Kaufmann bei der Untersuchung von Frau F. der achte Schwangerschaftsmonat festgestellt worden. Henkels Irrtum könne auch nicht mit der ungeteilten Aufmerksamkeit des Operateurs auf den Eingriff entschuldigt werden. Die Frage der Lebensfähigkeit des Kindes hätte vor allen anderen Dingen berücksichtigt werden müssen. Henkel durfte unter keinen Umständen “die Technik über den Patienten und über das Leben stellen“.193 • Zum 4. Anklagepunkt Auch in diesem, die nachlässige Behandlung Leidender und die Verletzung der ärztlichen Ethik betreffenden Anklagepunkt, befand das Gericht Henkel für schuldig. Im konkreten Falle der an Eklampsie verstorbenen Frau R. brachte das Gericht seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß Henkel gegenüber Lindig die abwartende Haltung angeordnet hatte, “obwohl bis dahin in der Frauenklinik immer das aktive, rasche Verfahren angewandt und von dem Beschuldigten auch in seinen Vorlesungen als das souveräne empfohlen worden war“.194 Eindeutige Mißbilligung äußerte das Gericht an Henkels Verhalten, als der Prinz zu Lippe im Operationssaal weilte. Schon die Anwesenheit eines medizinischen Laien bei einem Eingriff an den weiblichen Geschlechtsorganen erschien dem Gericht tadelnswert. Noch schwerwiegender war jedoch der Umstand, daß Henkel eine gänzlich unvorbereitete Patientin zur Operation bestimmte. Dies war nach Überzeugung des Gerichts nur deshalb geschehen, weil Henkel vor dem Prinzen seine Geschicklichkeit demonstrieren wollte. Für das Gericht stand fest, daß die Operation an Frau R. “eine strafgesetzliche Körperverletzung“ darstellte.195 Nur ein akuter lebensbedrohlicher Zustand der Patientin hätte ein Vorgehen dieser Art gerechtfertigt. Ein solcher hatte aber nachweislich nicht bestanden. Das Gericht kam deshalb zu dem Schluß, daß der Tod der Patientin vermeidbar gewesen sei: “Der Beschuldigte hat sich der Frau R. gegenüber aber nicht von solchen humanen Rücksichten und Erwägungen der Rettung ihres Lebens, sondern lediglich von dem eitlen Drange leiten lassen, dem prinzlichen Zuschauer seine bewunderten Kunstleistungen rasch noch an einem 193 ebenda, Bl. 21 194 ebenda, Bl. 22-23 195 ebenda, Bl. 25 47 weiteren Falle zu zeigen.“196 Darin sah das Gericht “die schwerste Verletzung seiner Dienstverpflichtungen“.197 Auch die Grenzüberschreitungen Henkels auf andere Fachgebiete, für die stellvertretend das Schicksal der Patientinnen Frau P. und Frau K. näher untersucht worden waren, stützten die Beschuldigung der Nachlässigkeit in der Krankenbehandlung. Der chirurgische Sachverständige Prof. Lexer hatte in beiden Fällen die von Henkel ausgeführten Eingriffe als nicht berechtigt erklärt.198 Bei Frau P. war durch den Beschuldigten an die Entfernung des Uterus eine Magenoperation angeschlossen worden, deren ungenügende Ausführung den Tod der Patientin durch Peritonitis zur Folge gehabt hatte. Bei Frau K. erfolgte die Laparotomie wegen dem Verdacht auf einen bösartigen Ovarialtumor. Intraoperativ stellte sich dann ein Dickdarmkrebs dar. Anstatt die Bauchhöhle zu verschließen oder einen Chirurgen zu Rate zu ziehen, habe Henkel eine unsachgemäße Dickdarmresektion vorgenommen, in deren Folge die Patientin an einer Peritonitis verstarb. Für kritikwürdig befand das Gericht auch die mangelhaft geführten Krankengeschichten der Frauenklinik, die nach Ansicht des Chirurgen Lexer “eines wissenschaftlichen Institutes unwürdig“ seien.199 Henkel hätte seine Assistenten zu größerer Sorgfalt bei der Erstellung der Krankengeschichten anhalten müssen. Ebenso wäre es seine Aufgabe gewesen, Richtlinien für die Indikationsstellungen für operative Eingriffe insbesondere für die Schwangerschaftsabbrüche vorzugeben. Zudem hätte der Angeschuldigte den fachlichen Dialog mit den Pathologen Dürck und Rößle nicht ablehnen dürfen. Seine offenkundige “persönliche Teilnahmslosigkeit“ gegenüber der Sektionstätigkeit der Pathologen sei schließlich als der Beginn des späteren Zerwürfnisses mit Rößle zu bewerten.200 196 ebenda, Bl. 26 197 ebenda 198 ebenda, Bl. 27 199 ebenda, Bl. 28 200 ebenda 48 • Zum 5. Anklagepunkt Für die Vorwurf der mangelnden Säuglingsfürsorge hatte die Verhandlung keinen genügenden Beweis erbringen können. Die befragten Sachverständigen waren alle der Ansicht, “dass dem Beschuldigten aus dem ungünstigeren Säuglingsstande seiner Amtsführung kein Vorwurf zu machen sei.“201 Das einstimmige Urteil der Gutachter und die Tatsache, daß Henkel bei seinem Amtsantritt einige Verbesserungen auf der Neugeborenenstation vorgenommen hatte, berechtigten nach Ansicht des Gerichts nicht zur Verurteilung Henkels wegen ungenügender Säuglingsfürsorge. Eine Verurteilung Henkels zur Strafversetzung erfolgte somit wegen Verletzung der Dienstpflichten in den Anklagepunkten eins, drei und vier nach dem Staatsbeamtengesetz. In diesen Punkten hatte Henkels Handeln als Staatsbeamter Anlaß zu begründeter Kritik von gleichgestellten Berufsgenossen sowie von Assistenten gegeben. Deshalb stand für das Gericht außer Frage, “dass nicht nur das ganze an der Frauenklinik unter ihm eingerissene herrschende System beseitigt werden muss, sondern er selbst auch dort unhaltbar ist“.202 Das Verhängen einer bloßen Ordnungsstrafe, wie einer Geldbuße oder Besoldungsminderung war für das Gericht zu milde und ohne Wirkung auf die Einstellung des Beschuldigten, da dieser nach wie vor bestritt, sich pflichtwidrig verhalten zu haben. Die von der Staatsanwaltschaft geforderte Verurteilung zur Dienstentsetzung bedeutete dagegen die Auflösung des Dienstverhältnisses mit Verlust des Titels und des Anspruchs auf Besoldung. Dies erschien dem Gericht wiederum als unangemessen hart, weil Henkel “trotz der verhandelten Dienstverfehlungen noch zahlreiche Verehrerinnen seiner ärztlichen Tätigkeit und lobende Freunde“ besaß.203 Deshalb entschied sich das Gericht zur Strafversetzung Henkels nach § 61 des Staatsbeamtengesetzes. Dieser beinhaltete die “Versetzung in ein anderes Amt, das der Berufsausbildung des Staatsbeamten entspricht, aber dem bisherigen Amt an Rang und Besoldung nachstehen kann.“204 201 ebenda, Bl. 29 202 ebenda, Bl. 31 203 ebenda, Bl. 32 204 Staatsbeamtengesetz für das Großherzogtum Sachsen vom 21. Juni 1909, Druck der Weimarischen Zeitung, Weimar 1909, § 61 49 3.2.3. Reaktionen auf das Urteil der Dienststrafkammer 3.2.3.1. Die Berufungsrechtfertigungen von Staatsanwaltschaft und Verteidigung Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung legten gegen das Urteil der Dienststrafkammer am 26.11.1917 Berufung ein.205 Die Staatsanwaltschaft beanstandete die Verurteilung zur Strafversetzung statt zu der von ihr geforderten Dienstentsetzung. Der Angeklagte habe sich nachweislich der Amtsverletzung schuldig gemacht und darüber hinaus auch gegen das Strafgesetz verstoßen. So hatte die Dienststrafkammer die Operation von Frau R. im Beisein des Prinzen als “strafgesetzliche Körperverletzung“ bezeichnet, und besonders die Schwangerschaftsabbrüche in der Privatpraxis als Verstöße gegen die §§ 218, 219 und 54 des Strafgesetzbuches gewertet. Deshalb sei nach Ansicht der Staatsanwaltschaft die Verurteilung auf Strafversetzung als Strafmaß unzureichend und nicht mit der Schwere der festgestellten Amtspflichtverletzungen vereinbar. Ebenso sei die Begründung nicht zu rechtfertigen, die “zahlreichen Verehrerinnen“ und “lobenden Freunde“ hätten den Gerichtshof abgehalten, auf Dienstentsetzung zu erkennen. Schließlich würden auch die Reaktionen in der Presse, besonders die der Ärzteschaft unterstreichen, daß der Angeklagte nicht mehr das Vertrauen und die Achtung genießt, die für die Stellung eines Staatsbeamten erforderlich seien. Zweifel an Henkels ärztlicher Tätigkeit blieben deshalb auch nach seiner Strafversetzung bestehen. 206 Der Verteidiger Henkels, der Rechtsanwalt Dr. Lütgebumme, beanstandete das Urteil, “sowohl wegen der Schuldfrage als auch wegen der Straffrage“ und forderte von der Dienststrafkammer den Freispruch des Angeklagten und Erstattung der Auslagen des Verfahrens durch die Staatskasse.207 Die Verteidigung lehnte die Verurteilung Henkels wegen der Vornahme von Operationen ohne genügende wissenschaftlich begründete Notwendigkeit entschieden ab. Die ärztliche Tätigkeit des Beschuldigten war nach Ansicht der Verteidigung überhaupt nicht Gegenstand des Disziplinarverfahrens, welches ausschließlich die Bewertung des Verhaltens als Klinikdirektor beinhaltete. Die Behandlungsweise seiner Patienten und die Operationsmethoden seien “seine Privatsache“. Dies gelte in besonderem Maße für die Privatklinik Henkels. Allerdings habe sich der Angeklagte auch hier in keiner Weise schuldig gemacht. Beweise für 205 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 3 u. 4 206 ebenda, Ziff. 4: Berufungsrechtfertigung der Staatsanwaltschaft, Weimar, 26.11.1917 50 die Notwendigkeit aller von Henkel durchgeführten Eingriffe, einschließlich der Fälle der Patientinnen Frau F. und Frau R., sowie der Übergriffe auf chirurgisches Fachgebiet, behielt sich die Verteidigung für eine erneute Verhandlung vor. 208 3.2.3.2. Die Reaktionen in der Presse Die Diskussionen zum Fall Henkel fanden ihren Ausdruck in zahllosen Zeitungsartikeln während und nach dem Prozeß. Viele Tageszeitungen wie das Berliner Tageblatt oder die Frankfurter Zeitung berichteten regelmäßig aus dem Gerichtssaal über den Verhandlungsverlauf. 209 So wurde man dem großen Interesse der Öffentlichkeit an den Ereignissen in Jena gerecht und regte auch innerhalb der Ärzteschaft zu vielen Diskussionen an. Die Redaktion des Berliner Tageblattes wandte sich zum Beispiel nach dem Urteilsspruch mit der Bitte um eine Stellungnahme an einige Ärzte, unter ihnen der Vorsitzende des Ehrengerichts in Berlin Sanitätsrat Albert Moll (1862-1935). Da die Berichte über den Verhandlungsverlauf das Bild von der Ärzteschaft in einem negativen Licht erscheinen lassen mußten, sollten die Beiträge der Klärung offener Fragen dienen. Diese Stellungnahme erschien im November 1917 unter dem Titel “Die Gewissensfrage - Ethische und ärztliche Folgerungen aus dem Prozeß Henkel“210 Moll äußerte sich darin kritisch zum formalen Verlauf des Verfahrens. Wenn Henkel wissenschaftlich nicht begründbare Operationen durchgeführt, die Gesundheit seiner Patientinnen durch mangelhafte Asepsis fahrlässig gefährdet und keimendes Leben ohne hinreichende Indikation vernichtet hatte, so seien dies strafbare Handlungen und fielen unter das Strafgesetz. Deshalb stellte Moll die Frage: “Weshalb ist Henkel nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden?“211 Hebammen und praktische Ärzte würden schließlich auch strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie Fruchtabtreibungen ohne ausreichende Indikation vornahmen. Moll kritisierte die seiner Ansicht nach zu milde Vorgehensweise gegen Henkel: “Gerade wir Ärzte haben ein Interesse daran, unseren Stand rein zu erhalten, und dazu gehört, dass Universitätsprofessoren mit dem selben Maße gemessen werden, wie der gewöhnliche praktische Arzt.“212 “Sozial-hygienische“ Gründe als Rechtfertigung zur Abtreibung lehnte Moll entschieden ab: “Weder der Umstand, daß eine kranke Nachkommenschaft zu erwarten ist, noch die Annahme, daß die wirtschaftlich elen- 207 ebenda, Ziff. 3: Berufungsrechtfertigung Henkels durch den Rechtsanwalt Dr. Lütgebumme, Weimar, 26.11.1917 208 ebenda 209 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 19: Pressestimmen zur Dienststrafsache Henkel 210 Berliner Tageblatt Nr. 564 4.11.1917: Die Gewissensfrage. Ethische und ärztliche Folgerungen aus dem Prozeß Henkel 211 ebenda 51 den Verhältnisse einer guten Erziehung und Ernährung entgegenstehen, berechtigt den Arzt zum künstlichen Abort.“213 Die Verletzung des Berufsgeheimnisses durch Henkel bei der Vornahme einer Operation in Anwesenheit eines medizinischen Laien wie dem Prinzen zur Lippe sei nicht nur vom strafrechtlichen, sondern auch vom ethischen Standpunkt zu verurteilen. Der dem Arzt anvertraute Patient sei schließlich “kein Demonstrationsobjekt zur Neugier für andere, mag der Zuschauende ein Prinz oder ein Schneeschipper sein“.214 Eine ähnliche Grundhaltung wurde in einem Artikel eines unbekannten Autors im “Ärztlichen Vereinsblatt für Deutschland“ deutlich.215 Der Autor wollte nicht die rein „operativtechnischen“ Fragen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen rücken, “denn hier sind die besonderen Umstände des Einzelfalles maßgebend und muß der Individualität des Operateurs unbedingt Spielraum gelassen werden“.216 So wäre auch die Kritik an etwaigen Grenzüberschreitungen auf andere Fachgebiete nichts weiter als “bedauerliche Zünftelei“, da “Selbstvertrauen, Kühnheit und Entschlußfähigkeit“ für den Fortschritt in der Medizin, insbesondere in der Chirurgie, unerläßliche Voraussetzungen seien.217 Vielmehr gab aber Henkels Auffassung von der ärztlichen Tätigkeit Anlaß zu Bedenken. Hier sah der Autor auch den “Angelpunkt im Fall Henkel“, denn für jeden Arzt, auch den talentiertesten Operateur, seien Pflichtgefühl und Gewissenhaftigkeit das oberste Gebot.218 Henkel habe, wie im Verfahren deutlich geworden war, wiederholt gegen die ärztliche Ethik verstoßen und “sich durch sein Verhalten der Hochachtung nicht würdig gezeigt, die gerade der Beruf des Universitätslehrers, des Bildners der akademischen Jugend erfordert“.219 Im Unterschied zu manch “sonstigen Sensationsklagen“ gegen berühmte Ärzte, seien in diesem Fall die Anschuldigungen nicht von geschädigten Patienten, sondern von den ärztlichen Kollegen ausgegangen. 220 Dies stellte wiederum die Frage nach der Bedeutung der Kollegialität innerhalb der Ärzteschaft und der Wahrung der Standesehre. Der Autor vertrat die Meinung, daß die Jenaer Fakultätsmitglieder auf Grund ihres ärztlichen Berufsethos geradezu verpflichtet gewesen seien, die Mißstände anzuprangern und nicht zu beschönigen oder gar zu decken: “Das Wohl der Kranken ist das höhere Gesetz, und es bildet folgerichtig auch die Grenze für alle Standesrücksichten und -vorurteile!“221 Um so verwunderlicher seien die großen 212 ebenda 213 ebenda 214 ebenda 215 Ärztliches Vereinsblatt für Deutschland Nr. 1150 23.11.1917, S. 363-366: Ein Nachwort zum Prozeß Henkel 216 ebenda, S. 363 217 ebenda, S. 364 218 ebenda 219 ebenda 220 ebenda, S. 365 221 ebenda 52 Unterschiede bei der Bewertung von Henkels ärztlicher Tätigkeit durch die einzelnen Sachverständigen während des Verfahrens. Die Gutachter seien schließlich die Vertreter der herrschenden Meinung und Lehre. Ihr Standpunkt stehe deshalb besonders im Zentrum des öffentlichen Interesses “als reiner Ausdruck der Wissenschaft und ärztlichen Sitte“.222 Als Beispiel führte der Autor die Frage nach der Berechtigung der sozialen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch an, die in der Fachliteratur fast einmütig abgelehnt würde. Eine besonders strenge Auffassung sei durch einen der Sachverständigen in der Fachpresse vertreten worden.223 Dagegen habe dieser bei seinem Ordinariatskollegen Henkel weniger strenge Maßstäbe bei der Bewertung angelegt, wie die häufige Verwendung von “vielleicht“ und “möglich, dass“ in seinen gutachterlichen Äußerungen zum Ausdruck brächte.224 Für den Autor stand hingegen fest: “Wo sollten wir auch hinkommen, wenn wir Ärzte mit der Kürette in der Hand praktische Eugenik treiben und die soziale Frage lösen wollten.“ 225 Auch der Ausspruch eines anderen Sachverständigen, daß “gesunde Säuglinge auch im Dreck gesund bleiben“ riefe im Zeitalter der “höchstgesteigerten Säuglingsfürsorge“ Bedenken hervor und dürfte innerhalb der geburtshilflichen Wissenschaft nicht viel Zuspruch finden.226 Ebenso sei es nicht nur “ungewöhnlich“, sondern auch “ungehörig“, für einen medizinischen Laien den Operationssaal zur Schaubühne machen zu wollen und aus diesem Grund eine unvorbereitete Patientin zu operieren.227 Selbst an den operativen Fähigkeiten Henkels blieben auf Grund des pathologischen Gutachtens Zweifel bestehen. Es sei jedoch zu berücksichtigen, daß dem Pathologen nicht die Rolle des Richters über den klinisch tätigen Arzt zustünde. Der Autor gab abschließend seiner Überzeugung Ausdruck, daß die Auswirkungen des Prozesses auf die Ärzteschaft noch lange anhalten würden, da viele Bereiche des ärztlichen Lebens unmittelbar durch das Verfahren betroffen waren. Eine Berliner Tageszeitung lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die durch das Urteil entstandene “überaus eigenartige Rechtslage“.228 Eine Strafversetzung Henkels sei nämlich praktisch gar nicht ausführbar, weil im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach nur Jena über eine Universität verfügte und somit gar keine gleichwertige Stelle vorhanden war. Zudem hätte sich das Disziplinarverfahren ausschließlich gegen Henkel als Direktor der Universitätsfrauenklinik gerichtet, da er nur in seiner Eigenschaft als Leiter einer staat- 222 ebenda, S. 366 223 Der Autor verweist auf Winter, G.: Die Einschränkung des künstlichen Aborts, Zbl. f. Gyn., H. 1, 1917 (d. A.) 224 ebenda, S. 366 225 ebenda 226 Der Autor verweist auf eine Aussage des Direktors der Würzburger Frauenklinik Prof. Max Hofmeier, der als Sachverständiger zur Säuglingssterblichkeit befragt worden war. (d. A.) 227 ebenda 228 BZ am Mittag Nr, 256 31.10.1917: Nachklänge zum Henkel-Prozeß. Die rechtliche Lage. 53 lichen Klinik dem Staatsbeamtengesetz unterworfen sei. Seine Stellung als ordentlicher Professor für Gynäkologie blieb ihm folglich erhalten. Es war ihm jedoch nicht möglich, seinen Lehrberuf auszuüben, da ihm das Lehrmaterial durch die Sperrung der Frauenklinik entzogen worden war. Das Urteil konnte also überhaupt nicht rechtskräftig werden und zeigte die Inkonsequenz des Gerichts gegenüber einem so hohen Beamten wie dem Direktor einer Universitätsklinik. Auch die Volkszeitung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach sah einen Widerspruch gegeben zwischen den in der Urteilsbegründung festgestellten “schweren Verfehlungen und verwerflichen Handlungen“ und der “großen Milde des Urteils“.229 Wichtiger als das Strafmaß war für die Volkszeitung jedoch, “daß die maßgebenden Stellen sich durch die zutage geförderten Zustände verpflichtet fühlen, sofort Vorkehrungen zu treffen, die eine Wiederholung so peinlicher Prozesse mit Sicherheit unmöglich machen. Nur so wird das Vertrauen zur Frauenklinik wieder zu heben sein.“230 Im Gegensatz zu den vielen kritischen Beiträgen zum Dienststrafverfahren stellte sich die Jenaer Lokalpresse hinter Henkel. Im Jenaer Volksblatt erschien nach der Verurteilung Henkels zur Strafversetzung eine Anzeige, die Aufsehen erregte. Es handelte sich um eine “Vertrauenskundgebung“ für Henkel, die von einer “großen Anzahl dankbarer Patientinnen“ initiiert worden war.231 Darin wurde betont, daß die erhobenen Vorwürfe gegen Henkel ein “völlig entstelltes Bild“ seiner ärztlichen Tätigkeit wiedergegeben hätten. Henkel habe sich stets durch Verantwortungsbewußtsein und ethische Moral ausgezeichnet. Privat- wie auch Kassenpatientinnen sei seine “umsichtige und aufopfernde Behandlung“ in gleichem Maße zuteil geworden. Durch seine ärztliche Geschicklichkeit habe er vielen Frauen das Leben gerettet und genieße deshalb das vollste Vertrauen seiner ehemaligen Patientinnen. Die Anzeige endete mit dem Aufruf an Patientinnen Henkels, sich dieser Kundgebung durch eine “Beistimmungserklärung“ anzuschließen.232 Daraufhin berichtete die Jenaische Zeitung am 22.01.1918, daß „laut amtlicher Beglaubigung schon weit über dreihundert ehemalige Patientinnen“ Henkel ihr Vertrauen ausgesprochen hatten und die Zahl der „Beitrittserklärungen“ stetig zunehme.233 229 Volkszeitung Nr. 256 31.10.1917: Prozeß gegen den Frauenarzt Prof. Henkel. Das Urteil. 230 ebenda 231 Jenaer Volksblatt Nr. 11 13.01.1918:Vertrauenskundgebung für Herrn Prof. Henkel, Jena. 232 ebenda 233 Jenaische Zeitung Nr. 18 22.01.1918 54 3.3. Das Berufungsverfahren 3.3.1. Verhandlungsverlauf Die mündliche Verhandlung des Berufungsverfahrens fand am Thüringischen Oberverwaltungsgericht in Jena vom 17. bis 20. Juli 1918 statt. Sie endete mit dem Freispruch Henkels von allen Vorwürfen. Das angefochtene Urteil wurde aufgehoben und die Auslagen des Verfahrens der Großherzoglichen Staatskasse zur Last gelegt.234 Die erneute Untersuchung des Falles Henkel erstreckte sich nur noch auf die Anklagepunkte, die im Verfahren der ersten Instanz zum Schuldspruch geführt hatten. Die Vorwürfe der mangelhaften Asepsis und Säuglingsfürsorge waren nun nicht mehr Gegenstand der Verhandlung. In seiner Urteilsbegründung ging das Oberverwaltungsgericht zunächst auf die Berufungsrechtfertigungen von Staatsanwalt und Verteidigung ein. Es wies den Vorwurf der Verteidigung entschieden zurück, die ärztliche Tätigkeit eines Klinikdirektors würde nicht unter die Dienststrafgewalt fallen. Schließlich sei die Krankenbehandlung die Hauptaufgabe der Landesheilanstalten und erst an zweiter Stelle folge Forschung und Lehre für die Universität: “Im Großherzogtum Sachsen üben demnach die Direktoren der Universitätskliniken die klinische ärztliche Tätigkeit wie die übrigen klinischen Ärzte in ihrer Eigenschaft als Staatsbeamte aus. Daher untersteht sie wie ihre sonstige amtliche Tätigkeit der Dienststrafgewalt.“ 235 Für das Berufungsverfahren hatte die Verteidigung die Zulassung eines weiteren Gutachters beantragt. Beauftragt wurde der Direktor der Universitätsfrauenklinik Berlin, der Geheime Medizinalrat Professor Ernst Bumm. Sein umfassendes Gutachten vom Mai 1918 beschäftigte sich nochmals mit den Anklagepunkten der Durchführung von nicht indizierten Operationen, der nachlässigen Krankenbehandlung und der mangelnden Rücksichtnahme auf das „keimende Leben“. Die Darlegungen Bumms hatten einen bedeutenden Anteil am späteren Freispruch Henkels. Die Staatsanwaltschaft äußerte Bedenken gegenüber Bumms Gutachten, weil sie befürchtete, das Gericht würde diesem mehr Bedeutung beimessen als den Darlegungen der anderen Sachverständigen. Das Gericht sah hingegen keinen Grund für Zweifel an der Objektivität des Gutachtens des Berliner Gynäkologen und stellte fest: “Das Gericht hält es für ausgeschlossen, daß der Sachverständige durch eine voreingenommene Ansicht über das Verhalten der übrigen Fakultätsmitglieder bewogen worden sein könnte, in 234 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Urteil des ThOVG Jena vom 24.07.1918, S. 1 235 ebenda, S. 4 55 den gynäkologischen Fragen eine andere Ansicht mit der Autorität seines Namens zu decken, als wie sie seiner wirklichen wissenschaftlichen Überzeugung entspricht“.236 Als Besonderheit des Berufungsverfahrens ist zu erwähnen, daß Henkel als Angeklagter der einzige gynäkologische Sachverständige war, der zu fachlichen Fragen Stellung während der Verhandlung nehmen konnte. Das Gutachten Bumms lag dem Gericht nur in schriftlicher Form vor. Dieser Umstand könnte möglicherweise die Urteilsfindung beeinflußt haben. Die Ergebnisse der Ermittlungen im Berufungsverfahren, die von der Verteidigung neu erbrachten Beweismittel und Zeugen, sowie die Darlegungen Bumms führten schließlich zu einer anderen Einschätzung der Geschehnisse im “Fall Henkel“ durch das Oberverwaltungsgericht Jena. Dem Vorwurf der Durchführung von Operationen ohne genügend wissenschaftliche Notwendigkeit wurde durch das Berufungsgericht widersprochen. Alle diesbezüglichen belastenden Zeugenaussagen hielt das Gericht für nicht beweiskräftig, da es sich um “persönliche Eindrücke und subjektive Ansichten“ von Assistenten handelte, die “mit dem Beschuldigten nicht gutgestanden“ hatten.237 Selbst die Beobachtungen der Pathologen Dürck und Rößle, die sich auf die Sektionsbefunde stützten, erschienen dem Berufungsgericht nicht ausreichend objektiv, da sie “infolge ihrer geringen Meinung von der Gewissenhaftigkeit und Persönlichkeit des Beschuldigten leichter geneigt waren, aus dem ihnen vorliegenden Material ungünstige Schlüsse zu ziehen“.238 Zudem hielt das Gericht es für unzulässig, sich bei der Beurteilung der Operationstätigkeit des Beschuldigten allein auf die “Leichenbefunde“ zu stützen, die “anerkanntermaßen eine höchst unsichere sachliche Unterlage für ein Urteil über die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der vom Arzte gewählten Behandlungsweise sind“.239 Die gutachterlichen Äußerungen Bumms waren schließlich ausschlaggebend für die Beurteilung durch das Berufungsgericht. Bumm betonte zunächst, daß auch für ihn von der allgemein ärztlich-ethischen Seite zweifelsfrei feststand: “Es ist verwerflich, Operationen unnötig aus Sucht nach Erwerb, zur Schaustellung technischer Fertigkeiten, zum Zwecke klinischer Demonstrationen, zur Erlangung wissenschaftlicher Präparate oder statistischer Zahlenreihen vorzunehmen.“240 Er verwies in seinen Ausführungen weiterhin darauf, daß die Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in den letzten Jahrzehnten deutlich gelockert worden waren. Dies träfe besonders auf die medizinische Indikation zu. Dagegen galten die 236 ebenda, S. 6 237 ebenda, S. 21-22 238 ebenda, S. 23 239 ebenda 240 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 16, Bumm, E.: Gutachten, Berlin, 30.05.1918, Bl. 1 56 soziale und eugenische Anzeigenstellung, die immer öfter in Publikationen befürwortet wurden, weiterhin aus ärztlicher Sichtweise als nicht vertretbar. Die Berechtigung zum Schwangerschaftsabbruch sei jedoch nicht mehr ausschließlich bei direkter Lebensgefahr der Mutter gegeben, sondern auch dann, wenn die Schwangerschaft eine mütterliche Erkrankung verschlimmern oder zum Ausbruch bringen würde. Dabei entscheide die ärztliche Erfahrung, ob sich eine Schwangerschaft negativ auf die Gesundheit der Frau auswirken könne. Die Schwierigkeiten der objektiven gutachterlichen Beurteilung lagen für Bumm in der “Dehnbarkeit und Unbestimmtheit jeder ärztlichen Anzeigenstellung zu operativen Eingriffen“. 241 Die Anzahl von 54 Schwangerschaftsabbrüchen in der Jenenser Frauenklinik innerhalb von fünf Jahren gaben Bumm keinen Anlaß für Bedenken an der Richtigkeit Indikationsstellungen. Ein Durchschnitt von zehn künstlichen Aborten im Jahr würde auch in der Berliner Universitätsklinik erreicht. Ein Vergleich zwischen beiden Kliniken wäre aber irreführend und deshalb unzulässig, weil Berlin über zahlreiche Privatkliniken und öffentliche Krankenhäuser verfügte, in denen ebenfalls Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen wurden. Die Gesamtzahl sei somit um vieles höher als in Jena. Eine weitere Schwierigkeit für die Beurteilung der einzelnen Fälle sah Bumm in den ungenügend geführten Krankenblättern. Doch auch dieser Umstand erfuhr letztlich eine positive Bewertung durch den Berliner Gynäkologen: “Die manchmal oberflächliche und kurze Begründung der Jenenser Krankenblätter spricht eher dafür, daß man in Jena überhaupt keine Zweifel an der Richtigkeit der Indikationsstellung gehabt hat“.242 Bei allen Fällen von Schwangerschaftsabbrüchen, die von den anderen Gutachtern beanstandet worden waren, kam Bumm zu dem Ergebnis, die operativen Eingriffe seien wissenschaftlich begründbar gewesen. Er berief sich auf die Glaubwürdigkeit Henkels, der versichert hatte, daß bei jedem dieser Fälle der Zustand der Patientin den Eingriff erforderlich gemacht habe. So blieben noch die Fälle, bei denen die Indikationsstellung zweifelsfrei nicht wissenschaftlich und juristisch anerkannt war. Es handelte sich um die Patientinnen Frau M. und Frau E., bei denen der Schwangerschaftsabbruch und die Sterilisierung aus sozialer und eugenischer Indikation erfolgt waren. Bumm konnte kein direktes Verschulden Henkels feststellen, da beide Eingriffe von Assistenten ausgeführt worden waren. Henkel selbst hatte ausgesagt, er habe noch nie aus rassehygienischen Gründen eine Schwangerschaft abgebrochen. Diese beiden Fälle und ein weiterer, bei dem die Begründung zum künstlichen Abort “Krampfadern“ lautete, bezeichnete Bumm als “nicht ganz aufgeklärte Ausnahmen“.243 Diese änderten jedoch 241 ebenda, Bl. 3 242 ebenda, Bl. 9-10 243 ebenda, Bl. 21 57 nichts an seiner Überzeugung, Henkel sei bei der Anzeigenstellung zum künstlichen Abort stets nach den wissenschaftlichen Grundlagen vorgegangen. Die 47 Schwangerschaftsabbrüche in der Privatklinik Henkels innerhalb von fünf Jahren erschienen auch Bumm beträchtlich hoch, doch eine eingehende Beurteilung sei wegen dem häufigen Fehlen von Begründungen in den Krankenblättern nicht möglich. Dies dürfe Henkel jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, weil die Abläufe in der Privatklinik eben andere seien als in einer staatlichen Krankenanstalt. In der Privatabteilung erfolge die stationäre Aufnahme der Patientin zumeist erst nach der Indikationsstellung zur Operation. Somit entfielen klinische Beobachtungszeiten und die Frauen wurden oft am Tag nach der Aufnahme operiert. Henkel habe zudem bei den beanstandeten Fällen aus seiner Privatpraxis nachträglich die Belege für die Notwendigkeit der Eingriffe geliefert. Die Verteidigung hatte zunächst Einspruch gegen die Verwendung der Fälle der Privatpraxis im Verfahren erhoben.244 Dem Einspruch war durch das Berufungsgericht allerdings nicht entsprochen worden, da auch diese Fälle zur “Charakterisierung und Beleuchtung des amtlichen Verhaltens des Beschuldigten“ dienten und deshalb das Strafmaß beeinflussen konnten.245 Im Urteil der ersten Instanz waren 20 Schwangerschaftsabbrüche in der Privatabteilung für unberechtigt befunden worden. Als Grundlage hatte dem Disziplinargericht das Gutachten des Psychiaters Otto Binswanger vorgelegen. Dieses Gutachten sei nun nicht mehr maßgebend für das Berufungsverfahren, weil Henkel nachträglich Ergänzungen und weitere Unterlagen für sein Vorgehen eingebracht hatte. Diese belegten, daß in allen 20 Fällen die vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft erforderlich gewesen war, weil medizinische Gründe wie „Fruchttod“, „Lungenleiden“ oder „perniziöse Blutarmut“ vorgelegen hatten. Dagegen hatte Binswanger auf Grund der Eintragungen in den Krankenblättern annehmen müssen, daß aus Gründen wie “Schmerzen im Leib“, “Mattigkeit“, “Erbrechen“, “Neurasthenie“ und ähnlichem in der Privatklinik der künstliche Abort ausgeführt wurde.246 Anlaß für Zweifel gaben auch nach eingehender Prüfung durch das Berufungsgericht zwei Fälle aus der Privatpraxis Henkels. Auch diese Tatsache hielt das Berufungsgericht jedoch für entschuldbar, da sich alle anderen Fälle zugunsten des Angeklagten aufgeklärt hatten. So nahm das Gericht an, “daß der Beschuldigte auch hier mindestens gutgläubig gehandelt hat“.247 244 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 3: Berufungsrechtfertigung Henkels durch den Rechtsanwalt Dr. Lütgebumme, Weimar, 26.11.1917 245 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Urteil des ThOVG Jena vom 24.07.1918, S. 50 246 ebenda, S. 51 247 ebenda, S. 57 58 Nachdem Bumm die Indikationsstellungen Henkels zum Schwangerschaftsabbruch in seinem Gutachten als durchweg berechtigt gewertet hatte, wandte er sich der Frage zu, ob die häufig gleichzeitig erfolgte Unfruchtbarmachung mittels Tubensterilisation oder Uterusexstirpation angezeigt gewesen sei. Er bezeichnete zunächst die einfache Entleerung des Uterus als unkomplizierteste und ungefährlichste Methode, die deshalb am häufigsten zur Anwendung kam. Oft brachte dieser Eingriff aber nur zeitweiligen Erfolg, da bald erneute Schwangerschaften eintraten. Aus diesem Grund wurde die zusätzliche Sterilisierung durchgeführt, wenn eine Erkrankung vorlag, die bei einer neuen Schwangerschaft zu ernsthafter Gesundheitsschädigung der Frau führen würde. Noch sorgfältiger war nach Ansicht Bumms mit der Indikationsstellung zur Ausschneidung des schwangeren Uterus und der Adnexe zu verfahren, da es sich dabei um einen größeren und für die Mutter nicht ungefährlichen Eingriff handelte. Ausgesprochen gute Erfolge hätte die Operationsmethode bei Schwangeren mit fortgeschrittener Lungentuberkulose erbracht. Hier sei es zur Ausheilung schwerer tuberkulöser Lungenherde gekommen. Dies war wahrscheinlich auf die Verhinderung von größeren Blutverlusten, wie sie sonst beim Abort und im Wochenbett auftraten, zurückzuführen. Zudem wurde ein günstiger Effekt auf den Stoffwechsel durch die Ausschaltung der Ovarialfunktion angenommen. Bumm begrüßte ausdrücklich die Entwicklung zu dieser radikaleren Methode bei fortgeschrittener Lungentuberkulose. Er betonte jedoch, daß sie auf Grund der Größe des Eingriffs nur sorgfältig ausgewählten Fällen vorbehalten sein sollte. Bumm vertrat wie schon der Sachverständige Winter die Ansicht, daß bei der Entscheidung zur Sterilisierung die sozialen Verhältnisse der Frau durchaus berücksichtigt werden sollten. 248 Er betonte, daß die Meinungen der Gynäkologen auch bei der Frage der Anzeigenstellung zur Sterilisierung geteilt waren. Deshalb sei Henkel nur dann ein berechtigter Vorwurf zu machen, wenn im Einzelfall nachgewiesen werden könne, daß der Eingriff “leichtfertig und nicht zu Heilzwecken geschah“.249 Es verwundert nicht, wenn Bumm nach Durchsicht der einzelnen Fälle dem Beschuldigten keine Verfehlungen vorwerfen konnte. Obwohl die Krankenakten oft wenig Informationen enthielten, ging Bumm davon aus, daß “Gründe vorlagen, oder als vorliegend angenommen werden durften, die in Rücksicht auf die Erhaltung der mütterlichen Gesundheit die Sterilisation resp. Exstirpation der inneren Genitalien für angezeigt halten ließen“.250 248 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 16, Bumm, E.: Gutachten, Berlin, 30.05.1918, Bl.23 249 ebenda, Bl. 25 250 ebenda, Bl. 26 59 Weiterhin bedurften die Fälle einer erneuten Begutachtung, bei denen die Totalexstirpation in einem weit vorangeschrittenem Schwangerschaftsalter durchgeführt worden war. Weil in den drei zur Debatte stehenden Fällen von der Lebensfähigkeit der Frucht zum Zeitpunkt der Beendigung der Schwangerschaft ausgegangen werden mußte, sprach Bumm in diesem Zusammenhang nicht vom künstlichen Abort sondern von künstlicher Frühgeburt. Diese sei ein anerkanntes Entbindungsverfahren bei Beckenenge und schweren Erkrankungen von Herz, Niere oder Lunge. Auch Myome oder Karzinome konnten eine Exstirpation des schwangeren Uterus erforderlich machen. In den drei beanstandeten Fällen hatte der Beschuldigte den Eingriff wegen dem Vorliegen eines tuberkulösen Lungenleidens vorgenommen. Bumm vertrat zwar wie die Mehrzahl der Geburtshelfer den Standpunkt, daß bei Tuberkulose eine Unterbrechung in der Spätschwangerschaft zwecklos sei. Der Blutverlust und die Anstrengung für die Frau bei künstlicher Entleerung des Uterus seien in diesem Stadium die gleichen wie bei der spontanen Geburt am Schwangerschaftsende. Die Totalexstirpation des Uterus im späten Schwangerschaftsalter bewertete Bumm jedoch als berechtigten letzten Ausweg bei sehr elenden und schwachen Frauen. Der Gesundheitszustand der drei Patientinnen, zu denen auch Frau F. gehörte, sei ein solcher gewesen. Deshalb hielt Bumm das Vorgehen des Beschuldigten als letzten Versuch der Rettung der Frauen für zulässig. Auch wenn zwei der Patientinnen postoperativ an ihrem schweren Lungenleiden verstorben waren, hatte Henkel im Interesse der Kranken gehandelt. Anders sei die Sachlage bei der Patientin F., die an den Folgen der Operation verstorben war. Die Sektion hatte das Vorliegen einer Lungentuberkulose nicht bestätigen können. Der Eingriff war somit unnötigerweise erfolgt. Eine medizinische Diagnose würde sich aber nicht immer auf objektive Befunde stützen und Irrtümer können jedem klinisch tätigem Arzt unterlaufen: “Man kann den Arzt aber dafür nicht zur Rechenschaft ziehen, daß sein Wissen und Können Stückwerk ist. Das gilt auch in dem Falle F.“251 Bumm betonte, daß bei der Exstirpation eines hochschwangeren Uterus in jedem Fall die Herausnahme der Frucht zu erfolgen habe. Im Regelfall sollte dies aus Rücksicht auf das Leben der Frucht sofort nach Freilegen des Uterus mittels Bauchschnitt geschehen. Ein Abweichen von diesem Grundsatz sei nur bei sicherem Fruchttod zu rechtfertigen. Die Sachverständigen Hofmeier und Fehling hatten bei der Untersuchung des exstirpierten Uterus jedoch zweifelsfrei festgestellt, daß es sich um eine lebensfähige Frucht gehandelt haben mußte. Deshalb wäre es Henkels Pflicht gewesen, den Uterus selbst zu eröffnen oder dies einem der Assistenten aufzutragen. Auch Bumm warf den Assistenten Pflichtverletzungen vor, weil diese Henkel nicht auf die von ihnen wahrge- 251 ebenda, Bl. 31 60 nommenen Bewegungen im Uterus hingewiesen hatten: “Man muß einen Operateur bedauern, der gezwungen ist, mit Assistenten zu arbeiten, die ein Versehen oder einen Fehler zwar bemerken, sich darüber entrüsten, aber ihm nichts davon sagen und ihm nachträglich alle Verantwortung aufbürden.“252 Diese Äußerung Bumms verdeutlichte erneut das Bestreben, Henkels Verhalten auch dann zu verteidigen, wenn offensichtliches Fehlverhalten vorlag. Henkel sei eben ein Vertreter der Gynäkologie, welcher “alles Heil von der Operation erwartet“.253 Dieses aktive Behandlungsprinzip würde mehr als jedes andere nach Erfolg und Mißerfolg bewertet. Die Fälle von unglücklichen Operationsausgängen waren im Gerichtsverfahren zum Gegenstand der Untersuchung geworden. Bumm sah einen großen Fehler des Prozesses in dieser Einseitigkeit der Betrachtungsweise, die durch die Berichte der Tageszeitungen gestützt wurde. So sei das Bild des “rücksichtslosen Draufgängers“ entstanden, der ohne ärztliche Moral handelte. 254 Dabei habe man unberücksichtigt gelassen, daß Henkel vielen Patientinnen zur Heilung verholfen hatte, indem er sich auch in scheinbar aussichtslosen Fällen zur Operation entschloß. Scharfe Kritik übte Bumm an den Universitätskollegen Henkels, durch die es überhaupt zu der Strafanzeige und dem folgenden gerichtlichen Verfahren gekommen war. Er verurteilte das Fehlen jeglicher kollegialer Gesinnung, besonders bei den Pathologen Dürck und Rößle. Die Kollegialität innerhalb der Ärzteschaft war seiner Meinung nach essentiell, um der “Unsicherheit und Unvollkommenheit alles ärztlichen Tuns“ gerecht zu werden.255 Letztlich rehabilitierte Bumm seinen Fach- und Amtskollegen Henkel vollständig mit seinem Gutachten. Das Oberverwaltungsgericht schloß sich dieser Auffassung an. Die Vorwürfe aus dem Dienststrafverfahren wurden auf einige wenige kritische Beanstandungen reduziert, die aber nach Ansicht des Gerichts nur “bloße Nachlässigkeiten in der Verrichtung der Dienstgeschäfte“ darstellten.256 Dabei handelte es sich im wesentlichen um den künstlichen Abort aus eugenischen Gründen bei Frau E., drei Fälle von Schwangerschaftsabbrüchen bei fraglicher Tuberkulose, sowie die Unterlassung der Eröffnung der exstirpierten Uteri bei Frau F. und Frau B. Ein Dienstvergehen läge aber nur dann vor, wenn der Beamte nicht “getreu nach besten Wissen und Gewissen gehandelt oder sich der Achtung, die seine Stellung erfordert, nicht würdig gezeigt hat“.257 Dabei solle das Gesamtverhalten des Beamten als Bewertungsmaßstab dienen, denn gelegentliche „Flüchtigkeiten“ seien noch 252 ebenda, Bl. 33 253 ebenda, Bl. 44 254 ebenda, Bl. 45 255 ebenda, Bl. 5 256 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Urteil des ThOVG Jena vom 24.07.1918, S. 65 61 kein Dienstvergehen. Der Beschuldigte sei ein „Mann von ausgeprägtem Selbstbewußtsein, ungewöhnlich früh in eine leitende Stellung berufen und dadurch zu einer gewissen Selbstherrlichkeit gekommen“.258 Auch wenn der Charakter Henkels und sein „schroffes abweisendes Wesen“ ihn wenig geneigt machten, sich nach den Anschauungen seiner Fachkollegen oder der herrschenden Meinung zu richten, hatte das Oberverwaltungsgericht keine berufswidrige Auffassung von der ärztlichen Tätigkeit feststellen können.259 Vielmehr hatte das Gericht den Eindruck gewonnen, „daß der Beschuldigte ein Mann ist, der von der sozialen Bedeutung seines Berufes und der hohen Bedeutung gerade seiner Aufgabe durchdrungen ist, und seine ganze Kraft für eine gute Ausübung seines Amtes eingesetzt hat“.260 Es war deshalb zu der Überzeugung gelangt, daß kein förmliches Dienstvergehen aus den beanstandeten „Nachlässigkeiten“ abzuleiten sei.261 3.3.2. Die Reaktionen auf den Freispruch 3.3.2.1. Die Haltung der Medizinischen Fakultät Jena Die Medizinische Fakultät reagierte auf den Freispruch Henkels mit einem Schreiben an das Großherzogliche Sächsische Staatsministerium in Weimar, in dem sie sich gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aussprach. Die Professoren der Psychiatrie Otto Binswanger (1852-1929), der Inneren Medizin Roderich Stintzig (1854-1933), der Anatomie Friedrich Maurer (1859-1936), der Augenheilkunde Wolfgang Stock (1874-1956), der Chirurgie Erich Lexer (1867-1937), der Pathologie Robert Rößle (1876-1956), der Hygiene Rudolf Abel (1868-1942), der Kinderheilkunde Jussuf Ibrahim (1877-1953) und der Physiologie Wilhelm Biedermann (1852-1929) waren nach wie vor von den ärztlichen Verfehlungen Henkels überzeugt. Sie bedauerten, daß keiner von ihnen während des Berufungsverfahrens als Sachverständiger zu den Anklagepunkten gehört worden war. Trotz des Freispruchs hielten die Mitglieder der Medizinischen Fakultät an ihrer Meinung fest, Professor Henkel sei weder für die Leitung einer Klinik noch für die akademische Lehre geeignet.262 257 ebenda 258 ebenda, S. 69 259 ebenda 260 ebenda, S. 70-71 261 ebenda, S. 67 262 UAJ Bst. C Nr. 383, Schreiben der Mitglieder der Med. Fak. Jena an das Großh. S. Staatsminist., Dep. d. K. Weimar vom 28.07.1918 62 Der Gerichtsmediziner Ernst Giese, der im Februar 1915 als Bezirksarzt Anzeige gegen Henkel erstattet hatte, veröffentlichte mit Zustimmung der medizinischen Fakultät in der Münchener Medizinischen Wochenschrift einen ausführlichen Aufsatz über den Prozeßverlauf. 263 Der Ärztestand sollte über die Hintergründe der Ereignisse in Jena informiert werden, da die Berichte der Tagespresse ein “schiefes Bild der ganzen Angelegenheit“ vermittelt hätten.264 Einleitend äußerte sich Giese über den Ablauf des Verfahrens, wobei er zunächst auf die auffallend lange Dauer vom Februar 1915 bis Juli 1918 verwies. Dies bedeutete einerseits für den Beschuldigten eine lange Zeit der Ungewißheit, andererseits erschwerte es die objektive Darstellung der Geschehnisse. Weiterhin gab Giese seiner Verwunderung darüber Ausdruck, daß gegen Henkel nicht wie üblich zunächst ein gerichtliches Strafverfahren eingeleitet worden war, bevor die Angelegenheit an die Dienststrafkammer verwiesen wurde. Die anfängliche strafrechtliche Untersuchung hatte sich nur auf die zwei tödlichen Fälle nach Spinalanästhesie beschränkt. Alle anderen Vorwürfe wie die Vornahme wissenschaftlich unbegründeter Operationen oder die ungenügende Schonung keimenden Lebens waren somit keiner Prüfung im Sinne des Strafrechts unterzogen worden. Ein weiterer Mangel des Verfahrens lag nach Ansicht Gieses im Fehlen von medizinischen Sachverständigen während der mündlichen Verhandlung der Berufungsinstanz. Henkel war somit als Angeklagter der einzige Sachverständige im Verhandlungssaal, der zu medizinischen Fragen Stellung nahm. Giese war bei den öffentlichen Sitzungen des Oberverwaltungsgerichts Jena zugegen gewesen. Er kritisierte besonders die ungenügende Berücksichtigung der ärztlich-ethischen Seite bei der Beurteilung des Verhaltens von Professor Henkel während des Disziplinarverfahrens. Dabei hatte die Medizinische Fakultät im Hinblick auf Henkels Amt als Universitätsprofessor die besondere Prüfung der ethischen Fragen beantragt. Das Oberverwaltungsgericht begründete den Freispruch damit, daß dem Beschuldigten nur Nachlässigkeiten und Säumnisse leichterer Art nachgewiesen werden konnten, die nicht den Tatbestand eines Dienstvergehens erfüllten. Giese gab seiner Überzeugung Ausdruck, jede Ärztekammer würde in den Verfehlungen mehr als bloße Flüchtigkeiten sehen. Wenn das Gericht Henkel vom Vorwurf der Vornahme unberechtigter Schwangerschaftsabbrüche entlastete, weil von insgesamt 98 Eingriffen in der staatlichen Klinik und der Privatabteilung nur fünf übrig blieben, die nicht gerechtfertigt erschienen, so sei dies vom ärztlich-ethischen Standpunkt falsch. Denn von jedem Arzt, insbesondere von einem Klinikleiter und akademischen Lehrer mußte gefordert werden, “dass das gesamte ärztliche Tun und Lassen sich 263 Giese, E.: Zum Prozeß Henkel, MMW Nr. 38 17.9.1918, S. 1053-1059 264 ebenda, S. 1053 63 als einwandfrei erweist.“265 Als weiteres Beispiel führte Giese den “Fall F.“ an. Für das Gericht war der Tatbestand der fahrlässigen Tötung nicht gegeben, da der Nachweis, daß die Frucht nach Absetzen des Uterus noch gelebt hatte, nicht erbracht werden konnte. Aus strafrechtlicher Sicht sei dies vertretbar, in ärztlich-ethischer Hinsicht jedoch nicht. Die ärztliche Pflicht hätte es Henkel geboten, bei dem vorliegenden weit fortgeschrittenen Schwangerschaftsalter den Uterus sofort zu eröffnen.266 Die richterliche Auffassung stand für Giese in deutlichem Widerspruch zu der “ärztlichen Denkweise“. Es sei bedauerlich, daß der ärztlich-ethischen Seite während des Verfahrens so wenig Rechnung getragen wurde: “Gerade bei der disziplinaren Beurteilung im Gegensatz zur rein strafrechtlichen hätte die ärztliche Ethik besondere Berücksichtigung verdient, wie es auch von Henkels Fakultätskollegen im Interesse der Würde des akademischen Lehramtes beantragt worden war.“267 Zum einen fehle es dem Gericht aber an ausreichendem Verständnis für die ärztlichen Gutachten, zum anderen hatte es sich im Berufungsverfahren nur auf Bumms Darlegungen gestützt, die Henkel in jeder Hinsicht entlasteten. Dagegen sei das “klare nüchterne Gutachten von Puppe fast gänzlich unbeachtet geblieben“.268 Giese kam zu dem Schluß, daß der Prozeß im Interesse der Ärzteschaft und des Volkswohls unvermeidlich gewesen sei, weil Denk- und Handlungsweisen wie die Henkels entschieden bekämpft werden mußten. Er schloß seinen Aufsatz mit den Worten: “Der Freispruch im Henkelprozeß ist für den Arzt ein Fehlspruch.“269 3.3.2.2. Henkels Erwiderung auf die Reaktion der Fakultät Auch Henkel nahm in der Münchener Medizinischen Wochenschrift in einer Erwiderung auf den Aufsatz Gieses zu den Ereignissen Stellung.270 Er warf Giese vor, sein Urteil ohne genaue Kenntnis der Aktenlage gefällt zu haben. So wäre es unrichtig, daß sich die strafrechtliche Voruntersuchung nur auf die beiden Fälle von Lumbalanästhesie beschränkt hätte. Der Staatsanwaltschaft habe das gesamte Material von Rößle vorgelegen. Sie konnte aber kein Vergehen im Sinne des Strafrechts feststellen, worauf die Einstellung des Verfahrens erfolgt sei. Henkel selbst habe daraufhin die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen sich beantragt. Ebenso würden die Aussagen Gieses über die Stellung der Sachver- 265 ebenda 266 ebenda, S. 1057 267 ebenda, S. 1059 268 ebenda 269 ebenda 270 Henkel, M.: Zum Prozeß Henkel. Erwiderung auf den gleichnamigen Aufsatz von Ernst Giese, MMW Nr. 43 1918, S. 1192-1196 64 ständigen in den Verfahren der ersten und zweiten Instanz nicht der Wahrheit entsprechen. Sämtliche Gutachten seien im Berufungsverfahren berücksichtigt worden. Zur mündlichen Verhandlung der zweiten Instanz war durch die Staatsanwaltschaft lediglich die Zulassung Binswangers als Sachverständigen für die ethischen und moralischen Fragen beantragt worden. Die Ablehnung Binswangers als Sachverständigen durch das Gericht hätte gezeigt, daß es sich für kompetent genug erachtete, über Ethik und Moral selbst zu entscheiden. Zudem lagen zu dieser Thematik die ausführlichen schriftlichen Darlegungen der Gutachter Hofmeier, Fehling, Beumer und Bumm vor. Henkel bemängelte in seinen Darlegungen, daß sich Giese fast ausschließlich auf die Zahlen Rößles gestützt hatte. Das belastende Sektionsmaterial habe jedoch der Nachprüfung während des Verfahrens nicht standhalten können. Überhaupt hätten die Beobachtungen Dürcks und Rößles nur auf Eindrücken beruht, nicht aber auf objektiven Beweisen. Dies galt besonders für die Fälle von zurückgelassenen Tupfern, Nebenverletzungen und Nachblutungen. Wiederholt sei in der Verhandlung nachgewiesen worden, daß es sich nicht um Verletzungen durch den Operateur, sondern durch den Obduzenten gehandelt hatte, oder daß absichtlich eingebrachte Tamponaden als vergessener Tupfer gedeutet wurden.271 Was den Vorwurf der Durchführung von Operationen ohne genügende wissenschaftliche Indikation betraf, so sprach Henkel Rößle und Giese jegliche fachliche Kompetenz ab, darüber zu urteilen. Henkel betonte, er habe die Indikationen stets nach seiner Überzeugung gestellt, basierend auf den über Jahre erworbenen Fachkenntnissen. Da Rößle als “Nichtfachmann“ im Auftrag des Ministeriums eine Statistik über die geburtshilflichen und gynäkologischen Indikationen anhand der beschlagnahmten Krankengeschichten und Operationsbücher erstellt hatte, sei ein verzerrtes Bild entstanden. Entschieden wandte sich Henkel auch gegen die Wertung Gieses über die gehäuften Zangenentbindungen in der Privatabteilung. Giese hatte den hohen Anteil der Zangengeburten von 61% als Verstoß gegen den ärztlich-ethischen Grundsatz gewertet, nur bei dem Vorliegen einer entsprechenden Indikation einen operativen Eingriff vorzunehmen. Henkel gab zu bedenken, daß es sich bei diesen Patientinnen meist um komplizierte Geburtsverläufe gehandelt habe, die deshalb zur Entbindung in die Privatklinik überwiesen worden waren. Aus diesem Grund sei seiner Meinung nach der Vergleich zwischen dem “privaten Material“ und den klinischen Zahlen anderer Fachkollegen nicht zulässig und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen Gieses falsch.272 271 ebenda, S. 5-6 272 ebenda, S. 8 65 Zur Problematik der Schwangerschaftsabbrüche gab Henkel an, den Eingriff nur beim Vorliegen sachlicher Gründe vorgenommen zu haben. Er könne nicht nachvollziehen, wie Giese ihm aus dieser Auffassung den Vorwurf der ungenügenden Berücksichtigung der strafrechtlichen Seite des künstlichen Aborts machen konnte. Er habe ausschließlich bei Lebensgefahr oder drohender schwerer Gesundheitsschädigung der Mutter operiert: “Denn welches persönliche Interesse sollte der Klinikleiter daran haben, irgend einer Frau die Schwangerschaft aus anderen als ärztlichen Gründen zu beseitigen?! Die technische Seite kann ihn nicht reizen, denn meist nimmt er den Eingriff nicht einmal selbst vor.“273 Henkel betonte, daß für ihn das Leben der Mutter bei der Entscheidung zum künstlichen Abort immer im Vordergrund gestanden habe. Dieser Grundsatz schien aber bei einigen ärztlichen Kollegen dem überwiegendem Interesse am Kind gewichen zu sein. Ob diese Auffassung richtig sei, müsse jedoch noch geprüft werden. Durch die großen Kriegsverluste gäbe es auch in der Ärzteschaft das Bestreben, durch Einschränkung der medizinischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch der Bevölkerungsabnahme entgegenzuwirken. Zu dieser neuen Entwicklung sollte sich aber jeder Kliniker nach Ansicht Henkels zunächst eine eigene Meinung bilden.274 Henkels Vorgehen bei Schwangerschaft und Tuberkulose habe auf jahrelanger ernster Arbeit auf diesem Gebiet basiert. Giese stünde auch in diesem Punkt das Amt des Richters nicht zu. Was den “Fall F.“ betraf, so versicherte Henkel, sein ärztliches Handeln sei nur von dem Wunsch, der schwerkranken Mutter zu helfen, bestimmt worden. Sämtliche Sachverständige hätten die Indikationsstellung und die technische Ausführung der Operation für vertretbar gehalten. Er verwies ausdrücklich auf die Meinung der Gutachter Winter und Bumm, welche die Verantwortung für die unterlassene Eröffnung des Uterus den anwesenden Assistenten zugesprochen hatten.275 Auch im Falle der “Prinzenoperation“ hätte Giese der Leserschaft ein falsches Bild vermittelt, indem er erklärte: “Trotz Unsicherheit eines Zeugen bleibt die eidliche Aussage mehrerer anderer Zeugen bestehen, dass an einer unvorbereiteten Patientin eine Schauoperation ausgeführt worden ist“.276 Dies bezeichnete Henkel als “grobe Unwahrheit“, weil im Verfahren der Nachweis nicht erbracht werden konnte, daß eine solche Operation überhaupt stattgefunden hatte. Er verwies zudem auf die Aussagen der Sachverständigen Hofmeier, Fehling, Bumm und Winter, die in der Zuziehung gebildeter Laien zu Operationen ebenfalls keinen Verstoß gegen die ärztliche Ethik erblickt hatten. 273 ebenda, S. 10 274 ebenda 275 ebenda, S. 12 276 ebenda, S. 13 66 Henkel kam am Ende seiner Darlegungen zu dem Schluß, der Aufsatz Gieses sei nur der Versuch der “Stimmungsmache“ gegen ihn innerhalb der Ärzteschaft und habe nichts mit sachlicher Kritik gemein. Giese hätte sich zunächst genauer mit allen Unterlagen befassen müssen, da sein Artikel sonst nur Verwirrung hervorriefe, statt zur Klärung der Ereignisse beizutragen.277 3.3.2.3. Reaktionen in der Fach- und Tagespresse auf den Freispruch Der Prozeßverlauf im Berufungsverfahren wurde mit ähnlich regem Interesse von der Fach- und Tagespresse verfolgt wie das Verfahren der ersten Instanz. Zum Beispiel berichtete das Berliner Tageblatt während der mündlichen Verhandlungen des Berufungsgerichts täglich aus dem Gerichtssaal.278 Daneben zeigen auch die zahlreichen Leserzuschriften und Diskussionsbeiträge von Ärzten, daß die Geschehnisse in Jena mit großem Interesse verfolgt wurden. In besonderem Maße beschäftigte sich die Lokalpresse mit der Bedeutung des Disziplinarverfahrens für die Jenaer Universität und die Bevölkerung. Zunächst bedeutete der Freispruch, daß Henkel sein Amt wieder ausüben durfte. Dies beinhaltete natürlich auch die erneute Zusammenarbeit mit den Assistenten und Fakultätsmitgliedern, die Henkel während des Prozesses belastet hatten. Die Volkszeitung des Großherzogtums Sachsen-Weimar- Eisenach sah es als zweifelhaft an, ob der Freispruch das bestehende angespannte Verhältnis zwischen Henkel und den Mitgliedern der Medizinischen Fakultät positiv beeinflussen könne. 279 Als “ungünstiges Vorzeichen“ wertete sie die Haltung der Medizinischen Fakultät, die auch nach dem Freispruch daran festhielt, daß das gerichtliche Vorgehen gegen Henkel berechtigt gewesen sei. So war nach Ansicht der Volkszeitung eher mit einer Verschärfung des Konfliktes zu rechnen. Da die Verhältnisse an der Jenaer Frauenklinik jedoch von großer Wichtigkeit für die Öffentlichkeit seien, schlußfolgerte die Volkszeitung: “Die beste Lösung dieses Wirrwarrs wäre nunmehr zweifellos ein freiwilliger Austritt Henkels aus seinem Amte, nachdem ihm durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts eine gewisse Genugtuung zuteil geworden ist.“280 Dies war nach Ansicht der Zeitung jedoch sehr unwahrscheinlich, was zum einen auf Henkels “Herrennatur“, zum anderen auf seine einträgliche Privatklinik innerhalb der staatlichen Klinik zurückzuführen sei. 277 ebenda 278 Berliner Tageblatt Nr. 361-366 17.7.1918-20.7.1918: Der neue Henkel-Prozeß. ebenda Nr. 367-368 20.7.1918-21.7.1918: Die Plaidoyers im Henkel-Prozeß. 279 Volkszeitung Nr. 183 7.8.1918 280 ebenda 67 Als der Ärzteverein Jena in einem Schreiben seinem Vorsitzenden Rößle auch nach dem Freispruch Henkels sein uneingeschränktes Vertrauen zusicherte, schrieb die Volkszeitung: “Damit haben sich außer der Fakultät der hiesigen Universität auch die gesamten Ärzte Jenas gegen Henkel erklärt.“281 Anders als die Volkszeitung, die den “Fall Henkel“ auf Grund der weiterhin bestehenden Spannungen innerhalb der Fakultät noch nicht für abgeschlossen erachtete, argumentierte das Jenaer Volksblatt. Es lobte die sachliche und gründliche Leitung der Verhandlung der zweiten Instanz, die schließlich alle Vorwürfe gegen Henkel als haltlos darstellen konnte. Das Jenaer Volksblatt resümierte: “So hat die Öffentlichkeit das Recht, nach dieser so eingehenden und vorbildlich gründlichen Verhandlung des Oberverwaltungsgerichts Jena auch ihrerseits die Akten über den Fall Henkel zu schließen.“282 Die Jenaer Lokalpresse begrüßte den Freispruch Henkels und die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als Direktor der Frauenklinik Jena. Bereits im Verfahren der ersten Instanz hatte die Lokalpresse versucht, Henkel durch die Veröffentlichung der Anzeige ehemaliger Patientinnen zu unterstützen. Als im Oktober 1918 das Wintersemester begann, ohne daß Henkel sein Amt wieder eingenommen hatte, veröffentlichte das Jenaer Volksblatt eine Zuschrift aus “akademischen Kreisen“.283 Darin wurde das Verhalten der Medizinischen Fakultät aber auch der Regierung kritisiert, die nach dem formalen Abschluß des Verfahrens “keine Schritte zur Rehabilitierung des zu Unrecht schwer in seinem ideellen und materiellen Interessen geschädigten Professor Henkel unternimmt“.284 Die Anschuldigungen gegen Henkel seien nicht nur auf rein sachlichen Fakten begründet gewesen, sondern durch “Hetze“ und “persönliche Gehässigkeit“ einzelner Fakultätsmitglieder entstanden. Das fehlende Interesse der Medizinischen Fakultät, Henkel zu unterstützen, war dem anonymen Autor des Briefes zutiefst unverständlich: “Sonst pflegen doch die Herren Professoren eifersüchtig über ihre Rechte zu wachen. Und hier, wo es sich um die Ehre und Existenz eines ihrer Kollegen handelt, rührt sich keine Hand.“285 Ähnliches war in der Volkszeitung im April 1919 zu lesen. Wiederum aus akademischen Kreisen war da zu erfahren, daß die “Henkel-Hetze“ innerhalb der Fakultät noch immer nicht zur Ruhe gekommen sei.286 Der Autor forderte sogar, daß die Medizinische Fakultät “diejenigen Mitglieder aus ihrer Mitte abstößt, welche als die wirklich Verurteilten des Henkelprozesses erwiesen worden sind.“287 Der Prozeß wurde als 281 ebenda Nr. 194 20.8.1918 282 Jenaer Volksblatt Nr. 176 30.7.1918: Das Urteil im Henkel-Prozeß 283 Jenaer Volksblatt Nr. 242 15.10.1918: Fragen zum Fall Henkel 284 ebenda 285 ebenda 286 Volkszeitung Nr. 89 15.4.1919: Zum Fall Henkel. Ein dringend gebotenes Schlußwort. 287 ebenda 68 wurde als versuchter “Justizmord an Prof. Henkel“ bezeichnet.288 Nach wie vor stand der Vorwurf des unkollegialen Verhaltens der Fakultät gegenüber Henkel im Zentrum der Diskussion. So entstand der Eindruck, daß darüber die fachlichen Fragen mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wurden. Immer wieder wurde in der Presse die Frage diskutiert, inwieweit der Pathologische Anatom berechtigt sei, über die Arbeit des Klinikers zu richten. Schließlich war es der Jenaer Pathologe Robert Rößle gewesen, der anhand des Sektionsmaterials die Anschuldigungen gegen Henkel erhoben hatte. Der Direktor des Pathologischen Institutes der Universität Berlin, der Geh. Rat Prof. Otto Lubarsch (1860-1933), äußerte sich nach dem Freispruch Henkels auf Anfrage der Vossischen Zeitung Berlin in einem Aufsatz zu dieser Problematik.289 Lubarsch betonte zunächst, daß seine Ausführungen zu diesem Thema keine Wertung im “Fall Henkel“ darstellten. Vielmehr habe er sich zum Ziel gesetzt, das Verhältnis des Pathologischen Anatomen zum behandelnden Arzt sachlich und auf der Grundlage von langjährigen persönlichen Erfahrungen zu erörtern. Der Pathologische Anatom nahm nach seiner Ansicht eine wichtige Stellung als Vermittler zwischen theoretischer und klinischer Medizin ein. Er sollte dem klinisch tätigen Arzt Helfer und Berater sein, ohne dabei die Grenzen seines Faches aus den Augen zu verlieren. Dabei sei besonders die Frage von Bedeutung, “inwieweit und für welche Fragen bilden die Leichenbefunde eine sachliche, objektive Unterlage und wo fängt auch beim Pathologen die persönliche (subjektive) und daher unsichere Deutung an?“290 Der Pathologische Anatom könne wie jeder andere Arzt menschlichen Irrtümern unterliegen, eben weil viele Zusammenhänge nicht einfach vom Leichenbefund abgelesen werden können, sondern durch vergleichende Betrachtungen und Überlegungen erschlossen werden müssen. Ohne Angaben zu Vorgeschichte, Diagnose und Krankheitsverlauf könne der Pathologe keine objektive Einschätzung vornehmen. Er ist deshalb auf die Mitarbeit des Klinikers und dessen Rat angewiesen. “Und selbst, wenn eine Häufung von Todesfällen bei Anwendung bestimmter Behandlungsweise eintritt, ist noch nicht ohne weiteres bewiesen, daß die Behandlungsweise die Ursache ist oder den Arzt ein fahrlässiges ethisches oder gar verbrecherisches Verschulden trifft.“291 Dies gelte in besonderem Maße für die Beurteilung von Operationen, deren Erfolg neben dem Können des Operateurs von vielen anderen Dingen, wie von der Qualität von Assistenten, Schwestern, Instrumenten oder der Zusammensetzung der Betäubungsmittel, abhängig sei. So wäre das Urteil des Pathologen stets subjektiv, da er nicht über das Wissen der genauen Umstände verfüge, die im 288 ebenda 289 Lubarsch, E.: Der pathologische Anatom, Vossische Zeitung Nr. 381 28.7.1918 290 ebenda 69 Einzelfall aber zu berücksichtigen seien. Lubarsch schlußfolgerte daraus, “daß der pathologische Anatom, je älter und erfahrener er wird, auch um so abgeneigter wird, auf Grund seines Sektionsmaterials ein Urteil über das Können eines Arztes und über die Folgen seiner Behandlungsmaßnahmen für Gesundheit und Leben abzugeben.“292 Nur bei ungewöhnlich großer Häufung von letalen Operationsverläufen sollte der Pathologe den Arzt darauf hinweisen. An den Strafrichter dürfe sich der Pathologische Anatom nur dann wenden, wenn er unter Berücksichtigung aller Umstände und im Einklang mit seinem ärztlichen Gewissen von der Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugt war. Abschließend erinnerte Lubarsch daran, daß gerade während des Dienststrafverfahrens der ersten Instanz viele Ärzte zu einer vorschnellen Verurteilung Henkels auf Grund der subjektiven Wahrnehmungen des Pathologen verleitet worden waren. Dies hätte zum einen Henkels Ansehen geschadet, zum anderen dem gesamten ärztlichen Stand und besonders den Hochschullehrern keinen Dienst erwiesen.293 4. Der “Fall Henkel“ und seine Einordnung in die damalige Zeit 4.1. Rechtliche Grundlagen der Schwangerschaftsunterbrechung und Sterilisierung Mit der Gründung des Deutschen Reiches und der ersten deutschen Reichsverfassung 1871 entstand auch das neue Reichsstrafgesetzbuch. Für die Abtreibung galten die Paragraphen 218, 219 und 220. 294 § 218: “Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder beigebracht hat.“ § 219: “Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.“ § 220: “Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen oder Willen vorsätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft. Ist durch die 291 ebenda 292 ebenda 293 ebenda 70 Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.“ Einzige anerkannte Indikation für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch war die medizinische bei Vorliegen einer akuten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren. Dies war zwar nicht im Strafgesetzbuch niedergeschrieben, galt aber als allgemeingültiger Rechtsgrundsatz unter Juristen und Medizinern. Lediglich der § 54 des Strafgesetzbuches, der sogenannte “Notstandsparagraph“, war für die Begründung einer straffreien Abtreibung anwendbar. Er besagte, daß keine strafbare Handlung vorlag, wenn die Tat “in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben des Täters oder eines Angehörigen“ begangen worden ist.295 Die Zunahme der Abtreibungen und die Abnahme der Geburtenzahl zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gaben Anlaß zu Diskussionen innerhalb der Ärzteschaft. Befürchtungen wurden laut, daß immer häufiger Schwangerschaftsabbrüche ohne zwingende medizinische Gründe durchgeführt wurden. Auf Grund von drei zu diesem Thema verfaßten Stellungnahmen, unter anderem von Bumm, hatte sich die erweiterte wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen in ihrer Sitzung vom 14. März 1916 auf folgende Leitsätze geeinigt: “1. Der Arzt darf nur aus medizinischen Indikationen die Schwangerschaft unterbrechen. Die Indikation darf nur dann als vorliegend erachtet werden, wenn bei der betreffenden Person infolge einer bereits bestehenden Erkrankung eine als unvermeidlich erwiesene, schwerste Gefahr für Leben oder Gesundheit vorhanden ist, die durch kein anderes Mittel als durch Unterbrechung der Schwangerschaft abgewendet werden kann. 2. Der Arzt ist nicht berechtigt, die Unterbrechung aus sozialen oder rassehygienischen Gründen vorzunehmen. Er würde durch eine solche Handlung einen Verstoß gegen das Strafgesetzbuch begehen. 3. Es empfiehlt sich, eine Schwangerschaftsunterbrechung nur auf Grund einer Beratung mehrerer Ärzte vorzunehmen. 4. Für durch Ärzte vorgenommene Unterbrechung der Schwangerschaft ist die Anzeigepflicht einzuführen.“296 294 Frank, R.: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 5.-7.Aufl. Tübingen 1908 295 ebenda 296Krohne: Die Frage der Zulässigkeit der Unterbrechung der Schwangerschaft vom Standpunkte der ärztlichen Wissenschaft und Berufsehre, Monatsschr. für Gebh. und Gyn. Bd. XLV. H. 1, Berlin 1917, S.67 71 Bis auf den Punkt vier beinhalteten diese Bestimmungen die bis dahin allgemein anerkannte Auffassung über die Vornahme des künstlichen Aborts. Damals begannen sich jedoch auch ärztliche Stimmen zu mehren, welche die soziale und eugenische Indikation zum Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung befürworteten. (siehe Kapitel 4.2.5.) Auch über die Einführung einer Anzeigepflicht waren die Meinungen geteilt. Die künstliche Sterilisierung war nach den Paragraphen 224 und 225 des Reichsstrafgesetzbuches als Körperverletzung zu bewerten. § 224: “Hat die Körperverletzung zur Folge, daß der Verletzte ein wichtiges Glied des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in Siechtum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis nicht unter einem Jahre zu erkennen.“ § 225: “War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist auf Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren zu erkennen.“297 4.2. Wissenschaftliche Stellungnahmen Henkels und seiner Fachkollegen Von besonderer Bedeutung in Bezug auf das Dienststrafverfahren gegen Max Henkel ist die Frage, ob und in welcher Art und Weise sich die in den Gutachten vertretenen Standpunkte der gynäkologischen Sachverständigen von ihren eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen unterschieden. Im folgenden wird deshalb dargestellt, wie sich die gynäkologischen Gutachter Bumm, Winter, Fehling und auch Henkel selbst in wissenschaftlichen Publikationen über die Problematik des künstlichen Aborts und der Sterilisierung äußerten. Ergänzend soll auch auf die Arbeiten des Berliner Frauenarztes Max Hirsch (1877-1948) eingegangen werden, der zum damaligen Zeitpunkt als der bekannteste deutsche Vertreter der eugenischen Indikation für Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung galt. 4.2.1. Ernst Bumm In einem Vortrag vor der Berliner geburtshilflich-gynäkologischen Gesellschaft, der in der Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie publiziert wurde, nahm der Direktor der Berliner Universitätsfrauenklinik am 25. Februar 1916 zum künstlichen Abort Stellung.298 297 Frank, R.: Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 5.-7.Aufl. Tübingen 1908 298 Bumm, E.: Zur Frage des künstlichen Abortus, Monatsschr. für Gebh. u. Gyn. Bd. XLIII, H. 5, Berlin 1916, S. 385-395 72 Er verwies auf die Ungenauigkeit des statistischen Materials zu dieser Thematik und der Notwendigkeit einer “brauchbaren Landesstatistik“, um wirksam gegen die Zunahme der künstlichen Aborte vorgehen zu können. Anhand der Zahlen der Berliner Universitätsfrauenklinik kam er zu dem Ergebnis, daß sich in den letzten Jahrzehnten die Zahl der Aborte bei gleichbleibender Schwangerschaftszahl verdoppelt habe und nun 20% betrug.299 Dabei seien nur etwa 5% der Aborte auf natürliche Ursachen zurückzuführen, “was darüber hinausgeht, ist künstlich erzeugt“.300 Der ausführlichste Teil des Vortrages beschäftigte sich mit der Frage der Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch durch den Arzt. Für Bumm gab es keinen Zweifel an der Berechtigung der medizinischen Indikation zum künstlichen Abort. Er führte diese Berechtigung jedoch nicht auf den Notstandsparagraphen, sondern auf das ärztliche Berufsrecht zurück, welches mit der Approbation vom Staat verliehen wurde. Ein approbierter Arzt war demzufolge berechtigt, den künstlichen Abort zur Rettung der Schwangeren aus einer bestehenden Lebensgefahr oder zur Verhinderung einer schweren Gesundheitsschädigung vorzunehmen.301 Lebensbedrohliche Erkrankungen während der Schwangerschaft seien besonders durch Stoffwechselstörungen begründet, die zu tödlichen Vergiftungen führen können. Aber auch bereits bestehende Leiden von Herz und Lunge konnten durch eine Schwangerschaft eine Verschlechterung erfahren. Zu den unbestrittenen medizinischen Indikationen zählte Bumm die perniziöse Anämie, die akute Leberatrophie, unstillbares Erbrechen, Chorea und nichtkompensierte Herzfehler, da bei diesen Erkrankungen schon häufig tödliche Verläufe während einer Schwangerschaft beobachtet worden waren. Diese schweren mütterlichen Erkrankungen traten jedoch sehr selten auf. Deshalb war nach Ansicht Bumms das Interesse verstärkt auf die große Zahl von Leiden zu richten, die durch eine Schwangerschaft erst ausgelöst oder ungünstig beeinflußt wurden. In diesen Fällen konnte der Schwangerschaftsabbruch zur Heilung oder zumindest zur Besserung des Leidens führen. Bumm erwähnte einige Beispiele wie die Sehnervendegeneration, Diabetes, Osteomalacie, Schwangerschaftsnephritis, Klappenfehler und Lungen- oder Kehlkopftuberkulose. Diese Erkrankungen konnten bei schwerer Ausprägung den raschen Verfall der Schwangeren bewirken. Sie erforderten deshalb ein schnelles Eingreifen, um eine irreversible Schädigung zu verhindern. Gleichzeitig warnte Bumm jedoch davor, Schwangerschaftsabbrüche bei nur geringfügigen Störungen, wie leichten Schwangerschaftstoxikosen, nervösen Störungen oder Spu- 299 ebenda, S. 386 300 ebenda, S. 388 301 ebenda 73 ren von Eiweiß im Urin vorzunehmen. Diese Erscheinungen würden “bei jeder zweiten Schwangerschaft vorkommen und von selbst wieder vergehen“.302 Die Unterscheidung zwischen diesen zweifelsohne unberechtigten Indikationen und denjenigen Fällen, die ein Eingreifen erforderten, sei jedoch nicht immer einfach und Irrtümer bei der Indikationsstellung nie auszuschließen. Aus diesem Grund sah es Bumm als das Wichtigste an, daß der Arzt nie aus Gründen des eigenen Vorteils, sondern stets nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohl des Patienten handelte. Für ausgeschlossen erachtete Bumm die soziale Indikationsstellung, weil Straffreiheit nur für die medizinische Indikation gegeben war. Er forderte eine strikte Trennung der sozialen von der medizinischen Indikation, um der Gefahr des Mißbrauchs entgegenzuwirken.303 Ähnliche Bedenken äußerte Bumm auch gegenüber der noch relativ neuen eugenischen Indikation. Zwar sei die Absicht, durch die Verhinderung kranker und “minderwertiger“ Nachkommenschaft der Gesellschaft zu dienen, ein „hoher Gedanke“, die praktische Verwirklichung war für Bumm jedoch ausgeschlossen.304 Bumm ging in seinem Vortrag auf die Indikationsstellungen in der Berliner Universitätsfrauenklinik im Zeitraum von Oktober 1910 bis Ende 1915 ein. In dieser Zeit waren 202 Frauen zum künstlichen Abort in die Berliner Klinik überwiesen worden. Bei 59 Frauen wurde der Eingriff letztendlich ausgeführt. In den anderen 143 Fällen war der Eingriff abgelehnt worden. Wegen Lungentuberkulose war hundertvierzigmal der Schwangerschaftsabbruch erbeten und in 34 Fällen auch ausgeführt worden. Die Lungentuberkulose stellte somit die häufigste Indikation zum Schwangerschaftsabbruch dar. Die Tatsache, daß in der großen Berliner Frauenklinik nur etwa zwölfmal im Jahr der künstliche Abort aus medizinischen Gründen durchgeführt wurde, war für Bumm ein Beweis für den geringen Anteil wissenschaftlich begründbaren Aborte an der Gesamtzahl der Fehlgeburten. Die Erfahrung hätte allerdings gezeigt, daß auch manche Ärzte die Indikation zum Abort recht weit stellten und “oft die medizinische Indikationsstellung nichts anderes ist als ein Vorwand zur glatten Abtreibung“.305 Bumm hielt jedoch an seiner Meinung fest, “die Zahl der unnötig durch Ärzte eingeleiteten Aborte für gering im Verhältnis zu der ungeheuren Zahl der von den Frauen selbst, von berufsmäßigen Abtreiberinnen und Hebammen bewerkstelligten Fehlgeburten zu halten“.306 302 ebenda, S. 390 303 ebenda 304 ebenda 305 ebenda, S. 392 306 ebenda 74 Trotzdem hielt er die Schaffung von Richtlinien für notwendig, um der Schädigung des Ansehens der Ärzteschaft durch eine zu “laxe“ Indikationsstellung bei der Frage des künstlichen Aborts durch einzelne Ärzte entgegenzuwirken. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle diesbezüglichen Versuche gescheitert, da die Meinungen der Ärzte hierüber zu weit auseinandergingen. Weitaus effektiver als die Aufstellung von Vorschriften schätzte Bumm den Appell an die moralischen und ethischen Werte der Ärzte und der Bevölkerung ein: “Solange der Arzt seinen Beruf nur als Erwerbsquelle und die Frau die Mutterschaft nur als eine vegetative Funktion ihres Körpers ansieht, fehlt jede Hemmung und man darf sich nicht wundern, wenn dem Drängen des Publikums mehr als billig nachgegeben wird und die Aborte aus nichtigen Indikationen sich häufen.“307 Dies bedeutete für Bumm, daß die “Heiligkeit“ und das “Ideal“ der Mutterschaft wieder verstärkt propagiert werden mußte, da sich in den vergangenen Jahrzehnten die “Furcht vor der Schwangerschaft und dem Kindergebären“ wie eine “geistige Epidemie“ in der Bevölkerung verbreitet habe.308 Eine Änderung dieser Einstellung erhoffte er sich von dem seit zwei Jahren herrschenden Krieg und dem damit verbundenem Rückgang der Bevölkerungszahl. Hinsichtlich der Kontrolle der ärztlichen Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs erschien Bumm die Anzeigepflicht für jeden künstlichen Abort nach einem vorgeschriebenen Formular am wirkungsvollsten. Auf diese Weise sei es möglich Ärzte zur Rede zu stellen, bei denen die Häufigkeit der durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche Anlaß zu Bedenken gab. Doch langfristigen Erfolg versprach nur ein Wandel der Ansichten zur Abtreibung in der Ärzteschaft und der Bevölkerung. Solange dies nicht erreicht war, würden auch Vorschriften und Gesetze die Zahl der unnötigen Unterbrechungen nicht verringern. Die Überzeugung, daß die eigentliche Ursache des Geburtenrückgangs und der Zunahme der künstlichen Aborte der fehlende Wille der Bevölkerung zur Fortpflanzung sei, brachte Bumm auch in seiner Antrittsrede als Rektor der Königlichen Friedrich-Wilhelms- Universität Berlin am 15. Oktober 1916 zum Ausdruck.309 In dieser Rede betonte Bumm, daß der Rückgang der Kinderzahl nicht auf “biologischen Veränderungen der Erbmasse, Erschöpfungs- oder Entartungserscheinungen“, sondern auf die “Rationalisierung des Sexuallebens“ zurückzuführen sei.310 Die Volksvermehrung sei vom Willen zur Fortpflanzung und Kinderaufzucht abhängig und nicht durch “ein rationelles Emporzüchten der Menschheit durch Auslese“ zu beeinflussen.311 Einmal mehr wandte sich Bumm entschieden gegen 307 ebenda, S. 393 308 ebenda 309 E. Bumm: Über das deutsche Bevölkerungsproblem, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 6.1.1917, S. 21-23 310 ebenda, S. 22 311 ebenda, S. 23 75 die Berechtigung von eugenischen Tendenzen in der Bevölkerungspolitik. Vielmehr sah er in der Entwicklung des Sozialismus und der Frauenbewegung eine der Ursachen für die „Gebärunwilligkeit“ innerhalb der breiten Volksmasse. Hier war für Bumm auch der Ansatz für Gegenmaßnahmen gegeben, um den nötigen “Umschwung in dem Denken und Fühlen der Massen“ zu bewirken.312 Zwar befürwortete er die sexuelle Aufklärung der Bevölkerung besonders im Hinblick auf das Elend der Ärmsten, aber gerade bei den bessergestellten gesellschaftlichen Schichten machte er persönlichen Egoismus und Materialismus für die „Gebärunwilligkeit“ verantwortlich. Bumms Standpunkt zur Frage des künstlichen Aborts kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß die medizinische Indikation unbestritten blieb, wogegen die soziale wie auch die eugenische ohne Einschränkung abzulehnen war. Eine Festlegung von genauen Indikationen für die Vornahme des künstlichen Aborts lehnte Bumm jedoch ab, weil die Entscheidung für den Eingriff immer durch die Umstände des Einzelfalls bestimmt werden sollte. In jedem Fall mußte eine ernste Gefahr für Leben und Gesundheit der Frau vorliegen oder im Verlauf der Schwangerschaft zu erwarten sein. Bumm vertrat durchaus eine strenge Auffassung und verurteilte die “laxe“ Indikationsstellung einiger Ärzte, die damit der allgemeinen „Gebärunlust“ in der Bevölkerung noch Rechnung trugen. Um so erstaunlicher ist daher Bumms Beurteilung im “Fall Henkel“. Bumm hatte in allen zu untersuchenden Fällen von Schwangerschaftsabbrüchen in der Jenaer Frauenklinik keine groben ärztlichen Verfehlungen feststellen können. Diese Einschätzung beinhaltete auch diejenigen Fälle, bei denen der Eingriff durch andere Sachverständige abgelehnt worden war oder die Indikationsstellungen in den Krankenblättern die Abtreibung nicht eindeutig rechtfertigten. In Bumms bekanntem Lehrbuch “Grundriss zum Studium der Geburtshilfe“, das 1919 bereits in 12. Auflage vorlag, äußerte er sich unter anderem über die Wechselbeziehung von Tuberkulose und Schwangerschaft.313 Bei fortschreitendem Lungenleiden im Verlauf der Schwangerschaft und objektiven Befunden wie Kräfteverlust, Fieber und Nachtschweiß bestand auch für ihn kein Zweifel an der Indikation zur Beendigung der Schwangerschaft. Ebenso sei die Sterilisierung oder Kastration berechtigt, wenn die Frau bereits viele Kinder geboren hatte und mit dem baldigen Eintreten erneuter Konzeption zu rechnen war. Dagegen sprach er sich gegen die Vornahme des künstlichen Aborts in den späteren Schwangerschaftsmonaten bei schwer tuberkulösen Frauen aus, weil das Kind geopfert würde, ohne 312 ebenda 313 Bumm, E.: Grundriß zum Studium der Geburtshilfe, Verlag von J. F. Bergmann, Wiesbaden 12. Aufl. 1919 76 der Mutter viel zu nützen und “die Mutter an den Folgen der Frühgeburt stirbt, die unternommen wurde, um ihr das Leben zu verlängern“.314 Als Henkel zweimal im achten und einmal im siebenten Monat die Schwangerschaft mittels Uterusexstirpation beendet hatte, war dies für Bumm als letzter Versuch der Rettung zulässig gewesen.315 Auch hier bestehen Widersprüche zwischen der in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vertretenen Meinung und der gutachterlichen Beurteilung des “Falls Henkel“. Somit liegt die Vermutung nahe, daß Bumm in seinem Gutachten für das Berufungsverfahren aus Gründen der Kollegialität zu einem anderen Klinikdirektor, Henkels Verhalten in jeder Hinsicht gerechtfertigt hatte. 4.2.2. Georg Winter Noch intensiver als Bumm hatte sich Georg Winter in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung über einen Zeitraum von mehreren Jahren beschäftigt. 1918 und 1920 erschienen zwei Monographien zu dieser Thematik, in denen er die Indikationen für beide Eingriffe darstellte.316 Während Bumm für eine individuelle Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch oder Sterilisierung durch den Arzt plädiert hatte, forderte Winter die schriftliche Festlegung eindeutiger Indikationen für diese Eingriffe. In dem 1917 erschienenem Artikel “Die Einschränkung des künstlichen Aborts“ legte er die Gründe für seine Auffassung ausführlich dar.317 Unter den Eindrücken des ersten Weltkrieges, des Geburtenrückganges und der Zunahme der kriminellen wie auch der ärztlichen Aborte betonte Winter die Bedeutung der Bevölkerungspolitik für Deutschland und die zentrale Rolle der Geburtshilfe.318 Die Uneinigkeit über die medizinischen Indikationen zwischen den Fachkollegen bezeichnete Winter als “unhaltbaren Zustand“, der dem ärztlichen Stand schade. Ohne eindeutige Richtlinien sei es nicht verwunderlich, “daß die künstlichen Aborte seitens der Ärzte immer mehr zunehmen, und daß die Indikationen nur in seltenen Fällen einer strengen wissenschaftlichen Kritik standhalten“.319 Dabei sah Winter hinsichtlich der steigenden Zahl der unberechtigten ärztlichen Aborte bei den praktischen Ärzten “die Wurzel alles Übels“.320 Die Direktoren der großen staatlichen Kliniken würden sich hingegen dadurch auszeichnen, daß sie viel seltener die Indikation zum künstli- 314 ebenda S. 322 315 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 16, Bumm, E.: Gutachten, Berlin, 30.05.1918, Bl. 28 316 Winter, G.: Die Indikationen zur künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft, U&S Berlin 1918 und Winter, G.: Die Indikationen zur künstlichen Sterilisierung der Frau, U&S Berlin u. Wien 1920 317 Winter, G.: Die Einschränkung des künstlichen Aborts, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 6.1.1917, S. 1-11 318 ebenda, S. 2 319 ebenda, S. 3 77 chen Abort stellten. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Zahlen seiner Klinik in Königsberg. Im Zeitraum 1910 bis 1915 waren 72 Frauen zum Schwangerschaftsabbruch überwiesen worden. Davon wurde der Eingriff in 58% der Fälle abgelehnt. Deshalb sei es besonders die Aufgabe der akademischen Lehrer und Leiter größerer staatlicher Institute, wissenschaftlich begründbare medizinische Indikationen zum künstlichen Abort aufzustellen. Den praktischen Ärzten sollten somit eindeutige und unantastbare Richtlinien für ihr Handeln vorgegeben werden, denn: “Sonst macht es doch jeder Arzt wie es ihm paßt; denn er würde immer einen Autor finden, welcher seiner eigenen Absicht die Wege weist.“321 Zur Realisierung der Erstellung einheitlicher Richtlinien schlug Winter die Abfassung einer Denkschrift durch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie vor, welche an alle Ärzte Deutschlands verschickt werden sollte. Weiterhin empfahl er die Konsultation zweier Ärzte vor der Durchführung des künstlichen Aborts. Bei den Ärzten, die aus eigennützigen Motiven Abtreibungen vornahmen, konnte nach Ansicht Winters nur der staatliche Zwang eine Änderung der Handlungsweise bewirken. Wie Bumm forderte er die Einführung einer obligatorischen Anzeigepflicht, die er als “wirksamste, einfachste und am wenigsten drückende Kontrolle der Ärzte“ bezeichnete.322 Dabei ging er noch einen Schritt weiter, indem er mit Ausnahme der Fälle von akuter Lebensgefahr die Meldung beim Kreisarzt bereits vor dem Eingriff anstrebte, damit keine Schwangerschaft “unnötig geopfert“ würde.323 Langfristig forderte Winter von der geburtshilflichen Wissenschaft, “die Indikationen für den künstlichen Abort immer mehr zu beschränken und seine vollständige Verdrängung anzustreben“. 324 Von der strengen Reglementierung des künstlichen Aborts durch die Zusammenarbeit von Geburtshelfern, Ärztekammern und dem Staat erhoffte sich Winter zudem einen positiven Einfluß auf die Einstellung der Frauen zur Schwangerschaft.325 Er beendete seine Darlegungen mit dem Aufruf an seine Fachkollegen, sich nach Prüfung seiner Vorschläge an der Umsetzung seiner “hohen Ziele“ durch gemeinschaftliche Arbeit zu beteiligen.326 Anzumerken sei an dieser Stelle, daß das Gutachten zum Prozeß und dieser Artikel im gleichen Jahr (1917) entstanden sind. 1919 erschien eine von Winter verfaßte Denkschrift über den künstlichen Abort für die praktischen Ärzte.327 Darin stellte er die berechtigten den unberechtigten Indikationen ge- 320 ebenda, S. 4 321 ebenda, S. 7 322 ebenda, S. 9 323 ebenda, S.10 324 ebenda 325 ebenda, S. 11 326 ebenda 327 Winter, G.: Der künstliche Abort. Denkschrift für die praktischen Ärzte, Berlin 1919, Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Medizinalverwaltung, Bd. 9, H. 4 78 genüber. Die berechtigte Anzeigenstellung zum Schwangerschaftsabbruch unterteilte er in vitale und prophylaktische Indikationen. Bei ersterer lag eine akute Lebensgefahr für die Schwangere vor, bei letzterer die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer schweren Gesundheitsschädigung im weiteren Verlauf der Schwangerschaft. Bei Tuberkulose der Lungen machte Winter eine mindestens einwöchige Beobachtung der Patientin zur Bedingung, die sich auf den Temperaturverlauf, die Gewichtsentwicklung, den Versuch des „Bazillennachweises“ im Sputum und den Allgemeinbefund erstrecken sollte. Somit könne eine möglichst genaue Stadieneinteilung der Erkrankung in eine latente, manifest stationäre oder progediente Tuberkulose erfolgen. Die latente Form stellte nach seiner Auffassung keine Berechtigung zum künstlichen Abort dar, da in diesen Fällen nur sehr selten mit einer Aktivierung der Erkrankung zu rechnen wäre. Anders beim Vorliegen einer offenen oder manifesten Tuberkulose. Hier war der Eingriff angezeigt, wenn der Lungenprozeß nach einmonatiger Beobachtung als progedient angesehen werden mußte. Eine Progedienz lag vor bei akut hohem oder langanhaltendem mäßigen Fieber, bei starker Gewichtsabnahme, objektiver Verschlechterung des Allgemeinzustandes, Auftreten von Hämoptoe und Übergreifen des Leidens auf zuvor gesunde Organe. Dagegen sollten der „Bazillenbefund“, die Immunitätsreaktion, eine hereditäre Belastung und die Progedienz in früheren Schwangerschaften nicht allein ausschlaggebend für die Indikationsstellung sein.328 Da es sich bei der Vornahme des künstlichen Aborts bei Lungentuberkulose nach Ansicht Winters stets um eine prophylaktische Maßnahme handelte, sei eine eindeutige Vorhersage über den Nutzen des Eingriffs zumeist nicht möglich. Deshalb forderte Winter eine möglichst genaue und lange Beobachtung der Frauen. Zu bedenken sei jedoch, daß zu langes Abwarten den Erfolg des Eingriffs deutlich mindern könne. Ab dem siebenten Monat rechnete Winter nicht mehr mit einem positiven Effekt durch die Beendigung der Schwangerschaft. Insbesondere die akuten und subakuten Erkrankungsverläufe mit sehr schlechtem Allgemeinbefinden stellten für Winter keine Indikation zum künstlichen Abort dar. Auch die Annahme einer intrauterinen Infektion oder einer erblichen Belastung der Leibesfrucht sollte das Handeln des Arztes nicht beeinflussen, da hierzu weder wissenschaftliche Beweise noch praktische Erfahrungen vorlagen.329 Vergleicht man die an die praktischen Ärzte gerichteten strengen Auflagen Winters zum künstlichen Abort bei Tuberkulose mit seiner Beurteilung im “Fall Henkel“, so werden große Unterschiede deutlich. Die in der Anklageschrift dargestellten Fälle hatten aufgezeigt, daß der künstliche Abort in der Jenaer Frauenklinik meist ohne längere klinische Beobach- 328 ebenda, S. 16-19 329 ebenda 79 tung und Untersuchung der Patientinnen erfolgt war. Zudem waren die meist unvollständigen Befunde in den Krankengeschichten oft nicht beweisend für die von Winter geforderte Progedienz des Leidens. In drei Fällen war die Schwangerschaft älter als sechs Monate gewesen. Henkel hatte auch in Fällen von akuter Lungentuberkulose den operativen Eingriff vorgezogen, bei denen Winter den Schwangerschaftsabbruch als aussichtslos und deshalb nicht indiziert bewertete. Ein weiteres Kapitel der Denkschrift befaßte sich mit den nach Winters Ansicht unberechtigten Indikationen zum künstlichen Abort, die er in medizinische und nichtmedizinische unterteilte. Zu ersteren zählte er unter anderem Varizen, Schwangerschaftsdermatosen, Haut- und Knochentuberkulose, Appendizitis, Parametritis, Hysterie sowie Neurasthenie, allgemeine Schwächezustände und Epilepsie. Selbst bei starker Häufung von epileptischen Anfällen in der Schwangerschaft war der Eingriff nach Ansicht Winters nicht indiziert. Er sei höchstens bei einer gleichzeitig auftretenden Psychose zu erwägen. Beim Status epilepticus sollte der Kaiserschnitt angewandt werden. Die Untersuchung im “Fall Henkel“ hatte jedoch erbracht, daß dieser besonders in seiner Privatabteilung häufig aus Gründen wie „Neurasthenie“ oder „Hysterie“ die Schwangerschaft unterbrochen hatte. In der staatlichen Klinik war die Beendigung der Schwangerschaft mehrmals wegen Epilepsie und einmal wegen Varizen erfolgt. In seinem Gutachten hatte Winter lediglich betont, daß er selbst niemals aus psychiatrischen Gründen den künstlichen Abort einleiten würde, ohne zuvor mit einem Spezialisten Rücksprache zu nehmen. Hätte er die gleichen strengen Maßstäbe wie in seinen Publikationen angelegt, hätte auch in diesem Punkt seine Kritik an der Vorgehensweise Henkels stärker ausfallen müssen. Zu den nichtmedizinischen unberechtigten Indikationen zum künstlichen Abort zählte Winter die soziale, die eugenische und die Notzuchtindikation. Diese lehnte Winter ab, weil das geltende Recht sie nicht erlaubte beziehungsweise wissenschaftliche und ethische Grundlagen nicht gegeben waren.330 Nur der kombinierten medizinisch-sozialen Indikation sprach Winter eine gewisse Berechtigung zu. Sie sei am ehesten bei armen tuberkulösen Frauen in Erwägung zu ziehen.331 Winters Einstellung zur Sterilisierung basierte auf ähnlichen Überzeugungen und Ansichten. Jedoch schätzte er den Schaden, der durch eine leichtfertige Ausführung dieses Eingriffs für den Staat und die Familie entstehen konnte, als bedeutsamer ein, da eine dauerhaf- 330 ebenda, S. 40-42 331 ebenda 80 te Unfruchtbarkeit der Frau erzielt wurde.332 Der Mangel an sicheren Indikationen für die Sterilisierung war für Winter einer der Hauptgründe für die Zunahme des Eingriffs. Deshalb forderte er auch hier die Schaffung von klaren Richtlinien entsprechend dem Stand der wissenschaftlichen Forschung und auf der Grundlage der praktischen Erfahrung.333 Die operative Sterilisierung konnte nach Ansicht des Autors notwendig werden bei chronischen Erkrankungen, die sonst die Durchführung wiederholter künstlicher Aborte erforderlich machten. Ebenso wie beim Schwangerschaftsabbruch mußte das Leiden so schwerwiegend sein, daß jede erneute Konzeption eine akute Lebensgefahr oder ernste Gesundheitsschädigung für die Frau bedeutete. Winter teilte die in der Schwangerschaft auftretenden Erkrankungen in drei Gruppen ein.334 1. Krankheiten, welche meist nur während einer Schwangerschaft auftraten und sich selten wiederholten, wie die Schwangerschaftstoxikosen Hyperemesis und Eklampsie. Hier sah Winter keinen Grund zur Unfruchtbarmachung gegeben, weil die Gefahr einer Wiederholung zu gering war und der sich der Verlauf der Erkrankungen äußerst variabel darstellen konnte. 2. Krankheiten, welche nur während der Schwangerschaft auftraten, jedoch bei erneuter Konzeption häufig erneut aktiviert wurden. Hierzu zählte Winter den Diabetes, die Dementia praecox, die Epilepsie, die Chorea gravidarum und die Neuritis nervi optici. Bei diesen erachtete Winter die Sterilisierung für notwendig, wenn es sich um besonders schwere Krankheitszustände handelte. Die in der Praxis häufig durchgeführten Sterilisierungen bei Neurasthenie und Hysterie lehnte Winter ab, weil diese Krankheiten in der Regel nicht zu schweren Gesundheitsschädigungen führten. 3. Krankheiten, deren chronischer Verlauf durch eine Schwangerschaft akut verschlechtert wurde und sogar zum Tod der Frau führen konnte. Zu dieser Gruppe gehörten die Tuberkulose sowie die chronischen Herz- und Nierenleiden, welche in der Praxis den größten Anteil der Erkrankungen ausmachten. Eine latente Tuberkulose gab nach Ansicht Winters weder Anlaß zum künstlichen Abort noch zur Sterilisierung. Bei manifester Tuberkulose war für ihn die Indikation zur Sterilisierung gegeben, wenn eine Ausheilung oder temporärer Stillstand ausgeschlossen werden konnte oder die sozialen Verhältnisse der Frau eine wirksame Therapie unmöglich machten. Die gleichzeitige Vornahme des künstlichen Aborts und der Sterilisierung in einer Sitzung beurteilte er allerdings als zu weitgehend, weil dabei die 332 Winter, G.: Die Indikationen zur künstliche Sterilisierung der Frau, U&S Berlin 1920, S.5 333 Winter, G.: Die künstliche Sterilisation der Frau, Dt. Med. Wochenschr. Nr. 1, 1.1.1920, S.1-3 334 ebenda 81 Möglichkeit der Ausheilung des Lungenleidens außer acht gelassen wurde.335 Das Auftreten einer Larynxtuberkulose rechtfertigte dagegen immer die Sterilisierung. Die von Max Hirsch aufgestellte „eugenische“ Indikation zur Sterilisierung bezeichnete Winter als die am “meisten umstrittene“ aber auch “interessanteste“.336 Die Aufgabe des Arztes habe sich dabei allerdings auf das Interesse des Individuums und seiner Familie zu beschränken. Dem Wunsch des Staates, sich vor unnützen Mitgliedern durch Kastration von Verbrechern, Trinkern und Psychopathen zu schützen, könne nicht durch die Ärzteschaft entsprochen werden. Die Erkrankung müsse sicher erblich und unheilbar sein. Ebenso mußte der Erbfehler mit schwerster Gesundheitsschädigung verbunden sein, welche ein individuelles Leben unmöglich machte oder zum Tod führte. Winter sah die Anwendung vor allem bei Idiotie und Psychosen sowie bestimmten Formen der Epilepsie, Dementia praecox und Chorea Huntington gegeben. Chronischen Alkoholismus erkannte Winter dagegen nicht als Indikation an. Insgesamt ging Winter davon aus, daß die eugenische Indikation auf Grund der Seltenheit von schwersten Erbfehlern kaum praktische Bedeutung erlangen würde. 337 Bezüglich der eugenischen und sozialen Indikation bezog sich Winter in seinen Arbeiten immer wieder auf den Berliner Frauenarzt Max Hirsch (1877-1948), der als Verfechter dieser Indikationen sowohl für den künstlichen Abort, als auch für die Sterilisierung galt. Dessen Forderung, die soziale Indikationsstellung zur Sterilisierung von einem behördlichen Gutachten über die wirtschaftliche Lage der Familie abhängig zu machen, lehnte Winter entschieden ab. Denn dann läge die Entscheidung zur Sterilisierung in den Händen medizinischer Laien, der Arzt wäre nur der “Vollstrecker“. Die ärztliche Aufgabe Leiden zu lindern und zu heilen ließ die soziale Indikation nach Ansicht Winters nicht zu. Gerade in der Ausweitung der sozialen Indikation sah Winter jedoch die Hauptursache für die Zunahme der Sterilisierungen. Berechtigung hatte für Winter allenfalls die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit einer medizinischen Indikation wie bei Lungentuberkulose oder Herzfehlern.338 Zusammenfassend ist festzustellen, daß Winter sowohl bei der Frage des künstlichen Aborts als auch bei der Sterilisierung einen äußerst konservativen Standpunkt vertrat. Erklärtes Ziel seiner Bemühungen und jahrelanger Beschäftigung mit dieser Thematik war die Einschränkung beider Eingriffe durch die schriftliche Festlegung eindeutiger und wissenschaftlich begründbarer medizinischer Indikationen. Der Vergleich zwischen Winters strengen Forde- 335 ebenda, S. 2 336 ebenda, S. 3 337 ebenda 82 rungen und seiner gutachterlichen Bewertung im “Fall Henkel“ zeigt allerdings deutliche Diskrepanzen. In seinen Arbeiten hatte Winter immer wieder an die ärztliche Ethik appelliert und die Aufgaben der Ärzteschaft insbesondere der Geburtshilfe auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik betont. Dabei wandte er sich hauptsächlich an die praktischen Ärzte, da er bei ihnen die Ursache für die Zunahme wissenschaftlich nicht begründbarer künstlicher Aborte und Sterilisierungen sah. Unter Henkel waren in einer akademischen Lehranstalt die Indikationen für diese Eingriffe jedoch oft über die von Winter geforderten Richtlinien hinausgegangen. 4.2.3. Hermann Fehling In dem bereits erwähnten Vortrag “Ehe und Vererbung“ befaßte sich Fehling ausführlich mit der Problematik Schwangerschaft und Tuberkulose. (siehe Kapitel 3.2.1)339 Er vertrat die Ansicht, daß die häufige Verschlimmerung des tuberkulösen Leidens durch eine Schwangerschaft den künstlichen Abort rechtfertigte. Voraussetzungen für die Vornahme der Abtreibung seien eine genaue klinische Untersuchung und Beobachtung der Patientin, die Beratung durch einen Internisten, sowie eine künstliche Sterilisierung der Frau im Anschluß an den Abort. Fehling war nur dann bereit, einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, wenn gleichzeitig die Zustimmung der Frau zur Sterilisierung vorlag.340 Er begründete dies mit der “regen Fruchtbarkeit der Tuberkuloseehen“, die wiederholte künstliche Aborte erforderlich machten, was nicht mit der medizinischen und ethischen Anschauung zu vereinbaren sei.341 In diesem Punkt unterschied sich Fehling von seinen Fachkollegen, wie zum Beispiel Winter, der die dauerhafte Unfruchtbarmachung bei Tuberkulose nur bei manifesten und progedienten Krankheitsverläufen empfahl. (siehe Kapitel 4.2.2.) So hatte auch Henkel 1911 die Frage der Sterilisierung im Anschluß an den Schwangerschaftsabbruch als nicht zwingend erforderlich bezeichnet, da die Tuberkulose als heilbare Krankheit galt.342 (siehe Kapitel 4.2.4.) Fehling hielt an seinem Standpunkt zur Frage der Sterilisierung bei Tuberkulose fest. 1918 äußerte er sich vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft in ähnlicher Weise: “Wenn bei manifester Tuberkulose Abort eingeleitet wird, muß 338 ebenda 339 Fehling, H.: Ehe und Vererbung Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1913 340 ebenda, S. 30 341 ebenda 342 Henkel, M.: Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?, A. f. Gyn. 1911, Bd. 94, S. 580-597 83 stets durch Sterilisierung weiteren Schwangerschaften vorgebeugt werden.“343 Die soziale sowie die eugenische Indikationsstellung lehnte er dagegen ab und befürwortete wie Bumm und Winter die Einführung der Anzeigepflicht als wichtigstes Mittel bei der Bekämpfung unbegründeter Schwangerschaftsabbrüche.344 4.2.4. Max Henkel Von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit das Verfahren gegen Henkel dessen Standpunkt über die Problematik des künstlichen Aborts und der Sterilisierung beeinflußt hat. Zur Thematik des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung hatte Henkel während seiner ärztlichen Tätigkeit häufig publiziert. Auf den Artikel “Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?“ ist bereits eingegangen worden. (siehe Kapitel 3.2.1.)345 Darin befürwortete Henkel die Uterusexstirpation bei manifester Tuberkulose zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft als schonendes und blutarmes Verfahren. Im Hinblick auf das Gerichtsverfahren verdient das 1918 von dem Psychiater Siegfried Placzek (1866-1946) herausgegebene Sammelwerk “Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit ihre Indikationen, Technik und Rechtslage“ besondere Beachtung.346 Henkel verfaßte das Kapitel über die „Indikationen zur Schwangerschaftsunterbrechung und Sterilisierung vom geburtshilflichen Standpunkt“, und dies zu einem Zeitpunkt, als sein ärztliches Handeln Gegenstand eines Disziplinarverfahrens war. In Henkels Darstellung wird ein von Bumm und Winter abweichender Standpunkt deutlich. Im Gegensatz zu seinen Kollegen sah Henkel die Verantwortlichkeit des Arztes und insbesondere des Geburtshelfers nicht auf die rein medizinischen Fragen beschränkt. Er forderte von der Ärzteschaft ein größeres Verantwortungsbewußtsein, welches auch soziale, wirtschaftliche und volkspolitische Faktoren einschließen sollte. Diese Auffassung Henkels 343 Fehling, H.: Die Frage des künstlichen Abortes vor der Berliner med. Gesellschaft, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 4.1.1919, S. 31-32 344 ebenda 345 A. f. Gyn. 1911, Bd. 94, S. 580-597 346 Henkel, M.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie, In: Placzek, S.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit ihre Indikationen, Technik und Rechtslage, Georg Thieme, Leipzig 1918, S. 121-166 84 kommt besonders in seiner noch zu erörternden Haltung zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs aus sozialer und eugenischer Indikation zum Ausdruck.347 Winter hatte in seinen Arbeiten mit Nachdruck die Notwendigkeit strenger Richtlinien für die Indikationsstellung für den künstlichen Abort und die Sterilisierung gefordert. Henkel hingegen warnte vor einer allzu strikten Schematisierung der Indikationen, weil bei der Vielzahl der in Frage kommenden Erkrankungen ein Zusammenhang mit der Schwangerschaft nicht immer eindeutig nachweisbar war. Vielmehr mußte jeder Einzelfall bezüglich der zeitlichen, physiologischen, anatomischen und pathologischen Wechselwirkung mit der Schwangerschaft beurteilt werden. Die Kompetenz für das richtige Abwägen der mütterlichen und kindlichen Interessen war nach Ansicht Henkels nur durch genaue Kenntnis der Physiologie und Pathologie der Schwangerschaft sowie durch ausreichende klinische Erfahrung zu erlangen.348 Auf Grund der großen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Ärzteschaft und der Notwendigkeit der individuellen Betrachtung des Einzelfalles hielt Henkel die Erstellung einer gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs für “ausgeschlossen“.349 Die durch die geltende Gesetzgebung bedingte „mißliche“ Lage der Ärzte versuchte Henkel am § 222 des Deutschen Strafgesetzbuches zu verdeutlichen: “Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Gefängnis bis zu 3 Jahren bestraft!“350 Beendete ein Arzt eine Schwangerschaft, konnte ihm die fahrlässige Tötung des Kindes zur Last gelegt werden. Derselbe Vorwurf traf ihn aber auch, wenn die Frau auf Grund der Unterlassung des künstlichen Aborts starb. Die praktische Rechtspflege hatte sich deshalb auf den Standpunkt gestellt, daß der Schwangerschaftsabbruch durch einen approbierten Arzt aus medizinischen Gründen nicht strafbar sei. Henkel sah jedoch die Notwendigkeit gegeben, die Verantwortlichkeit des Arztes über die rein medizinischen Fragen auszudehnen: “Aber die Tätigkeit des Arztes, namentlich seine beratende, kann sich nicht darauf beschränken, wenn das öffentliche Wohl und die Volksgesundheit auf dem Spiele steht.“351 Wie Bumm erachtete auch Henkel die Zahl der ärztlichen Aborte als gering im Verhältnis zu den “kriminellen Fruchtabtreibungen“. Doch Henkel ging in seinen Überlegungen weiter als Bumm oder Winter, die sich bei der Frage nach der Einschränkung des künstlichen Aborts hauptsächlich mit der ärztlichen Seite beschäftigt hatten. Henkel gab zu bedenken, daß die große Zahl der kriminellen Abtreibungen einerseits zur Vernichtung kindlichen Lebens, 347 ebenda, S. 125-128 348 ebenda, S. 122 349 ebenda, S. 124 350 ebenda 351 ebenda, S. 125 85 andererseits oft zu schweren Gesundheitsschädigungen der Frauen infolge von Verletzungen oder Infektionen führten. Deshalb sei die Bekämpfung des kriminellen Aborts und damit die Verhütung von gesundheitlichen Schäden von besonderem Interesse für die Ärzteschaft, deren Aufgabe auch in der Prophylaxe von Krankheiten bestand. Um gegen den kriminellen Abort vorgehen zu können, müsse man sich deshalb auch mit seinen Ursachen befassen. Diese seien zumeist in den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen begründet. Wenn der Arzt nun nach dem Gesetz handelte und die Abtreibung aus sozialen Gründen ablehnte, so mußte er oft damit rechnen, daß die Frau Hilfe bei gewerbsmäßigen Abtreibern suchte oder gar den Freitod wählte. “Am bequemsten“ sei natürlich die Meinung “das alles geht den Arzt nichts an - und damit Schluß!“.352 Dieser Standpunkt wurde nach Ansicht Henkels besonders in den Lehrbüchern vertreten, “die jede Diskussion über soziale und eugenische Indikation ablehnen bezw. vermeiden“.353 Für jeden gewissenhaften Arzt bliebe jedoch die Frage bestehen, wie man dem Sterben von Müttern und Kindern durch den kriminellen Abort entgegentreten könne. Der einzelne Arzt war nach Ansicht Henkels allerdings machtlos, da sich seine Indikationsstellung nur auf die medizinische beschränken durfte. Noch größere Schwierigkeiten sah Henkel bei der Entscheidung zum künstlichen Abort aus eugenischen Gründen gegeben. Henkel verwies auf eine frühere Arbeit Bumms, in der er die Verhinderung kranker Nachkommenschaft zwar als “hohen Gedanken“ bezeichnete, jedoch keine Möglichkeit der praktischen Umsetzung gegeben sah.354 Dagegen betonte Henkel die Wichtigkeit, sich der Problematik zu stellen und nach Lösungen zu suchen: “Aber kommen wir damit über die Schwierigkeiten hinweg, wenn wir ihnen einfach aus dem Wege gehen?“355 Für Henkel gehörte es zu den Pflichten der Ärzteschaft, ihren Anteil für eine gesunde Nachkommenschaft zu leisten, da kranker Nachwuchs weder dem Zuwachs des Volkswohles noch der Volksgesundheit dienen könne.356 Deshalb schlug Henkel die Schaffung einer ärztlichen Kommission für die Regelung der eugenischen Indikation vor, die jeden in Frage kommenden Fall nach eingehender Prüfung entscheiden sollte.357 Um die soziale Indikation wirksam einzuschränken, sah Henkel jedoch auch den Staat gefordert. Da dessen Interesse besonders der Erhaltung von Mutter und Kind galt, sei es auch seine 352 ebenda, S. 126 353 ebenda 354 Bumm, E.: Zur Frage des künstlichen Abortus, Monatsschr. f. Gebh. u. Gyn. Bd. XLIII H. 5, 1916, S. 390 355 Henkel, M.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie, In: Placzek, S.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit ihre Indikationen, Technik und Rechtslage, Georg Thieme, Leipzig 1918, S. 127 356 ebenda, S. 128 357 ebenda 86 Pflicht, in wirtschaftlicher und sozialer Notlage helfend einzugreifen, um zu verhindern, “daß über einem Kinde die ganze Familie zugrunde geht“.358 Was die medizinischen Gründe für die Abtreibung betraf, so unterschied Henkel in dem von ihm verfaßten Kapitel des 1918 erschienenen Sammelwerkes zunächst je nach dem Zeitpunkt des Eingriffs den künstlichen Abort von der künstlichen Frühgeburt. Die Unterscheidung hing von der Lebensfähigkeit des Kindes ab, die durch die Schwangerschaftsdauer und die palpatorisch feststellbare Größe der Frucht bestimmt wurde. Henkel warnte jedoch vor der häufigen Ungenauigkeit der anamnestischen Angaben der Patientinnen. War früheren Darstellungen zufolge mit der Lebensfähigkeit des Kindes ab der achtundzwanzigsten Schwangerschaftswoche zu rechnen, so hatte die Erfahrung gelehrt, daß ein großer Teil dieser Kinder an Lebensschwäche verstarb. Aus diesem Grund würde die künstliche Frühgeburt kaum noch vor der fünfunddreißigsten Woche eingeleitet. Henkel stützte seine diesbezüglichen Angaben auf die Darstellungen Fehlings zu dieser Thematik, den er als “erfahrenen Geburtshelfer“ bezeichnete.359 Einen eindeutigen Standpunkt nahm Henkel gegenüber der Problematik Tuberkulose und Schwangerschaft ein, indem er feststellte, daß “jede Tuberkulose - gleichviel wo ihr Sitz ist - durch eine eintretende Schwangerschaft eine Verschlimmerung erfährt“.360 Ein entscheidendes Kriterium war für Henkel der Nachweis von “Tuberkelbazillen“. Solange dieser Nachweis gelang, sei die Tuberkulose nicht geheilt und es bestand jederzeit die Gefahr des erneuten Ausbruchs der Erkrankung während einer Schwangerschaft.361 Neben dem ungünstigen Einfluß der Tuberkulose auf den Gesundheitszustand der Schwangeren, gäbe es auch negative Auswirkungen auf das ungeborene Kind. Henkel verwies auf die hohe Sterblichkeit von 60 bis 70% im ersten Lebensjahr bei Kindern tuberkulöser Frauen. Zudem würden nur 12% der Kinder tuberkulöser Mütter das zwanzigste Lebensjahr erreichen.362 Schließlich stelle auch die Geburt und das Wochenbett ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko für die tuberkulöse Frau dar. Deshalb habe sich “bei namhaften Geburtshelfern die Erkenntnis durchgerungen, daß es in manchen Fällen am richtigsten ist, die ganze schwangere Gebärmutter abzusetzen“.363 Die Indikationsstellung zum künstlichen Abort bei Lungentuberkulose war für Henkel hauptsächlich auf die Erfahrung und dem “klinischen Instinkt“ des Arztes begründet.364 Je 358 ebenda 359 ebenda, S. 129 360 ebenda, S. 133 361 ebenda, S. 134 362 ebenda 363 ebenda 364 ebenda, S. 135 87 größer die klinische Erfahrung des Geburtshelfers sei, um so ernster würde er den Einfluß der Schwangerschaft auf eine bestehende Tuberkulose bewerten. Die “erschreckend große“ Sterblichkeit tuberkulöser Mütter zeige am eindrücklichsten, wie ernst das Eintreten einer Schwangerschaft bei bestehender Tuberkulose zu beurteilen ist.365 Dagegen hielt Henkel die Aussagen von Temperatur- und Gewichtsverläufen, sowie der Tuberkulinreaktion und dem Bazillenbefund für zu unsicher, um daraus Regeln für die Indikationsstellung abzuleiten. Obwohl die soziale Indikation zum Schwangerschaftsabbruch als nicht berechtigt galt, wurde sie besonders bei der Frage des Vorgehens bei Schwangerschaft und Tuberkulose häufig in die Entscheidung einbezogen. Dies geschah meist dahingehend, daß ärmeren Frauen die sofortige Unterbrechung angeraten wurde und besser gestellte Patientinnen zunächst in ein Sanatorium geschickt wurden. Henkel vertrat eine äußerst interessante Meinung zu dieser Problematik: “Wie überhaupt, so halte ich diese Unterscheidung zwischen arm und reich auch hier nicht für zulässig. Warum soll nicht jede wohlhabende Frau den gleichen körperlichen Schutz genießen, der ihr nach Auffassung des Arztes zukommt? Es ist meine Überzeugung, daß das Forzieren der Schwangerschaften bei tuberkulösen Müttern ärztlich ein Fehler und sozial ein Verhängnis ist.“366 Henkel sah also in der abwartenden Haltung gegenüber wohlhabenderen tuberkulösen Schwangeren eine Benachteiligung. Diese Einstellung verdeutlichte erneut Henkels Überzeugung, daß der künstliche Abort bei tuberkulösen Schwangeren unumgänglich zur Vermeidung ernster gesundheitlicher Folgen sei. Der künstlichen Sterilisierung sprach Henkel Berechtigung zu, da sie die sicherste und ungefährlichste Methode zur Verhütung von Schwangerschaften sei. Der künstliche Abort barg wie jeder operative Eingriff das Risiko von Komplikationen in sich. Die Anwendung “sogenannter antikonzeptioneller Mittel“, wie Spülungen, Tampons oder Pessare, bezeichnete Henkel als “sämtlich unsicher und zum Teil auch nicht ungefährlich“.367 Aus diesen Gründen würde die operative Sterilisierung mehr und mehr angewendet werden. Als sicherste Methode zur Vermeidung erneuter Schwangerschaften bewertete Henkel die abdominale Exzision des interstitiellen Tubenanteils mit fakultativer Übernähung der Enden mit Peritoneum. Dagegen sei die Vornahme der Kastration mit Entfernung des Uterus und der Ovarien eher als therapeutisches Mittel zu bewerten und deshalb nur bestimmten Erkrankungen wie Osteomalacie, Gebärmutterkrebs und Lungentuberkulose vorbehalten.368 Als Indikationen zur Sterilisierung der Frau führte Henkel schwere Erschöpfungszustände nach zahlreichen Geburten, schwere Formen von Psychosen und Geistesstörungen, Epilepsie, 365 ebenda 366 ebenda 367 ebenda, S. 161 88 Herzkrankheiten und Tuberkulose an. Besonders bei Tuberkulose sollte die Sterilisierung an die Stelle der ständigen künstlichen Aborte treten, da hier der ungünstige Einfluß der Schwangerschaft auf die Erkrankung als erwiesen galt.369 Henkel schloß auch bei der Vornahme der Sterilisierung die Berücksichtigung sozialer Aspekte und die eugenische Indikation nicht aus. Bei letzterer sollte nach Meinung Henkels auch die Kastration oder Sterilisierung des Mannes in Betracht gezogen werden, wenn bei diesem eine psychische Erkrankung vorlag, die bereits zu kranker Nachkommenschaft geführt hatte.370 Bei der Frage der Sterilisierung bei vorliegender Tuberkulose ist ein deutlicher Sinneswandel Henkels festzustellen. 1911 war für Henkel die Notwendigkeit der Sterilisierung tuberkulöser Frauen nicht eindeutig erwiesen, da er von der Heilbarkeit des Leidens ausging.371 Deshalb stand damals für ihn nach einem künstlichen Abort zunächst die Behandlung der Tuberkulose in einer Anstalt und die Verhinderung einer erneuten Schwangerschaft während der Ausheilungsphase durch entsprechende Aufklärung der Eheleute im Vordergrund. Erst die weitere Beobachtung der Patientin konnte bei Feststellung von ungenügenden Heilungstendenzen Anlaß zur Sterilisierung geben. Entgegen dieser früher geäußerten Einstellung Henkels war in seiner Klinik die Sterilisierung von tuberkulösen Frauen häufig gleich im Anschluß an den künstlichen Abort erfolgt. Bei den 34 gerichtlich beanstandeten Fällen von Schwangerschaftsabbrüchen bei Tuberkulose war sechsundzwanzigmal zugleich die Sterilisierung durchgeführt worden.372 1918 publizierte Henkel dann im Sammelwerk Placzeks den Standpunkt, daß die Sterilisierung tuberkulöser Frauen äußerst sinnvoll und den ständig erforderlichen künstlichen Aborten vorzuziehen sei, womit sein Vorgehen begründet wurde. Abschließend wandte sich Henkel 1918 der Frage der Bevölkerungspolitik zu und den erforderlichen Maßnahmen, “um den Nachwuchs unseres deutschen Volkes zu fördern und sicher zu stellen“.373 Von größter Bedeutung war für Henkel dabei die Sorge um das Wohl der Frauen, denn “nur gesunde Mütter können gesunde Kinder gebären“.374 Die zunehmende Auffassung “erst das Kind, dann die Mutter“ hielt Henkel politisch und ethisch nicht vertretbar.375 Da sich mütterliche und kindliche Interessen in kritischen Situationen der 368 ebenda, S. 162 369 ebenda, S. 164 370 ebenda, S. 165 371 Henkel, M.: Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?, A. f. Gyn.1911, Bd. 94, S.580-597 372 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 14 Anklageschrift, Weimar, 08.03.1917, Bl. 7 373 Henkel, M.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie, In: Placzek, S.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit ihre Indikationen, Technik und Rechtslage, Georg Thieme, Leipzig 1918, S. 165 374 ebenda 375 ebenda, S. 166 89 Schwangerschaft oftmals gegenüberstanden, könne die richtige Entscheidung nur durch einen Arzt mit ausreichenden Kenntnissen und Erfahrungen getroffen werden. Mit seinen Ausführungen wollte Henkel der Ärzteschaft Rat und Hilfestellung zu dieser Thematik anbieten, wie er abschließend betonte. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Henkel auch während des Gerichtsverfahrens stets an seinen Überzeugungen festgehalten hat und diese auch publizierte.376 Es scheint, daß weder die gerichtliche Untersuchung gegen ihn noch der Druck der Jenaer Medizinischen Fakultät, seinen Standpunkt speziell zur Frage der Abtreibung und Sterilisierung beeinflußt hatten. Der Freispruch im Berufungsverfahren rehabilitierte ihn schließlich als akademischen Lehrer und Klinikdirektor. Dieser Verlauf bedeutete für Henkel sicher auch die Bestätigung seiner Ansichten. 4.2.5. Max Hirsch Der Berliner Frauenarzt Max Hirsch war wie bereits erwähnt einer der eifrigsten deutschen Befürworter der sozialen und eugenischen Indikation für den Schwangerschaftsabbruch.377 Da er in den gynäkologischen Gutachten häufig zitiert wurde, soll sein diesbezüglicher Standpunkt näher erläutert werden. In seinem 1914 erschienenen Werk “Fruchtabtreibung und Präventivverkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang“ faßte er seine Auffassungen unter medizinischen, juristischen und sozialpolitischen Gesichtspunkten zusammen. 378 Hirsch sah wie viele seiner Kollegen in der Fruchtabtreibung eine bedeutende Ursache des Rückgangs der Geburtenhäufigkeit. Seiner Ansicht nach waren mehr als 80% aller Aborte krimineller Natur und die Abtreibung als “gebräuchliches Mittel zur Einschränkung der Kinderzahl“ in der Bevölkerung anzusehen.379 Die große Zahl der kriminellen Aborte trotz der drohenden strengen strafrechtlichen Verfolgung und der hohen gesundheitlichen Risiken für die Frauen zeige, so Hirsch, die “gewaltige Triebkraft“ hinter dem Wunsch nach Einschränkung der Kinderzahl.380 Das Hauptmotiv für die „Zeugungsunwilligkeit“ sah Hirsch in den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen begründet: “Also den Fruchtab- 376 siehe Placzek 377 Max Hirsch (1877-1948), dt. Gynäkologe u. Sozialhygieniker, Entzug der Approbation nach Machtergreifung der Nationalsozialisten u. Emigration nach Großbritannien. Aus: Engelhardt, D. v. (Hg.), Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner Bd. I, K. G. Saur, München 2002, S. 283 378 Hirsch, M.: Fruchtabtreibung und Präventivverkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang, Curt Kabitzsch Verlag Würzburg 1914 379 ebenda, S. 9 380 ebenda, S. 19 90 treibungen in ihrer Gesamtheit liegt ein materieller Notstand zugrunde.“381 Den § 218 des Reichsstrafgesetzbuches bezeichnete Hirsch als “Fiasko“, da “die Strenge des Strafgesetzes der Verbreitung des kriminellen Abortes keinen Einhalt zu gebieten vermocht hat“.382 Dies würde besonders deutlich in dem “schreienden Gegensatz“ zwischen dem strengen Standpunkt des Gesetzgebers und der “sittlichen Beurteilung der Fruchtabtreibung von seiten der großen Menge des Volkes“, wo die Abtreibung nicht als Verbrechen empfunden wurde.383 Deshalb sei nach Ansicht Hirschs der bislang eingeschlagene Weg zur Bekämpfung des kriminellen Aborts nicht der richtige.384 Er forderte: “Man muß aufhören, in der Fruchtabtreibung nur ein Verbrechen zu sehen, meist ist sie nur ein Akt der Notwehr und als solcher muss sie vom Gesetz behandelt werden.“385 Entschieden wandte sich Hirsch gegen die von vielen angestrebte Einführung der Anzeigepflicht des kriminellen Aborts, “denn die Verletzung des Berufsgeheimnisses lediglich zu dem Zweck, einen Menschen der Strafe zuzuführen halte ich (M. Hirsch, d. A.) vom Standpunkt der ärztlichen Ethik für unerlaubt.“386 In einem anderen Kapitel befaßte sich Hirsch mit der Problematik des therapeutischen künstlichen Aborts, den er als “Stiefkind der ärztlichen Wissenschaft“ bezeichnete.387 Dies wollte Hirsch geändert wissen, denn die Vornahme des künstlichen Aborts durch einen Arzt sei “eine Handlung, welche das Tageslicht nicht zu scheuen braucht“.388 Die Forderung nach einer gesetzlichen Beschränkung des künstlichen Aborts verneinte Hirsch entschieden als einen Eingriff in das ärztliche Handeln und den “Anfang einer Bevormundung der freien Wissenschaft durch das Strafgesetz“.389 Für den künstlichen Abort würde wie für jede andere ärztliche Maßnahme die praktische und wissenschaftliche Erfahrung des Arztes als alleinige Rechtfertigung seines Handelns gelten. Zudem gab Hirsch zu bedenken: “Fällt aber auch der therapeutische Abort dem Strafgesetz zum Opfer, so ist das obendrein noch ein schwerer Schlag gegen die Frau und eine Missachtung ihres Rechtes auf Schutz von Leben und Gesundheit.“390 Die Ansichten Hirschs zum kriminellen und therapeutischem Abort unter Einbeziehung sozialmedizinischer, hygienischer und wirtschaftlicher Aspekte und die Ablehnung gesetzlicher Beschränkungen durch das Strafrecht waren nicht neu. (siehe Kapitel 4.2.4.) Auf sehr umstrittenem Terrain bewegte sich Hirsch jedoch mit seinem Standpunkt 381 ebenda, S. 96 382 ebenda, S. 118 383 ebenda 384 ebenda, S. 119 385 ebenda, S. 120 386 ebenda, S. 126 387 ebenda, S. 161 388 ebenda, S. 168 389 ebenda, S. 172 390 ebenda, S. 176 91 zur sozialen und eugenischen Indikation für Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung. Bereits in der Einleitung seines Buches stellte Hirsch im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang fest: “Die geistige und körperliche Entartung zerstört die Fortpflanzungskraft und trägt so zur Verminderung der Volkszahl bei.“391 Neben der wirtschaftlichen Not sei auch die “Furcht vor kranker Nachkommenschaft“ ein nicht zu unterschätzendes Motiv zur Fruchtabtreibung, dem nur durch die Anerkennung und Anwendung der “rassehygienischen Indikation zur Einleitung des künstlichen Abortes“ entgegengewirkt werden könne.392 Auch die soziale Indikation erkannte Hirsch an, indem er forderte, daß “die offenkundigen Fälle wirtschaftlichen Elends künftig der Schwangerschaftsunterbrechung zugänglich sein sollten“. 393 Hirsch widmete ein Kapitel seines Buches der eugenischen Indikation in der Geburtshilfe und Gynäkologie. Darin beschäftigte er sich unter anderem mit der Sterilisierung als Möglichkeit der “generativen Prophylaxe“.394 Die Eugenik, deren wissenschaftliche Grundlage die Vererbungslehre sei, definierte Hirsch folgendermaßen: “Die Eugenik, die Lehre von dem Wohlgeborenwerden, bezweckt die Ausschaltung der nach den Gesetzen der Vererbung als zur Fortpflanzung untauglich erkannten Bevölkerungselemente von der Vermehrung. Dadurch soll ein Nachwuchs von hoher Qualität erzielt werden, welcher den Bestand und die Gesundheit der Entartung ausgelieferten Kulturmenschheit gewährleistet.“395 Hirsch war davon überzeugt, daß die Eugenik geeignet sei, “die konstitutive Kraft des Volkes zu heben, die Gebärfähigkeit zu stärken, den Geburtenrückgang aufzuhalten und die quantitativen Verluste der Bevölkerung durch qualitative Gewinne aufzuwiegen“.396 Neben den vererbbaren Krankheiten Epilepsie, chronische Geisteskrankheit, Imbezillität, Hysterie und Neurasthenie, sah Hirsch auch eine Schädigung der Nachkommenschaft durch chronische Vergiftungen mit Alkohol, Morphium, Kokain, indischen Hanf, Virus syphyliticus, Blei- und Malariagift sowie bei bestimmten Formen der Tuberkulose, schweren Anämien und Hämophilien gegeben.397 Hirsch vertrat beispielsweise ebenso wie Henkel die Meinung, daß bei der Tuberkulose die “Vererbung der Krankheitsanlage durch die Keimzelle und die Übertragung des Tuberkelbazillus und seines Virus durch das mütterliche Blut während des intrauterinen Lebens“ eine nicht unerhebliche Bedeutung zukam. Dies äußerte sich in der hohen Sterblichkeit der Nachkommenschaft tuberkulöser Frauen.398 Besonders die Kinder von “Tuberkulösen, schwer Anämischen und Chlorotischen“ würden häufiger einen 391 ebenda, S. 2 392 ebenda, S. 176 393 ebenda, S. 178 394 ebenda, S. 182 395 ebenda 396 ebenda, S. 182 397 ebenda, S. 184 92 “infantilistischen Habitus“ mit Entwicklungshemmung der Genitalorgane, Störungen der Knochenbildung und erhöhter Krankheitsanfälligkeit aufweisen.399 Hirsch schlußfolgerte daraus: “Diesen Nachwuchs zu verhüten, liegt gewiss im Interesse des Volkswohls.“400 Ähnliche Thesen stellte er für Kinder von “Trunksüchtigen“ und von Eltern mit “psychopathischer Veranlagung“ auf.401 In all diesen Fällen war nach Ansicht Hirschs die Indikation zur “dauernden Sterilisierung“ gegeben, um die Weitergabe der “pathologischen Erbmassen“ von Generation zu Generation zu verhindern.402 Eine strafrechtliche Beschränkung der Vornahme der Sterilisierung lehnte Hirsch wie schon bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs ab, “denn die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei“.403 Erst wenn die eugenische Indikation zur Sterilisierung zum “unbestrittenem Besitz ärztlichen Wissens und ärztlicher Überzeugung“ geworden sei, würde auch eine Anerkennung von seiten des Strafrechts eintreten. 404 Deshalb forderte Hirsch: “Die eugenische Indikation muß Gemeingut der Ärzte werden. Der Segen ihrer Wirkung trifft die kommenden Generationen, sichert das Glück und die Zukunft des Volkes. Erkrankungs- und Sterbeziffer der Kinder werden herabgesetzt, Kranken-, Siechen- und Irrenhäuser werden entlastet, Prostitution und Verbrechen eingeschränkt, Armut und Elend verringert.“405 Hirschs Befürwortung der sozialen wie auch er eugenischen Indikation war damals noch äußerst umstritten und hatte viele Kritiker, wie er selbst in seinem Buch betonte.406 Im Rahmen der Gutachten im “Fall Henkel“ war jedoch mehrmals auf Hirsch verwiesen worden, um zu zeigen, daß diese Indikationsstellungen durchaus in der Fachwelt vertreten wurden. Dies bedeutet, daß die wissenschaftlichen Thesen Hirschs von den Gutachtern herangezogen wurden, um Henkels Vorgehensweise zu rechtfertigen. Dies ist um so erstaunlicher, da keiner der gynäkologischen Sachverständigen in wissenschaftlichen Arbeiten für die Berechtigung der sozialen oder eugenischen Indikation eintrat. Das Verhalten der gynäkologischen Gutachter überrascht weniger in Anbetracht der Tatsache, daß alle Sachverständigen die gleiche berufliche Position bekleideten wie der Beschuldigte, nämlich die eines Universitätsprofessors und Klinikdirektors. Es kann vermutet werden, daß der Loyalität innerhalb des Berufsstandes eine größere Priorität beigemessen wurde als einer objektiven Beurteilung, die eine Verurteilung eines Fachkollegen zur Folge hät- 398 ebenda, S. 186 399 ebenda, S. 188-190 400 ebenda, S. 190 401 ebenda, S. 194-198 402 ebenda, S. 200-201 403 ebenda, S. 206 404 ebenda, S. 213 405 ebenda, S. 214 406 ebenda, S. 176 93 te. Die Mitglieder der Medizinischen Fakultät Jena waren mit dem gerichtlichen Vorgehen gegen ihren Kollegen Henkel von diesem „Ehrenkodex“ abgewichen. Dies war dann auch Anlaß für heftige Kritik von Teilen der Ärzteschaft gewesen. (siehe Kapitel 3.3.2.3.) 5. Henkels Wirken in Jena bis zu seinem Tod Im Dezember 1918 nach Beginn des Wintersemesters wurde Henkel von der Regierung in Weimar wieder in sein Amt als Direktor der Frauenklinik und Entbindungsanstalt der Universität Jena eingesetzt, womit er auch das Recht zurückerlangte, Vorlesungen zu halten. Von Henkels Publikationen nach dem Freispruch sei auf die 1930 erschienene “Stellungnahme zur Indikation der künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung“ verwiesen.407 Henkel war von der Schriftleitung der Münchener Medizinischen Wochenschrift zu dieser Stellungnahme aufgefordert worden, um durch “eine Umfrage in ein so umstrittenes Gebiet wie die Indikationsstellung zur Schwangerschaftsunterbrechung, Klarheit zu bringen“.408 Trotz des Dienststrafverfahrens gegen Henkel war dieser demnach immer noch ein angesehener Vertreter der Gynäkologie, dessen Meinung innerhalb der Fachwelt gefragt war. Zum anderen wird deutlich, daß auch 15 Jahre nach den Ereignissen in Jena die Frage der Indikationsstellung zum künstlichen Abort nicht zufriedenstellend gelöst war. Der Artikel läßt eine Änderung in Henkels Ansichten zu dieser Problematik erkennen, die eventuell auf den Prozeß gegen ihn zurückgeführt werden kann. Zunächst betonte Henkel, daß die Entscheidung zum künstlichen Abort die “undankbarste“ und “unbefriedigendste“ sei, die der Arzt zu treffen habe.409 Neben der Schwierigkeit des einzelnen Arztes, im konkreten Fall die richtige Entscheidung zu treffen, bestehe zudem ein Problem, daß im Verborgenen liege: “Das ist die kritische Beurteilung dieser Art der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit durch einen anderen Arzt.“410 Neid und Mißgunst innerhalb der Ärzteschaft würden oft zu Verleumdung und Schädigung des Ansehens von Kollegen führen, indem deren Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch öffentlich in Frage gestellt wurde. Dies habe häufig die Einschaltung der Staatsanwaltschaft zur Folge. Ein solches Vorgehen sei jedoch dem Ansehen des Ärztestandes nicht förderlich, zumal sich die Anschuldigungen im nachhinein meist als unhaltbar darstellten. Henkels Aussage läßt eine Anspielung auf seine eigenen diesbezüglichen 407 Henkel, M.: Stellungnahme zur Indikation der künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung., MMW Nr. 31, 1930, S. 1327-1335 408 ebenda, S. 1 409 ebenda 410 ebenda 94 Erfahrungen vermuten. Trotz seiner vollständigen beruflichen und gesellschaftlichen Rehabilitierung durch den Freispruch im Berufungsverfahren wird eine gewisse Verbitterung Henkels deutlich. Henkel betonte, daß sich jeder, der beruflich die Entscheidung zum künstlichen Abort zu treffen habe, der Gefahr der üblen Nachrede aussetzte. Die bestehende Gesetzgebung leiste keine Hilfe und als betroffener Arzt sei man am besten beraten, “wenn man in jedem Falle die Schwangerschaftsunterbrechung ablehnte“.411 Dies wäre jedoch oft nicht mit dem Gewissen des Arztes vereinbar. Eben weil der Einfluß der Schwangerschaft auf eine bereits bestehende Erkrankung nie mit absoluter Sicherheit vorauszusagen war, sei die Entscheidung außerordentlich schwer zu treffen. Deshalb könne es Henkel auch nicht verstehen, wie “leicht sich manche Sachverständige die Entscheidung machen“, zum Beispiel, wenn sie als Gutachter im Rahmen eines Strafverfahrens auftraten.412 Die Gutachter fällten nach Henkels Ansicht ihr Urteil meist vorschnell und auf der Basis unvollständiger Aufzeichnungen. Die Folgen für den betroffenen Arzt seien jedoch schwerwiegend, da dann eine Verurteilung des Arztes nach geltendem Gesetz stattfinden mußte. Henkel stellte sich auf die Seite derjenigen Ärzte, die nach „bestem Wissen und Gewissen“ den künstlichen Abort vornahmen, dafür aber vom Gesetz verfolgt wurden. Verkompliziert würde die Problematik durch die bestehende “verschwommene gesetzliche Fassung“, die das Dilemma der Ärzte noch vergrößere.413 Die stetige Zunahme der kriminellen Fruchtabtreibungen habe zudem zur Folge, daß die Ärzte häufiger mit deren Komplikationen, wie Infektionen, Verletzungen und schweren Nachblutungen konfrontiert wurden. Nach der bestehenden Gesetzlage mache sich die Frau aber schon bei der Weitergabe von Informationen über eine vorgenommene Abtreibung strafbar. Diese wären aber für den behandelnden Arzt sehr nützlich, um den Schaden eingrenzen zu können. Deshalb habe Henkel einmal einem Richter vorgeschlagen, denjenigen Frauen Straffreiheit zu gewähren, die den Namen des Abtreibers angeben. Dies würde nach Ansicht Henkels die Zahl der kriminellen Aborte auf ein Minimum reduzieren. Der Jurist habe diesen Vorschlag mit der Begründung, daß Hehler und Dieb vor dem Gesetz gleich seien, abgelehnt.414 Dieser Standpunkt war nach Ansicht Henkels falsch, insbesondere solange Frauen an den Folgen von unsachgemäß durchgeführten Abtreibungen sterben mußten, weil den Tätern auf Grund der herrschenden Gesetzgebung nicht beizukommen war.415 Dabei sei die Problematik des künstlichen Aborts und die Nachbehandlung der kriminellen Fruchtabtreibung von größter Bedeutung für die Volksgesundheit. Deshalb 411 ebenda, S. 2 412 ebenda, S. 4 413 ebenda, S. 5 414 ebenda, S. 6 415 ebenda 95 war Henkel der festen Überzeugung, daß endlich “klare und eindeutige gesetzliche Bestimmungen“ notwendig seien.416 Henkel begründete seine Auffassung mit den Worten: “Der mich leitende Gedanke ist, abgesehen von der medizinischen Forderung, der Volksgesundheit zu dienen, auch die ethische, den gewissenhaften Arzt zu schützen. Denn das sind wir unserem Stande schuldig.“417 Die Aufstellung obligater Indikationen für den künstlichen Abort aus medizinischen Gründen, lehnte Henkel nach wie vor ab. Ziel des Eingriffs sollte immer die Abwendung des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Frau sein. Die richtige Entscheidung erfordere eine genaue Sachkenntnis des Arztes. In einer Arbeit über die Problematik der Tuberkulose und Schwangerschaft formulierte Henkel 1931 seinen Standpunkt in dieser Weise: “Nichts ist der ärztlichen Kunst abträglicher als Verallgemeinerung. Ich selbst lehne daher jede prinzipielle Stellungnahme ab. Für mich gibt es überhaupt kaum eine obligate Indikation zur Schwangerschaftsunterbrechung und ganz bestimmt keine bei Tuberkulose.“418 Hier ist ein deutlicher Sinneswandel Henkels zu bemerken, hatte er doch zuvor beim Zusammentreffen von Tuberkulose und Schwangerschaft immer den künstlichen Abort befürwortet. Das Verhältnis zwischen Henkel und Rößle blieb verständlicherweise auch nach dem Freispruch und der Wiederaufnahme des Direktorats der Frauenklinik gespannt. Im November 1920 kam es zu erneuten offenen Auseinandersetzungen, die sich zunächst in einer Beschwerde Henkels über den Dienstbetrieb im Pathologischen Institut bei der Weimarer Regierung äußerten.419 Henkel kritisierte, daß das Pathologische Institut keine Rücksicht auf die wissenschaftliche Arbeit in der Frauenklinik nehme. Als Beispiel führte er die ablehnende Haltung des Pathologischen Institutes an, ein weibliches Becken aus der Frauenklinik zu gefrieren und in Sägeschnitte zu zerlegen. Zudem würden sich die Ergebnisse der Obduktionen oftmals nicht mit den Angaben in den späteren Sektionsprotokollen decken. Weiterhin seien die technischen und anatomischen Kenntnisse der Obduzenten oft mangelhaft. 420 Rößle verweigere die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der Frauenklinik offenkundig und habe sogar erklärt, er würde “nicht ruhen, bis er mich (Henkel, d. A.) von meinem Lehrstuhl entfernt habe“.421 Von der Regierung in Weimar erbat Henkel deshalb 416 ebenda, S. 7 417 ebenda, S. 8 418 Henkel, M.: Umfrage über Tuberkulose und Schwangerschaft, Sonderabdruck der Medizinischen Klinik 1931, S. 7-8 419 UAJ Bst. L Nr. 442 b, Schreiben Max Henkels an das Staatsminst., Dep. d. K., Weimar vom 05.11.1920 420 ebenda 421 ebenda 96 schnelles Handeln. Sollte es zu keiner grundlegenden Änderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit beider Institute kommen, so drohte Henkel, die für die wissenschaftliche Forschung der Frauenklinik notwendigen Obduktionen zukünftig selbst durchzuführen.422 Rößle reagierte, verärgert über die erneuten Anschuldigungen Henkels, mit einer Gegendarstellung: “Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich in diesen beiden Jahren seit dem Wiedereintritt Professor Henkels in sein Amt alles getan habe, um Reibereien zu vermeiden. Meine besondere Rücksichtnahme auf die Frauenklinik, auch hinsichtlich deren sonstigen Wünschen, muss ich bereuen, desgleichen muss ich bereuen, nicht auch an die Behörde mit Beschwerden herangetreten zu sein, zu denen ich Veranlassung gehabt hätte.“423 Rößle erhob nun seinerseits Vorwürfe gegen Henkel, da man dem Pathologischen Institut im November des Jahres eine Kinderleiche übergeben hatte, die bereits in der Frauenklinik auf noch dazu ungenügende und nicht “kunstgerechte“ Weise seziert worden war.424 Dies sei ein Verstoß gegen die bestehenden Vorschriften, die auch für Professor Henkel galten. Rößle schloß seine Eingabe mit den Worten: “Ich werde im Vertrauen darauf, dass mich das Ministerium vor weiteren beleidigenden Angriffen und ungesetzlichen Übergriffen des Professor Henkel schützt, mein möglichstes tun, Zwistigkeiten zu vermeiden, hingegen werde ich von nun ab gegenüber der Frauenklinik keine anderen Rücksichten mehr walten lassen als gegenüber den anderen Kliniken und ihr in keiner Hinsicht eine Ausnahmestellung einräumen.“ 425 Da die Antwort des Staatsministeriums auf die Eingabe Rößles ausblieb, Henkel aber weiterhin Leichenöffnungen in der Frauenklinik vornehmen ließ, forderte der Pathologische Anatom im Juni 1921 eine offizielle Stellungnahme der Medizinischen Fakultät. 426 Diese reagierte mit der Bitte an das Thüringische Ministerium für Volksbildung, sich für die Einhaltung der bestehenden Bestimmungen in der Frauenklinik einzusetzen. Die Medizinische Fakultät sehe in dem Verhalten der Frauenklinik einerseits eine Verminderung des dem Pathologischen Institut zustehenden Materials, andererseits eine Gefährdung der hygienischen Verhältnisse in einer Klinik, die nicht für die Vornahme infektiöser Sektionen eingerichtet sei.427 Diese Episode verdeutlicht einmal mehr Henkels ständige Differenzen mit seinen Fakultätskollegen insbesondere mit Rößle. Trotz seiner Vergangenheit und ungeachtet der weiterhin bestehenden Streitigkeiten innerhalb der Medizinischen Fakultät wurde Henkel in der Amts- 422 ebenda 423 ebenda, Schreiben Robert Rößles an das Staatsministerium, Jena, im Dezember 1920, Bl. 4 424 ebenda 425 ebenda, Bl. 5 426 ebenda, Schreiben Rößles an den Dekan der Med. Fak. vom 20.06.1921 97 Amtsperiode 1923/24 zum Rektor der Universität gewählt, wobei er sich gegen Prof. Jussuf Ibrahim durchsetzen konnte. Von den 28 Stimmen für Ibrahim waren 13 von Mitgliedern der Medizinischen Fakultät abgeben worden, ein mögliches Indiz dafür, daß Henkel bei den Fakultätskollegen nach wie vor nicht unumstritten war.428 Um aber eine umfassende Darstellung der Person Henkel abgeben zu können, ist auch seine persönliche Einschätzung zu berücksichtigen. In der Personalakte Max Henkels des Volksbildungsministeriums Weimar befindet sich eine Abschrift aus dem Fakultätsbuch der Medizinischen Fakultät von 1929. Es handelt sich um einen von Henkel verfaßten Beitrag zur Fakultätschronik, der die Verdienste von Bernhard Sigmund Schultze-Jena (1827-1919) würdigte.429 Unter dessen Leitung von 1858 bis 1903 hatte die Jenaer Frauenklinik und Hebammenanstalt internationale Bedeutung und einen ausgezeichneten Ruf erlangt. Henkel verwies nicht nur auf die herausragenden fachlichen Fähigkeiten und Kenntnisse Schultze- Jenas, sondern ehrte ihn auch als Menschen, der ihm stets ein “treuer und väterlicher Freund und Helfer in wissenschaftlichen und rein menschlichen Dingen“ gewesen sei.430 Henkel äußerte sich in seinen Ausführungen zur Fakultätschronik auch zu seiner eigenen Person. Als er 1910 das Amt des Direktors angetreten hatte, seien die baulichen Gegebenheiten in der Frauenklinik, besonders im Hinblick auf die stetig wachsende Zahl der Patientinnen, unzulänglich gewesen. Die Baupläne für einen umfangreichen Umbau hätten dem Ministerium in Weimar bereits vorgelegen, als ein „Ereignis“ eintrat, “das diese für die Fakultät und für die gesamte Universität so wichtigen Dinge über den Haufen warf“.431 Dies ist eine Anspielung Henkels auf die Anzeige wegen fahrlässiger Tötung durch den Pathologen Rößle. Henkel betonte in diesem Zusammenhang besonders, daß dies hinter „seinem Rücken“ erfolgt sei: “Hinter meinem Rücken deswegen, weil er (Rößle, d. A.) nie etwas bezüglich der Sektionen der Frauenklinik mir gegenüber beanstandet hatte oder dass irgend welche persönlichen oder beruflichen Differenzen zwischen uns vorangegangen waren, und weiter, weil er mir weder vor der Ausführung seines Planes noch der erstatteten Anzeige hiervon Kenntnis gab.“432 Als der Vorwurf der fahrlässigen Tötung in zwei Fällen entkräftet worden war, habe Rößle weitere Beschuldigungen erhoben, die in ein sich über Jahre erstreckendes Disziplinarverfahren mündeten. Während dieser Zeit sei Henkel das Verhalten einiger seiner Fakultätskollegen “mehr als befremdlich“ erschienen: “Es ist ganz selbstverständlich, 427 ebenda, Schreiben der Med. Fak. an das Staatsministerium Weimar vom 01.07.1921 428 UAJ Bst. BA Nr. 76 429 ebenda, Bl. 43-46, Henkel, M.: Aus dem Fakultätsbuch der Med. Fak. vom 29.07.1929 430 ebenda, S. 1 431 ebenda, S. 3 98 dass ich mir nach diesem Prozeß meine eigenen Gedanken über das Kapitel Hochschullehrer und Hochschullehrer untereinander gemacht habe. Dass ich nicht verallgemeinert habe und bitteren Empfindungen nicht unterlag, verdanke ich in erster Linie der Freundschaft, die mich mit B.S.-Jena verband und dann den zahllosen Sympathiekundgebungen meiner Patienten, die mir privatim und öffentlich zum Schlusse des Prozesses zum Ausdruck gebracht wurden.“433 Bald nach der Wiedereinsetzung in sein Amt habe ihn die Arbeit wieder vollständig in Anspruch genommen. Schließlich sei ihm für das Amtsjahr 1923/24 durch das Vertrauen des Senats das Rektorat der Landesuniversität übertragen worden. Diese Zeit sei durch die damaligen “politischen Wirren“ und die Inflation äußerst schwierig für die Universität und das Land Thüringen gewesen.434 Es war deshalb nicht immer leicht, “das Schiff unserer Universität über das tobende Meer zu führen“.435 Dank des Zusammenhalts im Senat und des entgegengebrachten Vertrauens der Studentenschaft habe er die ihm gestellte Aufgabe jedoch bewältigen können. Schließlich hatte der Abschluß des Rektoratjahres für Henkel “die grosse Freude eines Fackelzuges der studentischen Jugend, eine Ehrung, wie sie für den aus dem Amte scheidenden Rektor in Jena nicht üblich ist“ gebracht.436 Nach dem Rektoratsjahr wurde es ruhiger um den Direktor der Jenaer Frauenklinik. Henkel machte zwei längere Studienreisen 1924 nach Südamerika und 1927 in die Vereinigten Staaten von Nordamerika.437 Über sein Verhalten während des Nationalsozialismus ist bis auf die Mitgliedschaft in der NSDAP seit 1933 nur wenig bekannt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten kam es zur gesetzlichen Legitimierung der Sterilisierung aus eugenischer Indikation durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14.7.1933, welches am 1.1.1934 in Kraft trat.438 Das Gesetz bezog sich allein auf die Durchführung von Sterilisierungen. Der Schwangerschaftsabbruch aus eugenischer Indikation wurde später durch einen Zusatz zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Jahre 1935 gesetzlich sanktioniert.439 Bemerkenswerterweise ist unter der Leitung Henkels in der Jenaer Frauenklinik bereits vor dieser Gesetzesänderung seit 1934 neben der Sterilisierung auch der Schwangerschaftsabbruch aus eugenischer Indikation praktiziert wor- 432 ebenda 433 ebenda 434 ebenda, S. 4 435 ebenda 436 ebenda 437 ebenda 438 Gütt, A., Rüdin, E., Ruttke, F. (Hg.): Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, J. F. Lehmanns Verlag, München 1914 439 RGBl I 1935 S. 773: Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 26. Juni 1935 99 den.440 Dies verwundert jedoch wenig in Anbetracht der Verhältnisse an der Jenaer Frauenklinik, insbesondere im Hinblick auf das Dienststrafverfahren gegen Henkel von 1915 bis 1918 und dessen Standpunkt zu Schwangerschaftsabbruch und Sterilisierung. Als Max Henkel 1935 in den Ruhestand trat wurde ihm nochmals die öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Die Jenaische Zeitung schrieb: “Die Bemühungen der zuständigen Stellen, den hervorragenden Gelehrten zu veranlassen, noch weiterhin sein Lehramt zu bekleiden, waren ergebnislos, da Prof. Henkel an seinem Entschluß, schon im nächsten Semester nicht mehr zu dozieren, festhält. Damit scheidet einer der bedeutendsten Vertreter unserer Medizinischen Fakultät von seinem Posten. Auch außerhalb seines Berufskreises wird der Rücktritt Prof. Henkels schmerzlich empfunden werden, da er in weitesten Kreisen der Bevölkerung als Arzt und Geburtshelfer ein ungewöhnliches Maß an Vertrauen genießt. Fast ein ganzes Menschenalter hat er an unserer Universität gelehrt. In dieser Zeit hat er eine ganze Generation von Frauenärzten herangebildet, die in ihm ihren großen Lehrer und den Meister der Operation verehren.“441 Nicht erwähnt wurde in dem Artikel die Tatsache, daß Max Henkel nach dem „Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlaß des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens“ vom 21.1.1935 sein akademisches Amt aufgeben musste.442 Zwar sprach sich die Fakultät in einem entsprechenden Antrag an das Thüringer Volksbildungsministerium für eine Amtsverlängerung auf das Wintersemester 1935/36 aus, Henkel selbst lehnte dies jedoch ab.443 Am 9. September 1941 verstarb Max Henkel an den Folgen eines „Herzschlages“ in seiner Jenaer Villa in der Humboldtstraße 7, die er seit seinem Amtsantritt bewohnt hatte. 440 Zimmermann, Susanne: Die Medizinische Fakultät während der Zeit des Nationalsozialismus, VWB Berlin 2000 (Ernst-Haeckel-Haus–Studien, Bd. 2), S. 148-150 441 Jenaische Zeitung, 191, 17.08.1935: Prof. Dr. Max Henkel tritt in den Ruhestand 442 Zimmermann, Susanne: Die Medizinische Fakultät während der Zeit des Nationalsozialismus, VWB Berlin 2000 ( Ernst-Haeckel-Haus-Studien, Bd. 2), S. 41 443 ThHStAW Bst. ThVBM Nr. 10712 PA Max Henkel, Schreiben des Dekans an das ThVBM vom 21.6.1935 und Schreiben Max Henkels an das ThVBM vom 12.7.1935 100 6. Diskussion und Schlußfolgerung 6.1. Die Bedeutung des “Falls Max Henkel“ Der “Fall Henkel“ war für die deutschen Universitäten ein zum damaligen Zeitpunkt einzigartiger Vorgang. Der Direktor einer Universitätsklinik wurde durch die Mitglieder seiner eigenen Fakultät wegen ärztlichen Verfehlungen angezeigt. Dies zeigte, daß auch akademische Klinikdirektoren nicht unantastbar waren. Auffällig ist jedoch eine Diskrepanz zwischen der Schwere der Vorwürfe und dem milden Urteil zur Strafversetzung in der ersten Instanz sowie dem Freispruch Henkels im Berufungsverfahren. Dies läßt vermuten, daß die Rechtsprechung eher geneigt war zugunsten des Angeklagten zu sprechen, wenn es sich um einen angesehenen Direktor einer Universitätsklinik handelte. Hinzu kam, daß sich namhafte Fach- und Amtskollegen für den Angeklagten ausgesprochen hatten. Der Freispruch Henkels ist hauptsächlich auf die Rechtfertigung seines Verhaltens aus wissenschaftlicher wie auch ethischer Sichtweise durch die gynäkologischen Sachverständigen zurückzuführen. Die zum Teil deutlichen Unterschiede zwischen den in den Gutachten und in ihren wissenschaftlichen Arbeiten vertretenen Standpunkten der Sachverständigen Bumm, Winter, Hofmeier und Fehling lassen zumindest Vermutungen über ihre Motive zu. So kann durchaus angenommen werden, die gynäkologischen Sachverständigen wollten aus Gründen der Kollegialität und der sogenannten „Standesehre“ nicht gegen einen Fachkollegen aussagen. Sie deckten Henkels Verhaltensweise also auch gegen ihre in wissenschaftlichen Arbeiten vertretenen Standpunkte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Haltung der Medizinischen Fakultät Jena, die auch nach dem Freispruch an ihrer Meinung festhielt, Henkel sei nicht für das Amt eines akademischen Lehrers und Klinikleiters geeignet. Dies zeigt zum einen, daß die Fakultätsmitglieder Henkels Verfehlungen für so schwerwiegend erachteten, daß sie sich über die Standespflicht der Kollegialität hinwegsetzten. Zum anderen ist zu berücksichtigen, daß bei der Mehrzahl der Fakultätsmitglieder eine persönliche Abneigung gegenüber dem Menschen Max Henkel bestand. Dies belegen zahlreiche Quellen aus dem Universitätsarchiv, welche die fachlichen aber auch persönlichen Auseinandersetzungen Henkels mit den Fakultätsmitgliedern dokumentieren. Auch dieser Umstand gibt Anlaß zu Spekulationen. So ist es ebenso möglich, daß Henkel der Medizinischen Fakultät ein „Dorn im Auge“ war und die Anzeige gegen ihn der Versuch, ihn aus seinem Amt zu entfernen. Der Vorwurf der mangelnden Kollegialität innerhalb der Medizinischen Fakultät Jena wurde sehr häufig in der Presse thematisiert. Dagegen blieb die Forderung der Jenaer Fakultät nach der Beurtei- 101 lung von Henkels Verhalten aus ärztlich-ethischer Sicht eher unbeachtet. Dies ist als großer Nachteil des Dienststrafverfahrens gegen Henkel zu bewerten. Es verdeutlicht jedoch, daß ethische Fragen damals wenig diskutiert wurden. Aus wissenschaftlicher Sicht war fast jede ärztliche Handlung zu rechtfertigen. Da sich die medizinische Wissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer rasanten Entwicklung befand, gab es kaum allgemeingültige Behandlungsprinzipien. Als Beispiel sei die Frage des Schwangerschaftsabbruchs bei Tuberkulose genannt, die zum damaligen Zeitpunkt intensiv und äußerst kontrovers innerhalb der Ärzteschaft diskutiert wurde. Dahingehend ist auch die Aussage des Sachverständigen Georg Winter zu werten, es sei 1911 niemandem zu verargen gewesen, wenn er bei jeder tuberkulösen Schwangeren regelmäßig den künstlichen Abort vornahm. Henkel selbst hatte sich in seiner 1911 erschienenen Arbeit „Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?“ für die Durchführung der Uterusamputation unabhängig vom Schwangerschaftsalter ausgesprochen.444 Sein praktisches Handeln entsprach dieser Aussage. War ihm nun daraus ein Vorwurf zu machen? Die gynäkologischen Sachverständigen und das Gericht der Berufungsinstanz verneinten dies, eben weil es keine allgemein anerkannte medizinische Regelung der Frage des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung, abgesehen von der strafrechtlichen Gesetzgebung, gab. Bereits wenige Jahre später zum Zeitpunkt des Verfahrens gegen Henkel stellte sich die Situation anders dar. Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges und dem Rückgang der Bevölkerungszahl sahen es viele Geburtshelfer als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Bevölkerungspolitik zu leisten. Indem sie die Einschränkung der Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisierungen durch gesetzlich festgelegte Richtlinien forderten, versuchten sie, dem Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken. Die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse hatten somit Einfluß auf den Umgang mit so schwierigen Fragestellungen wie dem künstlichen Abort und der Sterilisierung. Dagegen spielte das Anlegen ethischer Maßstäbe an das ärztliche Handeln anscheinend eine eher untergeordnete Rolle. Auch Henkels schwieriger Charakter ist bei einer Bewertung der Geschehnisse in Jena zu berücksichtigen. Die Sachverständigen Hofmeier und Fehling hatten Henkel in ihrem Gutachten als sanguinisch, lebhaft und strebsam beschrieben, stets bemüht, seine Klinik zu hohem Ruhm und Ansehen zu führen. Der große berufliche Ehrgeiz Henkels und die daraus resultierende Entschlossenheit, seine Ziele konsequent durchzusetzen, stellen einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die Entwicklung der Ereignisse dar. Henkels kompromißloses Verhalten wurde von vielen seiner Assistenten und der Mehrzahl der Fakultätsmitglieder als 444 A. f. Gyn. 1911 Bd. 94, S. 580-597 102 negativ empfunden. Hier stellt sich eine Kluft zwischen Henkels gutem Ruf als ausgezeichneter Operateur und seinem Auftreten als Mensch und Arzt dar. Um nun die Bedeutung des Verfahrens in Bezug auf den damaligen Stand der Medizin und die Auffassung von der ärztlichen Tätigkeit zu erläutern, soll auf einen Aufsatz des Gerichtsmediziners Georg Puppe näher eingegangen werden. Puppe hatte als Sachverständiger im Dienststrafverfahren der ersten Instanz ein Gutachten erstellt und war folglich mit den Umständen des Verfahrens vertraut. Dies nahm er zum Anlaß im November 1917, nach der Verurteilung Henkels zur Strafversetzung, einen Artikel in der “Medizinischen Klinik“ über das Dienststrafverfahren zu veröffentlichen. Zwar sei in der Tagespresse ausführlich berichtet worden, doch Puppe gab seiner Überzeugung Ausdruck, “daß auch die Ärzteschaft über den Gegenstand der Verhandlungen das zum Verständnis der Vorgänge Notwendige durch die medizinische Presse“ erfahren sollte.445 Puppe befaßte sich in dem Artikel sehr intensiv mit der Bedeutung des Verfahrens. Diese reichte seiner Ansicht nach “weit über die Grenzen des Großherzogtums Sachsens“, weil “die ganze Frage der Berechtigung zur Schwangerschaftsunterbrechung und zur Unfruchtbarmachung“ thematisiert wurde.446 Das Verfahren verdeutlichte für Puppe die dringliche Notwendigkeit der Schaffung einer gesetzlichen Regelung dahingehend, daß die Anzeigepflicht für den Schwangerschaftsabbruch eingeführt und dem Staat ein Vetorecht eingeräumt werden sollte.447 Denn ohne eine solche Regelung, könne jeder operativ geschickte Arzt eine Schwangerschaft beenden “wenn er es für richtig befindet“.448 Folglich sei jede Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, einschließlich der sozialen und der eugenischen, damit zu rechtfertigen, daß der Arzt nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Für die Öffentlichkeit hatte das Verfahren zudem den Verlust des für gewöhnlich besonderen Vertrauens in eine Universitätsklinik und deren Direktor gebracht. Als positiven Aspekt des Verfahrens bewertete Puppe, daß dadurch „unhaltbare Zustände“ beseitigt und vorhandene „Lücken und Mängel“ erkennbar wurden.449 Die Meinung Puppes stand stellvertretend für große Teile der Ärzteschaft. Deren Erwartungen in Bezug auf die Festlegung einer gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung erfüllten sich jedoch nicht. Mit dem Freispruch Henkels im Berufungsverfahren und der Wiederaufnahme seines Amtes als Direktor der Frauenklinik Jena waren die alten Verhältnisse wieder hergestellt. 445 Puppe, G.: Das Dienststrafverfahren gegen Professor Dr. Henkel (Jena)., Medizinische Klinik, Wochenschrift für praktische Ärzte Nr. 46 18.11.1917, S. 1207-1212 446 ebenda 447 ebenda 448 ebenda 449 ebenda 103 Der „Fall Henkel“ hat folglich zwar kurzzeitig die öffentliche und fachliche Diskussion angeregt, letztlich aber keine Änderung der Situation an der Jenaer Frauenklinik oder gar in Deutschland im Sinne einer gesetzlichen Regelung herbeiführen können. Henkel wurde ungeachtet seiner Vergangenheit im Amtsjahr 1923/24 zum Rektor der Universität gewählt. Er war somit vollständig rehabilitiert und die Akten zum “Fall Henkel“ wurden geschlossen. Sie blieben es bis in die heutige Zeit. Ebenso schwierig wie sich die Bewertung des „Falles Henkel“ vor über 80 Jahren gestaltet hat, ist sie zwangsläufig heute noch. Doch besonders die ethische Dimension der Ereignisse macht die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel Universitätsgeschichte der Medizinischen Fakultät Jena notwendig. Die Schwierigkeit der Schaffung von allgemeingültigen ethischen Grundsätzen für das ärztliche Handeln verdeutlicht der „Fall Max Henkel“ auf sehr eindrückliche Weise. 6.2. Die Notwendigkeit einer Ärztlichen Ethik Während des Disziplinarverfahrens war von seiten der Medizinischen Fakultät Jena, aber auch von der Fachpresse immer wieder die Frage nach der Beurteilung des Verhaltens Henkels aus ärztlich-ethischer Sicht gestellt worden. Auch der Freispruch Henkels von allen Vorwürfen ließ letztlich unbeantwortet, ob er in irgendeiner Weise gegen ethische Pflichten des Arztberufes verstoßen hatte. Eine objektive Beurteilung gestaltete sich schwierig, zumal sie vom persönlichen Standpunkt des Bewerters abhing. So hatten die Fachkollegen Henkels und Sachverständigen Hofmeier und Fehling in ihrem Gutachten erklärt: “Wir können in dem ärztlichen Verhalten des Angeschuldigten nichts sehen, was gegen die ärztlichethischen Pflichten verstieße.“450 Dagegen blieben wie bereits dargelegt für viele Ärzte, so auch die Mitglieder der Medizinischen Fakultät Jena, nach wie vor Bedenken an der Berufsausübung Henkels bestehen.451 Trotz der offenkundigen Schwierigkeit der Definition und der unterschiedlichen Auslegung des Begriffs der ärztlichen Ethik besteht eine große Notwendigkeit sich damit auseinanderzusetzen. Diese ergibt sich immer wieder aus der Geschichte, wo der “Fall Henkel“ nur als ein Beispiel steht. Aber auch die Gegenwart mit der rasanten Entwicklung aller wissen- 450 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziff. 13: M. Hofmeier, H. Fehling: Prüfung der ärztlich-ethischen Seite der Fragen und zwar vom allgemein ärztlichen Standpunkt aus, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916 451 UAJ Bst. C Nr. 383, Bl. 149, Schreiben der Med. Fak. Jena an das Großh. S. Staatsminist., Dep. d. K., Weimar vom 28.07.1918 104 schaftlichen Bereiche stellt die Forderung nach der Einbeziehung und Diskussion von ethischen Fragen, so zum Beispiel bei der Problematik der Stammzellforschung oder der Euthanasie. Das “Wörterbuch der Medizin“ definiert die ärztliche Ethik als Theorie, “die moralische Wertorientierung für ärztliches Handeln begründet“. Die moralische Wertorientierung wird dabei je nach theoretischer Auffassung zur Ethik von “religiösen Glaubenssätzen, von anthropologischen, relativistischen, pragmatischen Prinzipien oder von konkret-historischen Bedingungen abgeleitet“. Das Bedürfnis nach ärztlicher Ethik wächst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, “weil das, was medizinisch möglich wird, moralischer Begründung bedarf“. Die ärztliche Ethik “bestimmt Ziele und Methoden der ärztlichen Tätigkeit und medizinischen Forschung in Bezug auf grundlegende Werte (Wohl, Würde), die naturwissenschaftlich nicht definierbar sind“.452 Daß die Frage der ärztlichen Ethik auch zu Beginn unseres Jahrhunderts in Deutschland thematisiert wurde, zeigt das Werk des Berliner Arztes Albert Moll (1862-1939) “Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit“ aus dem Jahr 1902.453 Das Anliegen des Buches formulierte Moll im Vorwort: “Die Notwendigkeit, eine ärztliche Ethik zu schreiben, oder wenigstens die Grundlage für Diskussionen zu geben, liegt in den vielen Konflikten, zu denen der ärztliche Beruf Veranlassung gibt.“454 An den in großer Zahl vorliegenden Beiträgen zu dieser Thematik kritisierte Moll, “mit welcher Konsequenz die meisten Autoren die wichtigsten Fragen der ärztlichen Ethik vollkommen ignorieren oder mit wenigen Zeilen abthun, den Hauptwert legen sie auf Etikette- und Standesfragen“. 455 Zudem sei zu berücksichtigen, daß die Pflichten des Arztes durch die Entwicklung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse beeinflußt würden, “so dass eine heutige ärztliche Ethik ganz andere Fragen betrachten muß als eine ältere“.456 Da nach Molls Ansicht in der Ärzteschaft die Ethik viel zu oft mit “Etikettefragen“ verwechselt wurde, stellte er die Begriffsklärung an den Anfang seiner Ausführungen. Der Begriff der Ethik bezeichne seit Aristoteles die Wissenschaft, “die den sittlichen Wert und Unwert des menschlichen Wollens und Handelns untersucht“.457 Demzufolge habe sich eine ärztliche Ethik mit dem sittlichen Wert oder Unwert der Tätigkeit des Arztes zu befassen. Das Motiv für das ärztliche Handeln sollte nach Ansicht Molls immer das Individuum darstellen: “Eine 452 Zetkin, M.: “Wörterbuch der Medizin“, Bd. 1 A-K, 15. Aufl., Berlin, Ullstein Mosby, 1992, S. 643-644 453 Moll, A.: “Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit“, Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke, 1902 454 ebenda, Vorwort 455 ebenda 456 ebenda 457 ebenda, S. 6 105 Voraussetzung für die Existenz der Ärzte ist die, dass man das Recht des Menschen anerkennt, Hilfe in Krankheitsfällen zu erhalten.“458 Dies ist eine der Kernaussagen des Berliner Arztes und Psychotherapeuten, die den Inhalt des Arztberufes verdeutlichen. Nach Ansicht Molls war die ärztliche Tätigkeit nicht mit den bestehenden philosophischen oder theologischen Moralsystemen zu vereinbaren. Vielmehr sah Moll in der “Praxis“ den “Wegweiser“ für die ärztliche Tätigkeit.459 Für ihn war die “allgemeine menschliche Ethik“ die einzige Grundlage der ärztlichen Tätigkeit.460 So bezeichnete Moll die “Berechtigung, den Menschen zu heilen und auch Krüppel am Leben zu erhalten, als eine nicht zu beweisende Voraussetzung“ für den Arztberuf.461 Dies sei die “Berufspflicht“ des Arztes: “Er hat seine Handlungsweise so einzurichten, dass sie der Gesundheit des Klienten nützt. Nicht das Moralprinzip des Utilitarismus, nicht die Nützlichkeit für die Allgemeinheit soll den Arzt in erster Linie leiten, sondern die Rücksicht auf den konkreten Fall.“462 Wie die vielen Publikationen deutscher Gynäkologen zur Frage der Bevölkerungspolitik zeigten, wurde jedoch im Hinblick auf den Geburtenrückgang im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg die Meinung sehr häufig vertreten, daß die Geburtshilfe einen Beitrag für Deutschland zu leisten habe. Auch die Veröffentlichungen von Max Hirsch über die Eugenik und deren Umsetzung mit dem Ziel eine Verbesserung der “Qualität“ der Bevölkerung zu erreichen, zeigten die Unterschiedlichkeit der Beweggründe für das ärztliche Handeln auf. Wenn Moll feststellt “Sitte und Etikette üben einen viel mächtigeren Einfluß auf das Handeln aus als die wahre Ethik“, so sei nochmals auf das Gutachten der beiden Gynäkologen Hofmeier und Fehling verwiesen.463 Diese waren mit der Beurteilung Henkels Tätigkeit aus ärztlich-ethischer Sicht beauftragt worden. Der diesbezügliche Nachtrag zu ihrem Gutachten beschäftigte sich jedoch hauptsächlich mit der Kritik an dem Verhalten der Mitglieder der Jenaer Medizinischen Fakultät gegenüber Henkel. Beide legten dar, daß ihnen bei dem Vorgehen der Fakultätsmitglieder gegen Henkel “eine Anzahl von Punkten vorhanden zu sein scheinen, welche mit unseren Vorstellungen über die Pflichten der ärztlichen Ethik und Kollegialität innerhalb einer Fakultät schwer in Übereinstimmung zu bringen sind“.464 Henkels “gelegentliche“ sehr weite Ausdehnung der operativen Eingriffen wäre hingegen nur dann als Verstoß gegen die ärztliche Ethik zu werten, wenn ihn materielle Beweggründe 458 ebenda, S. 8 459 ebenda 460 ebenda, S. 14 461 ebenda, S. 16 462 ebenda 463 ebenda, S. 18 464 ThHStAW Bst. SWE DStKW Nr. 13, Ziffer 13, M. Hofmeier, H. Fehling: Prüfung der ärztlich-ethischen Seite der Fragen und zwar vom allgemein ärztlichen Standpunkt aus, Würzburg, 10.02.1916, Strassburg, 11.02.1916 106 geleitet hätten.465 Diesen Äußerungen liegt offensichtlich eine Auffassung über den Inhalt der ärztlichen Ethik zugrunde, die mehr von Etikette und Standesfragen geprägt ist. Moll wies in seinen Darlegungen jedoch auch auf die individuellen Unterschiede bei der Urteilsbildung und forderte deshalb Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen: “Ueberall im Leben, wo es sich um ein Denken handelt, muss man auf die verschiedenen Urteile verschiedener Menschen Rücksicht nehmen.“466 Da menschliches Wissen nichts Absolutes sei, könne die gleiche Handlung von zwei Ärzten ausgeführt je nach ihrer Überzeugung bei dem einen ethisch und dem anderen unethisch sein. Eine Überzeugung habe aber nur dann einen ethischen Wert, “wenn sie auf Grund gewisser Vorbereitung gebildet ist“.467 Auch wenn für den Arzt die allgemeine menschliche Ethik als Wegweiser dienen sollte, bringe es der Arztberuf mit sich, daß er zu Situationen und Konflikten führen kann, “die vom Standpunkt der Ethik Schwierigkeiten darbieten“.468 Obwohl sich, wie Moll betonte, die Beurteilung der Ethik von Handlungen mit der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung einer Gesellschaft änderte, ist seine Auffassung über die Notwendigkeit und den Inhalt einer ärztlichen Ethik zeitlos. Tatsache ist, daß der ärztliche Beruf viele Konfliktsituationen bietet, deren Lösung nach wie vor schwierig ist, da es keine einfachen und allgemeingültigen Antworten gibt. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen ist deshalb um so notwendiger. Eine Bewertung von Henkels ethischer Berufsauffassung aus heutiger Sicht ist sicherlich schwierig. Eine objektive Beurteilung wird durch die Quellenlage erschwert. Die originalen Krankengeschichten, Operations- und Geburtenbücher existieren nicht mehr, so daß die Angaben Rößles als Grundlage dienen müssen. Vieles, wie manche Indikationen für die Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisierungen insbesondere in Henkels Privatabteilung, würde aus heutiger Sicht ethisch bedenklich erscheinen, wurde aber damals von angesehenen Fachvertretern wissenschaftlich begründet und anerkannt. Anderes, wie die 1915 stark kritisierte Zulassung von medizinischen Laien als Zuschauer bei Operationen, ist heutzutage, wo Fernsehteams live aus dem Operationssaal übertragen, durchaus mit unseren Moralvorstellungen vereinbar. Zu berücksichtigen ist natürlich auch, daß die gesellschaftliche Situation zu Beginn unseres Jahrhunderts eine völlig andere war. Die Tuberkulose war besonders in sozial schwächeren Bevölkerungskreisen weit verbreitet 465 ebenda 466 Moll, A.: “Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit“, Stuttgart, Verlag von Ferdinand Enke, 1902, S. 25 467 ebenda 468 ebenda, S. 27 107 und mangels der Möglichkeiten der Verhütung waren die Frauen besonders im Arbeitermilieu der Doppelbelastung von vielen Schwangerschaften und Berufstätigkeit ausgesetzt. Zu dieser Zeit begann sich auch die Frauenbewegung gegen den § 218 zu formieren.469 Die Unterstützung, die Henkel von seiten vieler seiner Patientinnen erfuhr, deutet an, daß diese oft froh über die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und dauerhaften Sterilisierung waren. Daran kann sich die Vermutung anschließen, daß in der Privatpraxis Henkels eventuell doch materielle Gründe für die Vornahme dieser Eingriffe eine Rolle gespielt haben könnten. Dies kann aus heutiger Sicht jedoch nur spekuliert werden. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Ethik verdeutlicht das Dienststrafverfahren auf sehr eindrückliche Weise, ebenso aber auch die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit der Schaffung allgemeingültiger ethischer Grundsätze für das ärztliche Handeln. Wissenschaft und Forschung sind eine Triebkraft der Medizin. Doch der Fortschritt, den sie für uns bringen, muß auch an ihrem ethischen Wert gemessen werden. Dies gilt heute ebenso wie damals. Aus diesem Grund sollte der „Fall Henkel“ nicht in Vergessenheit geraten. 469 1905 gründete Helen Stöcker (1869-1943) den “Bund für Mutterschutz und Sexualreform“, der u.a. für die Abschaffung des § 218 eintrat, Aus: Zwerenz, Ingrid: “Frauen. Die Geschichte des § 218.“ Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 1980 108 7. Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit untersucht die Entstehung, den Verlauf und die Bedeutung des Disziplinarverfahrens gegen den Jenaer Ordinarius für Gynäkologie und Geburtshilfe Professor Dr. Max Henkel. Durch die zusammenhängende Darstellung der Ereignisse unter Einbeziehung des damaligen Standes der Medizin, soll ein Beitrag zur Aufarbeitung dieses Abschnitts der Jenaer Universitätsgeschichte geleistet werden. Das Dienststrafverfahren gegen den Direktor der Universitätsfrauenklinik und Entbindungsanstalt war ein bedeutender Vorgang an der Jenaer Universität, der überregional innerhalb der Ärzteschaft und der Öffentlichkeit Anlaß zu kontroversen Diskussionen gab. Das Verfahren zeigte besonders die unzureichende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung, sowie die diesbezüglich unklare rechtliche Stellung des Arztes auf. Neben den medizinischen hat der „Fall Henkel“ auch grundlegende ethische Fragen aufgeworfen. Als Max Henkel 1910 erst vierzigjährig als Ordinarius für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie Direktor der Universitätsfrauenklinik und Entbindungsanstalt nach Jena berufen wurde, konnte er nicht ahnen, daß er sich in den Jahren 1915 bis 1918 einer gerichtlichen Voruntersuchung wegen fahrlässiger Tötung und einem nachfolgendem Dienststrafverfahren in zwei Instanzen zu stellen hatte. Der Jenaer Ordinarius für Pathologie Robert Rößle, der bereits von seinem Vorgänger Hermann Dürck sensibilisiert worden war, hatte bei den Sektionen für die Frauenklinik eine erhöhte Anzahl postoperativer Infektionen mit letalem Ausgang bemerkt. Zudem war bei Rößle der Verdacht entstanden, Henkel habe Operationen ohne wissenschaftliche Notwendigkeit ausgeführt. Als im Februar 1915 zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Todesfälle durch eitrige Meningitis nach Spinalanästhesie auftraten, erstattete Rößle beim zuständigen Bezirksarzt und Professor für Gerichtliche Medizin Ernst Giese Anzeige. Eine daraufhin von Amtswegen erfolgte Anzeige Gieses bei der Staatsanwaltschaft zog eine gerichtliche Voruntersuchung gegen Henkel wegen fahrlässiger Tötung nach sich. Diese wurde im Frühjahr 1915 auf Antrag des ermittelnden Staatsanwalts wieder eingestellt, da ein Henkel entlastendes Gutachten vom Berliner Chirurgen August Bier vorlag. Das Großherzogliche Staatsministerium sah sich jedoch veranlaßt, die Einleitung eines Dienststrafverfahrens und die vorläufige Beurlaubung Henkels zu verfügen. 109 Bereits während der strafrechtlichen Ermittlungen hatte die Medizinische Fakultät die zusätzliche Einleitung einer Dienstuntersuchung gefordert. In diesem Verfahren sollte geklärt werden, ob Henkel als Staatsbeamter seine Dienstverpflichtungen verletzt habe, indem er: 1. als verantwortlicher Leiter der Frauenklinik blutige Eingriffe ohne genügend wissenschaftlich begründete Notwendigkeit teils vorgenommen, teils durch seine Assistenten habe ausführen lassen. 2. neben einzelnen unsorgfältigen Verrichtungen bei Operationen auch vermeidliche Kunstfehler begangen und namentlich durch mangelhaftes Verfahren zur Erzielung von Keimfreiheit die Gesundheit von Leidenden fahrlässig gefährdet und geschädigt habe, 3. blutige Eingriffe ohne genügende Schonung keimenden Lebens ausgeführt habe, 4. in ärztlich-ethischer Beziehung tadelnswert gehandelt und auch in einzelnen Fällen Leidende nachlässig behandelt habe, 5. es an ungenügender Fürsorge für Säuglinge habe fehlen lassen. Das Urteil der Dienststrafkammer erfolgte im Oktober 1917. Henkel wurde in den Anklagepunkten eins, drei und vier für schuldig befunden und zur Strafversetzung verurteilt. Sowohl die Anklagebehörde als auch die Verteidigung akzeptierten das Urteil nicht und legten Berufung ein. Die Verhandlung der zweiten Instanz fand im Juli 1918 statt und endete mit dem Freispruch Henkels von allen Vorwürfen und der Aufhebung des angefochtenen Urteils. An dem Freispruch Henkels hatte das entlastende Gutachten eines weiteren Sachverständigen, des Berliner Gynäkologen und Geburtshelfers Professor Ernst Bumm, einen entscheidenden Anteil. Das Gericht der Berufungsinstanz bewertete die beanstandeten Fälle als „bloße Nachlässigkeiten“ bei der Verrichtung der Dienstgeschäfte durch den Angeschuldigten. Diese erfüllten nach Ansicht des Gerichts nicht den Tatbestand eines Dienstvergehens, da das Gesamtverhalten Henkels als Beamter tadellos gewesen sei. Henkel durfte daraufhin sein Amt als Direktor der Universitätsfrauenklinik und Entbindungsanstalt Jena wieder ausüben. Trotz des Freispruchs hielten die Mitglieder der Medizinischen Fakultät an ihrer Meinung fest, Henkel sei auf Grund seiner Verfehlungen bei der Ausübung der ärztlichen Tätigkeit nicht als Klinikdirektor und akademischer Lehrer zu akzeptieren. Ungeachtet der Haltung der Fakultät blieb Henkel bis zu seiner Emeritierung 1935 als Direktor der Frauenklinik Jena tätig. Neben zahlreichen kritischen Stimmen hatte Henkel auch Unterstützung sowohl aus den Reihen der Ärzteschaft als auch von seinen ehemaligen Patientinnen erhalten. Die Ärzteschaft wurde durch den „Fall Henkel“ regelrecht in zwei Lager gespalten. Zum einen wurde die Meinung vertreten, daß Henkel durch sein Verhalten die ethischen Pflichten des Arztberufes verletzt habe und somit eine Verurteilung gerechtfertigt 110 gewesen wäre. Zum anderen wurde Kritik an dem Vorgehen der Kollegen Henkels, besonders des Pathologen Robert Rößle laut. Dieser habe als Pathologe nicht das Recht, über die Arbeit des Klinikers zu richten. Daraus leitet sich die Frage ab, ob Henkel zum „Opfer“ einer „Intrige“ innerhalb der Fakultät geworden war oder ob tatsächlich ärztliche Verfehlungen vorlagen, die das strafrechtliche Vorgehen begründeten. Die Zeugenaussagen vieler Assistenten der Frauenklinik stützten den Verdacht, daß Henkel die damals gültigen wissenschaftlichen Grenzen durchaus überschritten hatte. Dies galt besonders für seine operative Tätigkeit, aber auch seine Einstellung gegenüber dem ungeborenen Leben, wie der „Fall F.“ eindrücklich gezeigt hatte. Eine Reduzierung der Einschätzung Henkels auf das Dienststrafverfahren gegen ihn scheint jedoch zu einseitig. Seine wissenschaftliche Arbeit umfaßt mehr als 130 Publikationen und Buchbeiträge. Intensiv beschäftigte sich Henkel unter anderem mit der Therapie des Myoms und des Uteruskarzinoms.470 Henkel selbst war sich bezüglich der im Dienststrafverfahren geäußerten Anschuldigungen gegen ihn keiner Schuld bewußt, wie er stets betonte. (siehe Kapitel 3.3.2.2. und Kapitel 5) Trotz dieser Tatsache und dem Freispruch Henkels im Berufungsverfahren erscheint nach der Durchsicht des Archivmaterials eine kritische Betrachtung der Ereignisse notwendig. Henkels Standpunkt zur Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs und der Sterilisierung ist in aller Ausführlichkeit dargelegt worden. (siehe Kapitel 4.2.4.) Über die Motive für sein Handeln im „Fall F.“ oder bei der sogenannten „Prinzenoperation“ kann aus heutiger Sicht nur spekuliert werden. Zudem muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß sich der Stand der Wissenschaft und die gesellschaftliche, wirtschaftliche und sozialpolitische Situation zu Beginn des letzten Jahrhunderts von der heutigen unterschied. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß persönliche Abneigung und Streitigkeiten eine Rolle bei dem gerichtlichen Vorgehen der Medizinischen Fakultät gegen Henkel gespielt haben mögen, bleibt nach dem Studium der Zeugenaussagen, Gutachten und entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten zu dieser Problematik der Eindruck bestehen, daß Richter und Sachverständige bei ihrem Urteil Milde walten ließen. Durch das Verfahren gegen Henkel wurde an der Jenaer Universität die Diskussion über die Notwendigkeit der Einführung eines Ethikunterrichtes entfacht. Um so erstaunlicher ist die diesbezügliche Haltung der Medizinischen Fakultät, die doch mit Nachdruck auf die Berücksichtigung der ethischen Seite in der Dienststrafsache Henkel gedrungen hatte. In einem Schreiben an den Universitätskurator führte der damalige Dekan Maurer 1918 unmittelbar vor dem Freispruch Henkels aus, „daß die Medizinische Fakultät es nicht für notwendig hält besondere Vorle- 470 UFK Jena, Arbeiten Prof. Dr. M. Henkel 1896-1935 Bd. I u. II 111 sungen über ärztliche Ethik einzurichten. Solche haben soweit ersichtlich auch niemals stattgefunden. Indessen haben die Herren Kliniker folgende Erklärung abgegeben: Wie schon bisher, so werden die Vertreter der klinischen Fächer es sich erneut zur Pflicht machen, die Studierenden der Medizin bei gegebener Gelegenheit in den Forderungen der ärztlichen Ethik nachdrücklich zu unterweisen.“471 Die Weigerung der Medizinischen Fakultät, einen Ethikunterricht einzuführen, ist wohl symptomatisch für die damalige Zeit, in der die Ethik keinen eigenständigen Status in der ärztlichen Wissenschaft hatte. Die diesbezügliche Haltung der Fakultät verwundert jedoch, da sie sich ausdrücklich für die Einbeziehung der ärztlich-ethischen Seite im Dienststrafverfahren gegen ihren Fakultätskollegen Henkel ausgesprochen hatte. Hier schließt sich die Frage an, wie sich der Stellenwert der ärztliche Ethik innerhalb der akademischen Lehre bis in die heutige Zeit entwickelt hat. Geschlußfolgert werden kann, daß die ärztliche Ethik in ihrer Bedeutung für den ärztlichen Beruf und die medizinische Wissenschaft zeitlos ist und die Grundlage für das ärztliche Handeln bilden sollte. Auch wenn sich die Gesellschaft ändert und die Wissenschaft in ständiger Bewegung ist, daß was wissenschaftlich möglich ist, muß auch moralisch begründbar sein. Der „Fall Henkel“ hat dies in eindrücklicher Weise gezeigt und sollte deshalb einen Platz in der anläßlich des 450-jährigen Jubiläums der Jenaer Universität im Jahr 2008 neu zu erarbeitenden Universitätsgeschichte einnehmen. 471 UAJ Bst. C Nr. 412: Schreiben des Dekans an den Kurator vom 24.05.1918 112 8. Abkürzungsverzeichnis A. f. Gyn. (Archiv für Gynäkologie) Bl. (Blatt) Bst. (Bestand) BZ (Berliner Zeitung) bzw. (beziehungsweise) d. A. (die Autorin) Dep. d. I. (Department des Innern) Dep. d. I. u. Ä. (Department des Innern und Äußern) Dep. d. K. (Department des Kultus) Dt. Med. Wochenschr. (Deutsche Medizinische Wochenschrift) DStKW (Dienststrafkammer Weimar) FSU (Friedrich-Schiller-Universität) Geh. (Geheimer) Großh. S. Staatsminist. (Großherzogliches Sächsisches Staatsministerium) H. (Heft) Hg. (Herausgeber) HUB (Humboldt-Universität zu Berlin) Jg. (Jahrgang) Math. Nat. R. (mathematisch-naturwissenschaftliche Reihe) MMW (Münchener Medizinische Wochenschrift) Med. Fak. (Medizinische Fakultät) Ministerialdep. (Ministerialdepartment) Monatsschr. f. Gebh. u. Gyn. (Monatsschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie) PA (Personalakte) RGBl (Reichsgesetzblatt) S. (Seite) Str.G.B. (Strafgesetzbuch) SWE (Sachsen-Weimar-Eisenach) Tab. (Tabelle) ThOVG (Thüringisches Oberverwaltungsgericht) ThHStAW (Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar) ThVBM (Thüringisches Volksbildungsministerium) UAJ (Universitätsarchiv Jena) 113 UFK (Universitätsfrauenklinik) VWB (Verlag für Wissenschaft und Bildung) Wiss. Ztschr. (wissenschaftliche Zeitschrift) Zbl. f. Gyn. (Zentralblatt für Gynäkologie) Ziff. (Ziffer) 114 9. Quellen- und Literaturverzeichnis 9.1. ungedruckte Quellen Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar Bestand Sachsen-Weimar-Eisenach Dienststrafkammer Weimar Nr. 9-19 Bestand Thüringisches Volksbildungsministerium Weimar Nr. 10712, Personalakte Max Henkel Universitätsarchiv Jena Bestand D Nr. 1190, Personalakte Max Henkel Bestand D Nr. 2425, Personalakte Robert Rößle Bestand L Nr. 442 u. 442 a, Decanatsacten der Medizinischen Fakultät zu Jena betr. Dienststrafverfahren gegen M. Henkel 1915-1918 Bestand L Nr. 442 b, Decanatsacten der Medizinischen Fakultät zu Jena betr. Pathologisches Institut Henkel-Rößle 1913-1921 Bestand BA Nr. 428, Acta academica betr. Anstellung ordentlicher Professoren, ordentlicher Honorarprofessoren und außerordentlicher Professoren der Medizin 1907-1910 Bestand BA Nr. 916, Acta academica betr. Anstellung ordentlicher Professoren, ordentlicher Honorarprofessoren und außerordentlicher Professoren der Medizin 1915-1918 Bestand BA Nr. 921, Acta academica betr. Die ordentlichen Professoren, außerordentlichen Professoren und Honorar-Professoren der Medizinischen Fakultät 1935-1936 Bestand C Nr. 383, Acten der Großherzoglich und Herzoglich Sächsischen Universitätskuratel zu Jena betr. Professur für Geburtshilfe und Gynäkologie (Professor Dr. Henkel) 1915- 1919 115 Stier, F.: Lebensskizzen der Dozenten und Professoren an der Universität Jena 1548/58- 1958, Bd. 1-3, Manuskript Jena 1960 Universitätsfrauenklinik Jena Arbeiten Prof. Dr. M. Henkel 1896-1935 Bd. I u. II Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin Bestand Medizinische Fakultät Nr. 1350, Bl. 95-102 9.2. Literatur Bumm, E.: Zur Frage des künstlichen Abortus, Monatsschrift f. Geburtshilfe u. Gynäkologie, Bd. XLIII, H. 5, 1916, S. 385-395 Bumm, E.: Grundriss zum Studium der Geburtshilfe, Verlag von J.F. Bergmann Wiesbaden, 12. verbesserte Aufl. 1919 Bumm, E.: Über das deutsche Bevölkerungsproblem, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 6.1.1917, S. 21-23 Engelhardt, D. v., (Hg): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner Bd. I u. II, K. G. Saur München 2002 Fehling, H.: Die operative Geburtshilfe der Praxis und Klinik, Verlag von J.F. Bergmann Wiesbaden 1912 Fehling, H.: Ehe und Vererbung, Verlag von Ferdinand Enke Stuttgart 1913 Fehling, H.: Die Frage des künstlichen Abortes vor der Berliner med. Gesellschaft, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 4.1.1919, S. 31-32 Giese, E.: Zum Prozeß Henkel., MMW Nr. 38, 1918, S. 1053-1059 Giese, E.; von Hagen, B.: Geschichte der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller- Universität Jena, VEB Gustav Fischer Verlag Jena 1958 Henkel, M.: Ist die abdominale Totalexstirpation des schwangeren Uterus wegen Lungentuberkulose berechtigt?, A. f. Gyn. 1911, Bd. 94, S. 580-597 116 Henkel, M.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit vom Standpunkt der Gynäkologie, In: Placzek, S.: Künstliche Fehlgeburt und künstliche Unfruchtbarkeit ihre Indikationen, Technik und Rechtslage, Verlag von Georg Thieme Leipzig 1918, S. 121-166 Henkel, M.: Zum Prozeß Henkel. Erwiderung auf den gleichnamigen Aufsatz von Giese, MMW Nr. 43, 1918, S. 1192-1196 Henkel, M.: Stellungnahme zur Indikation der künstlichen Schwangerschaftsunterbrechung, MMW Nr. 31, 1930, S. 1327-1335 Hirsch, M.: Fruchtabtreibung und Präventivverkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang, Curt Kabitzsch Verlag Würzburg 1914 Kahl, W.: Der Arzt im Strafrecht, Verlag von Gustav Fischer Jena 1909 Krohne: Die Frage der Zulässigkeit der Unterbrechung der Schwangerschaft vom Standpunkt der ärztlichen Wissenschaft und Berufsehre, Monatsschr. f. Gebh. u. Gyn. Bd. XLV Möbius, W.: Die historische Entwicklung der Universitätsfrauenklinik Jena in den 200 Jahren ihres Bestehens, Wiss. Ztschr. FSU Jena Math. Nat. R. 28. Jg. 1979, H. 5, S. 737-754 Moll, A.: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit., Verlag von Ferdinand Enke Stuttgart 1902 Staatsbeamtengesetz für das Großherzogtum Sachsen vom 21. Juni 1909 Weimar, Druck der Weimarischen Zeitung, Weimar 1909 Steinmetz, M. (Hg.): Geschichte der Universität Jena 1548/58-1958, Bd. 1, VEB Gustav Fischer Verlag Jena 1958 Stöckel, W. (Hg.), Michelsson, F.: Deutsches Gynäkologen-Verzeichnis, Johann Ambrosius Barth Verlag Leipzig, 2. Aufl. 1939 Winter, G.: Die Einschränkung des künstlichen Aborts, Zbl. f. Gyn. Nr. 1, 6.1.1917, S. 1-11 Winter, G.: Der künstliche Abort. Denkschrift für die praktischen Ärzte, Veröffentlichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung, Bd. 9, H. 4, Verlagsbuchhandlung von R. Schoetz Berlin 1919 Winter, G.: Die Indikationen zur künstlichen Sterilisierung der Frau, Urban & Schwarzenberg Berlin u. Wien 1920 Winter, G.: Die künstliche Sterilisation der Frau, Dt. Med. Wochenschr. Nr. 1, 1.1.1917, S. 1-3 Zimmermann, Susanne: Die Medizinische Fakultät während der Zeit des Nationalsozialismus, VWB, Berlin 2000 (Ernst-Haeckel-Haus-Studien, Bd. 2) Zwerenz, Ingrid: Frauen. Die Geschichte des § 218, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/ M. 1980 117 10. Anhang Tabellarischer Lebenslauf Persönliche Daten Name: Katrin Ratz Geburtstag/-ort: 23.12.1975, Merseburg Adresse: Seidelstraße 9, 07749 Jena Nationalität: Deutsch Schulbildung 09/1982-07/1983 POS J. Curie, Merseburg 09/1883-07/1991 POS K. Liebknecht, Jena 09/1991-07/1994 Gymnasium unter der Lobdeburg, Jena Abschluß mit Abitur Hochschulbildung 10/1994-05/2001 Studium der Humanmedizin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Abschlüsse: Physikum 09/1996 1. Staatsexamen 08/1997 2. Staatsexamen 09/1999 3. Staatsexamen 05/2001 Famulaturen 02/1997-03/1997 Chirurgie, Kreißkrankenhaus Staßfurt 02/1998-03/1998 Orthopädie, Orthopädische Klinik München 08/1998-10/1998 Gynäkologie & Geburtshilfe, St. Joseph`s Health Centre, Toronto/Canada 02/1999-04/1999 Praxis für Kardiologie, Praxis für Chirurgie, Jena 118 Praktisches Jahr 04/2000-08/2000 Gynäkologie & Geburtshilfe, Spital Wattwil/Schweiz 08/2000-12/2000 Innere Medizin, Mayo General Hospital Castlebar/Irland 12/2000-03/2001 Chirurgie, Universitätsklinik Jena Promotion Seit 01/1999 PD Dr. Susanne Zimmermann Institut für Geschichte der Medizin der FSU Jena Thema Der „Fall Max Henkel“ (1870-1941), Das Dienststrafverfahren gegen den Jenaer Ordinarius der Frauenheilkunde und Geburts- hilfe (1915-1918) AIP Seit 10/2001 Innere Medizin Katholisches Krankenhaus St. J. Nepomuk Erfurt Jena, 25.10.2002 119 Danksagung Ich danke Frau PD Dr. S. Zimmermann sehr herzlich für die Überlassung des Themas für diese Arbeit sowie die hervorragende und kompetente Betreuung und Beratung bei der Bearbeitung der Aufgabenstellung. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie und Sven Lindner, die mich stets unterstützt haben. 120 Ehrenwörtliche Erklärung Hiermit erkläre ich ehrenwörtlich, daß mir die Promotionsordnung der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena bekannt ist und daß ich die dem Rat der Medizinischen Fakultät zur Promotionsprüfung eingereichte Arbeit mit dem Titel Der „Fall“ Max Henkel (1870-1941), Das Dienststrafverfahren gegen den Jenaer Ordinarius der Frauenheilkunde und Geburtshilfe (1915-1918) am Institut für Geschichte der Medizin der FSU Jena bei Frau PD Dr. Susanne Zimmermann selbst durchgeführt und beim Erstellen der Arbeit keine anderen als die in der Dissertation aufgeführten Quellen benutzt habe. Bei der Auswahl und Auswertung des Quellenmaterials hat mich Frau PD Dr. Susanne Zimmermann unterstützt. Die Hilfe eines Promotionsberaters habe ich nicht in Anspruch genommen und Dritte haben keine geldwerten Leistungen von mir für Arbeiten erhalten, die im Zusammenhang mit der vorgelegten Dissertation stehen. Ich habe diese Dissertation nicht für eine staatliche oder andere wissenschaftliche Prüfung eingereicht und habe bisher an keinem in- oder ausländischem Fachbereich die Zulassung zur Promotion beantragt beziehungsweise die vorliegende Arbeit oder eine ähnliche Arbeit als Dissertation vorgelegt. Jena, 25.10.2002