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Christian Pfeiffer

Zur Biographie von Gewalt und Zivilcourage

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung der Universität Erfurt "Gewalt und Terror", 12.02.2003

Erfurt 2003

Erfurt wird bald den ersten Jahrestag des Amoklaufes von Robert Steinhäuser erleben. Ein zentrales Thema wird dann sein, ob wir in der Zwischenzeit überzeugende Antworten auf die Fragen gefunden haben, die die Tat aufgeworfen hat. Die Universität Erfurt hat dazu der Öffentlichkeit mit ihrer Veranstaltungsreihe ein breites Spektrum von Angeboten unterbreitet. Mein Beitrag wird heute der sein, zur Biographie von Jugendgewalt zu sprechen.

Auf dieses Thema möchte ich mich allerdings nicht beschränken. Es erscheint sinnvoll, auch die Kehrseite der Medaille zu betrachten und Zivilcourage und Hilfsbereitschaft ins Blickfeld zu rücken. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Je häufiger sich Menschen der Gewalt entgegen stellen und sich in Notsituationen für andere einsetzen, um so weniger Chancen gibt es für gewalttätiges Handeln und um so wirksamer fällt die Hilfe für die Opfer von Gewalt aus. Ein Beispiel bietet hier der Amoklauf von Erfurt. Er fand erst dann sein Ende, als sich der Lehrer Rainer Heise dem Täter entgegen stellte. Nach Einschätzung der Polizei wäre die Zahl der Todesopfer sonst möglicherweise noch erheblich größer gewesen. Ich will deshalb mit der Frage beginnen, welche Erkenntnisse die Wissenschaft zur Biographie von Zivilcourage und Hilfsbereitschaft erarbeitet hat.

Ein Beispiel dafür, wie man das erforscht hat, möchte ich nachfolgend kurz skizzieren. Das Experiment wird jeweils in vollbesetzten U-Bahnen durchgeführt. Beteiligt sind daran zwei bis drei Schauspieler, die nichts ahnenden Mitreisenden und die unerkannt beobachtenden Wissenschaftler. Ausgangspunkt ist folgende Szene:

Ein altes Mütterchen betritt früh Morgens die mit Berufspendlern voll besetzte U-Bahn. Neben ihr steht ein junger Mann, offensichtlich angetrunken, mürrisch dreinblickend. Sie wendet sich an ihn und erklärt ihm sehr umständlich und mit großer Lautstärke, es sei heute der Tag ihrer goldenen Hochzeit. Ihr Mann sei schon gestorben. Aber die Kinder hätten trotzdem ein richtiges Fest organisiert. Und sie redet und redet. Schließlich bittet sie ihn, ihr zu sagen, bei welcher Station sie zum Hauptbahnhof umsteigen muss. Der junge Mann ist von ihrem Auftreten sichtlich genervt. Sehr aggressiv fährt er sie an: "Nächste Station raus". In Wahrheit wäre es aber erst die übernächste Station. Aufmerksam registrieren die Wissenschaftler nun, welcher Anteil der die Szene beobachtenden Menschen nun eingreift, um der Frau die richtige Auskunft zu geben. In der beschriebenen U-Bahn-Szene war das etwa jeder zweite.

Die Experimentanordnung wird danach von den Wissenschaftlern systematisch verändert. Beim zweiten U-Bahn-Test beschimpft der junge Mann die Frau laut und aggressiv: "Alte Schachtel, halt's Maul! Nächste Station raus!"
. Jetzt sinkt der Anteil der helfenden Menschen auf knapp 30 Prozent. Diese Quote nimmt sogar auf 14 Prozent ab, wenn der angetrunkene junge Mann die Frau nicht nur beschimpft und ihr das Falsche sagt, sondern sie mit körperlicher Gewalt bedroht. Aber etwas verdient Beachtung. Etwa zwei Drittel der Personen, die sich in den beschriebenen Szenen helfend eingemischt haben, sind Frauen.

Bei drei zusätzlichen Varianten tritt jeweils eine weitere Person auf. Unmittelbar nach der falschen Auskunft erhebt sie sich, stellt sich schützend neben die Frau und sagt laut und deutlich: "Ich kenne mich in dieser Stadt nicht aus. Aber so kann man doch mit der alten Dame nicht umgehen. Wer weiß genau, bei welcher Station sie zum Hauptbahnhof umsteigen muss?"
. Das couragierte Auftreten hat Folgen: Bei der ersten Szene erhöht sich die Quote der hilfsbereiten Bürger auf etwa zwei Drittel, bei der zweiten auf fast die Hälfte, und selbst bei der dritten, wenn es richtig gefährlich werden könnte, steigt sie auf etwa 30 %. Ein einzelner mutiger Mensch kann offenbar beträchtliche Ansteckungswirkung entfalten und auf diese Weise der Gewalt Einhalt gebieten. Damit wird die einleitend vorgetragene These eindrucksvoll belegt: Wenn wir die Entstehung von Zivilcourage fördern, leisten wir wirkungsvolle Gewaltprävention.

Das, was hier im Wege eines Experimentes untersucht wurde, haben andere Wissenschaftler an Beispielen aus dem realen Leben überprüft. Eine Chance hierfür boten die Berichte von Juden, die während der Nazizeit von couragierten Menschen vor dem Zugriff der Gestapo gerettet worden waren. Gestützt auf deren Angaben konnten amerikanische Wissenschaftler Anfang der achtziger Jahre in Europa knapp 400 dieser Judenretter ausfindig machen und mit ihnen ausführliche Interviews führen. Dabei fanden sie zunächst heraus, dass es ganz unterschiedliche Typen von Menschen waren, die sich zu einem derart mutigen Verhalten entschlossen hatten. Da gab es solche, die sich aus grundsätzlichen Erwägungen zur Rettungstat entschieden hatten - meist ohne die betroffenen Personen vorher näher zu kennen. Und es gab andere, die mit den geretteten Juden vorher gut befreundet waren. Und schließlich gab es Menschen, die plötzlich auf eine Notsituation gestoßen waren und dann ihnen völlig fremde jüdische Mitbürger versteckt oder zur Flucht verholfen hatten. Bei dieser zahlenmäßig bedeutsamsten Gruppe von Judenrettern entdeckten die Wissenschaftler wieder eine geschlechtsspezifische Besonderheit. Die Mehrheit von ihnen waren Frauen.

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Aber welche Gemeinsamkeiten haben sich in der Biographie von Menschen gezeigt, die durch derart couragiertes und hilfsbereites Verhalten aufgefallen sind? Die Erkenntnisse der Wissenschaft lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

1. Gewaltfreie Erziehung fördert den aufrechten Gang. Menschen mit so ausgeprägter Zivilcourage hatten ganz überwiegend Eltern, die sie bei Konflikten nicht autoritär und mit Gewalt zu disziplinieren versucht haben, sondern mit ihnen fair und argumentativ umgegangen sind. Zwar gab es einige, die zu Hause Schläge abbekommen hatten. Aber sie machten dann deutlich, dass sie das angesichts ihres eigenen Fehlverhaltens durchaus akzeptieren konnten. Die Eltern hätten zudem nur ausnahmsweise zu diesem Mittel gegriffen und viel lieber gewaltfrei erzogen.
2. Liebevolle Erziehung fördert die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden und danach zu handeln. Die Eltern der Judenretter waren mit ihren Kindern durchweg sehr liebevoll umgegangen. Dabei war das keine Gluckenliebe, die nur die eigenen Küken schützt. Mindestens einer der Eltern wird als jemand beschrieben, der sich engagiert für andere Menschen in Not eingesetzt hat und so zum Vorbild für die Kinder werden konnte.
3. Die Gleichrangigkeit der Eltern fördert die Moral der Kinder. Die Stärke moralischer Überzeugungen und die Kraft nach ihnen zu handeln, hängen offenbar wesentlich davon ab, wie die Eltern miteinander bei Konflikten umgehen. Wenn zum Beispiel ständig der Vater dominiert, weil er über größere Körperkräfte verfügt, weil das seine traditionelle Rolle ist oder weil primär er das Geld verdient, dann fördert das bei den Kindern eine eher opportunistische Grundeinstellung. Man orientiert sich am Mächtigen und lernt von ihm, die Ellenbogen kräftig einzusetzen. Die Orientierung an Grundwerten entwickelt sich dagegen, wenn die Kinder bei konflikthaften Auseinandersetzungen ihrer Eltern echte Gleichrangigkeit und faires Argumentieren erleben - verbunden mit wechselseitigem Nachgeben, damit konstruktive Lösungen gefunden werden konnten.
4. Eine Kultur der Anerkennung fördert couragiertes Verhalten. Die Retter von jüdischen Mitbürgern stellten sich keineswegs als Helden oder Heilige dar. Sie betonten vielmehr, wie sehr ihr Verhalten in solchen kritischen Situationen davon abhängig war, ob sie in einer Gemeinschaft verankert waren, in der ehrlich geredet wurde und in der es für richtiges Verhalten liebevolle Anerkennung gegeben hat. Die Kraft zum Widerstand wuchs, wenn man in einer Großfamilie, Kirchengemeinde oder einer anderen Bezugsgruppe nachhaltig gestützt wurde.

Die vier Punkte zeigen, welche Einflussfaktoren das Entstehen und Wachsen von Zivilcourage fördern. Zu klären bleibt, warum hier Frauen im Vordergrund stehen und warum sich zur Gewalt das Gegenteil abzeichnet. Letzteres wird am Beispiel der Amokläufer besonders deutlich. Bei ihnen handelt es sich weltweit zu etwa 95 % um Männer. Ein ähnliches Bild vermitteln die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik zur insgesamt registrierten Gewaltkriminalität. Bei der Altersgruppe des Erfurter Täters, den 18 bis 21jährigen, lag beispielsweise der Anteil der jungen Männer, die wegen Gewalttaten registriert worden sind, bundesweit im Jahr 2000 um das 12fache über dem der Frauen (1,9 % zu 0,15 %). Zu beachten ist dabei, dass dieser beträchtliche Abstand in der Gewaltbelastung von jungen Männern und Frauen seit Mitte der achtziger Jahre ständig zugenommen hat. Welche Erklärungen werden für diese geschlechtsspezifischen Besonderheiten angeboten?

Zum Einstieg möchte ich zunächst darlegen, welche biographischen Merkmale Amokläufer aufweisen. Im Vergleich zu "normalen Gewalttätern" verfügen sie erheblich häufiger über eine gehobene Ausbildung. Zur Zeit der Tat war allerdings fast jeder zweite arbeitslos. Meist sind sie isolierte Einzelgänger, vertrauen sich kaum anderen Menschen an, sind im Kern Ich-schwach und unsicher. Niederlagen und Kränkungen können sie deshalb nur schwer verkraften. Im Alltag erleben sie sich als ohnmächtig, die Tat dagegen vermittelt ihnen für Augenblicke den Triumph höchster Macht - die Herrschaft über Leben und Tod.

Im Hinblick auf die familiäre Sozialisation der Amokläufer sind die zur Verfügung stehenden Angaben oft lückenhaft. Angesichts ihres mit der Tat meist verbundenen eigenen Todes sieht die Justiz keinen Anlass mehr, Ermittlungen zur Persönlichkeit der Täters anzustellen. Eines wird aber doch deutlich: Auch im Hinblick auf die Amokläufer bestätigt sich, was in Studien zur Jugendgewalt generell nachgewiesen werden konnte: Je stärker die Sozialisation junger Menschen von einem Mangel an Liebe und konstanter Zuwendung sowie von innerfamiliärer Gewalt geprägt ist, um so höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen später selber Gewalt ausüben.

Die eigene Schwäche kompensieren die Amokläufer sehr oft dadurch, dass sie sich Schusswaffen zulegen, die ihnen das Gefühl von Macht geben und zu denen sie eine geradezu erotische Beziehung entwickeln. "Das Gewehr ist die Braut des Amokläufers", kann man in Abwandlung eines veralteten Militärspruches formulieren. Auf eine Besonderheit der Amokläufer hat ferner Hans-Joachim Neubauer aufmerksam gemacht. Sie inszenieren die Tat wie ein Schauspiel, in dem sie gleichzeitig der Regisseur und der große Held sind. Bewusst wird als Tatort der öffentliche Raum gewählt. Man braucht Publikum. Der Akteur selber kostümiert sich. Oft wählt er das kriegerische Outfit des Rambo-Kämpfers oder das Image des schwarz gekleideten, maskierten Rächers. Anscheinend legen sie es darauf an, mit ihrer Tat berühmt zu werden - einmal im Mittelpunkt des Medieninteresses zu stehen. Die Vorstellung davon entschädigt sie offenbar für das Loser-Image, unter dem sie im Alltag leiden.

In Erfurt ist diese Inszenierung des großen Show-downs jedoch durch die Begegnung mit Rainer Heise unterbrochen worden. Auf einmal stand dem Amokläufer da jemand gegenüber, der nicht in Panik flüchtet, sondern Auge in Auge den Kontakt sucht. Und weil der Täter die Maske abgenommen hat, kann er ihn mit der Autorität des bei den Schülern sehr akzeptierten Lehrers anreden: "Robert..." Damit ist der Bann gebrochen. Das Spiel ist aus. Robert Steinhäuser ist zurück in der Realität. Des Mordens müde, bringt er sich um.

Sein Selbstmord nach dem Amoklauf entspricht dem Grundmuster, das sich bei diesen Taten bisher weltweit gezeigt hat. Amokläufer ähneln damit in ihrem Vorgehen den Selbstmordattentätern, die freilich die Gewalt gegen andere und sich selber in einem Akt zusammenfassen. Und auch bei letzteren dominieren weltweit die Männer - hier zu etwa 98 Prozent.

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Bei der Suche nach Erklärungen für die geschlechtsspezifischen Aspekte der Gewalt werden viele Antworten angeboten. So betonen Hirnforscher und Humanbiologen neuerdings, dass hier auch genetische Faktoren eine gewichtige Rolle spielen. Und sie können dafür eindrucksvolle Belege vorweisen. Trotzdem möchte ich im Rahmen dieses Vortrags nicht näher darauf eingehen. Die Erbanlagen sind uns nun einmal vorgegeben. Ich konzentriere mich in der verbleibenden Zeit lieber auf solche Faktoren, die wir beeinflussen können.

Ein Beispiel sind hierfür altbekannte elterliche Verhaltensweisen. So haben Kindergärtnerinnen beobachtet, dass vor allem die Väter und teilweise auch die Mütter auf Tränen ihrer Kinder immer noch unterschiedlich reagieren. Während bei den Mädchen das tröstende Verhalten klar im Vordergrund steht, müssen weinende Jungen offenbar weit häufiger mit Ablehnung und deutlicher Zurechtweisung rechnen - etwa nach dem Motto: "Du bist doch keine Memme oder Heulsuse" oder "Hör auf zu weinen - ein Indianer kennt keinen Schmerz; reiß dich endlich zusammen!". Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen berichten ferner, dass viele Jungen auch durch Gleichaltrige dazu angehalten werden, Tränen runterzuschlucken und nach außen "cool" aufzutreten. Und so lernen sie es, sich gegen Gefühle zu panzern und weder eigene Schmerzen noch die anderer an sich heran zu lassen.

Ein zweites Beispiel für geschlechtspezifische Verhaltenssteuerung von Kindern und Jugendlichen stammt aus einer Repräsentativbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Von 14- bis 16-jährigen Jungen und Mädchen wollten die Forscher im Jahr 1998 folgendes wissen: " Wie würden wohl deine Eltern und Freunde reagieren, wenn sie erfahren, dass du auf dem Schulhof jemand nach einem Streit massiv zusammen geschlagen hast?". Die Mädchen prognostizierten fast durchweg heftigen Tadel von Seiten der Eltern und ganz überwiegend starke Ablehnung durch Gleichaltrige. Von den Jungen dagegen erwartete fast ein Viertel nach einer derartigen Geschichte zumindest von den Vätern Akzeptanz oder gar Lob; eine stark negative Reaktion sahen weniger als die Hälfte voraus. Und im Hinblick auf ihre Freunde prognostizierten sie überwiegend Zustimmung.

Als dritten Einflussfaktor möchte ich hier die Gewalt in der Familie nennen. Soweit sie sich gegen Kinder und Jugendliche richtet, sind hier zwar Mädchen und Jungen in gleicher Weise betroffen. Ein Unterschied ist dabei jedoch, dass massive Misshandlungen häufiger von den Vätern als den Müttern ausgehen. Hinzu kommt, dass die Kinder in solchen Familien sehr oft beobachten müssen, wie der Vater die Mutter schlägt. Beides prägt die Betroffenen in unterschiedlicher Weise. Mädchen geraten dadurch, wie Peter Wetzels in seiner am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen durchgeführten Untersuchung aufzeigen konnte, sehr häufig in die Opferrolle. Wenn sie selber vom Vater in der Kindheit massiv geschlagen worden sind und ferner häufig beobachten mussten, wie der Vater die Mutter prügelt, erhöht sich ihr Risiko, später an einen gewalttätigen Ehepartner zu geraten, um etwa das Sechsfache. Die Jungen dagegen erlernen durch solche Negativvorbilder eher die Täterrolle. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie selber Gewalttäter werden, erhöht sich im Vergleich zu gewaltfrei erzogenen Jungen um das Drei- bis Vierfache.

Und schließlich gibt es einen vierten Faktor, der im Hinblick auf die wachsende Diskrepanz bei der Gewaltkriminalität von männlichen und weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden Beachtung verdient: Der stark wachsende Anteil der Jungen, die sich täglich Horrorfilme anschauen. Schulforscher der Universität Eichstätt haben kürzlich belegt, dass sich ihre Quote zwischen 1994 und 1999 von 13,1 % auf 17,8 % aller 11 - 18jährigen erhöht hat. Die Mehrheit von ihnen dürfte inzwischen pro Woche mindestens einmal einen jugendgefährdenden Film mit brutalen Gewaltexzessen konsumieren. Mädchen dagegen haben nach wie vor an solchen Filmen vergleichsweise wenig Interesse.

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Aber wie kommt es überhaupt zu einem derartig intensiven Konsum von medialen Gewaltexzessen? Zum Schutz der Jugend dürfen in Deutschland FSK-18-Filme erst ab 23.00 Uhr gezeigt werden. Bei den FSK-16-Filmen ist die Zeitgrenze auf 22.00 Uhr herabgesetzt. Ein effektiver Jugendschutz wird damit freilich nicht mehr erreicht. Schließlich haben die Kinder und Jugendlichen an mehr als jedem dritten Tag des Jahres schulfrei (135 Tage) und können dann am Vorabend länger aufbleiben. Vor allem aber hat sich der Fernsehkonsum der jungen Menschen dadurch verändert, dass von den 12- bis 16-Jährigen etwa die Hälfte heute über einen eigenen Fernseher verfügt. Deren abendlicher Filmkonsum ist damit der elterlichen Kontrolle weitgehend entzogen. Zudem nimmt die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen pro Woche mindestens einmal einen Film mit dem Videorekorder auf - primär natürlich solche, die sie im Kino wegen der Altersgrenzen noch nicht sehen dürfen.

Zu den Auswirkungen, die der beschriebene Medienkonsum auf die primär männlichen Zuschauer hat, gibt es vonseiten der Medienwissenschaften erstaunlich wenig präzise Aussagen. Da muss man schon die moderne Hirnforschung heranziehen, um fündig zu werden. So betonen die Professoren Roth und Scheich, dass Kinder und Jugendliche die Bilder von filmischen Gewaltexzessen weit intensiver in ihrem Gedächtnis speichern als Erwachsene, weil ihr noch ständig wachsendes Gehirn für emotional hoch besetzte Informationen äußerst aufnahmebereit ist. Ferner weisen sie darauf hin, dass die zunächst nur im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten Informationen des Schulunterrichtes weitgehend verblassen, wenn solche Filme nachmittags oder abends die volle Aufmerksamkeit des Jugendlichen in Anspruch nehmen. Und schließlich machen Kriminologen auf die Gefährdung aufmerksam, die von derartigen Gewaltfilmen für die kleine Risikogruppe von etwa 10 % der männlichen Jugendlichen ausgeht, die ohnehin durch familiäre und soziale Probleme in ihrer Entwicklung gefährdet sind. Wenn männliche Gewalt als Problemlöser und Erfolgsmodell verherrlicht wird, bestärkt das bei ihnen die bereits vorhandene Machoorientierung und baut Hemmungen ab, selber Gewalt einzusetzen.

Auch der Amoklauf von Erfurt gibt Anlass dazu, dieses Thema anzusprechen. Bei dem Täter wie bei vielen anderen der jüngeren Amokläufer fällt eines auf: ihre Tötungsfantasien und ihr Vorgehen haben sie offenkundig an Bildern aus Computerspielen oder Horrorfilmen konkretisiert. Das trifft für die Schüler von Littleton ebenso zu wie auf den Täter von Reichenhall oder den 19jährigen Robert Steinhäuser. Die Polizei hat bei ihm später mehrere als jugendgefährdend eingestufte PC-Spiele und Gewaltfilme gefunden und von Mitschülern erfahren, dass er sich mit ihnen intensiv beschäftigt hat.

Angesichts dieser Erkenntnisse stellt sich die Frage, wie der Staat den ineffektiv gewordenen Jugendschutz wieder stärken könnte. Hierfür kommen mehrere Wege in Betracht. So könnte versucht werden, durch gesetzliche Regelungen zu erzwingen, dass die Ausstrahlung jugendgefährdender Filme im Fernsehen noch stärker als bisher eingeschränkt oder sogar vollständig verboten wird. Offen ist dann allerdings, wem im Hinblick auf die verschiedenen Typen von Filmen und sonstigen Sendungen die Definitionsmacht zur Feststellung der Jugendgefährdung übertragen werden sollte. Ferner dürfte sich als große Hürde erweisen, dass gegen diese Lösung des Problems erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gelten gemacht werden.

Angesichts dieser Schwierigkeiten habe ich versucht, das Ziel einer Reduktion von Gewaltexzessen im Fernsehen durch einen Appell an die Werbepartner der privaten Fernsehsender zu erreichen. Letztes Jahr habe ich bei 60 Firmen angefragt, ob sie angesichts der oben dargelegten Gefahren nicht darauf verzichten wollen, in jugendgefährdenden Gewaltfilmen zu werben, die gegenwärtig erst nach 22.00 Uhr bzw. 23.00 Uhr gesendet werden dürfen. Kürzlich hat sich ferner Bundespräsident Rau in einem Stern-Interview mit einem entsprechenden Aufruf an die deutsche Wirtschaft gewandt. Hätten wir damit Erfolg, müssten die privaten Fernsehsender zur Erzielung von Werbeeinnahmen bessere Filme anbieten. Das Ergebnis dieser Bemühungen lässt sich noch nicht genau einschätzen. Die Hälfte der von mir angeschriebenen Firmen hat bisher noch nicht reagiert. 15 haben sich skeptisch bis ablehnend geäußert. 16 haben allerdings ausgesprochen positiv auf meine Anfrage geantwortet und angekündigt, dass sie ihr Werbeverhalten ändern werden. Darunter befinden sich immerhin Weltfirmen wie Volkswagen, Toyota und Microsoft. Das macht Mut auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.

Als dritter Weg kommt schließlich in Betracht, die Medienpädagogik an Schulen qualitativ erheblich zu verbessern und auszubauen. Gegenwärtig gibt es zu wenig Lehrer und Lehrerinnen, die in der Lage sind, einen sachlich breit fundierten und interessant gestalteten Unterricht zu diesem Themenkomplex anzubieten. Es mangelt an Fortbildung und an gutem Unterrichtsmaterial. Das, was die Forschung bisher zu den Auswirkungen von Gewaltexzessen in Filmen und PC-Spielen erarbeitet hat, ist bisher nicht zu den Schulen transferiert worden. Dieses Problem besteht europaweit. Es ist deshalb zu begrüßen, dass die EU-Kommissarin für Bildung und Kultur, Viviane Reding, im Herbst dieses Jahres eine Initiative zur Medienpädagogik an den Schulen starten will.

Weitere Konsequenzen, die sich aus den dargestellten Forschungsbefunden zur Gewaltprävention ableiten lassen, können hier nur stichwortartig und beispielhaft genannt werden. Die beiden zentralen Ansatzpunkte liegen auf der Hand: Stärkung der Leistungskraft und Erziehungskompetenz von Familie und Schule. Im Einzelnen heißt das zum Beispiel: Elternschulen, angedockt an Kindergärten, die die Lust an gewaltfreier Erziehung vermitteln; Schulen, die nicht nur Wissensvermittlung betreiben, sondern soziales Lernen ermöglichen; Früherkennung innerfamiliärer Gewalt durch Fachkräfte, die Kindern an Schulen ihre Hilfe unter Zusicherung strikter Verschwiegenheit anbieten; engere Zusammenarbeit von Sportvereinen und Schulen, damit der Sport sein Potential als Schutzimpfung gegen Gewalt entfalten kann; Stärkung einer Kultur der Anerkennung und des Hinschauens an Schulen durch Ausbildung von Konfliktlotsen und positive Wahrnehmung des sozialen Engagements von jungen Menschen; und schließlich ein entschlossenes Vorgehen gegen Schuleschwänzen, etwa nach dem Vorbild Niedersachsens, das hierzu über seinen Landespräventionsrat ein vernetztes Konzept der Zusammenarbeit von Schule, Jugendhilfe und Polizei erarbeitet hat.

Eines müssen wir uns dabei freilich klar machen: Es gibt keinen Königsweg der Prävention von Jugendgewalt. Wenn wir hier Erfolg haben wollen, müssen wir das oben skizzierte Konzept eines Bündels verschiedener Maßnahmen gleichzeitig in Gang bringen. Wenn wir das tun, wird sich bald eines deutlich zeigen: Es ist kein Naturgesetz, dass die Jugendgewalt steigt.

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Stand: 06.03.2003